Rudi und ich - Hosea Dutschke - E-Book

Rudi und ich E-Book

Hosea Dutschke

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Beschreibung

»Ich komme mit einem Schrei zur Welt. Im selben Moment wird mein Vater mit einem Stock niedergeschlagen, einem kräftigen Stock, aus einem alten, schweren Stück Eiche gedrechselt.« Rudi Dutschke war eine Ikone der deutschen Studentenbewegung. Aber auch als Vater war er außergewöhnlich. In diesem Buch wagt sein Sohn Hosea eine sehr persönliche Annäherung. Er erzählt von seiner Zeit mit Rudi Dutschke, von der Trauer über dessen Tod und vom Versuch, seinen eigenen Weg zu finden.

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Hosea DutschkeRudi und ich

Aus dem Dänischen von Nina Hoyer

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-0626-1

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Umschlaggestaltung: Rudolf Linn

Umschlagmotiv: © ullstein bild - amw

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

eBook: LVD GmbH, Berlin

Ich stehe am Grab meines Vaters. Es ist Winter, und die Erde ist kalt. Der St.-Annen-Friedhof liegt in Berlin-Dahlem. Die kleine Feldstein-Kirche, die sich auf ihm erhebt, wurde um 1200 erbaut. Ich stecke meine rote Rose in die Erde. Sie ist allein. Ich bin allein – allein in der Kälte. Auf dem Grabstein steht Dr. phil. Rudi Dutschke. 1940–1979.

Ein paar Steine liegen auf dem Grabstein. Ich mustere sie, berühre sie. Sie sind klein und rund. Manche sind auch kantig, andere eher spitz. Ein paar sind heruntergefallen und liegen auf dem Boden. Ich möchte ihre Geschichte kennenlernen und wissen, warum sie hier sind. Langsam nehme ich Stein um Stein in die Hand und wärme sie. Sie nehmen meine Wärme an, nehmen mir die Wärme. Meine Hand wird kalt. Ich lege die Steine wieder zurück. Wärme mir die Hände. Lese auch die Steine auf, die auf den Boden gefallen sind, und finde auf dem Grabstein wieder einen Platz für sie.

Vor dem Tod sind alle gleich, besagt ein jüdisches Sprichwort. Ich bin auf der Suche nach mir selbst. In meiner Lebensmitte, mit 45 Jahren. Ich bin jetzt fünf Jahre älter, als mein Vater war, als er starb. Er war alt. Ich bin alt. In der Mitte des Lebens. Mit fast erwachsenen Kindern. Ich weiß, dass das Leben zerbrechlich ist. Ich bin vergänglich, habe Freunde sterben sehen. Ich kenne meine Stärken und Schwächen – nicht alle, bei weitem nicht alle.

Fröhlich, glücklich, einsam. Die Fröhlichen leben am längsten. Ich befinde mich in der Talsohle der Glückskurve. Von nun an geht es wieder aufwärts. Das Leben in seiner unend­lichen Wiederholung ist trivial. Das Triviale ist gut.

Ich schaue zum Himmel. Der Große Bär blickt auf mich her­ab. Der Polarstern weist nach Norden. In der heraufziehenden Dunkelheit halte ich am winterklaren Sternenhimmel nach Sternschnuppen Ausschau. Suche nach kleinen Anzeichen, dass es mehr gibt am Himmel. Ein Satellit gleitet erhaben zwischen den Sternen der Kassiopeia vorbei. Dahinter ist der Himmel unendlich. Ich blicke weit hinaus ins Dunkel, bis ich nichts mehr sehe und mich der Raum verschluckt. Ich spüre die Unendlichkeit. Die Dunkelheit übt einen starken Sog auf mich aus. Ich lasse meinen Blick zu anderen Sonnen, zu den Galaxien schweifen. Zur Andromedagalaxie, die vage flim­mert und Milliarden von Sternen enthält, die sich mit unfassbarer Schnelligkeit auf uns zubewegen. Halte nach Leben Ausschau. Halte danach Ausschau, ob sich noch etwas anderes am Himmel rührt. Stehe still und schaue – schaue lange. Sehe etwas. Sehe nichts. Suche nach mehr, das mir am Himmel den Weg weist.

Und ich halte nach meinem Vater Ausschau. Jahr um Jahr halte ich nach meinem Vater Ausschau. Heute sind die Wolken weiß, reflektieren das Mondlicht. Mein Vater fliegt am Himmel, gemeinsam mit den Wolken. Wenn die Wolken da sind, ist auch er da. Eine einzelne Wolke zieht am Mond vorbei.

Wenn die Sonne scheint, vergesse ich ihn. Ja, dann vergesse ich ihn. Die Sonne zerstreut die Wolken, bei denen er ist. Ich schließe die Augen und wende mein Gesicht der Sonne zu. Vor meinem inneren Auge bilden sich Wolken, sie gleiten langsam über die feuchte, sanfte Wölbung der Hornhaut. Es ist ein Zustand von Zwischenzeit. Eine Zeit außerhalb der Zeit. Ich kneife die Augen fester zusammen, und die Wolken werden kleiner. Die Zeit setzt wieder ein. Ich bin auf der ­Suche nach mir selbst, nach meinen Gespenstern. In meinen Träumen bin ich immer auf der Suche, eine Suche ersetzt die an­dere – ich bin auf der Suche nach der Trauer, dem Leben und der Hoffnung. Ich bin auf der Suche, um meinen Vater wiederzufinden, mich selbst wiederzufinden.

Ich schließe die Augen – um den Schmerz zu verdrängen. Schließe sie ganz fest. Um ihn zu verdrängen. Kneife sie noch fester zusammen. Es spannt, tut weh – Schmerzen. Physische Schmerzen, die den seelischen Schmerz verdrängen. Mein Kopf kann nicht anders. Der Schmerz lässt nach. Die Dun­kelheit ist absolut. Ich kneife meine Augen so fest zusammen, bis ich nur noch das sehen und mich an das erinnern kann, was im Leben von Bedeutung ist.

Tod, Liebe und Geburt. Tod, Liebe und Geburt.

