Rütlischwur - Michael Theurillat - E-Book

Rütlischwur E-Book

Michael Theurillat

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Beschreibung

In einer renommierten Zürcher Privatbank verschwindet ein Mitarbeiter spurlos. Der Chef der Bank, Jakob Banz, bittet seinen alten Schulfreund Kommissar Eschenbach um Hilfe. Kurz darauf wird Banz ermordet. Die Computerspezialistin Judith gerät in Verdacht, sie soll ein Verhältnis mit Banz gehabt haben. Eschenbach ist von ihr fasziniert: Sie hat erstaunliche mathematische Fähigkeiten und ein kompromissloses Verhältnis zur Wahrheit. Eschenbach setzt alles daran, Judiths Unschuld zu beweisen. Doch das ist weitaus schwieriger als gedacht. Spielt sie ein doppeltes Spiel? Mit seinem neuen hochaktuellen Roman taucht Michael Theurillat tief ein in das Schattenreich der internationalen Finanzwelt.

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Michael Theurillat

Rütlischwur

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie

etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder

Übertragung können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

ISBN 978-3-8437-0012-2

© 2011 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Meinem Vater,

Inhaltsverzeichnis
Umschlag
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Einleitende Bemerkung
Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Epilog
Dank
Leseprobe
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Einleitende Bemerkung

Selbstverständlich gibt es das Kloster Einsiedeln, diesen wunder-schönen Barockbau am Fuße des Friherrenbergs im Kanton Schwyz. Auch die Kantonspolizei Zürich existiert und natürlich ebenso Dr. Beat »Beatocello« Richner – zum Glück! Und wer unter dem Stichwort ­Hawala im Internet recherchiert, der wird einiges über dieses geheimnisvolle Bankensystem erfahren. Sogar das Büchlein Zivilverteidigung ist geschrieben worden, von einem gewissen Oberst Albert Bachmann et al.

Es gibt Dinge, deren Existenz ich nicht leugnen will, denn sie sind einfach zu schön, als dass man sie erst erfinden müsste.

Und doch dürfen diese Gegebenheiten nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich beim vorliegenden Roman um reine Fiktion handelt. Alle agierenden Personen und Institutionen sowie deren Verbindung zueinander sind frei erfunden. Mögliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie mit Handlungen (in der Gegenwart oder in der Vergangenheit) sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Wir wollen seyn ein einzig Volk von Brüdern,

In keiner Noth uns trennen und Gefahr.

(Alle sprechen es nach mit erhobenen drei Fingern)

Wir wollen frey seyn wie die Väter waren,

Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.

Wir wollen trauen auf den höchsten Gott

Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

aus: Friedrich Schillers Wilhelm Tell

Kapitel 1

Das Mädchen Judith

Wenn ein Vater sein Kind nicht will, dann macht er sich aus dem Staub. Am besten vor der Geburt. Das Kind bleibt noch eine Weile im Bauch der Mutter, wird geboren und von ihr großgezogen. Allein oder zusammen mit einem neuen Partner. Das ist ein Unglück – aber keine Katastrophe.

Anders sieht es aus, wenn eine Mutter ihr Kind nicht will; dann ist die Sache komplizierter: Der Vater wird sich nicht selbstverständlich um es kümmern, sie kann es abtreiben oder nach der Geburt weggeben. Wenn sie verzweifelt ist, wird sie ihr Baby bekommen und verlassen.

Das ist Mord.

Babys werden in Mülltonnen und auf Parkbänken gefunden. Auch im Winter. Auf Parkplätzen von Autobahnraststätten und im Wald. Oft kommt jede Hilfe zu spät. Und dann gibt es noch die, von denen keiner Kenntnis hat, weil sie nie gefunden wurden …

Bruder John folgte in groben Zügen dieser Argumentation, als er während eines Kolloquiums im Benediktinerkloster Einsiedeln zu seinen Ordensbrüdern sprach.

Es war ein Augustnachmittag im Jahr 1995.

Die Quecksilbersäule in Zürich verzeichnete mit zweiunddreißig Grad Celsius einen Höchstwert, doch auf der Anhöhe in Einsiedeln, rund vierzig Kilometer südöstlich der Stadt, herrschten tiefere Temperaturen.

Der Geist von Sankt Benedikt wirkte schon über tausend Jahre an diesem Ort, seit der Heilige Meinrad, Einsiedler aus dem Finsteren Wald, im Jahr 835 den Orden gegründet hatte. Gefördert von Bischöfen und Adelsfamilien, erreichte er bis ins Jahr 1100 eine erste Hochblüte und strahlte als geistliches und kulturelles Zentrum über Alemannien hinaus bis nach Nord­italien.

Im Strudel politischer und gesellschaftlicher Wirren verlor die Fürstabtei zunehmend an Einfluss. Bis auf einen einzigen Mann reduziert, trotzte die Bruderschaft schließlich der Reformation. Es waren dunkle Jahre, an deren Ende neues Leben erwachte. Denn in der Folge entwickelte sich Einsiedeln zu einem internationalen Wallfahrtsort und zum Mittelpunkt der katholischen Schweiz. Wie eine Eiche, die alle Stürme überlebt hat und noch immer Früchte trägt, waren sich die Ordensbrüder ihrer kraftvollen Ausstrahlung bewusst. Dennoch gab man sich demütig – ganz im Gegensatz zum nahe gelegenen Zürich –, man wollte mit nichts protzen. Und doch: Der prächtige Barockbau aus dem achtzehnten Jahrhundert, die kostbar ausgestattete Kirche und die kunstvoll verzierten Säle; die Stiftsbibliothek von Weltruhm und die über tausendjährige Pferdezucht – all dies vermochte das selbstauferlegte Gelübde der Bescheidenheit nicht ganz widerzuspiegeln.

In der Arbeitsklause im Westflügel des Klosters war es angenehm kühl. Der Abt Sebastian Watter, ein bedächtiger, weißhaariger Mann, und die vier Mönche, die der Sitzung beiwohnten, folgten den Ausführungen des Vortragenden recht unbeteiligt. Keiner von ihnen war jemals verheiratet gewesen und demzufolge auch noch nie im Leben Vater geworden. Aber sie waren alle weltlich genug, um sich menschliche Katastrophen aller Art vorstellen zu können.

Bevor Bruder John zu seinem eigentlichen Anliegen vordrang, machte er eine kurze Pause. Er hatte viele Wochen lang über einen geeigneten Namen nachgedacht: Ort des Lebens – Hoffnungsbox – Babykasten. Sie schienen ihm alle noch recht unausgegoren, so dass er sie erst gar nicht erwähnte.

