RUTH, ein junges Mädchen auf der Flucht - Claudia C. Knauer - E-Book

RUTH, ein junges Mädchen auf der Flucht E-Book

Claudia C. Knauer

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Beschreibung

In diesen Zeitzeugenberichten werden die Erinnerungen von Ruth und ihrer Familie an die Flucht aus Ostpreußen 1945 lebendig. Vor 80 Jahren muss Ruth ihren Heimatort verlassen. Die traumatischen Erlebnisse des damals fünfzehnjährigen Mädchens, ihrer Eltern und ihrer Geschwister entführen uns in die Zeit kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges und in die Jahre danach. Durch den eisigen Winter floh Ruth mit ihrer Familie vor der nahenden russischen Armee, entging mehrmals nur knapp dem Tode. Durch den eisigen Winter flohen sie quer durch Ostpreußen und über die zugefrorene Ostsee vor der nahenden Front bis Danzig, Die Sicherheit in der Stadt ist jedoch trügerisch, denn nur einige Zeit später erlebt Ruth mit ihren Eltern und ihrer Schwester Brunhild die Bombardierung Danzigs. Was aus ihren anderen beiden Schwestern Elly und Waltraud geworden ist, die sich auch in Ostpreußen aufhielten, weiß die Familie nicht. Auch zu ihrem Bruder Walter, der in der deutschen Wehrmacht kämpfte, gibt es keinen Kontakt. Wie es ihrer Familie dennoch gelang zu überleben und sich schließlich nach entbehrungsreichen Jahren wiederzufinden, wird hier geschildert. Wir erfahren später von den Erlebnissen der Schwestern Ruths und schließlich auch von denen Walters, der am Kriegsende in Gefangenschaft gerät. Die sorgsam recherchierten Informationen zu den historischen Ereignissen ergänzen lassen den Leser eintauchen in die Zeit kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges und in die Jahre danach. Es ist eine Reise in ein dunkles Kapitel unserer Vergangenheit, das hier erhellt werden soll – und es ist eine machtvolle Botschaft, die uns am Ende des Buches erwartet: die Botschaft des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.

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Claudia C. Knauer

RUTH, ein junges Mädchen auf der Flucht

Zeitzeugen-Berichte von der Flucht aus Ostpreußen 1945

In diesen Zeitzeugenberichten werden die Erinnerungen von Ruth und ihrer Familie an die Flucht aus Ostpreußen 1945 lebendig. Die traumatischen Erlebnisse des damals fünfzehnjährigen Mädchens, ihrer Eltern und ihrer Geschwister entführen uns in die Zeit kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges und in die Jahre danach. Durch den eisigen Winter floh Ruth mit ihrer Familie vor der nahenden russischen Armee, entging mehrmals nur knapp dem Tode und erlebte die Bombardierung Danzigs. Wie es ihrer Familie dennoch gelang zu überleben und sich schließlich nach entbehrungsreichen Jahren wiederzufinden, wird hier geschildert. Es ist eine Reise in ein dunkles Kapitel unserer Vergangenheit, das hier erhellt werden soll – und es ist eine machtvolle Botschaft, die uns am Ende des Buches erwartet: die Botschaft des Friedens und der Freiheit für alle Menschen.

Inhalt

Inhalt

DEUTSCHLAND 1945

SCHÖNHÖHE

MASUREN Ausflug in meine Erinnerungen

SCHÖNHÖHE Erinnerungen 1929 – 1945

DIE FLUCHT 1945

Kurz vor der Flucht

Wir schrieben den 23. Januar 1945.

29. Januar 1945

Ein wenig Schlaf,

Die Brücke aus Eis

DANZIG

Danzig, Ende Februar bis Ende März 1945

Die Tage schleppten sich dahin.

DÄNEMARK

Internierung in Dänemark, Kopenhagen, März 1945 bis Juni 1946

Dann kam der Oktober 1945

Wir schrieben das Jahr 1946

ELLYS FLUCHT

WALTRAUDS FLUCHT

Endlich gute Nachrichten

Immer noch in Dänemark

Kopenhagen, Internierungslager

Aalborg, Internierungslager Dänemark, Juni 1946

WALTERS ERLEBNISSE

Ein Bericht über Walters Gefangenschaft

16. April.1945

20. April.1945

September 1945

DIE RÜCKKEHR

Internierungslager Aalborg, 1947

Nachtrag

Nachtrag der Autorin

Hinweis

Orteverzeichnis

IMPRESSUM

DEUTSCHLAND 1945

Ruth war gerade 15 Jahre alt geworden, als sie mit ihren Eltern aus ihrer Heimat Masuren in Ostpreußen flüchten musste. Um zu verstehen, wo Ostpreußen sich befand, müssen wir in der Geschichte Deutschlands ein ganzes Stückchen in der Zeit zurückreisen. Ursprünglich innerhalb der deutschen Grenzen, war Ostpreußen nach dem ersten Weltkrieg zu einer Art Insel im Nordosten des Landes geworden, die von dem Rest Deutschlands abgeschnitten war.

