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Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Der letzte Mensch auf seiner gefährlichsten Mission: Der neue Science-Fiction-Roman von Bestseller-Autor Andreas Brandhorst  Als letzter, unsterblicher Mensch in der Milchstraße steht Aron in den Diensten der Moy, einer alten Superzivilisation, die seit unvordenklichen Zeiten über den Kosmos wacht. Sein Auftrag: der Schutz des Kulturguts unterentwickelter Lebensformen vor den Blendern, die überall Zwietracht säen. Die neue Mission führt ihn auf den Planeten Mulkain, wo einige Abgesandte der Moy verschwunden sind. Doch was er dort entdeckt, lässt ihn an allem zweifeln, was er zu wissen glaubt. Er bricht zu einer kosmischen Reise auf, um der Frage nachzugehen, warum die einstigen Hochkulturen der Menschheit untergingen. Für Fans von Andreas Eschbach, Cixin Liu, Andy Weir und Phillip P. Peterson

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Seitenzahl: 639

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Andreas Brandhorst

Ruf der Unendlichkeit

Roman

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Als letzter, unsterblicher Mensch in der Milchstraße steht Aron in den Diensten der Moy, einer alten Superzivilisation, die seit ewigen Zeiten über den Kosmos wacht. Sein Auftrag: der Schutz des Kulturguts unterentwickelter Zivilisationen vor den Blendern, einem mysteriösen Volk, dass es sich zur Aufgabe gemacht hat, Zwietracht unter den unerfahrenen Kulturen zu säen. Die neue Mission führt ihn auf den Planeten Mulkain, wo einige Abgesandte der Moy verschwunden sind. Doch was er dort entdeckt, lässt ihn an allem zweifeln, was er zu wissen glaubt. Er bricht zu einer kosmischen Reise auf, um der Frage nachzugehen, warum die einstigen Hochkulturen der Menschheit untergingen.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Andreas Brandhorst, geboren 1956 im norddeutschen Sielhorst, zählt mit Thrillern wie »Das Erwachen«, »Die Eskalation« und »Sleepless« und Science-Fiction-Romanen wie »Das Schiff« und »Omni« zu den erfolgreichsten Autoren unserer Zeit. Spektakuläre Zukunftsvisionen sind sein Markenzeichen. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Literaturpreise. Andreas Brandhorst hat dreißig Jahre in Italien gelebt und ist inzwischen in seine alte Heimat in Norddeutschland zurückgekehrt.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.tor-online.de und www.fischerverlage.de

»Jeder von uns kämpft allein.«

Muriel

Prolog

Des Menschen Fall

Der Staub der Jahrtausende lag so tief, dass man darin versinken konnte.

Aron stand auf einem Felsen und blickte über das Staubmeer, aus dem der Titan von Kalit ragte: geschaffen für die Ewigkeit, aber geborsten, das steinerne Gesicht von Jahrmillionen zerfurcht. Ein Koloss, von der Zeit besiegt.

Wind strich über die graue Ebene und bewegte den Staub wie die Wellen eines Ozeans.

»Nichts bleibt«, sagte Aron. »Alles vergeht.«

Der Assistent an seiner Seite – ein filigranes, zerbrechlich wirkendes Geschöpf aus Metametall und Synth – entgegnete: »Du klingst traurig.«

Aron trat von dem Felsen herunter und schritt durch den Staub. Eine Ambientalblase schützte ihn, ein Kraftfeld, das sich ihm wie ein dünner Film um den Körper gelegt hatte. Es hielt die giftigen Gase von ihm fern und verhinderte, dass er im tiefen Staub versank.

Es wurde dunkler, der Wind legte sich, die beginnende Nacht senkte Stille über das Land. Sterne erschienen am kalten Himmel. Einer von ihnen, kleiner und weniger hell als die anderen, zog langsam seine Bahn zwischen den anderen: das Schiff.

»Selbst Sterne sterben«, sagte Aron nachdenklich.

»Vielleicht lebst du länger als sie«, erklärte der Assistent.

»Nein.« Aron ging schneller, wie um den eigenen Worten zu entkommen. »Irgendwann werde auch ich nicht mehr sein als Staub. Die Moy können es nicht verhindern. Niemand kann das.«

Der Assistent seufzte auf eine sehr menschliche Art. »Du brauchst etwas, das dich auf andere Gedanken bringt. Vielleicht wird es Zeit, deine Erinnerungen auszulagern und ein neues Leben zu beginnen.«

»Wie viele sind es inzwischen?«, fragte Aron geistesabwesend, als er sich dem Kopf des steinernen Titanen näherte.

»Mehr als tausend«, antwortete der Assistent. »Ein neuer Anfang. Hier und jetzt. Soll ich dem Schiff Bescheid geben, damit die notwendigen Vorbereitungen getroffen werden?«

»Nein. Noch ist es nicht so weit. Dieses Leben fühlt sich neu genug an.«

Aron blieb stehen, noch immer einige Dutzend Meter vom Kopf entfernt. Auf der rechten Seite ragte eine Schulter empor, wie von einer Explosion zerrissen. Ob ein Mann oder eine Frau dargestellt gewesen war, ließ sich nicht mehr feststellen, aber es handelte sich zweifellos um das Bildnis eines Menschen. Einst hatte es aufrecht gestanden, mehrere Hundert Meter groß, und über eine lebendige Welt hinweggesehen. Jetzt gab es nur noch Flechten auf den Felsen und einige wenige Bakterienarten im Staub, in der Mischung aus Asche und zerriebenem Gestein.

»Was ist hier geschehen?«, fragte Aron leise, wie um die Stille nicht zu stören. »Wer oder was hat diesen Planeten verwüstet?«

»Wir wissen es nicht.« Der Assistent meinte nicht nur sich und das Schiff, sondern auch die Moy. »Was auch immer hier geschah, seitdem sind Jahrmillionen vergangen.«

»Reicht es in die Zeit von Omni zurück?«

Der Assistent zögerte kurz. »Das wäre durchaus möglich.«

Aron betrachtete die Reste des Titanen. »Menschen haben diese Statue geschaffen.«

»Ja.«

»Kalit gehörte zu einer ihrer Hochkulturen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Eine von insgesamt siebzehn.« Aron murmelte wieder wie im Selbstgespräch. Vielleicht richtete er die Worte tatsächlich vor allem an sich. »Siebzehn menschliche Hochkulturen mit besiedelten Welten in allen Spiralarmen der Galaxis. Über einen Zeitraum verteilt, den die Moy als ›eine Galaktische Epoche‹ bezeichnen. Und dann kam die Zäsur. Es hat sie hinweggefegt, sie alle. Bevor hier auf Kalit die letzten Menschen starben, schufen sie den Koloss, als Zeugen ihrer Existenz. Etwas von ihnen sollte übrig bleiben und die Äonen überdauern.«

Der Assistent schwieg.

»Ich bin der letzte Mensch«, fügte Aron leise hinzu.

»Das bist du, ja.«

»Warum?«, fragte Aron. »Warum bin ich der einzige Überlebende?«

»Die Moy haben dich gerettet.«

»Hätten sie damals nicht auch einige andere retten können?«

»Es gab niemanden mehr«, sagte der Assistent. »Es gab nur dich.«

Das Implantat in Arons Schläfe empfing ein Signal.

»Jahid ruft dich«, verkündete der Assistent.

»Ich habe ihn gehört.« Aron wandte sich von der Statue ab. »Kehren wir zum Schiff zurück.«

 

Die Stimme des Schiffes klang anders als die des Assistenten, wie um den Unterschied zwischen ihnen zu verdeutlichen: Hier ein mentaler Riese, autonom und nach dem Edikt der Moy mit vollem Personenrecht; dort ein abgekoppeltes Selbst mit eingeschränkter Autonomie und begrenzter Kapazität.

Im Nukleus, dem Kontrollzentrum des Schiffes, sank Aron in die Pilotenmulde, die sich halb um ihn schloss und innerhalb weniger Sekunden alle erforderlichen Sensorkontakte herstellte. Das große Sichtfeld vor ihm zeigte die Nachtseite des Planeten Kalit. Am unteren Rand der Darstellung leuchtete ein rotes Rufzeichen.

»Jahid, dein Mentor bei den Moy ruft dich zu sich«, ertönte die Stimme des Schiffsintellekts. »Er hat einen neuen Auftrag und möchte dich persönlich sprechen.«

Arons Finger verharrten bei den Kommunikationskontrollen. »Eine direkte Begegnung, Sal?«

So nannte er den Intellekt: Sal. Seine wahre Bezeichnung war unaussprechlich, begann mit Surkzm Alhakjsdf Liphmkr und hatte noch zweiundzwanzig weitere zungenbrecherische Silben. Wenn sich Aron richtig erinnerte, arbeiteten sie seit sechs Leben zusammen, und irgendwann war zwischen Mensch und Maschine so etwas wie Nähe und Freundschaft entstanden.

»Das ist ungewöhnlich«, sagte Aron. »Er könnte mir alle relevanten Daten senden, mitsamt seinen Empfehlungen.«

»Er wird einen guten Grund haben, nehme ich an.«

Im Sichtfeld drehte sich langsam die dunkle leere Welt, die einst von Menschen bewohnt gewesen war. Jenseits davon leuchteten die Sterne des Perseus-Arms der Milchstraße, wie Aron ihn nannte. Er hielt noch immer an den alten Begriffen fest.

»Na schön«, sagte Aron schließlich. »Machen wir uns auf den Weg.«

Fast sofort schrumpfte der Planet im Sichtfeld, und eine eingeblendete graphische Darstellung zeigte, wie das Schiff über der Ebene der lokalen Ekliptik aufstieg.

»Zehntausend Lichtjahre trennen uns von deinem Mentor. Wie schnell soll ich fliegen?«

»Lass dir Zeit.« Aron schloss die Augen. »Ein, zwei Tage. Oder noch besser: eine Woche. Ich möchte nachdenken.«

»Wie du wünschst. Ich wähle einen langsamen Faden.«

Der Planet namens Kalit und die Sterne des Perseus-Arms verschwanden aus dem Sichtfeld, als Sal das Schiff in den Toten Raum brachte.