Das Fleisch öffnet sich. Zieht sich rhythmisch zusammen. Es ist rot – hellrot, wenn es sich zusammenzieht. Das Fleisch öffnet sich abermals. Der Muttermund ist geschlossen. Der Venushügel wölbt sich hoch, und die Schamlippen spreizen sich bis zum Damm. Er ist jetzt keine erogene Zone mehr. Ist von unzähligen Wehen zermürbt und zum Zerreißen gespannt. Aber er hält stand. Das Fleisch öffnet sich, öffnet sich brutal. Die Wehen sind heftig in ihrer Ausdauer.

Die kleinen Schamlippen reagieren empfindlich auf Druck und Berührungen. Beim Sex füllen sie sich mit Blut und färben sich dunkler. In den letzten Wochen vor dem errechneten Geburtstermin hatten wir keinen Sex mehr. Jetzt sind wir drei Wochen über den Termin hinaus, und die Gebärmutterwand fängt an, sich nach oben zurückzuziehen.

Neun Monate und drei Wochen lang haben die inneren Geschlechtsorgane eine große Umorganisation durchlaufen, sind wie Legosteine an eine andere Stelle gerückt. Haben dem Leben, das entstand, Platz gemacht. Ich bin eingedrungen. Du hast empfangen. Ich wachse da drinnen, eine Hälfte von mir, wie auch eine Hälfte von dir. Deine Scheide hat sich bis zur Gebärmutter ausgedehnt, die ein 3,5 Kilogramm schweres und 37 Grad warmes Kind beherbergt. Die Klitoris ist nicht mehr zu sehen. Sie sitzt dort, wo die kleinen Schamlippen aufeinandertreffen – eine kleine, glatte rosa Knospe. Die sich drinnen versteckt.

Das Kind drückt mit dem Kopf gegen den Muttermund. Drückt fest, will heraus. Der Gebärmutterhals besteht aus zähem Gewebe, gibt aber allmählich nach. Unser Erstgeborener hat schon den Weg gebahnt. Die Wehen, der stete Druck des Kopfes und der geschmeidig gewordene Gebärmutterhals erledigen den Rest. Der Weg des Kindes durch das Becken beginnt.

Der Muttermund öffnet sich weiter. Dein Schrei ist kurz, hektisch, wie der eines Tieres. Ich werde wach. Ich befinde mich mehr liegend als sitzend auf einem Stuhl im Entbindungszimmer. Sehe mich orientierungslos um. Ich war für einen Moment eingeschlafen. Ein weiterer Schrei, der tief aus deinem Bauch kommt. Ich verspüre einen leichten Anfall von Panik. Mein Rücken tut weh.

Deine Schamlippen teilen sich erneut. Du dehnst dich aus. Dein Körper ist autonom, gehorcht nur noch Instinkten. Ich sehe, wie sich dein Gesicht verzerrt. Ein Schrei – Wut. Meine Ohren sind taub. Ich registriere nur. Lächle. Versuche zu lächeln. Ich schweige. Ich habe hier nichts zu sagen.

Der Muttermund ist jetzt um acht Zentimeter erweitert. Ein Schrei. Die Wehen nehmen an Stärke und Dauer zu, sind überwältigend. Die Gebärmutter ist ein Muskel, der Überstunden macht. Sie zieht sich zusammen und schickt Schmerzen durch deinen Körper. Die Schmerzen sind im Schambein. Dein Bauch bewegt sich, seine Oberfläche wird ganz hart. Meine Hand fährt darüber. Ein Knie drückt sich gegen die Bauch­decke. Ich berühre es. Es bewegt sich. Dein ganzer Körper bewegt sich, der Bauch ändert seine Gestalt, und dein Körper wechselt wie ein Chamäleon seine Farbe, je nachdem, wo sich am meisten Blut befindet. Du spannst dich an. Schreist. Entspannst dich wieder. Du brauchst Luft, ich öffne ein Fenster. Tief und fest atmest du ein. Schweiß rinnt deine Brüste hinab, die prall von Milch sind – rund und weich. Ich streiche über sie. Du beißt dir leicht auf die Lippe. Erneut. Fest. Sie blutet. Die Zeit schwebt davon.

Die nächste Wehe bricht über deinen Körper herein, und dein klares Gesicht verfinstert sich. Kräfte – Naturkräfte. Du schwebst beinah im Bett. Ich sehe nur dich. Verfolge den äußeren Kampf, den du mit deinem Körper ausfichst. Den inneren Kampf, den du ausfichst. Das neue Leben.

Eine weitere Wehe lässt die Fruchtblase platzen. Das Frucht­­wasser, das das Kind umgeben und beschützt hat, fließt heraus und benässt das Bett. Du bist außer dir. Froh. Resigniert. Wütend. Bist es leid. Leidest. Nur kurz registrierst du mich, unsere Liebe. Schlummerst, lächelst, schwitzt. Sprichst mit dir selbst, während du auf die nächste Wehe wartest. Schreist.

Diese Wehe war stark. Du ziehst dich in dich selbst zurück. Findest Ruhe. Atmest. Deine Augen schließen sich. Das Wechselspiel auf deinem Gesicht fasziniert mich. In deine blauen Augen kommt wieder Leben, sie starren mich an, während die Wehe in deinem Schoß, deiner Lende, deinem Körper, deinem Kopf wütet. Die Wehe ist überall. Anhaltend und unendlich.

Der Muttermund ist mittlerweile ganz geöffnet und weist einen Durchmesser von zehn Zentimetern auf. Ist geweitet.

»Pressen!«, sage ich.

»Halt den Mund!«, rufst du mir zu. »Ich kann das allein.«

Das Kind drückt sich das letzte Stück ins Becken hinunter. Drückt gegen den Beckenboden und die Scheide und den Darm. Drückt. Ich stoße einen seltsamen Schrei aus, beinah träumerisch. Ich lächle leicht benommen. Bin fasziniert und erschrocken. Die Naturkräfte sind wild. Brutal. Das Pressen geht weiter. Die Wehe lässt nach. Du atmest.

Ein dunkler Haarschopf kommt zwischen den Schamlippen zum Vorschein. Der Muttermund ist nun vollständig geöffnet. Der Kopf des Kindes presst sich heraus. Unser Kind wird geboren. Blut, Sekrete, Flüssigkeiten, der Wochenfluss gleiten mit ihm zusammen heraus. Die nächste Wehe kommt. Der Körper folgt hinterher. Unser Kind schreit. Wir lächeln. Entbindung. Erlösung. Die Nabelschnur wird durchtrennt.

