Rudolf Nurejew - Jan Stanislaw Witkiewicz - E-Book

Rudolf Nurejew E-Book

Jan Stanislaw Witkiewicz

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Beschreibung

"Rudolf Nurejew" erzählt die Geschichte des berühmtesten Balletttänzers der Welt. Geboren 1938 in Sibirien, er absolvierte noch mit 17 Jahren die renommierte Staatliche Choreografie-Schule Leningrad (heute: Waganowa-Ballettschule). Während einer Tournee 1961 in Paris beantragte er Asyl in Frankreich. Mit seinen Choreografien hat er viele klassische Ballettwerke wie "Nussknacker", "Don Quijote" und "Schwanensee" wiederbelebt und in die Moderne fortgeschrieben. Er machte den männlichen Rollenpart gleichberechtigt zu dem der Ballerina und tanzte mit den berühmtesten Tänzerinnen des 20. Jahrhunderts. Rudolf Nurejew war bis zu seinem frühen Tod 1993 ein leidenschaftlicher Mensch und ist bis heute eine unvergleichliche Ikone des Balletttanzes. "Was für eine Urkraft war Rudolf Nurejew, was für ein Ereignis. Er war und ist eigentlich bis heute ein Star. Er war besessen, besessen von Tanz, Theater. (…) Sein anspruchsvoller Arbeitsstil, der wie er selbst legendär war, wirkte sich auf die ganze Generation der Tänzerinnen und Tänzer aus, sowohl auf der Bühne als auch in seiner Intendantenzeit im Ballettensemble der Pariser Oper. Ich persönlich bewundere Rudolf Nurejew für seinen starken Charakter, Ausstrahlung und die enorme Energie." Aus dem Vorwort von Vladimir Malakhov Mit zahlreichen Abbildungen. Enthält bisher unveröffentlichtes Fotomaterial. Aus dem Polnischen von Andreas Volk.

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Jan Stanisław WitkiewiczRudolf Nurejew

Jan Stanisław Witkiewicz

Rudolf Nurejew

Die Biographie

Mit einem Vorwort von Vladimir Malakhov

Aus dem Polnischen von Andreas Volk

An der Entstehung dieses Buches waren viele Menschen beteiligt, die mit mir über Rudolf Nurejew gesprochen haben – und dafür möchte ich an dieser Stelle allen herzlich danken, insbesondere Christa Himmelbauer und Alex Ursuliak für ihre Offenheit und ihr Vertrauen.

Vorwort

Rudolf Nurejew ist bis heute ein Star. Unvergesslich, wie er als Tänzer, Choreograph und Ballettdirektor glänzte. Er war besessen, besessen vom Tanz. Ein Leben lang blieb er neugierig und unersättlich. Weltweit erfreute er sich großer Popularität und hielt das Publikum mit seiner virtuosen Technik und seiner Präsenz in Atem. Die Öffentlichkeit und die Medien verfolgten jeden seiner Schritte, zumal er der erste Balletttänzer im Kalten Krieg war, der aus der Sowjetunion flüchtete. Im Westen war das eine Sensation, in der Sowjetunion ein Skandal. Ich hörte seinen Namen zum ersten Mal, als ich in Moskau selbst bereits als Tänzer engagiert war.

In London begegnete Nurejew Margot Fonteyn, als sie sich auf ihren Abschied von der Bühne vorbereitete. Kurz darauf waren sie das Traumpaar des Balletts und bezauberten nicht nur Ballettkenner, sondern strahlten weit über das Theater hinaus. So wurden sie auch jenseits der Bühne zu Berühmtheiten und waren Teil des gesellschaftlichen Lebens. Das Ballett in die Gesellschaft hineinzutragen, ist auch immer mein Anliegen mit dem Staatsballett Berlin gewesen.

Er besaß die Ausstrahlung eines Popstars und war ebenso berühmt. Jedes Jahr hatte er weltweit mehr Auftritte vor ausverkauftem Haus als jeder andere Tänzer. Er musste unbedingt tanzen, weil der Tanz ihm alles bedeutete. Und er hat den Charakter dieser Kunst verändert, die Rolle des Tänzers zum Beispiel. Zu seiner Zeit galt der Tänzer als drittes Bein der Tänzerin, als eine Art Kran. Festhalten oder Hochheben, darum ging es bis dahin. Das hat er verändert. Er musste es tun, denn das Publikum kam hauptsächlich seinetwegen. Das Publikum kam, um den großen Tänzer, von dem alle sprachen, zu bewundern.