Erster Teil

Ein Tropfen Ewigkeit

Die Mission

1

Die Moy sind die Moy, hieß es bei den anderen Kulturen in der Galaxis, was so viel bedeutete wie: Die Moy sind und bleiben ein Rätsel. Niemand wusste, woher sie stammten und wo sie lebten. Selbst über ihr Aussehen gab es nur Spekulationen, denn bei Begegnungen mit anderen Völkern benutzten sie Avatare. Vor mehreren Galaktischen Epochen hatten sie aus den Trümmern von Omni, einem Bund von Superzivilisationen in der Milchstraße, etwas Neues erschaffen und dem Meer aus dreihundert Milliarden Sternen nach dem großen Sturm Ruhe und Frieden gebracht. So hieß es jedenfalls. Einzelheiten waren nicht bekannt. Die wenigen Hinterlassenschaften von Omni und den anderen Zivilisationen aus dem Großen Goldenen Zeitalter erzählten widersprüchliche Geschichten. Die tatsächlichen Ereignisse um den Untergang von Omni und das Erscheinen der Moy auf der galaktischen Bühne lagen im Staub der Zeit begraben wie die Menschenstatue auf Kalit.

Es wurde vermutet, dass es Antworten gab – wenn nicht auf alle Fragen, so doch auf die meisten –, und zwar im legendären Archiv der Moy. Aber nur einige wenige Auserwählte bekamen Zutritt, hauptsächlich Konservatoren in Diensten der Moy – Individuen, die wie Aron zu Kulturen in einer kritischen Entwicklungsphase geschickt wurden, um sie vor Manipulationen durch die Blender zu schützen. Wer das Archiv der Moy aufgesucht hatte, kehrte verändert zurück und schwieg. Das Edikt, die Gesetze der Moy, hinderte jene daran, über ihre Erfahrungen zu sprechen und von den Antworten zu erzählen, die sie gefunden hatten.

2

»Hast du genug nachgedacht?«, fragte Sal. »Soll ich zu einem schnelleren Faden wechseln?«

Aron ruhte in der Pilotenmulde, über die physischen Kontakte mit dem Schiff verbunden. Das große Sichtfeld vor ihm zeigte den Toten Raum, grau wie der Staub von Kalit.

»Ja«, antwortete er, »ich glaube schon. Bitte zeig mir die Navigationsansicht.«

Weiße Linien erschien im ölig wirkenden Grau, manche von ihnen kurz, krumm und zerfranst, andere länger, gerade und glatt. Sie bewegten sich langsam wie Würmer oder wie träge Schlangen. Es waren Tausende Linien, und jede von ihnen verband einen Punkt gewöhnlicher Raum-Zeit mit einem anderen. Das Schiff, stellte Aron fest, folgte einer langsamen Verbindung. In einem früheren Leben war er Pilot und Navigator gewesen. Daher wusste er, wie man sich in dem wirr anmutenden Gespinst aus Linien beziehungsweise Fäden orientierte und zwischen ihnen wählte.

»Zeig mir mehr«, bat Aron mit einem Mal. »Zeig mir alles.«

Die Fäden verschwanden, und für einen Moment war im Sichtfeld nur das ölige Grau des Toten Raums zu sehen. Dann bildeten sich erste Umrisse, und Kugeln und Ellipsen erschienen, zart wie Seifenblasen. Klein und groß füllten sie das Grau, schwebten langsam umher und kamen sich manchmal so nahe, dass ein kurzer Kontakt erfolgte. Die Blasen zerplatzten nicht, aber dort, wo sie sich berührten, blitzte es auf, und neue winzige Kugeln entstanden.

»Universen, mehr, als man zählen kann.« Aron lauschte den eigenen Worten und hörte nur einen Teil der alten Ehrfurcht in ihnen. Er hatte noch immer nicht zu seiner inneren Balance zurückgefunden. Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, einen Teil der Erinnerungen des aktuellen Lebens auszulagern und sie all den anderen hinzuzufügen.

»Ein Multiversum«, bestätigte Sal. »Wir haben oft darüber gesprochen. Du hast einige interessante Theorien entwickelt.«

Aron war versucht, dem Implantat in der Schläfe einen gedanklichen Befehl zu schicken und seine Erinnerungen zu öffnen, doch er entschied sich dagegen. Sie hätten ihn nur verwirrt; es brauchte Zeit, sie zu sortieren und mental und emotional zu verarbeiten.

»Der Tote Raum.« Er sprach so leise, dass es fast ein Flüstern war. »Aber die Universen in ihm sind nicht tot.«

»Bestimmt nicht alle.«

Ein neuer Gedanke regte sich in Aron. »Könnte man von hier aus in eins der anderen Universen gelangen?«

»Man könnte es versuchen.«

»Ist es jemals versucht worden?«

»Zweimal, soweit ich weiß«, sagte Sal.

Aron hob die Brauen. »Davon hast du mir nie erzählt.«

»Du hast mich nie danach gefragt«, lautete die Antwort. »Zwei Unabhängige wollten einen entsprechenden Versuch unternehmen, wie ich vor vielen Jahren erfuhr.«

Damit meinte Sal unabhängige Maschinenintelligenzen, vielleicht aus einem der Kugelsternhaufen der Milchstraße, wo sich viele von ihnen niedergelassen hatten. »Was ist aus ihnen geworden?«

»Ich weiß es nicht. Sie verschwanden. Man hat nie wieder eine Nachricht von ihnen empfangen.«

Aron betrachtete wieder die durchs Grau schwebenden Kugeln und Ellipsen. »Vielleicht ist es ihnen gelungen«, murmelte er. »Vielleicht haben sie es tatsächlich geschafft, ein anderes Universum zu erreichen.«

»Oder sie existieren nicht mehr«, wandte Sal ein. »So wie die Engel.«

Aron hatte sie nie gesehen, die sonderbaren Wesen, die einst im Intermedium gelebt hatten, im Raum zwischen den Dimensionen und Zeiten. Sie waren ebenfalls der Zäsur vor zwölf Galaktischen Epochen zum Opfer gefallen, und seitdem sprach man vom »Toten Raum«.

»Engel«, wiederholte Aron.

»Der Begriff stammt aus einer menschlichen Religion«, erklärte Sal. »Vielleicht geht er auf die Blender zurück. Religion ist ihre Spezialität. Sie könnten irgendwann auf der Erde gewesen sein.«

»Die Erde …« Aron hatte sie in einem früheren Leben besucht, die Welt, die als Ursprungsplanet seiner Spezies galt. Durch die Zäsur war sie unbewohnbar geworden: ihre Oberfläche vierhundert Grad heiß, die Meere verdunstet, die Kontinente verbrannt, ihre giftige Atmosphäre so dicht, dass sie einen ungeschützten Menschen zerquetschen würde.

»Weißt du mehr darüber, Sal? Über die Erde und was auf ihr geschah?«

»Nein, ich bedauere.«

»Es tut dir leid, nicht mehr darüber zu wissen?«

»In der Tat. Ich bedauere alle meine Wissenslücken.«

Aron dachte darüber nach. »Könntest du sie nicht schließen? Im Archiv der Moy?«

»Ich habe nie eine Einladung erhalten.« Nach einer kurzen Pause fügte Sal hinzu: »Wir sind noch immer langsam. Möchtest du eine schnellere Verbindung wählen? Jahid wartet auf dich.«

»Wo wartet er?«, fragte Aron. »Zeig es mir.«

Das Grau des Toten Raums mit all seinen Universen – aber ohne die Engel – wich einer schematischen Darstellung der Galaxis. Ein gelber Punkt markierte die derzeitige relative Position des Schiffes zwischen Perseus- und Orion-Arm. Eine kleine Kursänderung hätte sie nach einigen Tausend Lichtjahren zur Erde gebracht, stellte Aron fest. Doch das Ziel befand sich weiter im galaktischen Westen, in Richtung Sagittarius-Arm.

Aron bewegte die Finger an den Kontrollen, und ein Zoom, seine Geschwindigkeit der menschlichen Wahrnehmung angepasst, vergrößerte einen bestimmten Teil des Sternenmeers.

»Bei der Kluft?«, entfuhr es Aron überrascht. »Jahid wartet bei der Kluft?«

»Das ist nicht so ungewöhnlich, wie du glaubst«, erklärte Sal. »Es gibt immer Wächter bei der Kluft, meistens drei oder vier Moy, manchmal nur ein oder zwei. Es kommt darauf an.«

»Worauf kommt es an?«, fragte Aron. Sein Blick galt dem grünen Punkt, dem Ziel in unmittelbarer Nähe der Kluft.

»Weißt du es nicht mehr?«, erwiderte Sal. »Auf die Aktivität im Innern der Anomalie. Manchmal genügt ein Wächter.«

Die »Kluft«, das war eine neunundneunzig Lichtjahre lange, wenige Lichtstunden breite und unendlich tiefe Anomalie am Rand des Sagittarius-Arms, ein Riss im Gewebe der Raum-Zeit. Sie sah aus wie eine schartige, eitrige Wunde im All: Heißes Gas, Überreste von zwei Supernovä, strömte über ihre Ränder und fiel wie über die Kanten eines Abgrunds. Hinzu kamen die Plasmaströme von gleich sechzehn monströs aufgeblähten roten Riesensternen und die Schwerkrafttrichter der beiden durch die Supernova-Explosionen entstandenen Schwarzen Löcher. Die Singularitäten waren allerdings nicht der Grund für die Anomalie. Ihre Ursachen lagen tiefer in der Zeit und gingen auf die Zäsur zurück.

»Bin ich schon einmal dort gewesen?« Erneut geriet Aron in Versuchung, auf die Erinnerungen seiner anderen Leben zuzugreifen.