»Wir sollten verzweifelten Müttern eine Anlaufstelle bieten – ihnen eine Möglichkeit geben, ihr Baby abzugeben. Bei uns. Anonym. Natürlich in der Hoffnung, dass sie es später wieder abholen. Wenn Gott ihnen in diesen schweren Stunden beisteht, so werden sie sich bei uns melden …«

An dieser Stelle hielt Bruder John inne und ließ das Gesagte nachwirken. Er beobachtete die nachdenklichen Gesichter seiner Ordensbrüder.

Keiner sagte ein Wort.

Stille erfasste den Raum. Eine Ruhe, die Bruder John nicht als unangenehm empfand, denn in den Kolloquien, die sie in Abständen von drei bis fünf Wochen abhielten, war es nicht üblich, dass man sich sofort zu dem vorgebrachten Thema äußerte.

Es galt, in andächtiger Stimmung über das Gehörte nachzudenken und wohlwollend darüber zu befinden. Darin unterschied sich die Gemeinschaft des Benediktinerordens von den meisten anderen Gemeinschaften der westlichen Welt.

Bruder John sah zu Sebastian Watter, der am Kopfende des langen Eichentisches saß und die Augen geschlossen hielt. Hinter dem Abt, auf halber Höhe, hing als einziger Schmuck an der weiß getünchten Wand das Kreuz Jesu Christi.

Unweigerlich dachte Bruder John an Golgatha. Und vielleicht fiel ihm gerade deshalb der springende Punkt erst in diesem Augenblick ein.

»Natürlich müssen wir diese Neuerung öffentlich machen. Schließlich sollen die Mütter wissen, dass sie bei uns diese Möglichkeit haben …«

Der Abt hob langsam das Kinn: »Öffentlich«, sagte er in ruhigem, gefasstem Ton. »Ganz richtig. Und gerade darin liegt das Problem.«

Die Babyklappe, wie Bruder Johns Idee inzwischen klosterintern genannt wurde, war auch in den folgenden Sitzungen ein Thema, auch wenn man sich mit der konkreten Umsetzung Zeit lassen wollte. Bruder John war zuversichtlich, ja, sogar hoffnungsfroh. Wenn die Kirche das ungeborene Leben schützte, warum sollte sie es mit dem geborenen anders halten. Dass der Begriff Babyklappe nicht von ihm selbst stammte, störte ihn nicht. Denn im Kloster Einsiedeln war es kein Geheimnis, dass er der Vater dieses durchaus bemerkenswerten Gedankens war.

So war es kein Zufall, dass man sich an Bruder John wandte, als am Abend des 26. November desselben Jahres ein Mädchen den Weg ins Kloster fand.

»Sie ist in meinem Büro«, war der erste Satz, den Bruder Pachomius herausbrachte, nachdem er mit hastigem Klopfen in Johns Zimmer hereingeplatzt war. Er nahm seine Nickelbrille ab und fuhr sich mit dem Ärmel seiner Kutte über die schweißnasse Stirn.

»Wer?«, fragte John.

»Ein Mädchen. Nach der Vesper ging ich zurück … Ich muss doch die Katalogisierung vorantreiben. Da stand sie … Das Fens­ter eingeschlagen.«

Die beiden Mönche eilten durch die Gänge in Richtung Westflügel. John tat sich schwer, sein Tempo zu drosseln – auch wenn er kurze Beine hatte, untersetzt und pummelig war. Immer wieder musste er innehalten, weil der zweiundsiebzigjährige ­Pachomius stehen blieb und schweißgebadet nach Luft rang.

Als sie um die letzte Ecke bogen, sah John, dass die Tür des besagten Zimmers weit offen stand. »Sie ist bestimmt schon über alle Berge«, murmelte er.

»Dass ich so was noch erleben muss«, keuchte Pachomius.

Aber das Mädchen war noch da. Sie saß auf der Kante des Schreibtisches und hielt ein Buch in den Händen. Als sie die beiden Mönche erblickte, stand sie auf.

»Hier.« Pachomius zeigte auf das Mädchen. Es war ungefähr eins fünfzig groß, trug ausgeblichene Jeans und einen verfilzten, sandfarbenen Wollpullover, der ihr bis zu den Knien reichte. »Sie ist noch da.«

Das Mädchen blickte Bruder John direkt an. »Ich bin Judith. Ich brauche etwas zum Essen und neue Kleider.«

Kein Baby, schoss es Bruder John durch den Kopf. Er nickte. »Wie alt bist du?«

»Dreizehn.«

»Ein Teenager also.«

»Ja.« Das Mädchen verzog den Mund. »Ich war bei den Pferden gewesen, draußen …« Sie deutete in die Richtung, in der die Stallungen lagen. »Dort habe ich mich eine Weile versteckt. Aber jetzt habe ich Hunger, und mir ist kalt.«

»Hast du die Scheibe eingeschlagen?«

»Ja. Ich dachte, ich finde hier einen Kühlschrank. Oder Vorräte … In einem Kloster habt ihr doch so was, oder?«

Bruder John musterte das Mädchen. Ihre kurzen schwarzen Haare waren zerzaust. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem energischen Kinn. Obwohl sie abgemagert und bleich war, erschien sie dem Klosterbruder keineswegs hilflos. Das Auffälligste aber waren ihre Augen: Sie glänzten in hellem Grün, wie frischpolierte Jadesteine. Und zu seinem Erstaunen konnte Bruder John keinerlei Angst oder Argwohn in ihnen entdecken. »Das hier ist das Büro von Bruder Pachomius«, sagte der Mönch leise. »Pachomius betreut zusammen mit fünf Brüdern die Stiftsbibliothek.«

Der alte Mann nickte und ließ die Schultern hängen.

Einen Moment dachte Bruder John darüber nach, wie wenig seine bisherigen konzeptionellen Ideen zur Lösung des akuten Problems beitrugen.

»Und jetzt?«, fragte das Mädchen.

»Ich schlage vor, wir essen und trinken erst einmal etwas«, sagte John. »Dann schauen wir weiter.«

Abt Sebastian Watter, der in Zürich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hatte und kurz nach Mitternacht ins Kloster zurückgekehrt war, erfuhr erst am nächsten Morgen von dem neuen Gast. Gleich nachdem ihn Bruder John über den Fall unterrichtet hatte, bat er das Mädchen zu sich, für ein Gespräch unter vier Augen.

Watter war es gewohnt, in seinem Kloster Gäste aufzunehmen. Denn die Gastfreundschaft war Teil jener Regula Benedicti, die der heilige Namensgeber des Ordens vor fünfzehnhundert Jahren verfasst hatte.

Häufig waren es Manager, die sich in ihren Konzernen eine Auszeit erbaten, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Es waren Menschen mit einer wohldefinierten Vergangenheit, die sich über ihre Zukunft im Unklaren waren.