Rudolf Nurejew war eine Ausnahmeerscheinung auf der Bühne. Er besaß ein untrügliches Gespür für Theatralik und verlieh durch seine Inszenierungen klassischer Ballettwerke dem Genre neuen Atem. Ich erinnere mich vor allem an seine Choreographien von »Schwanensee«, »Nussknacker« und »La Bayadère«. Sein anspruchsvoller Arbeitsstil, der wie er selbst legendär war, beeinflusste eine ganze Generation von Tänzerinnen und Tänzern. Insbesondere für uns Tänzer hat er viel geschaffen: große Solovariationen für männliche Protagonisten. Diese großartigen Variationen sind extrem schwierig zu tanzen, aber gleichzeitig überragend. Jede Variation lässt dem Tänzer genügend Spielraum, sein ganzes Können, all seine Möglichkeiten zu zeigen. Ich persönlich bewundere Rudolf Nurejew für seinen starken Charakter, seine Ausstrahlung und die enorme Energie.

Nurejew ist immer noch eine Quelle der Inspiration, und deshalb freue ich mich, dass Jan Stanisław Witkiewicz nach zahlreichen Ballettbüchern nun eine Biographie über Rudolf Nurejew vorlegt, in der – neben dem, was wir an Nurejew so schätzen – auch unbekannte Seiten und neue Facetten von ihm sichtbar werden.

Vladimir Malakhov

Er starb unter unsäglichen Schmerzen. Jedes noch so kleine Stück Stoff auf seiner Haut war ihm eine Tortur. Er lag nackt da, mit Seide oder Kaschmir bedeckt. Nichts verschaffte ihm Erleichterung. Sein Körper sprach auf die Medikamente nicht mehr an. Jede Erhöhung der Dosis hätte ihn töten können. Er litt unvorstellbare Qualen. Aber er beklagte sich nicht. Nie, bis zu seinem Tod, hatte er sich in Selbstmitleid gefallen, nie gefragt: Warum gerade ich? Bis zum Ende glaubte er, die Wissenschaft würde ein Mittel gegen diese Krankheit finden und ihn retten. Er wartete geduldig, so geduldig, wie er die rasch fortschreitende Krankheit über sich ergehen ließ. Er lag im Krankenhaus Notre-Dame du Perpétuel Secours in Levallois-Perret, umgeben von Freundinnen, die sich abwechselnd um ihn kümmerten. Freunde hatte er kaum. Männer waren für Verträge, Choreographien und Sex da – aber nicht für Freundschaften. In seinem letzten Lebensabschnitt dachte er nicht mehr an Auftritte oder an den Sinn des Lebens. Er machte keine Pläne mehr. Alles war dem Körperlichen unterworfen, das konkret und allgegenwärtig war. Man konnte es am Gesicht sehen, das sich durch das Leiden verändert hatte. Dennoch kämpfte er, gab den Kampf nicht auf. Die Ärzte wunderten sich, dass er die wiederkehrenden Fieberschübe überstand, die für andere in seiner Lage tödlich gewesen wären. Er rang mit dem Tod. Aber geschlagen geben wollte er sich nicht. Mit übermenschlicher Anstrengung durchstand er die nächsten Krisen, die in immer kürzeren Abständen auftraten. Er litt und kämpfte. Verstummte. Einer Freundin, die an seinem Bett saß, drückte er einmal so stark die Hand, dass ein Krankenpfleger helfen musste, sie zu befreien. Man bat ihn aufzugeben … In der Todesstunde war niemand bei ihm. Er starb am 6. Januar 1993. Am Vorabend des orthodoxen Weihnachtsfests.