Durch eine Befragung der Bevölkerung Ostpreußens nach dem Ersten Weltkrieg 1920 war das Land nämlich unter deutscher Herrschaft geblieben. Die Mehrheit hatte sich für die Zugehörigkeit zu Deutschland entschieden, da die Herrschenden in den vergangenen Jahrzehnten dafür gesorgt hatten, dass das sogenannte Deutschtum in Masuren und in den zu Preußen zählenden Gebieten Einzug gehalten hatte, sprich es war verboten, Polnisch oder einen entsprechenden Dialekt zu sprechen.

Die Kinder lernten schon in der Schule nur die deutsche Sprache und Deutsch war die Amtssprache in Preußen. Auf Minderheiten wurde keinerlei Rücksicht genommen und jede fremde Kultur abgelehnt. Diese Einstellung fand sich in Deutschland nicht erst unter dem nationalsozialistischen Regime, sondern keimte schon sehr viel früher. Somit war es nur logisch, dass die Ostpreußen sich für die deutsche Herrschaft entschieden hatten.

Das Gebiet Masuren lag im Süden Ostpreußens– und dort, am südlichen Zipfel, lag der Landkreis Ortelsburg, zu dem auch der kleine Ort Schönhöhe gehörte. Allerdings trug das kleine Dorf nur sieben Jahre lang, nämlich von 1938 bis 1945 den Namen Schönhöhe, denn aus politisch-ideologischen Gründen war es wie viele andere fremdsprachig klingende Orte im Sommer 1938 umbenannt worden.

Wegen des kurzen Zeitraums, in dem das kleine Dörfchen Powalczyn Schönhöhe hieß, ist die Ortschaft weder auf neueren noch auf älteren Landkarten unter dem Namen Schönhöhe zu finden. Nach dem Krieg 1945 erhielt das kleine Örtchen seinen ursprünglichen Namen „Powalczyn“ zurück – jetzt in polnischer Schreibweise.

Ein Ortsverzeichnis mit den polnischen Orten und deren ostpreußischen Namen während des Zeitraums 1939-1945 findet sich am Ende des Buches. Sowohl der Name von Schönhöhe als auch die Namen der Orte, von denen hier die Rede sein wird, waren im Zeitraum 1939-1945 gültig.

Auch wenn das Gebiet Ostpreußens heute nicht mehr existiert, die Landschaft Masuren gibt es jedoch immer noch und sie zählt zu den schönsten Naturgebieten der Erde. Und in dieser Region wurde Ruth am 6. Dezember 1929 geboren.

Über fünfzig Jahre nach der Flucht hat Ruth sich entschieden, ihre Erlebnisse aufzuschreiben, denn die Erinnerungen an ihre Heimat und an die Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs waren stets in ihr lebendig. Ruths Geschichte der Flucht als auch die Erinnerungen ihrer Geschwister an diese Zeit, die Ruth in ihre Aufzeichnungen aufgenommen hat, sind hier wiedergegeben.

Und nun lassen wir Ruth erzählen:

SCHÖNHÖHE

Gedicht von Ruth Knauer, Januar 1998

Schönhöhe

Schönhöhe war das kleine Dorf im Masurenland,

wo sich das alte Holzhaus meines Urururgroßvaters befand.

Unten am Fuße der Höhe 

schlängelte vorbei sich der Fluss an Schönhöhe.

Wo im Sommer im satten Grün

gelbe, blaue, lila Wiesenblumen waren am blüh‘n.

Wir Kinder tummelten im Winter uns im tiefen Schnee,

und im Sommer badeten wir so gern im Nositz-See.

Mitten im dunklen Wald ganz einsam und allein

glitzerte der See im Abendsonnenschein.

Die Lerchen sangen aus blauer Höh‘,

die Bienen summten ein Lied im blühenden Klee.

Und über den weiten Feldern wehte sachte der Wind,

da war ich so glücklich – als Masurenkind!