Mit diesem Mädchen, das ihm nun seit einer knappen halben Stunde gegenübersaß, verhielt es sich genau umgekehrt. Sie besaß sehr klare Vorstellungen, was ihre Zukunft anging. Über ihre Vergangenheit dagegen schwieg sie sich aus.

»Du möchtest also hierbleiben«, fasste der Abt zusammen. »Und du willst bei uns in die Stiftsschule gehen und etwas lernen.«

Judith nickte. »Genau das will ich.« Ein kurzes Lächeln husch­te über ihr mageres Gesicht. »Und ich weiß auch, dass eine solche Ausbildung Geld kostet«, fuhr sie fort. »Dafür möchte ich arbeiten. In der Küche … oder, was mir viel lieber wäre, bei Bruder Pachomius. Die Katalogisierung der Bibliothek … Da gibt es noch sehr viel zu tun. Ich kann das.« Sie machte eine kurze Pause. Als der Abt weder nickte noch etwas dazu bemerkte, sagte sie: »Wenn mein Lohn dafür nicht reicht, würde ich die Differenz gerne später zurückzahlen. Ich unterschreibe auch einen Darlehensvertrag. Ich werde später Wirtschaft studieren. Und ich werde Geld verdienen. Sehr viel Geld.«

Der Abt dachte nach. In gewisser Weise gefiel ihm die Zielstrebigkeit dieses Teenagers. Sie war ungewöhnlich. Auf der anderen Seite missfiel ihm das Ziel. Abt Sebastian dachte an die Manager, die – sofern sie den Weg zu ihm ins Kloster gefunden hatten – mit ebendieser Zielsetzung haderten und sie oft genug als Irrweg bezeichneten.

Trotzdem äußerte er keine Einwände. Er würde John damit beauftragen, mehr über das Mädchen herauszufinden. Auch nach den internationalen Vermisstenanzeigen bei der Polizei mussten sie sich erkundigen. Bestimmt gab es Eltern, die bereits in großer Sorge waren. Nicht selten klärten sich solche Fälle innerhalb kürzester Zeit auf. Der Abt blickte eine Weile in das junge Gesicht, dann beschied er: »Du kannst bleiben. Und einen Vertrag brauchen wir nicht.«

Im März des darauffolgenden Jahres erreichte Bruder John ein Brief. Die Marke zeigte Lady Augusta Gregory (in nachdenklicher Pose) und trug den Schriftzug EIRE. Der Poststempel war nicht zu entziffern. John wusste dennoch sofort, dass es der Brief war, auf den er gewartet hatte. Eine Mischung aus Erleichterung und Neugier erfasste den Mönch. War sein Schreiben also doch angekommen?

Vier Wochen lang hatte John daran gezweifelt, denn Judiths Informationen waren dürftig gewesen. Ein Landgut im Süden von Irland. Merryborough oder so ähnlich, und ein Mann namens Ernest Bill. Von einer alten Frau war einmal die Rede gewesen, und von Eseln und Gänsen.

Der Mönch hatte sich wirklich Mühe gegeben. Hartnäckig hatte er Judith immer wieder auf ihre Vergangenheit angesprochen, hatte nach ihren Eltern, Geschwistern und Verwandten gefragt. Doch je mehr er insistierte, desto verschlossener gab sich das Mädchen. Einmal, als er ungeduldig geworden war und mit der Polizei gedroht hatte, war Judith plötzlich verschwunden. Für drei unendlich lange Tage. In dieser Zeit hatte John sich geschworen, künftig behutsamer vorzugehen. Inzwischen gab es Momente, in denen er einfach vergaß, dass er über Judiths bis­heriges Leben so gut wie nichts wusste. Ironischerweise waren es gerade diese Augenblicke, in denen Judith von sich aus etwas preisgab. Eine kleine Geschichte oder – was leider viel häufiger der Fall war – nur eine kurze Bemerkung.

Es gab Nächte, in denen John sich in seiner Selbstbetrachtung mit einem Fastenden verglich, den man immer mal wieder mit kleinen Häppchen in Versuchung führen wollte. Und nicht selten drängte sich der Gedanke auf, dass Judith ein Spiel mit ihm trieb. Vielleicht hatte sie aber auch Angst, dass man sie an ihre alte Welt zurückverwies, und empfand ihre Anonymität als Schutz. Aber welche Welt war es, aus der Judith gekommen war? John machte sich nichts vor. Es war gut möglich, dass Judith etwas zu verbergen hatte und sich deshalb über ihre Vergangenheit ausschwieg.

Judith ahnte nicht, dass es John gelungen war, aus ihren spärlichen Angaben eine Adresse zusammenzusetzen; diese Adresse war zwar nicht vollständig, aber vielleicht würde der Brief, den der Bruder geschrieben hatte, sein Ziel doch erreichen:

Ernest Bill

Country Estate or Farm

Maryborough (Cork)

Ireland

Weil der Mönch selbst englischer Abstammung war (schottischer Staatsbürger, wenn man es genau nahm), hatte es ihm keinerlei Mühe bereitet, seinen Brief auf Englisch zu verfassen. Er erzählte von Judiths Ankunft im Kloster im vergangenen November und legte den Schwerpunkt seines Schreibens auf die erfreuliche Tatsache, dass man im Internat der Stiftsschule für sie einen Platz gefunden habe. Bruder John erwähnte mit einem gewissen Stolz, dass er selbst sie auch unterrichtete (Latein, Englisch und Biologie) und dass er eine Art Mentor für Judith gewor­den sei. Eine Broschüre des Internats hatte er seinem Schreiben beigelegt.

… und natürlich können Sie uns jederzeit hier besuchen. Bei dieser Gelegenheit würde es mich auch freuen, mehr über Judith zu erfahren. Hat sie Verwandte in Irland? Sie erwähnte einmal einen Unfall. Sind ihre Eltern tatsächlich tot?

Ich hoffe, mein Brief erreicht Sie – denn Ihre Anschrift hat mir doch einiges Kopfzerbrechen bereitet.

Es war ein Schreiben voller Hoffnung und voller Fragen gewesen. John hatte den Moment noch vor Augen, als er den Brief persönlich zum Postschalter gebracht hatte. Es war ihm wichtig gewesen, dass eine Angestellte der Schweizer Post das Gewicht sowie Adresse und Frankierung noch einmal überprüfte und dass diesbezüglich auch wirklich nichts zu beanstanden war.

Ebenso erinnerte sich Bruder John an das Unbehagen, das in ihm aufgekommen war, als er gesehen hatte, wie die Frau das Schreiben in hohem Bogen in eine große gelbe Box geworfen hatte, zu Dutzenden von anderen Briefen.

In Gottes Namen.

Als er mit leeren Händen den Weg zurück zum Kloster in Angriff genommen hatte, war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass es keinen Schutzheiligen gab, der für die Post zuständig war. Also rief er den heiligen Christophorus an, dessen Bereich immerhin der Verkehr war, und bat ihn, sich dieser Sache gleichermaßen anzunehmen.