Unsere Tochter ist geboren.

Der Mutterkuchen unserer Tochter wird etwas später ausgestoßen. Blut tropft von ihm. Das war ihr Zuhause.

Wir sind noch immer im Entbindungszimmer des Uni­versitätskrankenhauses Aarhus; ich nicke auf einer Pritsche ein. Sehe, wie eine Samenzelle mit einer Eizelle verschmilzt und sich teilt. Immer wieder, unendlich, bis ein kleiner Em­bryo daraus entsteht, den wir im Ultraschall sehen. Die Finger, den Kopf, den Körper, das Herz. Das Herz – es klopft dort drinnen. Ich sehe das Herz meiner Frau von außen. Es schlägt schnell. Zwei Herzen, so nahe und fast eins – bis jetzt. Neun Mo­nate liegen hinter uns, ein neunmonatiges Auf und Ab der Gefühle. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Ein Leben ist geboren. Die unendliche Fortsetzung von Leben, Leben um Leben. Geboren und wiedergeboren, immer wieder.

Leben heißt, Stoffe aufzunehmen und auszuscheiden, sich zu reproduzieren und zu sterben. Der Schritt von Nicht-Leben zu Leben kommt einem kleinen Urknall gleich.

Bevor aus Leben Leben wird, ist es ein Leben im Potentialis. Ein Leben, das zwischen Leben und Nicht-Leben schwebt. Ein Zwischenleben. Es ist das Leben, das auf den Weg gebracht wird, wenn zwei Keimzellen miteinander verschmelzen – zwei genetische Codes, die sich vermischen und an alle Zellnachkommen weitergegeben werden.

Wir bestehen aus Zellen. Sind Zellen. Eine unendliche Anzahl von Zellen – 100 Billionen. Und mit jedem Tag kommen neue hinzu. Zellen, die sich teilen. Zellen, die leben und sterben. Das Leben beginnt mit dem Verschmelzen zweier Keimzellen. Der Mensch hat dem Leben Gefühle und Liebe beigebracht.

Du und ich. Ich bin der, der ich bin. Und ich bin der, der ich bin, weil mein Vater der war, der er war. Ich bin der, der ich bin, weil meine Mutter die ist, die sie ist. Ich bin der, der ich bin, weil ich bin, wie ich bin. Du bist du. Und durch unsere Kinder werden wir wiedergeboren. Die ewige Geburt – vom Schoß zum Grab und wiedergeboren.

Ich sehe unsere Tochter an. Sehe mich selbst in ihr. Sie liegt mit offenen Augen da. Sie sieht uns an.

Ist klein. Zart. Hübsch. Lieblich.

Unsere Tochter ist geboren.

Geboren, um zu sterben

Berlin, 12. Januar 1968

Ich komme mit einem Schrei zur Welt. Im selben Moment wird mein Vater mit einem Stock niedergeschlagen, einem kräftigen Stock, aus einem alten, schweren Stück Eiche gedrechselt. Ein Baum, der geboren wurde, als der Pariser Aufstand im Blut der Kommunarden ertrank, während der Schlachtruf »Es lebe die Kommune!« noch in ihren erstarrten Gesichtern zu lesen war. Am Kopf meines Vaters bildet sich eine leichte Platzwunde, Blut sickert heraus. Er sagt nichts, guckt nur ungläubig, während die Tropfen seine dichten schwarzen Haare allmählich dunkelrot färben.

Es ist ein alter Mann, der brutal auf den Kopf meines Vaters einschlägt, ein Mann, der sein Leben lang an Gott geglaubt hat. Der Gottesfürchtige schert sich nicht um den Verletzten, sondern versteckt sich schweigend hinter dem Vorhang des Beichtstuhls.

Langsam tropft das Blut auf den Boden des Gotteshauses. Eine kleine rote Lache bildet sich, das Blut rinnt weiter, breitet sich aus. Langsam kühlt sich die warme Pfütze ab und wird matt, bis sie schließlich still auf den alten, abgetretenen Steinen trocknet.

Der alte Mann zittert heftig, sein Brustkorb hebt und senkt sich in schnellem Rhythmus. Er setzt an, ein weiteres Mal auszuholen. Zum ersten Mal flieht mein Vater, der ein ehemaliger Athlet ist, aus seiner Reichweite. Er wendet sich ruhig an ihn: »Ich mag in Ihren Augen ein Atheist sein, aber nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, und nur ein Christ kann ein guter Atheist sein. Und nur indem wir den wahren Glauben herausfordern, können wir den Boden für etwas Neues, etwas Ketzerisches bereiten.«

Rudi spricht weiter: »Der Pater in Kolumbien, der an der Spitze der Guerilleros steht und mit der Waffe in der Hand kämpft, ist ein Christ. Ich bin ein Christ. Du bist ein Christ. Wir sind beide Christen.«

Der alte Mann schüttelt den Kopf und stampft mit den Füßen wie ein gereizter Stier, der sich unschlüssig ist, ob er erneut angreifen soll. Provozierend schwenkt der Torero den roten Kommunistenschal. Aufgepeitscht von den seit Monaten durch die Boulevardpresse verbreiteten Schlachtrufen, tritt der Alte rasch vor und holt erneut kraftvoll mit dem Stock aus. Mein Vater schlägt hart zu Boden. Stille legt sich über alles, selbst der Grundton des Kirchenschiffs, jenes dumpfe Brausen, ist verstummt.

Ein Jesus aus weißem Marmor, kalt am Kreuz hängend, sieht mit seinen milden Augen auf sie hinab und predigt Frieden und Vergebung. Die Pfarrer in der Kirche wissen nicht, was sie tun sollen. Sie sind von einem göttlichen Blitz getroffen worden, der sie am Handeln hindert. Sie betrachten das Leid der anderen nur, sind außerstande, es zu verhindern.

Ein Krankenwagen rast mit meinem Vater davon. Und ich bin geboren. Geboren, um dem Tod ins Auge zu sehen.

Aarhus, 21. Dezember 1979

Ich habe einen seltsamen Traum. Einen Traum, wie ich ihn noch nie hatte, einen Traum von der Unendlichkeit. Ich träume, dass ich ewig leben und niemals sterben werde.