Am 11. Februar wurde sein Leichnam, mit Frack und Mütze bekleidet, in einen einfachen Eichensarg gebettet und in seine Pariser Wohnung am Quai Voltaire 23 gebracht. Dort wurde Nurejew im Salon auf einem Kaffeetischchen aufgebahrt, das eigentlich eine Truhe war, in der er Kelime aufbewahrte. Der Sarg blieb nach russischer Sitte offen, sodass Familie und Freunde sich von ihm verabschieden konnten. Die ganze Nacht wachte bei ihm Marcel, ein großer Schwarzer, der für schwere körperliche Arbeiten engagiert worden war – er hatte den Tänzer getragen. Am nächsten Tag fanden die Trauerfeierlichkeiten statt, erst in der Pariser Oper und schließlich auf dem Friedhof. Kurz vor seinem Tod hatte Nurejew verfügt, auf dem russischen Friedhof Sainte-Geneviève-des-Bois bei Paris beerdigt zu werden. Außerdem hatte er ausdrücklich bestimmt, dass sein Grab sich nicht neben dem von Serge Lifar befinden dürfe. Die beiden Ruhestätten liegen nur wenige Meter auseinander. Den in die Erde gelassenen Sarg schmückten Blumensträuße und Ballettschuhe. Alle Welt nahm von ihm Abschied, von überallher kamen Menschen zur Beerdigung. Manch einer war entsetzt über die schlechte Organisation der Feierlichkeiten. So nicht!, sagte sich J. N. Wieder zu Hause legte er genau fest, wie seine Beerdigung aussehen sollte. Er war nicht der Einzige. Die »New York Times« wiederum schrieb in ihrem Nachruf, ein Komet habe die Erde berührt und sei dann weitergeflogen.

Nach seinem Tod, erzählte Christa Himmelbauer, tauchte eine Verwandte auf, die sich ausschließlich für das interessierte, was man zu Geld machen konnte. Kurz vor seinem Lebensende hatte Rudolf ein Collier als Geschenk erhalten, das er in seinen letzten Stunden trug. Man beschloss, es ihm wieder anzulegen, sobald er für den Sarg hergerichtet war. Gesagt, getan. Als aber besagte Verwandte auf der Bildfläche erschien, riss sie ihm sogleich das Collier vom Hals, um den Schmuck zu veräußern … Noch kurz vor seinem Tod hatte er sich einen Hund zugelegt, den er, nach einer Figur aus dem Ballett »La Bayadère«, Solor nannte. Marika Besobrasova machte sich über Nurejew lustig, das Tier sei doch kein Rüde, sondern eine Dame, und könne daher nicht Solor heißen. Er überlegte kurz und entschied sich dann für den Namen Solaria. Die Hündin erkrankte jedoch und war unansehnlich. Marika fuhr fast täglich mit ihr zum Tierarzt. Die restliche Zeit lag der Hund bei Rudolf im Bett. Als die Verwandte nun auf den Plan trat und bestimmte, was verkauft werden sollte, ordnete sie an, das Tier einschläfern zu lassen. Marika weigerte sich und nahm Solaria zu sich. Beim Verlassen der Wohnung nahm die Verwandte neben einer Reihe von Gegenständen auch Marikas Pelz aus dem Schrank mit. Marika, die dies bemerkte, bat sie, den Mantel zurückzugeben. Ein Streit brach aus. Die Verwandte beharrte darauf, dass der Pelz Rudolf gehöre und nun ihr zustehe. Marika entgegnete, sie sei mit diesem Pelz gekommen und werde mit ihm auch wieder gehen … Und daneben lag Rudolf im Sarg.

In der Kantine der Staatsoper Wien, 1964

 

Er starb als reicher Mann: Er hinterließ eine Ranch in Virginia, eine Villa am Meer auf der Karibikinsel Saint-Barthélemy, ein Sieben-Zimmer-Appartement mit Antiquitäten im legendären Dakota Building in New York, eine riesige Wohnung in Paris, vollgestellt mit kostbaren Antiquitäten, und eine Insel bei Neapel. Sein Vermögen wurde auf rund vierzig Millionen Dollar geschätzt. Am meisten erbte die von ihm gegründete Stiftung, die junge Tänzer unterstützte und laut Satzung nicht näher definierte »wissenschaftliche und medizinische Forschung« förderte. Die Antiquitäten wurden im Januar und November 1995 auf Auktionen in New York und London versteigert – das Interesse war groß. Einiges hatte er auch seinen engsten Verwandten vermacht, die das Testament jedoch anfochten und wesentlich mehr erhielten als Nurejew verfügt hatte. Im Übrigen hatte Nurejew von seinen Verwandten – manche von ihnen konnten im Laufe der Jahre aus Russland ausreisen – nicht die beste Meinung. Er half ihnen, jedoch, wie er selbst sagte, nur so weit, dass sie nicht vor Hunger starben und gezwungen waren, eine Arbeit aufzunehmen. Er sprach nur ungern von ihnen.