Bruder John stand noch immer vor den Postfächern im Hauptgebäude des Klosters Einsiedeln. Sosehr ihn seine Neugier trieb, er widerstand der Versuchung, den Brief auf der Stelle zu öffnen. Es blieben kaum noch zehn Minuten bis zum Mittagsmahl. Also legte er das ungeöffnete Kuvert zurück in das Fach. Er hatte zu lange auf diesen Moment gewartet – und deshalb wollte er die Nachmittagsstunden dazu verwenden, den Brief in aller Ruhe zu lesen.

Maryborough, 18. März

Lieber John,

Sie hatten mich gebeten, etwas über Judith zu erzählen. Ich hoffe, sie macht keine Schwierigkeiten; allerdings würde mich dies verwundern. Aber sie ist nicht einfach, das ist sie nie gewesen. Schon als kleines Kind nicht, als ich sie bei mir aufgenommen habe.

Ihre Eltern sind tatsächlich bei einem Autounfall ums Leben gekommen; Judith war damals vier Jahre alt.

Ich werde mich bemühen, Ihnen einige Informationen zu geben, die es Ihnen und Ihren Brüdern ermöglichen, Judith besser zu verstehen. Vor allem müssen Sie sie weiter so gut unterrichten – Ihre Schule genießt ja einen exzellenten Ruf; sie ist ein äußerst begabtes Kind.

Judith ist kein gewöhnliches Mädchen.

Gewöhnlich kennen Menschen ihre Eltern. Wenigstens ihre Mutter. Kinder brauchen eine Idee, woher sie stammen, eine Blaupause ihrer Herkunft – nur so bekommen sie ein Gefühl für ihre Heimat. Denn die Heimat – sie ist etwas ganz Zentrales in unserem Leben.

An dieser Stelle würden Sie bestimmt sagen: Unsere Heimat ist Gott. Aber ganz so einfach ist es nicht.

Judith kann sich an den Unfall nicht erinnern. Das hat sie mir immer wieder gesagt. Und ich habe sie auch nie über die wahren Umstände aufgeklärt, die zu dieser Tragödie geführt haben. Genau genommen ist es ja ein Wunder, dass die Kleine damals überlebt hat.

Vielleicht hat Ihr Gott die Finger im Spiel gehabt. Aber lassen wir das.

Als Freund der Familie schien es mir damals das Gescheiteste zu sein, dass ich mich um die Kleine kümmern würde. Wenigstens bis zum Ende der Grundschule. Und meine Haushaltshilfe, die gute Chester, sie hat Judith aufgenommen wie ihr eigenes Kind.

Die ersten Jahre ging es gut. Für Judith schien es das Normalste auf der Welt zu sein, bei uns auf Annie’s Landmark aufzuwachsen. Sie mochte den alten Esel Jack, die Gänse und den ganzen Kleintierzoo, den wir sonst noch führen.

Für ein Kind ist es ja wirklich ein Paradies hier.

Aber ein inzwischen über sechzigjähriger Mann (zudem mit meiner Vergangenheit) und eine irische Haushälterin, die genauso gut ihre Großmutter hätte sein können – das sind Verhältnisse, die früher oder später zu Fragen Anlass geben. Und wenn man so ist wie Judith, dann müssen Antworten her. Richtige Antworten.

An ihrem elften Geburtstag hab ich sie erstmalig zum Grab ihrer Eltern mitgenommen, in Upper Castle. Das war ein Fehler. Oder auch nicht – wie man’s nimmt. Ich weiß nicht, was mich damals dazu verleitet hat, sie mit der ganzen Wahrheit zu überfallen. Ich habe mich nachträglich oft gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, ich hätte ihr ein x-beliebiges Grab auf dem Friedhof von Dublin gezeigt. Mit einem ordentlichen Grabstein, auf einem respektablen Friedhof – mit Grabspruch, Jahreszahlen und vollständigen Namen. Herrgott. Und mit einem blühenden Rosenbusch. Vielleicht wäre sie dann zufrieden gewesen. Und passend dazu eine plausible Geschichte (es ist mir nie schwer­gefallen, plausible Geschichten zu erfinden).

Aber bei Judith wollte ich seltsamerweise gar nicht erst damit anfangen. Kein doubleplay wie sonst immer, sondern Tatsachen. Wenigstens das richtige Grab; das ist das mindeste, dachte ich, auch wenn ich wusste, dass ich ihr nie die ganze Geschichte erzählen würde.

Leider wirft ein alter, mit Moos überwucherter Felsbrocken im Wald Fragen auf. Schon die Inschrift: Annie & Ch. Stiner – rasten hic inne, ist geradezu eine Einladung. Ich hätte es besser wissen müssen.

Aber ich konnte ihr nicht sagen, wer ihre Eltern waren.

Selbstverständlich weiß ich es.

Ich KONNTE es nicht.

So begann unser Zerwürfnis, und ein Jahr später, drei Tage nach ihrem zwölften Geburtstag, ist Judith ausgebüxt. Ich habe mich gewundert, wie ein zwölfjähriges Mädchen über ein Jahr lang allein in dieser Welt zurechtkommen kann. Da ich über sehr gute Beziehungen verfüge, wusste ich im Großen und Ganzen, wo sie sich gerade aufhielt. Als ich hörte, dass sie nun bei Ihnen gelandet ist, war ich froh. Über Ihre Schule in Einsiedeln habe ich mich erkundigt. Und dass Judith von mir spricht, rührt mich.

Ich habe Judith verloren, weil ich sie nicht anlügen konnte. Irgendwie zynisch, nicht wahr? Denn mein Geschäft basierte auf Täuschung. Mein halbes Leben war eine Lüge. Und die Ausnahme mit Judith macht es nicht besser.

Ein bisschen vielleicht.

Lasst sie in Freiheit heranwachsen! Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen, lieber John, geben kann. Seid offen und ehrlich zu ihr.

Denn Judiths Geschäft ist die Wahrheit.

Herzlichst,

Ernest

Der Brief war auf Englisch verfasst und mit der Hand geschrieben. Eine kräftige männliche Handschrift in dunkelblauer Tin­te.

Bruder John las ihn ein zweites und ein drittes Mal. Er versuchte sich den Menschen vorzustellen, der hinter diesen merkwürdigen Zeilen stand.

Ein Lügner, der nicht mehr lügen wollte – war er das wirklich?

Bruder John hatte einmal gelesen, dass Menschen, die ein ganzes Leben lang nur gelogen hatten, gar nicht mehr fähig waren, die Wahrheit zu erkennen. In welcher Welt lebte dieser Mann?

Der Mönch beschloss, mehr über den Mann herauszufinden. Und was Judith anging, so würde er abwarten. Die Zeit schien ihm nicht reif, sie mit dem Schreiben ihres Ziehvaters zu konfrontieren.