Heute ist der kürzeste Tag des Jahres, und ich freue mich auf die hereinbrechende Dunkelheit, denn nur in ihrem Schatten sieht man das Licht des Lebens brennen. Meiner Mutter fällt ein, was für ein besonderer Tag heute ist, und sie fängt urplötz­lich an, einen ihrer heidnischen Tänze zu Ehren der Fruchtbarkeit und all dessen aufzuführen, was vor dem Christentum lag.

Meine Schwester Polly und ich wechseln erstaunte Blicke und wissen nicht recht, ob wir lachen oder weinen sollen. Wenigstens haben wir gerade keinen Besuch von unseren Freunden.

Meine Mutter geht in die Küche, um an ihrem selbstgemischten Müsli aus biodynamischen Früchten und Nüssen weiterzuschnippeln. Der Mond hat ebenfalls die richtige Konstellation. Es ist ein perfekter Morgen.

Ich spiele mit meiner Märklin-Eisenbahn und träume von roten Würstchen mit Remoulade und gerösteten Zwiebeln. Würstchen kriege ich nur, wenn ich mir in der Mittagspause eins von meinem besten Freund Michael stibitze. Einmal hätte das beinah böse geendet, weil ich es einfach nicht geschafft habe, vor dem Verschlingen die Pelle abzuziehen. So ist sie in meiner Speiseröhre stecken geblieben, und mein Kopf hat allmählich eine blaue Farbe angenommen. Hektisch habe ich mit den Fingern in meiner Kehle herumgestochert, bis ich endlich einen Zipfel zu fassen kriegte, die Pelle herausziehen und den Rest der Wurst hinunterschlucken konnte. Michael hat sich vor Lachen gebogen, während ich meine Biomutter dahin wünschte, wo der Pfeffer wächst, und langsam wieder Luft bekam.

Die Eisenbahn ist mein Ein und Alles. Sie nimmt fast das ganze Zimmer ein und gibt in unserem kleinen Zuhause nicht nur Anlass zur Freude. Mir ist das egal, denn ich bin in meiner eigenen kleinen Welt Zugführer, Rangierer und Schaffner zugleich, und das schenkt mir in unserer Dreizimmerwohnung, in der ich sonst nur selten ich selbst sein kann, ein bisschen Freiheit.

Meine Schwester flucht regelmäßig über die Eisenbahn, was nicht selten zu Geschrei und Geheul führt und in einen leidenschaftlichen Nahkampf ausartet, wenn sie mitten in einen Gangsterkrieg in der 7th Street hineintrampelt und ich wie Al Capone die Sache selbst in die Hand nehme. Doch auch wenn Polly nicht so viel Kraft wie ich hat, bin ich schon mehrmals schreiend aus dem Zimmer gerannt. Vor allem das eine Mal, als sie mir eine Gabel zwischen die Augen gerammt hat, war sie eine ganze Woche lang die strahlende Siegerin.

Meistens bin allerdings ich es, der triumphiert und ihr eine klebt, so dass sie die Engel im Himmel singen hört, was natürlich sofort eine Sintflut von Tränen hervorruft.

Ein solcher Vorfall hat bewirkt, dass mein Vater mich – das erste und einzige Mal überhaupt – übers Knie gelegt und mir den Hintern versohlt hat. Es hat weh getan. Anschließend hat er mir tief in die Augen gesehen und mich in die Arme genommen. Dann hat er sich umgedreht, seine Hosen heruntergezogen, und nun war ich an der Reihe, ihm den Hintern zu versohlen. Meine Schmerzen waren schnell vergessen, als ich mit geballten Fäusten auf ihn eindrosch, bis mir der Schweiß ausbrach.

Berlin, 13. Januar 1968

Ich bin jetzt einen Tag alt. Mein Vater kommt lächelnd mit notdürftig bandagiertem Kopf auf mich zu. Er gleicht einer Mumie. Seine Haare stechen zwischen dem Verband hervor und lassen ihn noch furchterregender aussehen.

Ich bekomme es mit der Angst zu tun, als ich diesen mumifizierten Wilden sehe, und stimme ein ohrenbetäubendes Geschrei an. Die Krankenschwester kommt herbeigerannt und guckt, als ob sie ihren Augen nicht traute. Sie will gerade um Hilfe rufen, als sie erkennt, dass es mein Vater ist, dem Tränen in den Augen stehen. Sie lächelt und geht zurück in den Flur. Meine Mutter drückt mich fester an sich, und ich beruhige mich langsam wieder.

Mein Vater wendet sich an mich: »Ich hab keine Zeit, im Krankenhaus zu liegen«, versucht er mich leise zu überzeugen.

Er erzählt mir alles über Gott und die Welt. Wie wichtig es sei, an seinem Glauben festzuhalten, dem Glauben an sich und an die anderen. Seine Stimme klingt sanft und voll.

»Nur indem man die andere Wange hinhält und vergibt, kann man ihre kalten Herzen erobern und ihnen den Weg weisen.« Ein Lächeln liegt auf seinem Gesicht, als er mich auf den Arm nimmt. Ich fange erneut an zu wimmern.

Zu meiner Mutter sagt er: »In seinem tiefsten Inneren weiß der alte Mann bestimmt, was Liebe ist, doch wurde sie von einer Lügenflut verdrängt. Er kann nichts dafür. Ebendiese Blindheit ist es, die wir beseitigen müssen.«

»Aber sie wollen doch gar nicht sehen! Und was ist mit uns, unserem kleinen Sohn, diesem neuen Leben?«

»Ich weiß. Aber nur indem wir uns nicht beirren lassen, können wir auf dem Wasser jene kleinen Ringe entstehen ­lassen, und nur indem wir ihnen selbst den Weg weisen, können wir etwas bewegen. Wir müssen ihnen zeigen, dass wir die Geschichte tatsächlich beeinflussen können. Wir wollen schließlich nicht, dass wir zu hoffnungslosen Idioten der Geschichte werden. Aber du hast recht, es gibt keine Garantie dafür, dass es uns gelingt, die Gesellschaft zu ändern. Es ist ein Versuch, eine Chance. Und wir werden sie gemeinsam ergreifen.«

Ich blinzle mit meinen braunen Augen.

Aarhus, 24. Dezember 1979

Es ist noch sehr früh, und ich bin ganz aufgeregt. Der Tag, auf den ich seit Monaten warte, ist endlich da. Es ist Heiligabend.