»Ja«, bestätigte Sal. »Du hast an einem Patrouillenflug am Rand der Kluft teilgenommen, zusammen mit einem Taicott und einer Steynper.«

»Als Wissenschaftler, nicht wahr? Ich bin damals Wissenschaftler gewesen.«

»Ja, spezialisiert auf multidimensionale Phänomene. Später hat dich Jahid zu einem Konservator gemacht, und für den hat er jetzt einen neuen Auftrag, wie es scheint.«

Es war ein sanfter Hinweis darauf, dass der Moy lange genug gewartet hatte.

Arons linker Zeigefinger strich über eine Kontaktfläche, und das Sichtfeld wechselte wieder zur Navigationsansicht. Die vielen Linien wanden sich, krochen oder schwammen durchs ölige Grau des Toten Raums und bildeten ein unentwirrbares Knäuel.

»Möchtest du die Auswahl treffen?«, fragte Sal.

»Nein.« Es hätte zwei oder drei Stunden gedauert. »Finde den schnellsten Faden und bring uns zur Kluft. Lassen wir Jahid nicht länger warten.«

3

Die Station befand sich im Orbit eines Irrläufers, eines Gasriesen, der von den gravitationellen Gezeitenkräften der Kluft aus dem System des nächsten Roten Riesen gerissen worden war: eine spiegelnde, funkelnde, schimmernde Pyramide, ihre Basis ein Triebwerk aus vierzehn Lineatoren, ein jeder dreihundert Meter lang, die innerhalb weniger Sekunden einen Sprung in den Toten Raum ermöglichten. Dicht unterhalb der Spitze ragte eine Terrasse aus der Seitenfläche, blutrot im Licht der Roten Riesen über der Kluft. Dort fand die Begegnung mit Jahid statt.

»Ein seltsamer Ort für ein Treffen«, sagte Aron und blickte kurz zum Schiff zurück, das ihn hergebracht hatte. Derzeit sah es aus wie ein fragiles mit langen Fühlern und zahlreichen Beinen ausgestattetes Insekt, der Rumpf blau wie ein Amethyst, die flügelartigen seitlichen Erweiterungen wie aus Silber und Chrom. Zwischen Schiff und Terrasse hatte sich eine Rampe gebildet, über die Aron geschritten war. Sie löste sich in einem Schwarm aus Funken auf, die innerhalb weniger Sekunden verblassten und verschwanden.

Am Rand der Terrasse saß Jahid an einem Klavier und spielte eine Sonate in c-Moll. Einige Meter davon entfernt stand ein bernsteinfarbener Sessel. Aron nahm darin Platz, lauschte den sanften Klängen und wartete.

Der Moy benutzte denselben Avatar wie bei ihrer letzten Zusammenkunft vor vier Jahren. Der Klavierspieler war ein kaum anderthalb Meter großer Humanoide, haarlos und zart gebaut, mit Beinen, die etwas zu lang wirkten, dünnen Armen und knochenlosen Flexfingern. Winzige elfenbeinweiße Schuppen bedeckten den Leib bis hinauf zum Hals. Dort wurde die Haut weicher, wie bei einem Menschen, und zeigte ein weitverzweigtes Geflecht aus dünnen Adern, das durchs Gesicht reichte und sich über den Schädel zog.

Aron beobachtete, wie die kleinen tentakelartigen Finger über die Klaviatur tanzten. Jahids Oberkörper bewegte sich zur Musik, die schmalen Schultern hoben und senkten sich zu Klängen, die mal lauter und mal leiser waren. Aron stellte sich vor, wie die Melodie das Kraftfeld durchdrang, das die Terrasse umgab, und durch den Weltraum hallte, vielleicht bis hin zur Kluft. Was natürlich unmöglich war. Es herrschte Stille im All, seit dem Urknall war es ohne ein Geräusch.

»Nein, das stimmt nicht.« Die Finger verharrten, der kleine Humanoide saß reglos, mit dem Rücken zu Aron. »Das All ist nicht still, sondern laut. Man braucht allerdings die richtigen Ohren, um all die Geräusche zu hören: die Chöre der elektromagnetischen Strahlung, das Singen der stellaren Winde, die gewaltigen Paukenschläge von Novä und Supernovä, das Knistern von Raum und Zeit.«

Konnte Jahid seine Gedanken lesen? Diese Frage stellte sich Aron nicht zum ersten Mal. Vielleicht war der Moy, beziehungsweise sein Avatar, tatsächlich dazu imstande, mit Hilfe des Implantats.

»Warum hier?«, erwiderte er. »Warum haben Sie mich ausgerechnet hierher gerufen?«

Jahids Flexfinger glitten erneut über die weißen und schwarzen Tasten des Klaviers. Einige letzte Töne erklangen, dann folgte für Arons menschliche Ohren Stille.

»Es gab einmal einen Hegemoniekonsul, der auf dem Balkon seines Raumschiffs Klavier spielte«, sagte der Moy. »Ich erinnere mich gern an ihn. Vielleicht ist das der Grund, warum ich gelegentlich seinem Beispiel folge.«

Jahid bemerkte Arons fragenden Blick und winkte ab. »Es ist eine lange Geschichte, für die wir leider keine Zeit haben. Es warten noch andere Pflichten auf mich.« Er drehte sich um, eine Bewegung, die mit einem leisen Knistern der winzigen elfenbeinfarbenen Schuppen einherging. Die großen dunklen Augen fingen das Licht der Roten Riesen ein und schienen zu glühen. »Ich kümmere mich nicht nur um dich.«

Aron neigte respektvoll den Kopf.

»Die Instanz hat mich zum Wachdienst bestimmt«, erklärte Jahid, »und wer bin ich schon, dass ich ihr widersprechen könnte?«

Die Instanz war gewissermaßen die Regierung der Moy, ein Gremium, das alle wichtigen Entscheidungen traf. Niemand handelte den Beschlüssen der Instanz zuwider, es gab nicht einen einzigen Präzedenzfall, soweit Aron wusste, doch es war ihm, als hätte er in Jahids Worten eine Andeutung von Kritik gehört.

Jahid stand auf und kam zwei Schritte näher. Er trug ein ockerfarbenes Gewand, das ihm bis zu den Waden reichte und von einem Wind aufgebläht wurde, der nur für ihn existierte.

»Lass uns das Gespräch in einer Umgebung fortsetzen, die deinen Bedürfnissen mehr entspricht«, sagte er und brachte sie mit einer knappen Geste ins Innere der Station.

4

»Du warst sehr nachdenklich«, sagte der Moy. »Du hast gegrübelt und die Vergangenheit besucht.«

Sie saßen in einer Blockhütte, an einem Tisch aus echtem Holz. Es war keine Illusion, wusste Aron, keine Täuschung der Sinne. Alles war echt, vom wärmenden Feuer im nahen Kamin bis zum Regen, der an die beschlagenen Fensterscheiben prasselte.

»Hat dir Sal Bericht erstattet?«

»Ich habe mit ihm gesprochen. Vielleicht wird es Zeit für eine neue Trennung. Was meinst du, Aron?«

»Nein«, antwortete er etwas zu schnell. »Es … fühlt sich zu früh an.«

Die dunklen Augen des Moy musterten ihn. »Ich könnte all die Erinnerungen auswählen, die du für deine neue Mission brauchst.«

Er holte einen Beutel hervor, der offenbar aus Leder bestand. Er öffnete ihn und ließ den Inhalt vorsichtig auf den Tisch rollen: kleine Kugeln wie Glasperlen, jede in einer anderen Farbe.

Aron betrachtete sie und spürte, wie ihm das Implantat ein kurzes Prickeln schickte. »Was ist das?«

»Das sind deine früheren Leben«, sagte Jahid. »Insgesamt viertausendfünfhundertdreizehn, jedes einzelne von ihnen mehrere hundert Jahre lang, nach deiner Zeitrechnung.«

Auf dem Tisch rollten einige der kleinen Kugeln bis zum Rand, bevor sie verharrten.

Aron hob den Blick von ihnen. »Wie alt bin ich? Eine Million Jahre? Zwei?«

»Wie alt ist ein Tropfen im Meer der Ewigkeit?«, erwiderte Jahid. »Manche deiner Leben waren Tausende von Jahren lang. Du bist fast so alt wie ich.«

»Ich wünschte, ich könnte mich an sie alle erinnern.«

»Das könntest du tatsächlich, aber das gewaltige Gewicht so vieler Erinnerungen würde deinen Geist zerquetschen, sie hätten in deinem Kopf nicht genug Platz«, warnte Jahid. »Du bist kein Moy. Du bist und bleibst ein Mensch.« Etwas sanfter fügte Jahid hinzu: »Du wächst und reifst noch immer, Aron. Vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem du auf deine vollständige Existenz zurückblicken und den Berg deiner Erinnerungen tragen kannst, ohne von ihm zermalmt zu werden.«

Die Unruhe, die Aron auf Kalit und auch während des Flugs empfunden hatte, kehrte nicht zurück. Vielleicht lag es an der Umgebung, die Jahid gewählt hatte, oder der Präsenz des Moy.

Erneut betrachtete er die kleinen Kugeln auf dem Tisch. »Wie oft bin ich gestorben?«

»Nicht sehr oft.«

»Aber ich kann sterben.«

»Hast du daran gezweifelt?«, fragte Jahid mit leisem Erstaunen.

»Nein«, antwortete Aron, den Blick noch immer auf den Tisch gerichtet. »Nein, eigentlich nicht.«

»Dreizehnmal bist du gestorben, und wir haben dich jedes Mal ins Leben zurückgeholt.«

Ein Lächeln flog über Arons Lippen. »Sonst säße ich nicht hier.«

»Du könntest auch diesmal sterben«, sagte der Moy. »Wir stufen deine neue Mission als besonders gefährlich ein.«

Ein Sichtfeld entstand über dem Tisch, und darin erschien die Darstellung eines Sonnensystems. Das Zentralgestirn leuchtete gelbrot, und sein Licht beschien sieben Planeten, zwei von ihnen große Gasriesen, die am Rand des Systems mit ihrer Schwerkraft Kometen einfingen und die inneren Welten dadurch vor kosmischem Bombardement bewahrten.