Kapitel 2

Fünfzehn Jahre später

Als Kommissar Eschenbach die Augen aufschlug, sah er einen Tisch. Mensa = der Tisch, dachte er. Das Möbel war einfach gezimmert, mit geraden hölzernen Beinen. Vier Beinen! »Unus … duo … tres … quattuor …«, murmelte er.

»Quinque, sex, septem …«, zählte jemand anders weiter.

Der Kommissar blinzelte. Aber er sah niemanden. Er versuchte seinen Kopf zu heben. Es gelang ihm nicht. Stattdessen Stiche im Hirn. Regelrechte Explosionen. Eschenbach stöhnte. Wie ein niedergestrecktes Tier lag er da. Unfähig, die Situation zu erfassen. Erschöpft schloss er die Augen. Der Tisch ver­schwand im Dunkel.

Mensa obscura.

»Zählen Sie weiter«, sagte jemand. Die Stimme war ganz nahe an seinem Ohr: ein leises, rauchiges Timbre, das sich anhörte nach Marlene Dietrich im Blauen Engel.

Eschenbach blinzelte erneut.

»Kommen Sie schon, Doktor … Zählen Sie: octo – novem – decem …«

»Octo – novem – decem«, wiederholte Eschenbach schwach. Er war also Doktor. Aber was für ein Doktor?

»Ja – ja – ja.«

Es war definitiv eine weibliche Stimme, die ihn begleitete.

»Gott sei Dank!«, sagte eine Männerstimme von weiter weg.

»Deo gratias«, flüsterte es wieder ganz nah.

Bevor er abermals das Bewusstsein verlor, war sich der Kommissar sicher, dass er sich im Himmel befand. An welchem anderen Ort auf der Welt sprach man sonst Latein? Er war nicht katholisch, also kam der Vatikan nicht in Frage.

Im Himmel also, dachte Eschenbach. Und womit, bitte, hatte er sich diesen Aufenthalt verdient? Zwanzig Jahre Polizeiarbeit, zwölf davon als Leiter der Kriminalpolizei des Kantons Zürich. Reichte das?

Gut, er hatte mehr gelöste als ungelöste Fälle vorzuweisen. Auch war er das Gegenteil von korrupt, ein Umstand, den man hier möglicherweise mit Bonuspunkten honorierte.

Andererseits war er ein notorischer Raucher und Vieltrinker; dazu stur, eigenbrötlerisch und obendrein als Vater und Ehemann nur halbwegs zu gebrauchen.

Ausgeglichene Rechnung, resümierte Eschenbach. Aber vielleicht haben die hier Rekrutierungsprobleme. Oder es gibt eine Quotenregelung für Polizisten oder Raucher oder beides.

Als Eschenbach wieder erwachte, stand der Tisch noch immer dort. An demselben Ort wie zuvor. Vor einer weiß getünchten Mauer, in die ein Erker mit einem Fenster eingelassen war. Diffuses Licht drang in den kleinen Raum.

Am Tisch, kaum drei Meter von ihm entfernt, saß ein Mädchen auf einem Holzhocker. Sie trug Jeans und ein dunkles ­T-Shirt. Der Kommissar betrachtete ihr Profil. Einen Moment lang glaubte er seine Tochter Kathrin zu erkennen: der helle ­Teint, ihre kleine Nase und die kurzen, dunklen Haare.

Das Mädchen hatte einen Stapel Spielkarten in der Hand, den sie mit flinken Fingern teilte, auffächerte und wieder zusammenschob.

Es war nicht Kathrin. Seine Tochter konnte mit Spielkarten nicht umgehen. Wenn er mit ihr und seiner Frau Corina einen Jass spielte, musste immer er die Karten mischen.

Wer war das Mädchen dann?

Der Kommissar starrte gebannt auf die sitzende Gestalt und sah ihr beim Spielen zu. Wie sie geschickt die Karten jonglier­­te, sie auf den Tisch blätterte und wieder hochhob. Wo war er?

Er lag in einem Bett auf der Seite. Den rechten Fuß spürte er in der Kniekehle des linken Beins. Oder war es umgekehrt?

Dumpfe Schmerzen überall. Wenn er die Nackenmuskeln anspannte, um den Kopf zu heben, schlugen Blitze in sein Hirn. Also ließ er es bleiben.

Unweigerlich dachte Eschenbach an ein Spital. Aber das war es nicht. Der typische Klinikgeruch fehlte. Es roch nach etwas ganz anderem. Nach etwas, an dessen Namen Eschenbach sich partout nicht erinnern konnte.

Plötzlich musste der Kommissar an Rindsbraten denken, an Barolosauce und mit Kartoffelpüree. Er hatte Hunger.

Aber der Geruch war ein anderer.

Das Mädchen am Tisch summte.

Der Kommissar erkannte die Melodie sofort. Es war Raindrops Keep Falling On My Head aus dem Film Butch Cassidy and Sundance Kid. Er sah Robert Redford und Paul Newman von der Klippe springen und krallte sich am Bett fest.

Das Summen hörte nicht auf.

Eschenbach spitzte mühsam die Lippen. Er wollte das Lied pfeifen. Es gibt Melodien, die müssen gepfiffen und nicht gesummt werden. Aber das Geräusch, das er zustande brachte, war jämmerlich.

»Hey«, sagte das Mädchen. Sie hatte sich Eschenbach zugewandt und sah ihn an. »Wieder wach?«

Der Kommissar nickte leicht und schluckte.

Es war definitiv nicht Kathrin.

Das Mädchen stand langsam auf und kam auf ihn zu. Vier Schritte waren es bis zu seinem Bett. Unus – duo – tres – quattuor. Schlank und zierlich. Das Mädchen war eine junge Frau. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Eschenbach hatte gar nicht erst versucht sich aufzurichten. Für einen Moment hielt er sogar den Atem an.

Die junge Frau stand nun direkt vor ihm. Der Kommissar musterte sie von den Knien bis zum Bauch. Weiter kam er nicht, ohne den Kopf anzuheben.

»Kommen Sie«, hörte er die Frau sagen.

Kann nicht, dachte er.

»Ich dreh Sie jetzt auf den Rücken.«

Es war die rauchige Lateinstimme, die er im Himmel schon einmal gehört hatte. Der Kommissar spürte Hände an Schultern und Beinen und wie sie seinen Kopf behutsam anhob und auf ein Kissen bettete. Eschenbach lauschte ihrem Atem und wartete vergeblich auf das Stechen der Messer. Nur ein dumpfes Pochen meldete sich; keine Blitze mehr. Es war auszuhalten.

Auf dem Rücken liegend, konnte er endlich ihr hübsches Gesicht betrachten.