Dieses Weihnachten ist ein ganz besonderes Weihnachten. Ich freue mich so sehr darauf, Zeit mit meinem Vater zu verbringen, weil er sonst oft nicht da und auf Reisen im Ausland ist. Vor allem in Deutschland, in Berlin, seiner zweiten Heimatstadt. Und jetzt werden wir mehrere Wochen zusammen sein – wir alle.

Wir werden gemeinsam Weihnachten feiern, wir werden spielen und singen – rund um die Uhr. Die Politik, die Atomwaffen, der Umweltschutz, die Grünen und die Wahlen in Deutschland stehen für einen Moment hintenan. Ich bin elf Jahre alt, bald zwölf, und meistens ein fröhliches Kind. Ich bin mir sicher, dass dieses Weihnachtsfest viel schöner wird als alle anderen zuvor. Meine Schwester Polly ist zehn, und wir sind typische Geschwister. Wir spielen zusammen, prügeln uns, lachen und weinen miteinander. Sie möchte später Friseurin werden, und ich lasse mir gern von ihr die Haare kämmen. Ich habe ziemlich lange Haare, fast so lange wie meine Schwester, einen richtigen Topfschnitt.

Ich erfinde immer neue Frisuren. Eine meiner Lieblingsfrisuren ist die Orang-Utan-Mähne. Es dauert ewig, sie zu machen, aber Polly ist eine geduldige Friseurin, und ich genieße jede Sekunde. Ich liebe auch die Krokodil-Frisier-Methode, bei der meine Schwester so tut, als wäre sie ein Krokodil, das mit allen zehn Krallen meine Kopfhaut bearbeitet. Das kratzt so schön!

Ich schaue vom oberen Stock des Etagenbetts zu Polly hinunter, aber sie schläft immer noch tief und fest. Ich sehe sofort, dass es noch dauern wird, bis sie ihre Frisierkünste wieder an mir ausprobiert.

Ich bleibe noch liegen und dribbel ein bisschen mit meinem Lederball, der am Fußende des Bettes liegt. Ich spiele Fußball in einem Verein. Meine Mannschaft ist eine der besten in Aarhus. Ich bin zwar nicht der beste Spieler, aber doch besser als der Durchschnitt. Ich habe wohl etwas vom sportlichen Talent meines Vaters geerbt. Er war Ende der 50er Jahre einer der besten Zehnkämpfer der DDR.

Manchmal spielt Rudi mit mir und meiner Schwester Fußball. Dann schließt sich meist ein Haufen anderer Jungen und Mädchen an. Die finden es natürlich toll, wenn ein Erwachsener mitspielt.

Ich nicke noch einmal ein.

Berlin, 20. Januar 1968

Inzwischen ist eine Woche vergangen, und ich bin jetzt 7 x 24 x 60 x 60 Sekunden alt. Die Entwicklung meiner Sinne ist in vollem Gange, und ich sauge alles Neue in tiefen, lernenden Zügen in mich auf – inhaliere es. Meine Ohren hören Geräusche, die mir fremd sind: Telefone, die klingeln, Uhren, die eilig ticken, Stimmen und Geräusche von Menschen.

Meine Augen sehen Dinge zum ersten Mal, mein Mund schmeckt Dinge zum ersten Mal. Meine Finger berühren Gegenstände, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass man sie berühren kann. Und ich mache einfach so weiter, bin ganz und gar offen für alles Neue. Ich sauge das Neue, das Fremde in mich ein, um es kennenzulernen. Es ist herrlich. Ich entdecke die Welt, mit jeder Berührung erweitert sich mein Horizont. Wir verschmelzen mehr und mehr miteinander, ich und das, was sich um mich herum befindet – das Fremde.

Dieses Fremde sieht jeden Tag zu mir hinunter, und ich sehe zu ihm hoch. Rothaarige Frauen, bärtige Männer schmusen mit mir. Schwule und Lesben kommen zu Besuch, um mich anzuschauen. Argentinier, Chilenen, Afghanen, Pakistaner, Israelis, Türken, Deutsche, Christen, Juden, Moslems. Menschen. Sie alle sehen zu mir herunter. Ja, um mein Kinderbett herrscht ein buntes Treiben, was ich größtenteils genieße. Einer von den Besuchern sagt mit sanfter Stimme:

»Ich bin erstaunt, dass man mich manchmal darauf hinweist, dass ich hier fremd bin. Welcher Mensch glaubt, behaupten zu können, dass er oder sie hier mehr zu Hause ist als ich?«

Ich aber weiß, dass mein Zuhause da ist, wo mein Vater und meine Mutter sind. Und dass ich mich in ihrer Gegenwart geborgen fühle.

Und dann sind da noch die vielen alten Menschen – mein Vater genießt die Gesellschaft von alten Leuten. Für ihn sind sie lebendige Geschichte; er unterhält sich gerne mit ihnen, und alles, was sie sagen, nimmt er mit Feuereifer auf. Die Alten haben noch Dinge erlebt und mit eigenen Augen gesehen, von denen er nur gelesen hat und die er sich nur in seiner Phantasie ausmalen kann. Sie haben an der Ostfront gekämpft und die Hatz der Nazis am eigenen Leib erfahren. Sie haben in der Weimarer Republik das Tanzbein geschwungen und sind nackt auf dem Potsdamer Platz umhergelaufen. Und nicht zuletzt haben sie zur selben Zeit gelebt wie sein größtes Vorbild – Rosa Luxemburg. Ja, es vergeht kein Tag, an dem nicht ein alter Mann oder eine alte Frau bei uns vorbeischauen oder anrufen. Vor allem drei Männer sind oft bei uns zu Besuch – Helmut Gollwitzer, Herbert Marcuse und Ernst Bloch. Sie sind fast wie Großväter für mich.

Mein siebter Abend endet damit, dass mein Vater laut sein Lieblingszitat deklamiert: »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden.«

Ich schlafe. Ohne dass ich mir dessen bewusst bin, ist aus mir ein anderer geworden als der, der ich gestern noch war. Und solange das so ist, lebe ich.

Ich bin ein Geist, der mit jedem Atemzug im Werden ist.