Tragisch war nicht nur das Ende, sondern in gewissem Sinne auch der Beginn seines Lebens. Kinder kommen in der Regel zu Hause oder im Krankenhaus zur Welt, aber nicht im Zug während einer mehrtägigen Reise. So aber geschah es in seinem Fall. Er erblickte das Licht der Welt auf einer Reise. Ein Geburtsakt mit Symbolcharakter. Sein ganzes Leben war eine fortwährende, nicht endende Reise. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere besaß er sieben Immobilien über die ganze Welt verstreut, in denen er immer nur wenige Tage verbrachte. Im Appartement in Monaco war er insgesamt ganze zwei Tage. Seine Eltern waren muslimische Baschkiren (ein alttürkischer Stamm, der für seine außergewöhnliche Kraft berühmt ist) aus der an dem Fluss Belaja gelegenen Stadt Ufa, auf halbem Weg zwischen Moskau und Sibirien. Früher wohnte die Familie in Moskau. Sie waren einfache Bauern gewesen. Die Revolution bedeutete für sie Freiheit. Der Vater ging als Politkommissar in die Armee. Er war in der Mandschurei stationiert, seine schwangere Frau sollte mit den Töchtern nachkommen. Mehrere Tage Zugfahrt. Von Ufa nach Wladiwostok. Später scherzte Nurejew, er sei aus der Mutter »herausgeschüttelt« worden. Und stets betonte er, er sei mit den Füßen zuerst zur Welt gekommen, am 17. März 1938, in der Nähe des Baikalsees, unweit von Irkutsk. Als der Krieg begann, kehrten sie nach Ufa zurück. Den Vater sahen sie erst Jahre später wieder, als der Krieg bereits zu Ende war.

In Ufa lebten sie in einem Zimmer, das sie mit einer anderen Familie teilten. Es gab keine Küche und kein Bad. Um seine Notdurft zu verrichten, ging man nach draußen. Der Ort war damals ein verschlafenes Nest. Autos waren eine Seltenheit. Allgegenwärtig war das Hämmern der vorbeifahrenden Züge. Oft saß Rudolf stundenlang auf einem Hügel und beobachtete, wie die Züge in der Ferne verschwanden. In die weite Welt fuhren. Das Rattern der Räder weckte ihn in der Nacht. Er fuhr mit den Zügen in die Welt hinaus. In seiner Phantasie. Moskau, Leningrad, London, Paris … Er entfloh dem drei mal vier Meter großen Zimmer. Irgendwo dort musste es anders sein, besser. Und irgendwo dort war sein Platz. Nicht hier, wo sie nur mit Müh und Not über die Runden kamen. Er erzählte, als Kind hatte er Flaschen gesammelt und sie ausgespült im Laden gegen Pfand eingetauscht. Oder Kupfer und anderen Schrott. Auch Altpapier. Der Vater schickte nur selten Päckchen. Manche mit Schokolade, die sie mahlten und auf dem Markt als Kakao verkauften. An heißen Tagen bot er auf der Straße Wasser feil. Sie waren wirklich bitterarm. Als sie nichts mehr hatten, verscherbelte die Mutter die Hemden des Vaters. Von dem Geld kaufte sie eine Gans und Mehl. Auf dem Heimweg wurde sie von Wölfen angefallen. Sie zündete ihr Tuch an und schlug damit das Rudel in die Flucht. Er hat diese Geschichte oft erzählt. Die stärkste Kindheitserinnerung, die ihn lange verfolgte, war der Hunger. Das ständige Hungergefühl. Geld und Reichtum bedeuteten für ihn vor allem eins: nicht hungern zu müssen.