»Et voilà!« Sie lächelte kurz. Über ihrem linken Auge machte der Kommissar eine frisch genähte Wunde aus.

Behutsam setzte sie sich zu ihm aufs Bett. »Es tut mir leid«, sagte sie nach einer Weile.

»Was denn?«, murmelte er.

»Alles das …« Sie machte eine Handbewegung, die seinen ganzen Körper einschloss.

»Sie?«

»Mmh …«

»Wo bin ich?« Eschenbach bemerkte, dass ihm das Sprechen weniger Mühe machte, als er angenommen hatte. Keine Kieferverletzung. Auch die Zähne schienen unversehrt.

»Sie sind direkt vor den Wagen gerannt …« Für einen kurzen Moment kniff sie die Augen zusammen. »Ich kann den Knall noch immer hören.«

»Ich höre nichts«, sagte Eschenbach.

»Sie erinnern sich nicht?«

»Ich versuche es«, murmelte der Kommissar. Er hatte nicht den Funken einer Idee, was passiert sein könnte. Trotzdem zögerte er. Vielleicht war es geschickter, eine gewisse Ahnung vorzutäuschen. Denn schließlich kannte er diese Frau nicht. Er musste so tun als ob. Etwas Besseres fiel ihm nicht ein.

»Ich hab Sie mitgenommen …«, sagte sie etwas stockend, und es schien, als wäge sie die Worte sorgfältig gegeneinander ab. »Also ich dachte, Sie brauchen dringend Hilfe.«

Eschenbach schwieg hartnäckig und beobachtete, wie sie verlegen auf ihrer Unterlippe kaute.

»Ich war wohl bewusstlos«, sagte er.

Sie nickte.

»Und einen Arzt …« Eschenbach wollte sich aufrichten.

»Bleiben Sie.« Ihre Stimme klang nun kräftiger. »Sie dürfen sich nicht bewegen. Vermutlich haben Sie ein Schädel-Hirn-Trauma … das sagt Doktor Kälin. Er war gestern hier und hat Sie untersucht … einfach nur ruhig liegen.«

»Gestern?« Eschenbach schloss die Augen.

»Ja, gestern. Er hat Ihnen Schmerzmittel gespritzt … und Seitenlage.«

»Seitenlage.«

»Ja, das hat er gesagt. Weil, das ist am besten … wenn Sie sich übergeben müssen.«

Eschenbach dachte an den Barolobraten.

»Ist Ihnen schlecht?«

»Nein«, murmelte er.

»Das ist gut.« Es klang erleichtert.

Der Kommissar öffnete die Augen wieder und betrachtete das Gesicht, das er nicht kannte. Es war ein schönes Gesicht, ebenmäßig geschnitten, mit einer zierlichen, makellosen Nase.

Eschenbach strengte sich an. Aber sosehr er den Dachboden seiner Erinnerungen durchforstete – er fand nichts. Es gab keinen einzigen Anhaltspunkt, der ihm die junge Frau näherbrachte.

Stattdessen schoss ihm plötzlich Corina durch den Kopf. Seine Frau. Die zweite. Warum war sie nicht hier? Und wie in einem Puppenspiel, wenn sich am Ende alle Figuren nochmals zu einer gemeinsamen Verbeugung versammeln, zogen vor seinem geistigen Auge die vielen vertrauten Gesichter vorbei: Seine Tochter Kathrin grinste ihn schräg an, und Ewald Lenz zupfte sich den Schnurrbart. Claudio Jagmetti, sein früherer Assistent, hob die Sonnenbrille, und Rosa, seine Sekretärin, lächelte ihn an; sogar die Frau vom Tabaklädeli erschien ganz kurz und schob ihm zwei Packungen Brissagos über den Ladentisch. Sie säuselte: »Wie immer, Herr Eschenbach.«

Natürlich, Eschenbach, dachte er. Wie immer.

»Und wer sind Sie?«, fragte er die junge Frau.

Einen Moment stutzte sie, dann huschte ein kurzes Lächeln über ihre Lippen. »Judith«, sagte sie. »Ich bin Judith.«

»Ich heiße Eschenbach.«

»Ich weiß«, sagte sie. »Wir arbeiten in derselben Bank.«

»In einer Bank?« Eschenbachs Stimme war beinahe tonlos. Und mit einem Schlag verschwand die schläfrige Leere in seinem Kopf. Der Kommissar spürte, wie das Blut durch seine Adern pumpte. Er arbeitete nicht in einer Bank; dessen war er sich vollkommen sicher. Es war schlicht nicht möglich. Nicht möglich und nicht logisch. Und plötzlich schossen ihm Gedanken durch den Kopf, und aus den Gedanken wurden Bilder. Er erkannte seine Sekretärin Rosa, festlich in einem dunkelblauen Kaschmirkleid. Sie standen sich gegenüber im großen Sitzungsraum an der Kasernenstrasse: »Schöne Ferien, Kommissario!« Und um sie herum ein Dutzend Kollegen, Rosa hob das Glas –

Er war in den Ferien! Mit einem Ruck richtete sich Eschenbach auf. Er blinzelte gegen die Welle stechender Schmerzen an. Als es besser wurde und er wieder klar sehen konnte, sagte er leise zu der Frau auf seiner Bettkante: »Sie lügen mich an …« Er starrte in grüne Augen. Seine Stimme wurde noch leiser. »Sie verscheißern mich auf der ganzen Linie.«

»Nein!« Die Frau, die sich Judith nannte, hielt seinen bohrenden Blicken stand. »Nein – nein – nein!«

Eschenbach spürte kalten Schweiß auf der Stirn.

»Legen Sie sich um Gottes willen hin«, sagte sie. Ihre Hand umfasste seinen Nacken.

Langsam sank der Kommissar zurück ins Kissen.

»Ich bin die persönliche Mitarbeiterin von Jakob Banz …«, sagte Judith. »Oder besser gesagt, ich war es. Sie kennen Jakob Banz, nicht wahr?«

»Banz … doch, ja«, wiederholte Eschenbach etwas verwirrt. Er atmete tief durch. »Banz kenne ich.«

Judith schwieg eine Weile. Aber ihr Blick wich Eschenbach nicht aus. Lange und ruhig sah sie ihn an.

Der Kommissar fand, dass etwas Seltsames in diesen hellen grünen Augen lag. Sie zeigten keinerlei Unsicherheit oder Nervosität. Kein Flackern. Sie waren ruhig und klar. Eschenbach war, als würde dieses Augenpaar nicht recht zum Rest dieses jungen, ebenmäßigen Gesichts passen.

In den vielen Verhören, die Eschenbach in seinem Leben geführt hatte, war ihm dieser Blick nur bei abgeklärten, hartgesottenen Burschen begegnet. Und bei alten Menschen, die in ihrem Leben alles schon gesehen hatten.