Aarhus, 24. Dezember 1979

Ich will meinen Eltern das Frühstück ans Bett bringen. Auf dem Tablett drängen sich die Köstlichkeiten, Saft, durchwachsener Speck, Eier, frisches Brot vom Bäcker, Obst. Bananen, Äpfel und Apfelsinen. Rudi und Gretchen liegen noch unter der Decke und geben lustige Grunzgeräusche von sich. Ich lächle und klopfe besonders laut an die Tür.

Sie richten sich zerzaust und ein wenig verlegen im Bett auf, als ich eintrete, geben sich aber den Anschein, als wäre alles ganz normal.

Und lächeln mich an.

Im Zimmer hängt ein leichter Geruch von Hefe. Rudis ­Ta­bletten gegen Epilepsie stehen griffbereit neben dem Bett. Überall liegen Münzen herum, vor allem deutsches Geld, aber auch italienische Lira und holländische Gulden. Briefe und Bücher stapeln sich wild durcheinander. Ich sehe mich um und halte nach Geschenken Ausschau. Ich stelle das Tablett ab und gehe wieder in mein Zimmer.

Meine Schwester schläft immer noch, sie ist eine richtige Schlaf­mütze. Sie ist immer gut ausgeschlafen und ruht in sich selbst.

Ich bringe den Müll runter. Gehe die schmale Treppe hinab. Wir wohnen im zweiten Stock in der Heibergsgade, zur Straße hin, aber wenn ich in den Hof will, muss ich insgesamt sechs Stockwerke bewältigen, weil das Haus an einem Hang liegt. Ich nehme sie im gestreckten Galopp, kann innerhalb von 24 Sekunden unten sein – das sind vier Sekunden pro Stockwerk. Es macht Lärm, wenn ich auf den Treppenabsätzen lande, zehn Stufen auf einmal nehme.

Ich werfe die Mülltüten in den Container. Bleibe kurz im Freien stehen und schaue mich um. Es ist mucksmäuschenstill, erwartungsvolle Ruhe. Alle schweigen, alle sind in gespannter Erwartung. Warten – warten auf Weihnachten und die Geschenke.

Ich stiefle langsam wieder nach oben. Gehe wieder ins Bett. Strecke mich noch einmal aus.

Berlin, 21. Januar 1968

Niemand hat mich über die Gefahren aufgeklärt, die in dem Begehren nach dem Fremden lauern. Vieles ist gefährlich und versucht tagtäglich, die uns angeborene Offenheit zunichte­zumachen. Nur als Neugeborene und damit in vollkommener Naivität können wir ungehindert Neues in uns aufnehmen und lernen. Und ich bin ein Weltmeister im Lernen.

Meine vollkommene Naivität öffnet mir die Augen für alles Fremde, das kein Teil von mir ist. Und das mit einer Geschwindigkeit, die nur dem Naiven vergönnt ist. Ich werde eins mit dem Jetzt, dem Licht.

Je älter wir werden, desto dunkler wird es um uns herum; wir sehen nicht bis auf den Grund der Dinge. Leben im Dunkel. Im Dunkel des gelebten Augenblicks. Bis wir zuletzt mit dieser Dunkelheit eins werden.

Mein Vater schreibt Tagebuch.

»Briefe von Wolf Biermann. Sehr solidarisch und mich in einem gewissen Sinne warnend vor eventuellen Anschlägen der Rechten gegen mich. Scheint mir übertrieben zu sein, bisher konnte ich mich auf meine Beine und Fäuste, vom Maul ganz zu schweigen, verlassen.«1

Mein Vater drückt mich an sich. Sieht mir in die Augen. Hält mich im Arm, wiegt mich hin und her. Schreibt weiter. Liest sich die Worte ein paarmal laut vor:

»Die Denunziationen in der Presse nehmen schwer zu, sie schießen von allen möglichen Seiten. Laufend mit Gegen­dar­stellungen zu reagieren ist hoffnungslos, wir haben etwas anderes zu tun. Wir werden den Vietnamkongress zu einer inter­nationalen Bekundigung der Solidarität mit einem bebombten und kämpfenden Volk machen.«2

Vietnam, 1968

Der Tod kommt aus der Luft, und zur »peak killing hour« um 16 Uhr Ortszeit ist er besonders perfide. Die Nachmittagshitze und der Tod gehen Hand in Hand. Mütter tragen ihre kleinen Kinder in Tüchern auf dem Rücken, während um sie herum die Bomben in willkürlichen Formationen auf den Reis­feldern einschlagen.

Bomben, die Mütter kinderlos und die Kinder mutterlos machen.

Mutterlos.

Der Tod fällt auch in Form spezieller Päckchen vom Himmel, die hinterhältig auf den Reisfeldern locken. Sie sehen aus wie kleine Geschenke, und als die vietnamesischen Kinder sie neugierig aufheben, fliegen jene unter der Begleitmusik der amerikanischen Nationalhymne, die die Schlachtfelder beschallt, in die Luft – Nationalismus, Christentum und Tod sind eine ewig wiederkehrende, ungute Mischung.

Am 31. Januar sitzt Ho Chi Minh drei Generälen von der Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams FNL gegenüber. Sie reden über die Tet-Offensive, planen die Überraschungsangriffe auf Dutzende Städte und sämtliche Militärbasen in Südvietnam. Das gesamte nordvietnamesische Heer ist in Bewegung, einer unsichtbaren Bewegung, die aus der Luft nicht zu sehen ist, auch nicht von der stärksten Militärmacht der Welt. Sie geht so reibungslos und gründlich getarnt vonstatten, dass sie gar nicht zu existieren scheint. Unter der schützenden Decke aus dichtem Grün und durch schmale, unterirdische Gänge rückt der Vietcong langsam nach Süden vor.

Berlin, 1. Februar 1968

Ein Freudengebrüll hallt vom Himmel über Berlin wider. Es ist Morgen. Ich werde wach und sehe meinen Vater einen Kriegstanz aufführen, und wenn er nicht gerade umherspringt, klebt er am Radio, das mit seinem Knistern beinah die Stimme des Kommentators übertönt. Während des Tet-Festes, des viet­namesischen Neujahrsfestes, haben sich frühmorgens, als es noch dunkel war, ein paar Tausend Vietcong-Kämpfer in die Hauptstadt Südvietnams, Saigon, eingeschlichen. In kürzester Zeit haben sie die amerikanische Botschaft und Radio Saigon eingenommen. Bei den heftigen Gefechten zwischen Amerikanern und Nordvietnamesen kam es zu unzähligen Toten. Erst als sich eine gut ausgerüstete US-Einheit und das halbe südvietnamesische Heer endlich gesammelt hatten, gelang es der USA, den Vietcong zurückzuschlagen. Doch der Angriff auf Saigon war das erste deutliche Anzeichen dafür, dass Besatzer ein Land niemals auf Dauer besetzt halten können. Und dass die Verhältnisse veränderbar sind.