MASURENAusflug in meine Erinnerungen

Wenn ich an Masowien denke, so ist dies ein Ausflug in meine Kinderzeit, meine Jugend, eine weite Reise in die Vergangenheit. Erzählen möchte ich von meiner zauberhaften Heimat Masuren, auch Masowien genannt, den südlichen Teil Ostpreußens, das Land der dunklen Wälder und kristallklaren Seen.

Dieses einmalig schöne Fleckchen Erde ist durchzogen von glasklaren Seen, die wie eine Perlenkette aneinandergereiht sind. Jeder See hat seine eigene Form, einmal lang und schmal, einmal tief und rund.

Oft sind diese fischreichen Seen eingebettet in dunkle Wälder, was den Reiz dieser Seen noch erhöht. Dann sieht man nur das Wasser, den Wald und den Himmel. Und im Sonnenlicht glänzt die Oberfläche der Seen silbrig. Meilenweit konnte man wandern durch die masurischen Wälder, ohne jemandem zu begegnen.

Die Johannesburger Heide im südlichen Masuren mit 965 Quadratkilometern war das größte zusammenhängende Waldgebiet Preußens. Dort wuchsen die Kiefern bis über 40 Meter hoch.

Nie vergessen werde ich unseren Schönhöher See, den Nositz-See. Der Anblick hat sich tief in meine Seele gebrannt.

Ortelsburg, unsere Kreisstadt im Südwesten Masurens, wurde von Ortulf von Trier, dem Ordenkontur von Elbing, um etwa 1360 zwischen zwei Seen, dem Kleinen und dem Großen Haussee, gegründet. Im Laufe der Jahrhunderte musste diese Stadt mehrmals das Schicksal der Zerstörung erleiden. Während der Schlacht von Tannenberg im August 1914 brannte Ortelsburg fast vollständig nieder und wurde dann großzügig wieder aufgebaut.

Historiker wissen zu berichten, dass um das Land der Masuren schon häufig gekämpft und gestritten wurde.

Sicher ist die Einzigartigkeit dieses Fleckchens Erde, dessen fruchtbares Land mit den Wald-, Wild-, Holz- und Fischbeständen die Ursache der Streitigkeiten. Wiederholt wurden Städte und Dörfer von fremden Kriegern niedergebrannt. Aus den Trümmern wuchs wieder ein neuer Ort.

Die Tataren zum Beispiel fielen in Masuren ein, brachten grausame Vernichtung und hinterließen Schutt und Asche. Zehntausende Menschen wurden erschlagen, zehntausende Menschen verschleppt. Auch die Pest fegte über die Masuren hinweg. Nur wenige Menschen blieben am Leben. Not, Krieg und Elend blieben den Masuren bis zum zweiten Weltkrieg nicht erspart.

Das schlimmste Schicksal ist ihnen jedoch widerfahren, als sie am Ende dieses schrecklichen Krieges, im Winter 1944 / 1945, ihre Heimat verlassen mussten und ihr Hab und Gut, ihr Land und ihre Tiere verloren. Und die Menschen, die nicht geflüchtet waren, die sich mitten im eiskalten Winter lange Zeit in den Wäldern versteckt hielten, wurden ermordet oder nach Kriegsende vertrieben.

Auch die Menschen aus anderen eroberten Gebieten teilten das Schicksal der Masuren. Im Sommer 1945 begannen die Polen und Tschechen unter Zustimmung der Alliierten mit der Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Schlesien und Pommern sowie aus Böhmen und Mähren. Insgesamt wurden 12,4 Millionen deutsche Menschen in den Westen vertrieben.

Heute ist die Heimat der Masuren unter polnischer Herrschaft. Die wenigen Masuren, die noch übrig geblieben waren, verließen gezwungenermaßen oder schließlich freiwillig bis Ende der 80er Jahre das Land.

Masuren ist heute ein Landstrich ohne Masuren – das ursprüngliche Volk der Masuren gibt es nicht mehr, die Masuren sind in alle Winde verstreut worden oder auf dem Weg der Flucht aus ihrer Heimat gestorben.

Nur die Landschaft ist geblieben - und die Erinnerung in den Herzen und Köpfen der Menschen, die diese furchtbaren Schicksale überstanden und überlebt haben.

Noch heute trauert mein Herz um meine Heimat.

SCHÖNHÖHEErinnerungen 1929 – 1945

Mein Geburtsort Schönhöhe war ein freundliches, ruhiges Dörfchen, umgeben von riesigen, dunklen Wäldern mit dem würzigen Duft von Kiefern und Tannen.