Jahid deutete auf den zweiten Planeten, der in dichte gelbbraune Wolken gehüllt war – ihre Farbe entsprach fast der von Jahids Gewand. »Das ist Mulkain im Okorikor-System. Dort gibt es eine intelligente Spezies, die sich ›Kain‹ nennt, was in ihrer Sprache so viel bedeutet wie ›Wir sind‹ oder ›Wir leben‹.«

Eine eingeblendete Linie wies auf eine sehr exzentrische Umlaufbahn hin, eine lange Ellipse, die Mulkain auf der einen Seite sehr nahe ans Muttergestirn heranbrachte und auf der anderen weit davon entfernte, beinahe bis zum Orbit des vierten Planten.

»Derzeit treffen die Kain erste Vorbereitungen für den langen Winter, der allerdings erst in einem Jahr beginnt«, sagte Jahid. »Dir sollte also Zeit genug bleiben.«

»Zeit genug wofür?«, fragte Aron, als Jahid nicht weitersprach. Im Sichtfeld glitt Mulkain im Zeitraffer an der langen Linie der elliptischen Umlaufbahn entlang. Wolken verschwanden, Eis breitete sich auf Kontinenten und Meeren aus.

»Wir hatten eine Gruppe nach Mulkain entsandt«, fuhr der Moy fort. »Vier Konservatoren. Ihre Aufgabe bestand darin, vor dem Beginn des Winters die wichtigsten Kunstwerke der Kain zu katalogisieren und zu replizieren, insbesondere das Moccecc. Sie sind verschwunden. Wir haben keinen Kontakt mehr zu ihnen.«

Aron überlegte. »Könnte es eine natürliche Ursache dafür geben?«

»Wir haben alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen, und die Antwort lautet: Nein, natürliche Ursachen kommen nicht in Frage.«

»Blender?«

»Davon gehen wir aus, ja. Deshalb schicken wir dich.«

»Oh, ich verstehe.« Aron nickte. »Sie vermuten, dass die Blender die Aura der Konservatoren kannten und sie so trotz der Tarnung identifizieren konnten. Meine Aura hingegen kennt niemand. Weil ich der Letzte meiner Art bin, der letzte Mensch.«

Jahid vollführte eine bestätigende Geste. »Das ist richtig. Die Blender können dich nicht als einen unserer Gesandten identifizieren. Du bleibst unerkannt.«

»Aber sie wären imstande, mich als Nicht-Kain zu identifizieren, nicht wahr?«, fragte Aron. »Als Außenweltler.«

»Wenn sie nahe genug an dich herankommen«, räumte Jahid ein. »Wenn ihre Sensoren gut genug sind. Aber wahrscheinlich würden sie dich eher für einen ungewöhnlichen Kain halten als für einen fremden Besucher. Die Menschen sind selbst bei ihnen in Vergessenheit geraten.«

Einst ein großes Volk mit siebzehn Hochkulturen in der Milchstraße, Protagonisten auf der galaktischen Bühne, dachte Aron. Heute ausgelöscht und vergessen.

Unter anderen Umständen hätte dieser Gedanke vielleicht die grüblerische Nachdenklichkeit zurückgebracht, die ihn während seines gegenwärtigen Lebens mehrmals heimgesucht und schließlich nach Kalit geführt hatte. Aber eine neue Mission begann und forderte seine Aufmerksamkeit.

»Ich soll die Blender daran hindern, Unheil zu stiften«, konstatierte Aron.

»Stell fest, was auf Mulkain geschehen ist«, sagte Jahid. »Und triff alle notwendigen, den Umständen entsprechenden Entscheidungen.«

Das klang ziemlich vage, fand Aron. Darauf wies er auch hin.

»Wir kennen die Situation vor Ort nicht«, erklärte der Moy. »Wir verlassen uns auf dich.«

Das Feuer im Kamin zischte und fauchte leise. Einige Sekunden lang beobachtete Aron die Flammen.

»Sie erwarten viel von mir«, sagte er schließlich.

»Nicht zu viel. Wir wissen, was du zu leisten imstande bist. Wir haben Vertrauen in deine Fähigkeiten.«

Aron fühlte sich geehrt. »Mit welcher Unterstützung darf ich rechnen?«

»Die Kain befinden sich in einer kritischen Phase. In zwei oder drei Generationen können sie den Übergang zu Stufe drei schaffen, und dann wären erste vorsichtige Kontakte möglich. Bis dahin darf ihre Entwicklung nicht gestört werden.«

»Mit anderen Worten«, sagte Aron, »ich bin auf mich allein gestellt.«

»Du kannst auf die Hilfe der anderen vier Konservatoren zurückgreifen, wenn sie noch einsatzfähig sind. Finde sie und die Blender.«

Aron sah in die dunklen Augen des Moy. »Und wenn ich die Blender entdecke? Was soll mit ihnen geschehen?«

Jahid ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er antwortete. »Die Entscheidung liegt bei dir.«

»Sie geben mir vollen Ermessensspielraum?«

»Ja.«

»Verstehe.«

Den Augen des Moy und seinem Gesicht mit dem filigranen Aderngeflecht ließ sich nichts entnehmen. In all den vielen Jahren war es Aron nie gelungen, Jahids Gedanken oder Gefühle zu erraten.

»Aber wenn die anderen vier Konservatoren nicht mehr einsatzfähig sind … Es wird niemand kommen, der mir hilft.«

»Deshalb ist diese Mission besonders gefährlich«, betonte Jahid. »Wenn du stirbst, können wir vielleicht nicht rechtzeitig eingreifen. Du solltest also versuchen, am Leben zu bleiben.«

Aron nickte. »Ein guter Rat, den ich gern beherzige.«

Jahid nickte ebenfalls, länger und mit etwas mehr Nachdruck. »Ich sende dir alle Daten, die du brauchst.«

Aron schickte dem Implantat eine Anweisung. »Ich bin bereit.«

Ein leichter Druck, das kleine Implantat in der Schläfe schien etwas größer zu werden … und plötzlich kam ein kurzer stechender Schmerz, auf den Aron nicht vorbereitet war.

Für einen Moment glaubte er, in den dunklen Augen des Moy zu versinken.

Aron öffnete den Mund, um nach der Ursache für den unerwarteten Schmerz zu fragen, doch etwas geschah. Jahids Aura und die der Station veränderten sich. Eine Vibration erfasste den Holztisch und ließ ihn erzittern, und viertausendfünfhundertdreizehn winzige bunte Kugeln rollten und kehrten in den Beutel zurück. Jahid ergriff ihn mit dünnen Flexfingern und stand auf.

»Geh jetzt«, sagte er. »Mach dich mit deinem Schiff auf den Weg.«

Aron fühlte den Beginn eines Transfers, ein Ziehen, das am oder im Kopf begann und von dort aus den Rest des Körpers erfasste, begleitet von einem leisen Läuten wie von kleinen Glocken in windiger Ferne.

»Bitte warten Sie«, sagte Aron schnell. »Was passiert?«

Bei der letzten Silbe des letzten Wortes standen sie wieder auf der Terrasse dicht unterhalb der Spitze von Jahids pyramidenförmiger Station. Die Kluft, fast hundert Lichtjahre lang und umgeben von sechzehn roten Riesensternen, die Plasmaströme wie gewaltige kosmische Wasserfälle über ihre Ränder schickten, war nicht mehr leer. Etwas bewegte sich darin. Etwas stieg auf, ein Gigant, besetzt von Tausenden Lichtern, manche von ihnen so hell, dass Aron geblendet die Augen zusammenkniff.

»Was ist das?«, fragte er. Die Entfernung zur Kluft betrug mehrere Lichttage, aber er wusste, dass er das Geschehen in Echtzeit sah – die Erlebnissphäre der Moy speiste seine Sinne mit aktuellen Daten. »Was nähert sich dort?«

»Der Feind, der deinen Heimatplaneten zerstört und viele andere Welten verwüstet hat und dem Omni zum Opfer fiel …« Jahid klang traurig. »Er ist nicht besiegt. Er verbirgt sich dort unten. Manchmal wagt er sich aus seinem Versteck, wenn er eine Gelegenheit zu erkennen glaubt. Wir werden verhindern, dass er noch einmal zu uns gelangt.«

Das Kraftfeld, das die Terrasse umgab, trübte sich und wurde undurchsichtig. Eine Rampe entstand und führte zum Schiff.

»Geh jetzt«, wiederholte Jahid. Er stand am Rand der Terrasse, vor einer Öffnung, die sich für ihn in der Station gebildet hatte. »Du hast deine Aufgabe, und ich habe meine.«

Damit betrat er die Station, und hinter ihm schloss sich der Zugang.

 

Wenige Minuten später stieg das Schiff über der Kluft auf. Aron beobachtete sie im großen Sichtfeld vor der Pilotenmulde. Das riesenhafte Gebilde in ihr schien geschrumpft zu sein, was aber vielleicht nur am Wechsel der Perspektive lag.

»Ich habe davon gewusst, nicht wahr?«, fragte er. »Von dem ›alten Feind‹, wie Jahid ihn nennt. In einem meiner früheren Leben habe ich davon gewusst.«

»Durchaus möglich«, räumte Sal ein. »Ich habe einen geeigneten Faden zum Okorikor-System gefunden. Soll ich uns in den Toten Raum bringen?«

»Wieso habe ich es vergessen?«

»Du hast es nicht vergessen, Aron. Diese Erinnerung wurde ausgelagert.«

»Ja.« Aron seufzte leise. »Ja, ich weiß. Warum wurde sie meinem aktuellen Leben nicht hinzugefügt?«

»Vielleicht war Jahid der Meinung, dass sie dafür nicht relevant ist.«

»Nicht relevant?« Aron beobachtete, wie die Station des Moy ihre Position am Rand der Kluft verließ und über den bodenlosen Abgrund zwischen den Sternen glitt. Funken sprangen von ihr zu dem Giganten, der ihnen offenbar auszuweichen versuchte. Es blitzte und gleißte, hell wie die Geburt eines Sterns. »Ein Kampf? Gegen wen?«

»Ich kann dir keinen Namen nennen und dir auch kein Gesicht zeigen«, antwortete Sal.