Mein Vater dreht sich jubelnd mit mir im Kreis herum. Dass ein mit Vorderladern und russischen Kalaschnikows ausgerüstetes Bauernheer mit Gewitztheit und Phantasie eine Supermacht überrumpeln konnte, zeigt, dass Liebe, Leidenschaft und Kreativität immer über die Macht, die Rationalität, die Tradition triumphieren wird. So sieht er es, glaubt daran. Er freut sich.

Mein Vater küsst meine Mutter zum Abschied und ist aus der Tür, noch bevor ich gestillt wurde. Die Studenten planen eine Demonstration gegen die USA und den Vietnamkrieg.

Berlin, Februar 1968

Ich liege in einem Kinderwagen. Auf Dynamit – Plastikspreng­stoff C-104. Es tut weh, darauf zu liegen, und ich fühle mich überhaupt nicht wohl. Meine Eltern lächeln ein wenig nervös zu mir hinunter, ich erwidere ihr Lächeln. Der Sprengstoff ist kalt, und das Licht der Überwachungskameras blendet mich durch meine inzwischen geschlossenen Lider. Neben meinen Eltern geht ein Mann. Er hat einen großen Rauschebart und eine sehr tiefe, volle Stimme. Die drei sprechen vom Terror, von der Dritten Welt und davon, die unterdrückten Länder zu befreien.

Mein Vater sagt, dass aus Befreiern oft Besatzer werden. Der andere Mann, ein exzentrischer Italiener, versucht ihn von der Idee zu überzeugen, ein großes Schiff in die Luft zu sprengen.

Der Kinderwagen mit seinem tödlichen Inhalt holpert über die Pflastersteine. Meine Mutter hat Angst, dass ich, wir, ja ­alles zusammen in die Luft fliegen könnte. Aber sie ist die ­Deckung, und ich bin die perfekte Tarnung – zwei Kilo Plastiksprengstoff, versteckt unter einem vier Kilo schweren, 37,2 Grad warmen kleinen Jungen auf einer Kindermatratze.

Die Freedom ist ein amerikanisches Schiff und hat 1000 Tonnen Waffen geladen. Sie haben nur einen Zweck – zu töten, und zwar am besten so viele Menschen wie möglich. Die Fracht der Freedom kann locker 75000 Vietnamesen töten. Und wenn die Waffen von Profis mit Geschick und Präzision bedient werden, können es doppelt so viele werden.

Ja, die protestantische Arbeitsethik erreicht neue Dimensionen, wenn eine B-52 mit einer zehnköpfigen Besatzung hintereinanderweg 14 Dörfer vernichtet, von denen noch Tage danach Napalmflammen aufsteigen. Bomben jedweder Größe und Art fallen vom Himmel. Die Detonationen sprengen jedes Trommelfell. Druckwellen rasen zu Boden und reißen ­alles entzwei. Das Grauen ist vollkommen. Ich liege auf Kaltem. Der Tod ist kalt. Knochenkalt.

Aarhus, 24. Dezember 1979

Ich werde erneut wach. Meine Schwester schläft immer noch. Sie liegt reglos im Bett und atmet tief und gleichmäßig. Ich klettere leise aus dem Etagenbett und berühre ihre langen braunen Haare. Sie sind weich. Polly dreht sich um. Sie steht immer spät auf, wenn wir nicht zur Schule gehen müssen. Ein kräftiger Mandelduft dringt ins Zimmer. Meine Eltern sind aufgestanden. Ich höre es rascheln – das Rascheln von Papier. Glanzpapier, Silberpapier, Goldpapier. Sie packen Geschenke ein. Meine Weihnachtsgeschenke.

Sonst spart meine Mutter immer, wo sie nur kann, weil das Geld bei uns knapp ist. Oft leben wir von Zuwendungen und Geschenken von freundlichen Mitmenschen. Einmal haben wir sogar Geld vom Bundespräsidenten Gustav Heinemann bekommen.

Ich spähe durch den Türspalt, kann aber nicht erkennen, was meine Mutter gerade einpackt. Rudi hat mich entdeckt und lächelt mir zu. Ich sehe, dass er für uns beide schon das Schachspiel aufgebaut hat und mit Weiß spielen möchte.

Ich hole mein Schachbuch aus dem Regal und plane meine Strategie. Ich will die Figuren meines Vaters eine nach der anderen aus dem Gefecht ziehen und ihn mit einem taktischen Damenopfer in 17 Zügen schlagen. Ich werde in der Eröffnung keine Zeit mit einem einfallslosen Vor und Zurück vergeuden. Ich werde gleich alle Figuren ins Spiel bringen. Und ich rochiere, um sofort meinen König in Sicherheit zu bringen.

Vietnam, 1968

Der Krieg kommt aus der Luft. Aber er wird nicht in der Luft gewonnen und auch nicht auf dem Schlachtfeld – er wird in den Dörfern gewonnen. Präsident Diem, Vietnams demokratische Einmannregierung, das US-Militär und die CIA wollen die Herzen der Vietnamesen erobern.

Die PR-Maschinerie läuft auf Hochtouren. Mehrere Programme sollen für den Aufbau des neuen Vietnam sorgen: New Life Hamlets, Rural Construction, Nationbuilding, Revolutionary Development und nicht zuletzt das Hearts-and-Minds-Programm. Dörfer werden wiederaufgebaut und neue Schulen mit Ziegeldächern errichtet. Ja, es entstehen Dörfer mit neuem Leben. Die Bürokraten sprechen von großen Fortschritten. Jungen und Mädchen können endlich wieder lernen, wie die Erde in sieben Tagen erschaffen wurde. Nur gibt es keine Lehrer. Ein zackiger Oberst mit Bürstenschnitt brüllt: »Wenn wir erst mal Frieden haben, werden hier Waren und Lehrer im Überfluss ans Ufer geschwemmt!«

Der Kampf um den American way of life führt durch den Magen. Lebensmittelkonserven werden aus großen Pritschenwagen verteilt. »Schinken!«, schreien die jungen GIs. Sie werfen den Kindern Kaugummis und andere Süßigkeiten zu. Die Erwachsenen erhalten Unterweisungen in Hygiene, Schweinezucht und Wechselwirtschaft: Weg mit der Tausch- und geradewegs hinein in die kapitalistische Marktwirtschaft, so zieht das Wachstum an!