Im Sommer war der Wald voller Heidelbeeren. Groß, süß und saftig waren die Früchte. Im Herbst lugten Steinpilze und Pfifferlinge und Butterpilze unter den Bäumen hervor und in den neu angelegten Schonungen wuchsen braune Morcheln.

Unten am Fuß der Höhe, westlich vom Ort, schlängelte sich ein Flüsschen durch die saftigen Wiesen, wo im Frühjahr und Sommer im satten Grün bunte Blumen hervorschauten und schillernde Libellen umher schwirrten.

Im Sommer, wenn der Wind sanft über die reifen Kornfelder wehte, formten sich die langen Halme zu einem Wellenmeer und der Geruch des reifen Korns erfüllte die Luft. Hier und da schauten blaue Kornrade und roter Klatschmohn hervor. Wenn der Buchweizen schneeweiß blühte, roch es weit hinaus übers Land nach Bienenhonig. Und die vielen, emsigen Bienen erzeugten ein Geräusch mit ihren Flügeln, das sich wie ein summendes Lied anhörte.

Den Rand der Dorfstraße, wie sollte es auch anders sein, säumten solide Holzhäuser und alte Bäume. Manche Häuser schmückte eine Veranda, andere waren schlicht und einfach, aber alle Häuser waren gut erhalten und gepflegt. Die liebevoll angelegten Gärten vor den Häusern zierten bunte Blumen, sie leuchteten von Frühjahr bis Herbst in den verschiedensten Farben.

Doch die Farbe, die sich für alle Zeit in mein Herz gebrannt hat, ist die Farbe Lila, denn im Garten vor meines Vaters Haus blühten den ganzen Sommer über lila Lilien. Der im Frühjahr lila blühende Fliederbaum und eine bequeme Bank vor dem Elternhaus luden zum Verweilen ein. Und das taten die alten Menschen im Dorf nach getaner Arbeit gern, besonders an lauen Sommerabenden.

Mein Vater, Wilhelm Karpinski, wurde in diesem Haus im Jahr 1893 geboren. Er heiratete meine Mutter, Auguste Pruß, die auch in Schönhöhe im Jahr 1892 zur Welt kam. Später erbte Vater das Haus mit einem Stück Land.

Nur wenige Jahre vor der Flucht hatten meine Eltern eine große neue Scheune bauen lassen. Ziel meiner Eltern war es immer, den Besitz für uns Kinder zu vergrößern und sie hatten vor, das alte Holzhaus durch ein neues zu ersetzen. Dass meine Eltern nach unserer Flucht ihren Besitz nie wieder sehen würden, hätte damals niemand gedacht.

Mein Vater hatte also unser Haus mit einem kleinen Hof und ein paar Morgen Land geerbt und dann stetig diesen Besitz vergrößert – für uns Kinder. Hier lebten seit der Gründung des Dorfes, einschließlich unserer Familie, sechs Generationen. Es war ein großer, gepflegter Hof mit einem Wohnhaus aus Holz und mit Gärten, in denen Apfel-, Birn- und Kirschbäume standen.

Bunte Blumen zierten den Garten vor dem Haus. Und die lila Lilien, die im Sommer so herrlich blühten, schmückten den Garten.

Nur einige Häuser von uns entfernt stand eine lange Bank unter alten Bäumen, dort kamen die Menschen des Dorfes gern zusammen. Es wurde viel erzählt und gelacht. Das Zusammengehörigkeitsbewusstsein war sehr stark aus geprägt. Einer half dem anderen, vor allem bei der Ernte und beim Dreschen des Getreides.

Die Sommer waren meist sehr heiß und die Winter sehr kalt und schneereich. Manche Schneeverwehungen waren meterhoch, sodass ein so genannter Sarwark (ein Tagelöhner) tätig werden musste. Schon Mitte Dezember war das Land mit Schnee bedeckt, zuvor war es tüchtig gefroren. Dennoch war es in den Häusern heimelig und mollig warm durch die großen Kachelöfen, die fast bis zur Zimmerdecke reichten. Und noch heute kann ich die wunderbare Wärme der Öfen spüren, wenn ich daran denke.

Im Frühjahr bestellte mein Vater das Land mit Hafer, Gerste, Buchweizen und mit Kartoffeln. Der Roggen wurde bereits im Herbst gesät.

Bearbeitet wurden die Felder durch eingespannte Pferde. Diese Arbeit verlangte von Mensch und Tier viel Kraft ab. Nur die großen Bauern hatten schon eine Dreschmaschine und eine Maschine zum Ausheben der Kartoffeln.