Das Sichtfeld wechselte zur Navigationsansicht. Tausende von Linien wanden und schlängelten sich durch das ölige Grau des Toten Raums. Ein eingeblendetes Koordinatensystem zeigte die wichtigsten Orientierungspunkte in Bezug auf die Galaxis.

»Langsam oder schnell?«, fragte Sal.

Aron betrachtete das Wogen und Wallen im Sichtfeld. Seine Finger berührten die Kontaktpunkte der Kontrollen.

»Schnell«, sagte er schließlich. »So schnell wie möglich. Wenn es auf Mulkain tatsächlich Blender gibt, dürfen wir keine Zeit verlieren.«

Das Schiff glitt in den Toten Raum. Aron schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Missionsdaten, die er von Jahid erhalten hatte.

Eine Falle

5

Die Blender waren kaum weniger geheimnisvoll als die Moy. Niemand wusste, woher sie kamen und wo sich ihre Spezies entwickelt hatte. Vielleicht stammten sie nicht einmal aus der Milchstraße, sondern zogen als nomadische Wanderer durchs Universum. Bei den Taicott und selbst bei den Steynper, einst zu Omni aufgestiegen, gab es Stimmen, die behaupteten, dass die Blender mit der Zäsur in Verbindung standen und die Mysterien der Kluft kannten. Bei anderen Völkern der Entwicklungsstufen sechs und höher galten diese Theorien als sehr unwahrscheinlich, stammten die Blender doch aus einer Zeit lange vor Omnis Ende. Ihr Ursprung reichte tausend Galaktische Epochen zurück, also mindestens siebenhundert Millionen Jahre. Vielleicht waren sie sogar Milliarden Jahre alt und gehörten zu den ersten intelligenten Wesen, die ihren wo auch immer gelegenen Heimatplaneten verlassen hatten, um die Milchstraße zu durchstreifen.

Einen Platz im galaktischen Rampenlicht hatten sie nie gesucht, im Gegenteil. Sie hatten immer darauf geachtet, im Hintergrund zu bleiben, sie agierten im Verborgenen, als Diebe und Manipulatoren. Die Moy und ihre Gesandten, unter ihnen die Konservatoren, respektierten den Grundsatz, sich nicht in die Angelegenheiten von Völkern einzumischen, die kritische Entwicklungsphasen durchliefen. Sie beobachteten und versuchten, Kultur und Wissenschaft, Kunstwerke und Erkenntnisse vor natürlichen und politischen Kataklysmen zu schützen. Und vor den Blendern, die Einzigartiges stahlen, für die eigenen Schatzkammern oder den klandestinen Kunstmarkt.

Doch damit nicht genug, die Blender lehnten alle Nichteinmischungsregeln ab und nahmen gezielt Einfluss auf andere Zivilisationen, vor allem auf Philosophie und Theologie. Ihr hinterhältiges, heimtückisches Gepäck bestand aus Lügen, die das Denken der Einheimischen veränderten. Sie brachten die Saat von Ideologien und von Religionen aus, Gift für den Geist, Grundlage für Uneinigkeit und Zwist, für Konflikte und Krieg.

Vermutlich war es auch auf der Erde geschehen, damals, als die Menschheit noch auf einen Planeten beschränkt gewesen war, als nontechnologische Spezies der Entwicklungsstufe zwei. Vielleicht hatten sie den Grundstein gelegt für all die verschiedenen und doch ähnlichen Religionen, durch Moses, Jesus, Mohammed, Buddha und die anderen zahlreichen Götter, Propheten und Erleuchteten, deren Anhänger anschließend über Jahrhunderte hinweg in blutigen Kämpfen um Vorherrschaft gerungen hatten … durch Einflüsterungen und mit vermeintlichen Wundern, die deren Verbindung zu göttlicher Allmacht zu beweisen schienen.

Leichtgläubigkeit und Aberglaube erleichterten das unheilvolle Werk der Blender. Hinzu kam ihre besondere Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen oder andere Gestalten anzunehmen. Sie benutzten keine Tarnfelder oder Masken wie die Konservatoren der Moy, sie veränderten vielmehr die molekulare Struktur ihrer Körper. Deshalb waren sie so schwer zu entdecken, weil sie selbst zu den Geschöpfen werden konnten, die sie manipulierten. Und wenn sie entlarvt wurden, setzten sie sich mit unbekümmerter Rücksichtslosigkeit zur Wehr.

Warum die Blender so handelten, weshalb sie unterentwickelten intelligenten Spezies immer wieder das toxische Geschenk der Religion brachten, blieb ein Rätsel. Vielleicht verfügten sie über einen besonderen Sinn für Humor und hielten alles für einen großen Spaß.

6

Aron wanderte langsam durch die Außenbasis, die bereits zweimal angeboten hatte, sich ihm anzupassen. Mattes Licht begleitete ihn durch die Räume und Kammern, in denen vier Konservatoren vor einiger Zeit Vorbereitungen für den Einsatz auf Mulkain getroffen hatten. Nur wenige persönliche Gegenstände erinnerten an sie: ein türkisfarbenes Meditationstuch, das am Nestsockel eines Tulla hing; das rubinrote Ruhenetz eines Taicott, mit dünnen magentafarbenen Halteschleifen, die sich wie Fühler bewegten, als Aron an ihnen vorbeiging; der Nährtank eines Crusalis, halb gefüllt mit einer Flüssigkeit, die wie Quecksilber aussah; und der leere Kokon eines insektomorphen Adrali, grün wie Smaragd.

Als Aron den Nukleus der Basis betrat, wurde es heller. Sichtfelder entstanden über und zwischen den Konsolen. Auf einem waren die Eisfelder des kleinen Monds zu sehen, auf dem die Basis errichtet war, einer von neunundfünfzig im Orbit des äußersten Gasriesen, der am Rand des Okorikor-Systems langsam seine Bahn zog.

»Wie ist der Missionsstatus?«, fragte Aron.

»Bereitschaft«, lautete die Antwort des Intellekts. Es handelte sich um eine sehr einfache Maschinenintelligenz, nicht mehr als ein Kind im Vergleich mit Sal oder den Unabhängigen in den Kugelsternhaufen der Milchstraße. »Ich warte.«

Aron betrachtete zwei andere Sichtfelder, die ihm Bilder des Planeten Mulkain zeigten, aufgenommen vielleicht von Sonden in einer niedrigen Umlaufbahn. Durch Wolkenlücken waren blaugrüne Meere und schiefergraue Berge zu sehen, ihre Gipfel schneebedeckt, die Täler durchzogen von Gletschern.

»Wann erfolgte der letzte Kontakt mit den vier Konservatoren?«, fragte Aron und wies das Implantat an, erneut ein Autorisierungssignal zu senden.

»Vor fünf Wochen.«

Ein neues Sichtfeld entstand, und darin erschien ein Tulla, sein knochiges Gesicht von Augenflecken durchzogen, am Hals der Knorpelwulst eines Kommunikationsmoduls. Im Hintergrund ragten die ineinander verschachtelten Bauten einer Turmstadt der Kain auf. Regen fiel auf pastellfarbene Dächer.

»Status«, ertönte eine raue Stimme. »Hiermit bestätigen wir unsere Vermutung: Es befinden sich tatsächlich Blender auf Mulkain. Es sind zwei. Wir betonen die Anzahl: zwei. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es hier noch mehr Blender gibt, ist sehr gering. Wir haben sie lokalisiert. Sie befinden sich …«

Es wurde still. Der Tulla im Sichtfeld bewegte sich nicht mehr. Hinter ihm verharrten die Regentropfen, jeder von ihnen mit einem eigenen kleinen Glanz.

»Gibt es eine Fehlfunktion?«, fragte Aron.

Die Sichtfelder verschwanden, eins nach dem anderen. Das Licht trübte sich. Schatten krochen durch den Nukleus.

»Ungewöhnliche Aktivität im Energiekern der Basis«, meldete Sal. »Ich hole dich zurück.«

Ein Ziehen und Kribbeln kündigte den Transfer ein. Aron atmete in der Außenbasis auf dem Eismond ein …

… und im Schiff aus.

Er lag in der Pilotenmulde, die Hände nicht an den Kontakten der Kontrollen, sondern an den Ruhestützen. Sal steuerte das Schiff und ließ es fallen, fort vom Eisriesen und aus dem tiefen Schwerkrafttrichter des Gasriesen, unter die Ekliptik des Okorikor-Systems.

Wenige Sekunden später leuchtete über ihnen eine kleine Sonne.

»Eine Falle?« Aron verband sich mit der Erlebnissphäre des Schiffes und empfing Daten.

Die neue Sonne strahlte heller als das Zentralgestirn, doch ein langes Leben war ihr nicht beschert. Sie verblasste schnell, schon nach einer halben Minute war nichts mehr von ihr zu sehen.

»Jemand hat den Energiekern der Außenbasis in eine Bombe verwandelt«, erklärte Sal.

»Die Blender waren dort?«, vermutete Aron.

»Oder jemand, der ihnen half.«

»Ich sollte getötet werden.« Seine eigenen Worte klangen seltsam in Arons Ohren.

»Du oder jemand an deiner Stelle«, präzisierte Sal. »Ein Gesandter der Moy, ausgeschickt, um nach dem Rechten zu sehen.«

Aron blickte in die Sichtfelder wie auf der Suche nach etwas. »Den Blendern muss doch klar sein, dass sie damit keine Nachforschungen verhindern können.«

»Das ist ihnen zweifellos bewusst«, pflichtete ihm Sal bei. »Aber bis die Moy weitere Gesandte ausgewählt und hierher entsandt hätten, wären Wochen, wenn nicht Monate vergangen.«

»Darum geht es ihnen also«, brummte Aron. »Die beiden Blender auf Mulkain wollen Zeit gewinnen. Wofür?«

»Für ihre Mission.«

Arons Finger tasteten nach den Kontrollen und wichen dann wieder zurück. Zumindest in diesem Leben bekam er es zum ersten Mal direkt mit Blendern zu tun, und die Instruktionen, die er während des Flugs zum Okorikor-System studiert hatte, warnten ausdrücklich davor, sie zu unterschätzen.