Am Silvesterabend des Jahres 1943 schmuggelte ihn seine Mutter ins Theater. Dies sollte sein Leben verändern. Während der Ballettaufführung beschloss er, Tänzer zu werden. Begeistert betrachtete er den grünen Vorhang, der vom Schweinwerferlicht angestrahlt wurde. Nach der Ouvertüre gab der Vorhang den Blick frei auf die riesige Bühne mit den wundervollen Tänzern. Damals habe er gewusst, behauptete er später, dass Tanzen seine Bestimmung sei. Da er keine Schuhe hatte, trug ihn die Mutter auf dem Rücken zur Schule. Er musste die alten Sachen seiner Schwestern auftragen. In der Schule besuchte er die Volkstanzklasse. Er tanzte überall. Und sang. Der Vater, ein bekannter Kriegsheld, war entsetzt. Der einzige Sohn und dann so etwas. Erwischte er ihn beim Tanzen, schlug er ihn. Er wollte einen Kumpel als Sohn. Um mit ihm zum Beispiel auf die Jagd zu gehen. Beim ersten Mal, tief im Wald, packte er den kleinen Jungen in den Rucksack, damit er ihm nicht das Wild verscheuchte, und ließ ihn so zurück. Rudolf stand tausend Ängste aus, weinte. Als der Vater zurückkam, lachte er ihn aus. Die Mutter konnte das ihrem Mann nie verzeihen. Doch sie hatte nicht den Mut, sich ihm zu widersetzen. In der Schule erkannte man schnell Rudolfs Talent. Er bewegte sich zwar wie ein Mädchen und erst am Kostüm konnte man sehen, dass er ein Junge war, aber er war begabt, weshalb man ihm vieles nachsah. Er musste in allen Schulaufführungen auftreten, wurde bewundert und gehasst. Mit seinen Schulkameraden fand er keine gemeinsame Sprache. Die allgemeine Bewunderung stieg ihm zu Kopf. Neid war die Folge. Er wurde ständig in Prügeleien verwickelt. Die Lehrer mussten dazwischengehen und schlichten. Aber Rudolf war dickköpfig und wusste, was er wollte. Der Vater wurde in der Schule vorstellig. Er bat, der Sohn möge nicht Tänzer werden, sondern Ingenieur. Doch der Sohn ließ sich von seinem großen Ziel nicht abbringen. Die Lehrer halfen ihm dabei, so gut sie konnten. Der Konflikt mit dem Vater vertiefte sich. Der Sohn aber wurde immer besser. Er tobte sich aus im Tanz. Das war seine Welt. Schon sehr früh hatte er gelernt, erinnerte sich Nurejew im Nachhinein, wie man sich auf der Bühne bewegen musste, um die anderen in den Schatten zu stellen.

Seinen Lebensweg kreuzte Anna Udelzowa, einstmals Ballerina in Sergei Djagilews Ballets Russes. Sie hatte einen zaristischen Offizier geheiratet, mit dem sie nach Ufa verbannt worden war, wo sie eine Ballettschule leitete. Udelzowa erkannte augenblicklich Rudolfs Ausnahmetalent. Sie hatte viele Schüler, aber nur Rudolf weckte ihr Interesse. Er war ein wilder, armer, ungebärdiger Tatarenjunge, sagte sie. Sie bewunderte seine Hingabe an den Tanz und seine außergewöhnliche Musikalität. Er lernte schnell neue Tanzfiguren und noch schneller ließ er die anderen Schüler hinter sich. Der Krieg mit dem Vater, der Ekel vor tanzenden Männern empfand, dauerte fort. Er werde es nie zulassen, verkündete er, dass sein Sohn Tänzer werde. Ertappte er ihn, wieder einmal beim Tanzunterricht gewesen zu sein, hagelte es Schläge. In nur einem Jahr lernte der Sohn alles, was Udelzowa ihm beizubringen vermochte. Ihr Mann unterrichtete ihn in guten Manieren. Das Einmaleins der Umgangsformen. Auch Hygiene und Körperwäsche zählten dazu. Udelzowa empfahl seinen Zögling einer Bekannten, einer Tänzerin am Mariinski-Theater. Schließlich besuchte er die Ballettschule am Operntheater in Ufa. Später tanzte er dort auch auf der Bühne. Im Sommer nahm er an einer einmonatigen Tournee teil. Er teilte das Zimmer mit dem Tänzer Albert Aslanow. Als dieser Jahre danach erfuhr, dass Rudolf homosexuell war, konnte er das nicht glauben. Sexualität war kein Thema gewesen, damals zumindest. Als hätte sie überhaupt nicht existiert. Es gab nur den Tanz. Und Rudolf investierte seine ganze Energie darauf. Endlich wurde er in ein Ballettensemble aufgenommen. Irgendwann kam der Moment, als es in Ufa für ihn nichts mehr zu lernen gab. Wollte er sich weiterentwickeln, musste er an eine renommierte Ballettschule wechseln. Er entschied sich für Leningrad. Es war der Traum eines jeden Tänzers, einmal im Kirow-Theater zu tanzen. Dem Tempel des klassischen Tanzes. Er benötigte dafür dreitausend Rubel. Zweimal in der Woche gab er in der Schuhfabrik Tanzunterricht. Heimlich kaufte er sich eine Zugfahrkarte. Seine Schwester half ihm. Du hast nur diesen einen Zug und nur eine einfache Fahrkarte, sagte sie, du musst mit ihm fahren. Der Vater erlitt einen Zusammenbruch, als der Sohn seinen Koffer packte. Die Kinder sahen ihn damals zum ersten Mal weinen. Drei Tage dauerte die Reise nach Moskau. Dort auf dem Bahnhof verbrachte er einen ganzen Tag. Dann weitere sechzehn Stunden nach Leningrad. An einem frühen Morgen im August 1955 erreichte er sein Ziel.