Die großen Esso-Treibstofftanks liefern das Bühnenbild für das ganze Theater. Sie stehen da und harren der Leerung. Ein Bomber nach dem anderen landet und stillt seinen Durst – kein Krieg ohne Öl. Skyraiders, Super Sabres, Phantoms und Überwachungsflugzeuge stillen wie summende Bienen auf einem Lavendelfeld ihren Durst. An Washington’s Birthday melden die Luftwaffe und die Marines allein über Südvietnam 460 Einsätze.

Während sich der Kampf um Frieden und Gerechtigkeit ausweitet, geht die Mutter eines getöteten jungen Marine­infanteristen mit einem Brief ihres Sohnes an die Öffentlichkeit. Er hat darin beschrieben, wie er gezwungen wurde, die verwundeten Vietcongs in den Kopf zu schießen. Die USA streiten alles ab.

Ein Journalist berichtet, was er erlebte, als er in einem amerikanischen Bombergeschwader mitflog: Ein Vietcong-Soldat hat mit seinem Fahrrad auf der Straße angehalten und mit seinem Gewehr auf die Bomber am Himmel gezielt. Was diese mit einer ganzen Ladung Napalm beantworteten, genug, um eine ganze Kompanie auszulöschen. Der Tod hat seinen Preis. One down, a million to go. Hero for one day.

Berlin, Februar 1968

Meine Eltern wollen sich mit dem Kinderwagen aus dem Staub machen. Sie wollen weg. Der exzentrische Italiener ist enttäuscht. Er lamentiert laut auf Italienisch und geht dann dazu über, auf Deutsch zu schreien: »Wir retten 75000 Menschen das Leben, und wenn wir Pech haben, sterben ein paar Soldaten. Das lohnt sich doch wohl!«

Meine Eltern sind im Zweifel – ein Kind für 1000 Kinder.

Der Italiener fährt fort: »Wenn für die westlichen Werte die Welt in die Steinzeit zurückgebombt wird, müssen wir dann etwa nicht rebellieren?«

Er hat sich warm geredet. »Wenn es ihnen nur darum geht, möglichst effektive, d. h. möglichst zerstörerische Militäroperationen mit möglichst vielen Bomben durchzuführen, müssen wir dann nicht dagegen vorgehen? Was sie tun, sind keine humanitären Aktionen, sondern es geht um Bomben, denen sie auch noch Namen geben – Weihnachtsbomben über Hanoi, mit einer kleinen Extraportion Funkenregen. Und da­gegen sollen wir also nichts unternehmen? Nichts tun, wenn Hunderttausende vietnamesische Zivilisten getötet werden? Wenn Militär- und Sicherheitsberater sagen, dass man den ›breaking point‹ der Vietnamesen erreichen müsse! Während die Zivilbevölkerung stirbt und der Vietcong sich vor dem Bombenregen tief unten in ihren Gängen verschanzt!«

Ich liege immer noch auf dem kalten Sprengstoff, friere und weine. Meine Mutter nimmt mich hoch und sieht hinab in den Kinderwagen. Ihr treten Tränen in die Augen.

»Das geht nicht. Uns ist ein neues Leben geschenkt worden, und nun wollen wir anderen das Leben nehmen. Das geht einfach nicht«, sagt sie.

Ich lächle und gebe ein Glucksen von mir.

Der Italiener hebt von neuem an. »Ist es etwa hinnehmbar, dass die Amerikaner und damit auch die Deutschen, ihre Alliierten, Tausende Kinder mit diesen Waffen töten? Wir müssen den Kampf aufnehmen! Auch wenn die Gefahr besteht, dass wir dabei unsere eigenen Kinder verlieren. Eine bessere Welt zu erschaffen erfordert Opfer. Revolutionäre werden nicht im Kinderzimmer geboren«, sagt er.

Mein Vater schwankt. Meine Mutter setzt sich durch.

Der Italiener flucht leise, hat aber begriffen, dass meine großen braunen Augen meine Eltern dazu gebracht haben, sich zu besinnen – sich auf die Liebe zu besinnen. Er berührt mich mit seiner rauhen Wange und gibt mir einen Kuss. Ich lächle.

Meine Eltern betten mich wieder auf die kalte, harte Unterlage im Kinderwagen und kehren mit mir nach Hause zurück. Entsorgen unterwegs den Sprengstoff.

Unterdessen regnet es auf Berlin und Hanoi hinab. Hier Tropfen, da Bomben.

Aarhus, 24. Dezember 1979

Weiß hat es vom ersten Moment an sehr eilig. Zwei Bauern stürmen im Sauseschritt über das Spielfeld. Das Heer des weißen Königs ist nahezu unbesiegbar. Flankiert von den Springern, wagt es einen beeindruckenden, tollkühnen Angriff auf den schwarzen König.

Der sieht keinen anderen Ausweg, als seine Dame zu opfern. Ein erbärmlicher Schritt, ein falscher Zug. Er stellt sein Leben, seine Freiheit über die anderer. Mein Vater lächelt  mich an. Er wird siegen, und ich fliehe über Stock und Stein.

Die Bauern liegen wie gefallene Märtyrer aus einer anderen Zeit auf den von der Sonne gereiften Feldern. Kein Bauer ist mehr übrig, alle sind geschlagen. Vernichtet. Nur die Könige und ihre wackligen Türme stehen noch da. Es sind noch fünf Züge bis zum Schachmatt oder zum ewigen Remis.

Ich greife hektisch von rechts an. Das tue ich normalerweise nicht, ohne es meinem Vater vorher zu sagen. Denn er ist auf der rechten Seite blind. Mein Turm rast zurück zur Grundlinie. Ich gewinne mit Hilfe von Schweigen und Arglist. Mein Vater lacht: »Du alter Gauner!«

Berlin, Februar 1968