»Sie könnten einen Horchposten hier am Rand des Systems haben.«

»Ja«, bestätigte Sal. »Und vielleicht noch andere bei den inneren Planeten.«

»Also Schleichfahrt«, entschied Aron und berührte die Kontaktflächen der Kontrollen. »Stellen wir uns tot.«

7

Aron stand im Hangar, neben dem offenen Assistenten, konfiguriert für den Flug nach Mulkain. Zwei mechanische Helfer legten ihm den vom Synther angefertigten Einsatzanzug an, der ihn während seiner Mission auf dem Planeten tarnen, ernähren und schützen sollte.

»Der Tulla und seine drei Begleiter sollten das Moccecc für eine Replikation aufzeichnen.« Aron stand breitbeinig und mit gestreckten Armen, während er in den Einsatzanzug gehüllt wurde, ein Teil nach dem anderen. »Das Moccecc ist eine Art kollektives Gedächtnis, ein großes, im Lauf von Jahrtausenden entstandenes Kunstwerk, das der Spezies-Erinnerung dient.«

»Es gibt Auskunft über Wesen und Identität der Kain«, erklärte Sal. »Nach den letzten Berechnungen steht ihnen aufgrund geringfügiger Veränderungen von Mulkains Umlaufbahn ein besonders langer und strenger Winter bevor. Das Moccecc könnte Schaden nehmen. Die Moy wollen es bewahren.«

»Warum sollten die Blender etwas dagegenhaben?«, fragte Aron. »Sie hätten im Verborgenen warten können, bis die vier Konservatoren ihren Auftrag erfüllt und Mulkain wieder verlassen hatten.«

»Vielleicht war das ihr Plan. Doch dann wurden sie entdeckt. Was auch immer geschah, die beiden Blender auf dem Planeten müssen gefunden und neutralisiert werden.«

Aron ließ die Arme sinken und fühlte ein leichtes Jucken an verschiedenen Körperstellen, als ihm der Einsatzanzug Mikrokontakte in die Haut schob. Neutralisieren klang vergleichsweise harmlos. Aber in diesem besonderen Fall konnte es einen Kampf auf Leben und Tod bedeuten, und Jahid hatte ihn deutlich darauf hingewiesen, dass sich die Interventionsmöglichkeiten der Moy in engen Grenzen hielten. Mit anderen Worten: Wenn er auf Mulkain starb, dann vielleicht für immer.

Für immer, wiederholte Aron in Gedanken. Eine seltsame Vorstellung.

»Sei vorsichtig«, mahnte Sal.

Die Helfer beendeten ihr Werk, und Aron überprüfte die Funktionen des Einsatzanzugs. Durch die von den Mikrokontakten geschaffenen direkten Verbindungen fühlte sich der Anzug mehr und mehr wie ein Teil des Körpers an. Zur Ausrüstung gehörte auch ein Gravitator – Mulkains Schwerkraft war etwas geringer als die, an die Aron gewöhnt war, und er durfte sich nicht durch seine Bewegungen verraten.

Ein Gedanke stieg in ihm auf.

»Sind die Blender mit den Zaisen verwandt?«, fragte er. »Zur Zeit von Omni waren sie die einzige andere xenomorphe Spezies in der Galaxis. Gibt es irgendwelche Verbindungen?«

»Unbekannt«, antwortete Sal. »Die Zaisen sind vor zwölf Galaktischen Epochen verschwunden und könnten wie Omni der Zäsur zum Opfer gefallen sein. Oder sie waren Teil der Blender, die viel älter sind, eine Subspezies oder eine politisch-kulturelle Abspaltung.«

Aron betrachtete seine Hände und Unterarme. Anthrazitfarbenes Metamaterial bedeckte sie, ein spezieller Stoff, der dünner und leichter aussah, als er tatsächlich war. Als er dem Anzug über einen der Mikrokontakte eine Anweisung schickte, verwandelte sich der dunkelgraue Stoff in den violetten Körperflaum eines Kain – aus dem Menschen, dem Letzten seiner Art, wurde ein Avianer aus der sechsten Kategorie der galaktischen NGS, der Neun Großen Spezies. Seine Kleidung bestand plötzlich aus silbernen Schleifen und bunten Tüchern, viele von ihnen mit kleinen Taschen und Symbolen, die Auskunft gaben über Rang, Status und für die Gemeinschaft vollbrachte Leistungen. Im Rücken schien es neue Muskeln zu geben, die es ihm ermöglichten, kleine Flügel auszubreiten. Er hörte das Rascheln der Federn, als er kurz mit ihnen schlug und sie dann wieder zusammenfaltete.

»Die Mimikry-Systeme des Einsatzanzugs bestätigen einwandfreie Funktion«, meldete Sal. »Die Tarnung ist perfekt. Niemand wird dich auf Mulkain als Außenweltler erkennen.«

Aron bewegte die Flügel erneut. »Nur noch wenige Kain können fliegen.« Diese Information stammte aus Jahids Instruktionen. »Die meisten von ihnen haben diese Fähigkeit verloren.«

»Das macht dich zu einem Privilegierten. Es sollte dir den Zugang zum Moccecc erleichtern und bei der Suche nach den Blendern helfen.«

Die letzten Verbindungen waren hergestellt – die zu Magen, Darm und Blase –, und der Einsatzanzug meldete volle Bereitschaft.

»Du bist so weit«, stellte Sal fest. »Du hast eine Autonomie von einer Woche, das sollte genügen.«

Die beiden Helfer wichen zu den Verankerungspunkten an der Rückwand des Hangars zurück. Aron trat zum Assistenten.

»Und wenn ich mehr Zeit brauche?«

»Das unterliegt deinem Ermessensspielraum, es sind deine Entscheidungen«, antwortete der große Intellekt des Schiffes. »Ich bleibe in einer hohen Umlaufbahn und warte auf dich.«

»Aber es würde Wochen oder Monate dauern, bevor man einen anderen Konservator schicken kann«, erinnerte sich Aron. »Ich muss allein zurechtkommen.«

»Es ist nicht der erste Einsatz, den du allein bestreitest.«

Aron stieg in den Assistenten, der zu einem kleinen Raumschiff geworden war, und legte sich in die Pilotenmulde. »Es gibt einen Unterschied. Diesmal bekomme ich es direkt mit Blendern zu tun.«

»Du wirst es schaffen, wie immer. Viel Glück, Aron.«

»O nein.« Er lächelte. »Wünsch mir nicht Glück, sondern Erfolg.«

»Den wirst du haben«, sagte Sal und öffnete den Hangar.

Von einem Gravitationskissen getragen, stieg der Assistent auf, glitt nach draußen ins All, durchdrang den Tarnschirm des Schiffes und fiel dem Planeten entgegen.

Der Blender

8

Horenzia, »Herz der Welt«, nannten die Kain ihre Stadt an den südlichen Ausläufern des zehntausend Kilometer langen Gebirges, das sich wie Mulkains Rückgrat über den bereits vereisten Nordpol zog. Sie war die größte Stadt des Planeten, fast eine Million Kain lebten dort, und die meisten von ihnen würden bald die Schlafsäle aufsuchen, um den langen Winter in Starre zu verbringen, einem tiefen Kälteschlaf mit stark reduziertem Stoffwechsel.

Aber noch steckte die Metropole voll von Leben. Zahlreiche aviane Kain waren auf den Stegen und Brücken zwischen den Gebäuden unterwegs, die sich an sechs einen halben Kilometer hohe Säulen schmiegten. Wie lebendige Wesen schienen die kleinen Häuser mit den pastellfarbenen Dächern übereinanderzuklettern, um Schnee und Eis zu entkommen. Ganz oben, wo sich die sechs Stadtsäulen vereinten, knüpften die Erinnerer der Kain das Moccecc.

Die Dämmerung setzte ein und brachte einen kalten Wind aus dem Norden, als Aron die Turmstadt erreichte, zusammen mit einigen Dutzend Kain, die aus einem Dorf in einem Bergtal kamen. Ihre gelben Pilgertücher wiesen darauf hin, dass sie Horenzias Ressourcen nicht belasten und sofort einen der Schlafsäle aufsuchen wollten, um sich der Obhut der Winterwächter anzuvertrauen. Der Assistent wartete versteckt in einer Höhle auf Aron, weit über den vorrückenden Gletschern. In regelmäßigen Abständen empfing er Statussignale von ihm, die ihm bestätigten, dass alles in Ordnung war.

Die Schlafpilger wahrten respektvolle Distanz, denn Aron trug die Zeichen eines Verdienstvollen. Er hörte die klickenden und pfeifenden Laute, mit denen sie sich verständigten, und wenn er sich darauf konzentrierte, verstand er sie wie eine Sprache, mit der er seit vielen Jahren vertraut war. Zu den Geräten und Instrumenten des Einsatzanzugs, der ihm das Erscheinungsbild eines Einheimischen gab, gehörte auch ein Translator, mit Jahids Missionsdaten programmiert. Aron hatte die Daten auch in sein Implantat kopiert, für den Fall eines sehr unwahrscheinlichen Defekts.

Am Fuß der Turmstadt trennte er sich mit einigen Pfeiflauten von den Pilgern und trat in Begleitung von vier Würdenträgern in einen Lift, der von einem Gegengewicht, weit oben in Horenzia, emporgezogen wurde. Die Aufzugkabine erinnerte an einen primitiven Förderkorb und schwankte immer wieder, aber die vier anderen Passagiere wirkten davon keinesfalls beunruhigt. Aron wusste nicht, ob sie zu den wenigen noch flugfähigen Kain zählten und in der Lage gewesen wären, sich bei einem Absturz zu retten. Er selbst hatte nichts zu befürchten, der Gravitator verlieh ihm im wahrsten Sinne des Wortes Flügel.