Er lief direkt zur Schule des Kirow-Theaters. Dort waren Anna Pawlowa, Vaslav Nijinsky, Tamara Karsawina, George Balanchine ausgebildet worden … Er kam in eine Klasse, in der die Schüler wesentlich jünger waren als er. Er teilte mit ihnen den Schlafsaal und einen strengen Stundenplan. Auch dort, wie überall, hatte die kommunistische Partei das Sagen. Abends durften die Schüler das Internat nicht verlassen, weshalb er schnell Probleme mit dem Direktor Walentin Schelkow bekam. Aber das war nicht der einzige Grund. Anfangs war er in Schelkows Klasse. Schnell wurde ihm jedoch klar, dass er an einen schlechten Pädagogen geraten war. Die Partei hatte diesen zum Direktor erkoren. Rudolf bemühte sich, die Klasse und den Lehrer zu wechseln. Ein sehr mutiger Schritt. Er ging zu Iwanowski, dem künstlerischen Leiter der Schule, und sagte, bleibe er in Schelkows Klasse, werde er bald zur Armee eingezogen. Es sei also besser, er besuche die Klasse von Alexander Puschkin. Seinem Wunsch wurde stattgegeben. Der Direktor konnte das nicht verwinden und schikanierte ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Puschkin prägte Nurejew vermutlich so stark wie sonst niemand. Aus seinen Schülern vermochte er alles herauszuholen, was an Talent in ihnen schlummerte. Er war ein ausgezeichneter Tänzer, obwohl als Mann nicht unbedingt eine attraktive Erscheinung. Im Ausdruck und Stil war er perfekt. Seine Schrittfolgen ließen sich sehr gut tanzen. Geradezu wunderbar, erinnerte sich Nurejew. Sie auszuführen, war eine große Freude, ein Riesenvergnügen. Er wusste, was er tun musste, damit uns das Tanzen leichtfiel und der Unterricht angenehm war. Wir wurden immer besser. Nichtsdestotrotz mussten wir hart an uns arbeiten. Er sagte nie, etwas müsse so oder anders gemacht werden. Selten korrigierte er uns. Sein Unterricht war weder Moden unterworfen noch folgte er einer bestimmten Methode. Die Schrittkombinationen, die er uns gab, begeisterten alle. Er verband den Tanz mit Musik und Emotionen. Schritte und Gesten mussten ausdrucksvoll ausgeführt werden. Nie mechanisch. Das Tanzen unter seiner Aufsicht machte einfach Spaß. Es war jedes Mal wie eine Aufführung. Aber nicht nur er hat meine Auffassung vom Tanz beeinflusst. Natalja Dudinskaja, Primaballerina des Ensembles, brachte mir die Grundlagen des klassischen Stils bei. Die Musikalität, die Präsenz, das Gefühl für Körperspannung. Ihre Auftritte waren herrlich. Niemand hat Raymonda besser getanzt als sie.

Er fiel mir in der mittleren Klasse der Kirow-Schule auf, sagte Dudinskaja. Er muss sechzehn Jahre alt gewesen sein. Schon damals konnte man sehen, dass er ein Gefühl für Stil und Form hatte. Das strömte einfach aus ihm heraus. Woher hatte er dieses Gefühl für das Schöne und die Musikalität? Er kam aus Ufa und besaß im Grunde keine Ausbildung. Aber das Überraschende war, dass er am Ende seiner Ausbildung ein fertiger und kompletter Tänzer war.