Die Masuren waren immer sehr fleißige, zähe und gastfreundliche Menschen. Und gläubig waren sie. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, das hat sie mir oft erzählt, stand morgens um vier Uhr auf und las in der Bibel, noch bevor er sein Frühstück verzehrte und sein Tagwerk begann.

DIE FLUCHT 1945

Wie sehr ein Mensch leidet, kann der andere nie erfahren!

Ostpreußen, Winter 1944 / 1945

Kurz vor der Flucht

Teile von Ostpreußen waren bereits von Russen besetzt. Das furchteinflößende Donnern der Kanonen näherte sich uns Tag für Tag und wurde immer lauter.

Seit November 1944 kamen einzelne Flüchtlingswagen in Schönhöhe an. Damals konnten wir nicht wissen, dass uns ein ähnliches Schicksal bevorstand, denn noch glaubten wir fest an eine gütliche Wende. Wir hofften und beteten, dass der Krieg endlich ein Ende nehmen möge. Dass alles ganz anders kommen sollte, ahnten wir noch nicht. Die Flüchtlinge taten uns damals sehr leid, aber wirklich nachvollziehen konnten wir ihre Qualen nicht.

An einem Wochenende im Januar kamen dann jedoch einige Soldaten, die uns dringend zu einer Flucht rieten. „Ja wisst ihr denn nicht“, fragten sie meine Eltern, „was mit den jungen Mädchen geschieht, wenn die Sowjets kommen?“

War ich doch ein junges Mädchen von 15 Jahren, Brunhild war damals gerade erst zehn Jahre alt. Natürlich wollten unsere Eltern uns vor den Untaten der sowjetischen Soldaten bewahren. Die Geschichten von grausamen Vergewaltigungen der Frauen und Mädchen und die unmenschlichen Verschleppungen von Menschen aus den bereits eroberten Gebieten nach Sibirien waren uns zur Genüge bekannt.

Aber wohin sollten wir gehen? Zu sehr hingen die Herzen meiner Eltern an ihrem Besitz und an den Tieren. Meine Eltern führten in ihren Gedanken und Herzen einen verzweifelten Kampf.

Sollten sie flüchten?

Sollten sie bleiben?

Es war eine schwierige, ja übermenschliche Entscheidung.

Da waren ja auch noch unsere anderen Geschwister. Meine Schwester Waltraud, 21 Jahre alt, war ganz in der Nähe bei der Kreisbauernschaft in Ortelsburg, unserer Kreisstadt, tätig. Am Montag, den 22. Januar 1945, wollte Vater noch rasch nach ihr schauen und sie dann auch mitbringen, damit wir mit ihr gemeinsam flüchten konnten. Es war für Vater ein gefahrvolles Unternehmen, denn wir hatten gehört, dass feindliche Truppen sich bereits in der Stadt befinden würden. Er versprach uns, vorsichtig zu sein.

Doch mein Vater kam zu spät. Im Büro der Kreisbauernschaft in Ortelsburg hielt sich niemand mehr auf. Papiere lagen auf dem Boden verstreut umher. Die Straßen und viele der Häuser waren von Bomben zerstört. Zu Bruch gegangenes Fensterglas lag haufenweise herum und die Menschen hatten den Ort verlassen. Es war niemand geblieben, den er hätte fragen können. 

Traurig kehrte Vater unverrichteter Dinge und allein nach Hause zurück. „Wo mag Waltraud wohl geblieben sein?“, fragte meine Mutter sorgenvoll.

Welches Schicksal meine Schwester Elly, die gerade erst 17 Jahre alt war, ereilt hatte, und die in Rößel die Lehrerbildungsanstalt besuchte, wussten wir ebenfalls nicht. Wir wähnten sie in Sicherheit. Die jungen Mädchen waren doch gewiss evakuiert worden, dachten wir. Der Landkreis Rößel grenzte nördlich an den Kreis Ortelsburg und lag im Ermland, in der Mitte Ostpreußens.

Dass meinen beiden Schwestern viel Glück aber auch viel Leid beschieden war, ahnten wir damals nicht.

Mein Bruder Walter war zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt. Als er sechs Jahre zuvor eingezogen worden war, hatte man ihn bei der Luftwaffe der Wehrmacht eingesetzt. Lebte er noch? Wir wussten es nicht. Sein letzter Feldpostbrief von der Westfront war schon älteren Datums. Niemand konnte uns sagen, wo er sich im Moment befand.

Wir schrieben den 23. Januar 1945.