Je weiter sie nach oben kamen, desto lauter wurde es. Überall standen, gingen, hingen und tanzten Kain zu einer Musik, die aus blasrohrartigen Instrumenten kam und für Arons Ohren sehr seltsam klang, mal lustig und verspielt, mal düster und traurig. Aus den runden Fenstern der Nesthäuser ragten kleine haarlose Köpfe und fügten den vielen Pfeif- und Klicklauten lautes Kinderzwitschern hinzu.

Die Dunkelheit der beginnenden Nacht zog über den Himmel. Lampen leuchteten an den Häusern der Turmstadt und baumelten im kalten Wind. Biolumineszente Organismen erzeugten das Licht – die Kain hatten die Elektrizität noch nicht entdeckt.

Die vier Würdenträger sprachen über die Verwaltung der Schlafsäle und baten Aron um seine Meinung. Er gab vorsichtig und ausweichend Antwort, da er mit den Einzelheiten nicht vertraut war, doch zustimmende Pfiffe bestätigten ihm, dass er die richtigen Worte gewählt hatte. Solche nahen, direkten Begegnungen waren nie ohne Risiko, so gut die Tarnung auch sein mochte.

Er wich noch etwas weiter zurück, bis zum Gitter, das nicht aus Metall bestand, sondern aus einem leichten Material pflanzlicher Herkunft. Der Gravitator glich automatisch das Gewicht aus, damit sich die Kabine nicht zu sehr zur Seite neigte.

Beim nächsten Halt in etwa zweihundert Meter Höhe stieg Aron aus, und ein Orientierungslicht, in seine visuelle Wahrnehmung eingeblendet, wies ihm den Weg. Gruppen von Kain in weißen und gelbbraunen Tüchern schritten und kletterten zu den aus Stein bestehenden Säulen und verschwanden durch ovale Tore in ihrem Innern. Er mied sie, wo er sie meiden konnte, als er über Stege, Brücken und Treppen mit schiefen, unterschiedlich hohen Stufen ging.

Es wurde schnell dunkler, die Schatten verdichteten sich, und die Kain verwandelten sich in schemenhafte Gestalten, die nur dann Farbe und Substanz bekamen, wenn sie Lampenlicht erreichten. Das Pfeifen, Klicken und Zwitschern schien noch lauter zu werden, untermalt von einer zugleich freudig und klagend klingenden Musik. Aron begegnete ein paar Kindern, die ihn neugierig ansahen, und er schenkte ihnen einige Klicklaute, auf die sie mit freudigem Gezwitscher und einem kleinen Tanz reagierten.

Schließlich erreichte er sein erstes Ziel, ein kleines Haus mit vielen Ecken und Kanten und mehreren runden Öffnungen, wie eingezwängt zwischen zwei größeren Bauten, in denen Licht brannte.

Aron blieb einige Schritte neben dem nächsten Steg stehen, halb in den Schatten verborgen, und schickte eine Anfrage an den kleinen Intellekt des Einsatzanzugs. Das Orientierungslicht blinkte, Hinweis darauf, dass es sich tatsächlich um das Ziel handelte.

Er trat zu dem kleinen Haus und kletterte durch die nächste runde Öffnung. Die Sensoren des Einsatzanzugs zeigten ihm das dunkle Innere wie am helllichten Tag: mehrere Haltestangen, ein halb zusammengelegtes Ruhenetz mit mehreren Polstertüchern, in Wandnischen und auf Ablagen Gegenstände des täglichen Gebrauchs, wie zum Beispiel Federkämme und Trinkgefäße. Ein Spiegel an der Rückwand, fünffach unterteilt, präsentierte ihm einen großen Kain mit silbernen und goldenen Schleifen voll von Ehrensymbolen.

Aron drehte sich langsam um die eigene Achse. Dieses kleine Haus hatte zwei der vier von den Moy entsandten Konservatoren als Unterkunft gedient. Gab es hier Hinweise auf die Geschehnisse während der vergangenen Wochen? War vielleicht irgendwo eine Mitteilung versteckt, ein letzter Bericht?

Er sah in den Kästen und Truhen an den Wänden nach. Sie enthielten Tücher aus einem Stoff glatt wie Seide, leere Behälter aus Ton und Leder und Utensilien, die Aron an Messer, Löffel und Gabeln erinnerten. Er fand auch mehrere »Bücher«: Scheiben aus Pergament, die sich auseinanderziehen ließen, darauf Schriftzeichen aus kleinen Kringeln und Schnörkeln, die manchmal ineinander übergingen. Sie gerieten in Bewegung, als Aron den Blick mehrere Sekunden lang auf sie gerichtet hielt. Der Translator formte aus ihnen Worte in InterLingua, der Gemeinschaftssprache der galaktischen Zivilisationen ab Entwicklungsstufe sechs. Offenbar handelte es sich um das Äquivalent von Gedichten, und sie erzählten vom langen Winter und Träumen während der Starre.

Aron legte die Buchscheiben an ihren Platz in einer der Truhen zurück. Auf den ersten und auch auf den zweiten Blick gab es keine Anzeichen dafür, dass sich an diesem Ort Wesen aufgehalten hatten, die nicht von diesem Planeten stammten. Es schien die verlassene Heimstatt von Kain zu sein, die sich bereits in einen der Schlafsäle zurückgezogen hatten.

Die anderen Räume, kleiner als der erste, boten ein ähnliches Bild. Nirgends gab es Spuren von Außenweltlern.

»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Aron den Intellekt des Einsatzanzugs.

»Dies ist zweifellos der Ort, von dem der letzte Bericht übermittelt wurde«, lautete die Antwort, die nur er hören konnte.

»Na schön.« Aron sah sich um. »Zeig mir die lokale Aura.«

»Warnung«, erwiderte der Einsatzanzug. »Entdeckungsgefahr.«

Natürlich existierte in dem kleinen Haus keine aktive Erlebnissphäre wie zum Beispiel an Bord eines Moy-Schiffes – die nontechnologische Kultur der Entwicklungsstufe drei kannte keine unablässigen Datenströme. Aber mit den Sensoren des Einsatzanzugs war Aron in der Lage, die winzigen elektromagnetischen Echos lebender Individuen aufzuspüren. Eine derartige Sondierung erforderte jedoch Lücken in der Tarnung. Er musste sich eine Blöße geben, um mehr zu erfahren, und dadurch stieg das Risiko, als fremdes Wesen erkannt zu werden.

In einem schmalen Nebenzimmer, nicht einsehbar vom Hauptzugang des Hauses, wies er den Einsatzanzug an, das Tarnfeld zu öffnen und mit der Sondierung zu beginnen.

Drei Sekunden später begriff er, dass er nicht allein war.

Ein Blender befand sich in unmittelbarer Nähe.

9

Im Hauptraum des kleinen Hauses – dort, wo Aron das Scheibenbuch mit den Winterschlafgedichten gefunden hatte – bewegte sich etwas, das eben noch ein dunkler leerer Kasten gewesen war, wie ein Schrank ohne Inhalt. Nun wurde daraus eine vage Gestalt, ein grauschwarzer Schemen, aus dem Augen starrten, gelb wie Schwefel. Eine Hand formte sich, mit Finger wie Krallen, darin ein länglicher Gegenstand, eine Waffe.

»Gefechtsmodus!«, zischte Aron, obwohl ein Gedanke genügt hätte.

Die Mikrokontakte stimulierten ihn und gaben ihm mehr Kraft. Leichter geworden, stürmte er durch die Zimmer, und die Sensorerfassung zeigte ihm den Blender deutlicher als die eigenen Augen: dürr und nur etwas größer als einen Meter, mit langen ledrigen Armen und dünnen krummen Fingern. Pechschwarzes Haar reichte bis auf die schmalen Schultern.

Der Gegenstand in der Hand des Blenders wurde auf Aron gerichtet.

Trotz der Stimulation war Aron nicht schnell genug. Er wich zwar noch zur Seite aus, der Einsatzanzug unterstützte ihn dabei, doch der Blender feuerte seine Waffe ab, bevor Aron ganz aus der Schusslinie war.

Etwas traf ihn an der linken Schulter, eine winzige Nadel, so hart, dass sie sich beim Aufprall nicht verformte, und mit genügend kinetischer Energie, um sich durch die Panzerung des Einsatzanzugs zu bohren. Aron fühlte einen kurzen stechenden Schmerz, und einen Moment später sah er, wie der Blender durch eine der runden Öffnungen nach draußen sprang.

»Minimale Beeinträchtigung der physischen Integrität«, meldete der Einsatzanzug.

Aron erreichte das offene Rund und kletterte nach draußen. Wo war der Blender? Er sah ihn nicht mit den Augen, sondern mit den Sensoren, eine undeutliche graue Gestalt, die den elektromagnetischen Schweif einer dünnen Aura hinter sich herzog und bei einer dichtgedrängten Gruppe von Kain außer Sicht geriet.

Aron musste die Lücken in seinem Tarnfeld schließen, bevor er die Verfolgung aufnahm – es ging nicht anders.

»Was hat mich getroffen?«, fragte er.

»Unbekannt«, antwortete der Einsatzanzug. »Das Projektil war vier Millimeter lang und null Komma null eins Millimeter dick. Es löst sich in deinem Körpergewebe auf. Ich versuche, es zu analysieren.«

»Ergreife alle erforderlichen Gegenmaßnahmen.« Aron eilte über eine Brücke zwischen zwei Hausgruppen. »Chemische Blocker. Molekulare Neutralisatoren. Stoffwechselfilter. Es könnte Gift sein.«

Die Brücke geriet ins Schwanken, und er musste sich am Geländerstrick festhalten. Mehrere alte Kain traten an ihm vorbei, ihr Körperflaum nicht mehr violett, sondern hellblau. Aron hielt nach dem Blender Ausschau, diesmal nur mit den Augen. Er glaubte, am Ende einer Wendeltreppe eine Bewegung auszumachen, wo sich eigentlich nichts bewegen sollte.

Einer der alten Kain richtete einige Klicklaute an ihn, aber Aron achtete nicht darauf. Er durfte keine Zeit verlieren und eilte weiter, obwohl das unhöflich war. Er lief an einer Gruppe von Einheimischen vorbei, die ein lebhaftes Gespräch führten, erreichte die Treppe und eilte sie hinauf. Beim ersten Absatz musste er innehalten und beiseitetreten, denn eine junge Mutter kam ihm mit drei Kindern entgegen, zwei auf dem Rücken und eins, das kleinste, an der Brust.