»Was ist mit Banz?«, fragte Eschenbach.

»Banz ist tot«, sagte sie.

Der Kommissar wollte den Kopf schütteln. Aber Judiths Hand legte sich auf seine Stirn, so als wollte sie verhindern, dass er sich bewegte.

»Bleiben Sie ruhig«, sagte sie.

»Tot …«, murmelte Eschenbach. Er schloss die Augen.

»Ja, tot.«

Eschenbach fühlte, wie sich sein Brustkorb zusammenzog. Er wollte atmen, tief Luft holen, weil das alles gar nicht sein konnte. Banz lebte. Gerade eben noch hatte er ihn anrufen wollen. Anrufen, um ihm etwas Wichtiges zu sagen. Aber was?

»Sie dürfen sich nicht aufregen«, sagte Judith.

Der Kommissar spürte, wie sich seine Brust weiter verengte. Er hatte das Gefühl, in ein Loch zu fallen; in ein Grab, das man nun langsam zuschaufeln würde.

Wie durch Watte hörte er Judith rufen: »Peter!« (Oder war es »Pater!«?) Eine Tür ging auf, und ein kühler Luftzug streifte sein Gesicht. Jemand setzte sich neben ihn.

Judiths Hand kehrte zurück auf seine Stirn. »Tun Sie etwas, um Gottes willen!« Ihre Stimme klang fest und klar, wie die eines Regimentskommandanten an einem kühlen Novembermorgen. Ihre Hand zitterte nicht.

Wie durch einen dunklen Tunnel hindurch sah Eschenbach ein zottiges Bärengesicht. Die kleinen bernsteinfarbenen Äuglein waren trüb und leblos. Dann spürte er den Einstich einer Nadel in der rechten Armbeuge, und ein weicher, warmer Strom floss ihm zur Schulter hinauf und etwas später direkt ins Herz.

Rote Sterne leuchteten ins dunkle Grabloch.

»Wenn er stirbt, bin ich verloren«, sagte Judith.

Aber Eschenbach hörte sie nicht mehr.

Kapitel 3

Weit weg

Neun Tage zuvor, in Vancouver, British Columbia.

Ein gellender Schrei drang bis hoch hinauf zum Bergkamm. Ein Schrei, wie ihn der Kommissar noch nie in seinem Leben vernommen hatte. Das Tier bäumte sich auf, streckte sich mit mächtiger Pose in den von Wolken geschwärzten Himmel. Der zottige Koloss ging die letzten Schritte auf zwei Beinen, aufrecht wie ein Mensch.

»Das ist dein Telefon«, sagte Corina etwas gereizt. »Hörst du es wirklich nicht, oder tust du nur so?«

Kommissar Eschenbach spürte mit Bedauern, wie er aus seinem Gedankenfluss gerissen wurde und sich plötzlich auf dem Stuhl wiederfand, auf dem er an diesem Nachmittag schon eine ganze Weile gesessen hatte. Sein rechtes Augenlid zuckte.

Es war Frank Steffl gewesen, ein ausgewanderter Deutscher und passionierter Jäger, bei dem sie in Kamloops zu Gast gewesen waren, der ihm die Geschichte mit dem Grizzly erzählt hatte. Wie er das Tier auf den letzten Metern gerade noch erwischt hatte.

Eschenbach hatte seitdem viel nachdenken müssen über diesen letzten Augenblick im Leben des Bären. War es der Schmerz, der das Tier dazu bewog, sich aufzurichten; oder war es der Instinkt des Mächtigen, sich im Anblick des Todes zu erheben und in voller Größe seinem Widersacher gegenüberzutreten?

Der Kommissar sah auf den Stuhl neben ihm. Sein dunkelblaues Leinenjackett lag dort und vermochte den Klingelton seines Handys nicht zu dämpfen. Vermutlich wieder dieselbe Nummer, dachte er. Ein weiteres Mal nachschauen wollte er nicht.

»Warum nimmst du nicht einfach ab?«, fragte Corina. »Das geht jetzt schon den ganzen Tag so.« Sie hatte die Globe & Mail zur Seite gelegt und ihn eine Weile angesehen. »Das ist doch kindisch, so was.«

Eschenbach zuckte die Schultern. »Was denn?«

»Dein Handy!« Seine Frau bedachte ihn mit einem Augenaufschlag. »Ich hör’s doch brummen – da, bei dir im Jackett!« Sie deutete mit der Hand auf die Stelle neben Eschenbach. »Die ganze Zeit schon.« Sie schüttelte den Kopf. »Und später nimmst du’s raus, siehst nach, wer’s gewesen ist, und steckst es wieder zurück.«

»Es ist auf lautlos gestellt.«

»Aber ich hör’s trotzdem.« Corina raschelte mit der Zeitung: »Es vibriert … und weil es auf dem Stuhl da liegt, scheppert es.«

»Ich habe gedacht, du liest die Zeitung?«

»Ich kann lesen und hören – Frauen können das.«

Seit zwei Stunden saßen sie nun schon auf der Terrasse bei BLENZ an der Robson Street im West End von Vancouver und streckten die Beine. Eschenbach liebte diese kleine Terrasse vor dem Coffee-Shop mitten im Herzen der Pazifik-Metropole. Er blickte an Corina vorbei auf die Straße. Es war kurz vor fünf. Der Abendverkehr hatte eingesetzt; Autos, Motorräder und Busse hupten und stanken in Zweierkolonnen in Richtung Stanley Park. Das ganze Programm, direkt vor ihrer Nase.

Wenn man nichts vorhat, ist es beruhigend, wenn um einen herum etwas passiert. Eschenbach zündete sich eine Brissago an. Wenigstens unter freiem Himmel durfte man noch rauchen.

Aus der Armada ihrer Shopping-Tüten hatte Corina die Jeans, Tops und Tanks hervorgezogen und sie dann wieder eingepackt. Sie hatte nicht lockergelassen, bis sie mit Eschenbach sämtliche möglichen Kombinationen durchgegangen war.

Der Kommissar hatte genickt und zustimmende Geräusche von sich gegeben. Er hatte eine Reihe Adjektive durchgebetet (schön, toll, großartig) und Sätze gefunden wie: »You are my Pacific blue morningstar« (zur blauen Variante) oder »My straw­berry fields forever« (zu Altrosa mit Schlammgrün). Zwischen den Kurzvorstellungen seiner Frau hatte er die Zeit genutzt, sich vom Hongkong-Chinesen hinter der Theke einen Double-shot Espresso Macchiato brauen zu lassen. Und dann hatte sie von ihm abgelassen und angefangen zu lesen.

Corina hatte recht. Eigentlich war er mit seinen Gedanken ganz woanders.

»Es braucht gar nicht viel, um glücklich zu sein.« Corina gab nicht auf. Sie hob das Kinn, wie ein Pianist vor einer schwierigen Passage.