Sein Starrsinn brachte ihm nur Probleme ein. Er machte, was er wollte. Regeln befolgte er nicht. Heimlich besuchte er die Ballettvorstellungen im Kirow-Theater. Das war verboten. Wie überhaupt das Verlassen des Internats nach Einbruch der Dunkelheit nicht gestattet war. Im ersten Jahr sah er sich »Schwanensee« an. Als er nach der Vorstellung ins Internat zurückkehren wollte, stand er vor verschlossenen Türen. Er musste lange klopfen, bis ihm jemand öffnete. Die Strafe folgte auf dem Fuß. Man nahm ihm die Matratze weg, er bekam weder Frühstück noch ein Brötchen in der Mittagspause. Das Frühstück nahm er bei Freunden zu sich. Woraufhin er sich natürlich zum Unterricht verspätete. Als der Lehrer ihn nach dem Grund seines Zuspätkommens fragte, antwortete er: Ich war gestern im Theater und das hat den Internatsleiter verärgert. Die Nacht musste ich auf der Fensterbank verbringen und heute habe ich nichts zu essen bekommen. Das nächste Mal werde ich sicherlich gezüchtigt. Der Direktor war furchtbar wütend. Es hätte einen Riesenskandal gegeben, wenn dies nach draußen gedrungen wäre, also versuchte man ihm einzureden, dass im Grunde doch nichts passiert sei. Damals dachte ich, sie würden mich von der Schule werfen.

Er durfte bleiben und weiter Schüler der großen russischen Tradition des klassischen Tanzes sein, die Poesie der Bewegung erlernen. Aber er war unabhängig. Was irritierend sein konnte. Schließlich gab es gewisse Regeln und Grundsätze. Die ihm allerdings häufig nichts bedeuteten. Und doch hatte er im Laufe dreier Schuljahre durch systematische Arbeit alle anderen überflügelt. Obwohl er nicht der geborene Tänzer war, was das Körperliche betraf. Er war ungewöhnlich »hart«, und es bedurfte vieler Übungen, damit seine Muskeln geschmeidig wurden. Er konnte nie – zum Beispiel bei der Arabesque – das Bein besonders hoch heben. Alles musste er sich hart erkämpfen. 1958 schloss er seine Ausbildung ab und gewann gleich darauf einen renommierten Ballettwettbewerb in Moskau. Er tanzte Variationen aus »Le Corsaire«. Danach erhielt er Angebote aus Moskau und Leningrad. Er entschied sich für das Kirow-Theater. (Das Theater trug von 1935 bis 1992 den Namen des kommunistischen Parteifunktionärs Sergei Kirow und ist sonst als Mariinski-Theater bekannt, benannt nach der russischen Kaiserin Marija Alexandrowna). Er begann bei uns zu tanzen, erinnerte sich Dudinskaja, und mir wurde schnell klar, dass er ein außergewöhnlicher Künstler war. Ich ging ein hohes Risiko ein, als ich ihm vorschlug, in »Laurencia« mein Partner zu sein. Es war seine erste große Rolle. Ich erinnere mich gern daran. Damals habe ich beinahe mein Herz an ihn verloren. Ohne Gefühle kann man dieses Ballett nicht tanzen. Er war nicht nur ein großer Tänzer, sondern auch ein großer Schauspieler. Dudinskaja schärfte Nurejew vor der Premiere ein, keine Rücksicht auf sie zu nehmen, schließlich sei Laurencia ihre Paraderolle, er solle bloß an sich denken. Daher auch die Momente – die von jedermann bemerkt wurden –, in denen Nurejew mehr mit sich selbst als mit seiner Partnerin beschäftigt war. Dem Publikum entging nicht, dass er die Rolle anders tanzte, dennoch wurde sein Auftritt, der – wie ein Kritiker schrieb – an den Ausbruch des Vesuvs erinnerte – mit großer Spannung aufgenommen. Natürlich störte sich mancher an dem Altersunterschied: Er war einundzwanzig Jahre alt, sie sechsundvierzig. Aber gerade seine Jugend beflügelte Dudinskaja, ähnlich wie später Margot Fonteyn. Das erste Mal sah ich ihn im Ballett »Laurencia«, erinnert sich Alex Ursuliak. Er war damals ein Tänzer, dem noch der letzte Schliff fehlte. Vielleicht, weil er mit dem klassischen Ballett recht spät angefangen hatte. Trotz allem sah man, dass er als Tänzer eine große Zukunft vor sich haben würde. Er hatte auf der Bühne eine ungewöhnlich attraktive, ich würde sogar sagen, eine erotische Ausstrahlung. Außerdem war er überaus selbstbewusst. Dieser Mensch blühte vor einem Publikum förmlich auf.