Aron wartete mit wachsender Ungeduld. Die Kinder zwitscherten, und ihre Mutter blieb stehen, weil sie dem Verdienstvollen Gelegenheit zu einer Antwort geben wollte. Aron schob sich an ihr vorbei und setzte die Stufen hoch – ein weiterer unfreundlicher Akt, der Verwunderung, vielleicht sogar Ärger hinterließ.

Er erreichte das obere Ende der Treppe, ohne außer Atem geraten zu sein. Dank der Stimulation pulsierte Kraft durch seinen Körper.

Von dem Blender war weit und breit nichts zu sehen.

Wo ist er?, dachte er und blickte sich um. Kalter Wind bewegte die Lampen, Schatten wanderten und tanzten zwischen den Häusern. Gesänge der Kain zogen durch die Dunkelheit.

»Keine Ortung«, teilte ihm der Einsatzanzug mit. »Soll ich die Umgebung erneut sondieren?«

Aron erinnerte sich plötzlich daran, dass er mit seiner Tarnung zu den wenigen privilegierten Kain gehörte, die fliegen konnten. Er eilte durch einen kleinen Durchgang zu einer Plattform, und dort angekommen, erfasste ihn auf einmal ein kurzer Schwindel.

»Analyse noch nicht vollständig, aber hohe Wahrscheinlichkeit für ein Toxin«, verkündete der Einsatzanzug. »Das kleine Projektil enthielt ein Nervengift. Sie haben gerade die ersten Auswirkungen gespürt.«

Aron konzentrierte sich auf die scheinbaren zusätzlichen Muskeln im Rücken, breitete die Flügel aus und sprang in die Leere. Nicht die Schwingen trugen ihn – die waren nur für die Augen der Kain bestimmt –, sondern das Schwerefeld des Gravitators. Langsam stieg er auf, wie getragen von einem sanften Aufwind.

»Um was handelt es sich?« Aron aktivierte die Sensoren und suchte erneut nach dem entkommenen Blender. »Was droht mir?«

»Die toxische Substanz greift das Endoneurium an, das Bindegewebe der Axone einzelner Nerven und auch von Faszikeln, von Nervenfaserbündeln.«

»Was heißt das konkret?« Weiter oben in der Turmstadt bewegte sich etwas Fremdes inmitten der Kain, nicht weit von der Stelle entfernt, an der sich die sechs fünfhundert Meter hohen Säulen zu einer einzigen vereinten. Ein Stück darüber, in der Spitze von Horenzia, knüpften die Erinnerer das Moccecc, ein jahrtausendealtes Gewebe, das die Geschichte der Kain erzählte.

Aron schlug mit den Pseudoflügeln. Der Gravitator reagierte und ließ ihn schneller aufsteigen.

»Sie könnten die Kontrolle über Ihren Körper verlieren«, antwortete der Einsatzanzug.

»Das darf nicht geschehen«, erwiderte Aron sofort. »Entwickle ein Gegenmittel, so schnell wie möglich.« Ihm kam ein Gedanke. »Wie konnte der Blender eine wirkungsvolle biochemische Waffe gegen mich einsetzen?«

»Unbekannt.«

»Ich bin der letzte lebende Mensch.« Aron steuerte eine Plattform dicht unterhalb der hohen Turmspitze an. Der Wind wurde heftiger und trug erste Schneeflocken mit sich. »Wie konnte der Blender ein Toxin einsetzen, das auf meinen Metabolismus wirkt?«

»Unbekannt«, wiederholte der Einsatzanzug. »Ich versuche zu kompensieren.«

Aron landete auf der Plattform neben zwei alten Kain, die respektvoll beiseitewichen. Einige Dutzend Meter weiter unten führten breite Brücken von den Gebäuden der Stadt zu den obersten Schlafsälen in der Säule. Über Aron gab es weitere Brücken, aber sie waren schmaler und nicht für Schlafpilger bestimmt, sondern für die Erinnerer und ihre Bediensteten. Dort hatten die Sensoren den Blender zum letzten Mal geortet.

Aron bedankte sich mit einem kurzen Zwitschern bei den beiden Alten und eilte eine schmale Treppe empor. Böiger Wind zerrte an seiner Gestalt, der Gravitator glich die Bewegungen aus.

Ein etwa drei Meter hohes Oval empfing ihn, darin der gelbe Schein mehrerer kleiner Lampen. Aron trat einen Schritt vor …

… und fühlte, wie seine Knie weich wurden und unter ihm nachgaben. Ohne den Einsatzanzug wäre er zu Boden gesunken. Ein Brennen wie von einem inneren Feuer durchzog seinen Körper.

»Volle Stimulation«, ächzte er. »Ich brauche Kraft.«

»Bestätigung. Ich setze die Analyse des Toxins fort und versuche, es zu neutralisieren.«

Zwei Wächter traten Aron entgegen, große Kain mit gelbrotem Gefieder, gehüllt in smaragdgrüne Tücher. Einer richtete eine Lanze auf ihn, der andere einen Gegenstand, der aussah wie eine kleine Armbrust.

Aron blieb stehen. Das Licht der nahen Lampen schien sich zu trüben, Dunkelheit wogte heran.

Diesmal sprach er nicht, sondern schickte dem Interface des Einsatzanzugs mentale Worte: Ich brauche mehr Stimulation!

»Maximum ist erreicht«, lautete die warnende Antwort. »Mehr könnte organische Schäden verursachen.«

Die beiden Wächter ließen ihre Waffen sinken, als sie an den Tüchern und Schleifen der Tarnung die Zeichen zahlreicher Verdienste erkannten. Sie wichen zur Seite und entschuldigten sich mit respektvollen Pfiffen.

Aron dachte die Worte, und der Translator übersetzte sie. »Ich möchte mit den Erinnerern sprechen.«

Die beiden Wächter vollführten einladende Gesten.

Aron trat an ihnen vorbei, die Beine schwach im stützenden Einsatzanzug. Ein Saal öffnete sich vor ihm, ein Hohlraum mit einem Durchmesser von mehr als hundert Metern, durchzogen von Seilen und Stricken, die ein netzartiges Gespinst bildeten und für Aron eine gewisse Ähnlichkeit mit den Fäden der Möbiusbänder im Toten Raum hatten.

Hier und dort hingen oder saßen Kain, die meisten von ihnen alt, und arbeiteten am größten Tuch von Mulkain, einem vielfach gefalteten und immer wieder erweiterten Gewebe mit einer Dichte von zehn Millionen Knoten pro Quadratmeter. Jeder einzelne, von den Erinnerern geknüpft, erzählte eine kleine Geschichte aus der Vergangenheit der Kain, und aus ihnen allen ergab sich die eine große Geschichte der Historie ihres Volkes.

Das Moccecc, vollständig entfaltet fast zwanzig Quadratkilometer groß, war nicht nur ein einmaliges, unersetzliches Kunstwerk, das in der Galaxis seinesgleichen suchte, sondern verkörperte auch die Identität einer ganzen Spezies. Jeder Kain, der jemals gelebt hatte, war in den Knoten der Erinnerung erwähnt. Nichts ging verloren, alles wurde bewahrt.

Irgendwo in dem gefalteten Tuch, in dem Netz aus Seilen und Stricken, das den Erinnerern Haltepunkte beim Knüpfen gab, steckte der Blender. Aron spürte ihn, sein Instinkt schrie, während der Körper taub zu werden begann.

»Sie sollten sich an einen sicheren Ort zurückziehen«, riet ihm der Einsatzanzug. »Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie die Kontrolle über sich behalten.«

Aron folgte dem Verlauf eines Seils und hielt sich mit den Greifklauen seiner avianen Füße fest. Die Erinnerer achteten nicht auf ihn. Sie waren auf dem Moccecc konzentriert, dem sie ihre Erinnerungen in Form winziger Geschichtenknoten hinzufügten. Wo sie arbeiteten, war das Lampenlicht heller. In den übrigen Bereichen herrschte ein Halbdunkel, das die prächtigen Farben des Moccecc dämpfte.

Aron begann zu zittern. Er spannte die Muskeln und atmete tief durch.

»Er ist hier«, sagte er leise. »Der Blender, der in dem Haus auf mich gewartet hat. Aber wo steckt der zweite? Und was haben die Blender auf Mulkain vor? Warum sind sie hier?«

»Unbekannt.«

Aron dachte einen intensiven Gedanken für Implantat und Interface:

Ich weiß, warum sie hier sind. Sie haben es auf das Moccecc abgesehen, auf die Geschichte der Kain. Sie wollen sie ändern, etwas aus ihr herausnehmen und etwas anderes hinzufügen, vielleicht die Legende eines Wunderheilers oder Propheten. Und vielleicht will sich einer von ihnen als Nachfolger eines legendären Messias präsentieren und neue »Wunder« vollbringen, mit Hilfe von Technik, die den Einheimischen magisch oder göttlich erscheinen muss. Auf diese Weise könnten sie Einfluss und Macht gewinnen.

Das Zittern ließ sich auch mit gespannten Muskeln nicht länger unterdrücken, und selbst das Denken strengte ihn an.

Sprechen war etwas einfacher, wenn auch langsamer. »Einer der beiden Blender hat gewartet und wollte mich daran hindern, ihre Mission zu stören«, flüsterte Aron und verharrte mitten im Netz, das Moccecc in Reichweite, der nächste Erinnerer zehn oder mehr Meter entfernt. Aron nahm sich viel heraus, selbst für einen Verdienstvollen, denn normalerweise hatten hier nur die Knüpfer und Weber Zutritt. »Sie wussten von mir, sie wussten, dass ein Mensch kommt. Das Projektil mit dem speziellen Toxin beweist es. Woher stammen ihre Informationen?«

»Unbekannt«, entgegnete der Einsatzanzug. »Ich rate dringend …«