Eschenbach nickte. Einen Moment überlegte er, ob er auf diesen Satz antworten müsse. Der wirkliche Wert langjähriger Beziehungen bestand darin, dass man schweigen konnte, dachte der Kommissar. Auch ohne schlechtes Gewissen. Vermutlich hätten die wenigen Dinge, die sie an diesem Tag unternommen hatten, auch gereicht, um harmonisch in einen weiteren vergnüglichen Abend zu starten. Aber so wie es aussah, hatte Rosa seine Telefonnummer weitergegeben – was klar gegen ihre Abmachung verstieß. Jedenfalls hatte er jetzt den Salat!

»Wenn du zurückrufst, ist’s erledigt.«

Er hatte gerade eine Gruppe Motorradfahrer im Visier. Wilde Kerle, ohne Helm, nur mit Kopftüchern, die in den letzten fünf Minuten – trotz ihrer aufgemotzten Maschinen – nicht mehr als dreißig Meter weitergekommen waren.

Der Kommissar blies Rauch in die Abendluft. »Erledigt ist dann gar nichts«, brummelte er. Es war noch nie irgendetwas einfach erledigt gewesen, nur weil er sich gemeldet hatte. Nie! Im Gegenteil, es hatte dann immer erst angefangen. Die ewig gleiche Geschichte war es: die Sache mit dem kleinen Finger, der die ganze Hand mit sich zog. Hörbar sog er Luft durch die Nase und wandte sich seiner Frau zu. Er sah sie einen Moment schweigend an, dann sagte er: »Ich muss zurück, Corina.«

»Zurück?« Seine Frau sah ihn scharf an. In ihrem Blick spiegelten sich Besorgnis, Wut und Unverständnis. »Wir sind sechs Wochen hier, und acht waren vereinbart. Eine Auszeit, hast du doch selbst gesagt. Und du hast einen Stellvertreter, Claudio Jagmetti – soll sich der doch darum kümmern.«

Eschenbach schwieg.

»Wann?«, fragte sie.

»Morgen Abend. Rosa hat den Flug bereits gebucht.«

»Und das sagst du mir erst jetzt!«

»Eine Order von ganz oben.« Eschenbach seufzte. »Ich weiß es auch erst seit zwei Stunden. Rosa hat mich angerufen, als du …« Er deutete auf Corinas Einkaufstaschen. »Regierungsrätin Sacher will mich sprechen, gleich am Montag.«

»Heute ist Freitag.«

»Eben.«

»Und morgen kommt Kathrin, sie hat bis Montag frei. Wir wollten für ein langes Wochenende in die Berge.«

»Ich weiß.«

Eine Weile sagten sie beide nichts. Eschenbach verstand Corinas Ärger; er fühlte sich hilflos und in gewisser Weise schuldig.

Als ihm seine Frau ein halbes Jahr zuvor eröffnet hatte, dass Kathrin für ein Austauschjahr nach Kanada gehen und sie ihre Tochter begleiten würde, hatten sie an einem Scheideweg gestanden: getrennte Betten, zwei Wohnungen und gelegentliche Telefongespräche, um in Erinnerung zu rufen, dass man noch lebte.

Seinen spontanen Entschluss mitzufahren hatte Eschenbach nie bereut. Es war der Selbstmord seiner Chefin Elisabeth Kobler gewesen, der ihm damals die Augen geöffnet hatte: Es war Zeit für eine Pause. Mindestens acht Wochen, hatte er Corina gesagt. Es war ein Versprechen gewesen. Mindestens.

»Bricht die Welt auseinander?«

Eschenbach schüttelte den Kopf. »Rosa wusste nichts Genaueres. Aber sie hat ein gutes Gespür … Jedenfalls sieht es so aus, als laufe etwas gewaltig schief bei uns im Laden.«

»Und dieser Bank, der dich nächste Woche treffen wollte?« Corina zuckte vorwurfsvoll mit den Schultern. »Daraus wird jetzt wohl auch nichts.«

»Banz«, korrigierte Eschenbach. »Jakob Banz – ich habe heute Morgen eine SMS von ihm bekommen. Er ist bereits hier und will uns einladen, heute Abend ins Pan Pacific.«

Den kurzen Weg zurück ins Hotel gingen sie zu Fuß. Eschenbach telefonierte im Gehen, konnte Banz aber nicht erreichen. »Vielleicht sollten wir diesen Termin einfach abblasen«, murmelte er. »Es ist unser letzter Abend, bevor ich zurückfliege.«

»Wart ihr denn nicht befreundet, ich meine, damals auf dem Gymnasium?«

»Das war vor über dreißig Jahren!« Eschenbach verlang­samte seinen Schritt und nahm Corina die Einkaufstüten ab. »Ich habe keine Ahnung, weshalb er mich sprechen will.«

»Also keine Freunde?«

Eschenbach beschleunigte seinen Gang: »Jakob trug schon mit dreizehn rahmengenähte Schuhe. Englische, aus schwerem schwarzem Leder.«

»Und du?«

»Turnschuhe.«

Corina hatte Mühe, mit Eschenbach Schritt zu halten.

Sie bogen in die Bidwell Street ein, eine Seitenstraße der Robson, und steuerten auf das kleine Hotel zu, in dem sie die letzten drei Tage verbracht hatten.

»Obwohl er nicht die besten Noten hatte, ist Jakob Klassensprecher geworden. He’s got balls würde man auf Englisch sagen. Und ich kann mich nicht erinnern, dass einer der Lehrer ihn jemals geduzt hätte.«

Corina, die sich für die letzten Meter bei Eschenbach einge­hakt hatte, schmunzelte. »Freund oder Rivale – ich kenne dich doch. So wie du von diesem Banz sprichst, bleiben nur diese beiden Möglichkeiten.«

»Ich sag nichts.« Eschenbach, der bemerkt hatte, dass ihm ein Schweißtropfen den Rücken hinunterlief, verlangsamte seinen Schritt. Er konnte Corina nichts vormachen, nicht nach all den Jahren (waren es fünfzehn oder sechzehn?). Sie kannte ihn in- und auswendig. Aber das war kein schlechtes Gefühl, fand Eschenbach. Selbst dann nicht, wenn sie ihn ertappte, wie gerade eben.

»Jakob Banz hat die perfekte Karriere hingelegt«, sagte er schließlich, als sie in der Lobby auf den Fahrstuhl warteten. »Er spielte Tennis, verkehrte mit den richtigen Leuten. Jakob hatte von Anfang an einen Plan. Und zu diesem Plan gehörte Anne-Christine Duprey … eine Bankierstochter. Zusammen mit ihr ging’s ganz nach oben.«

»Und die hat er geheiratet?«

Der Kommissar nickte. Er drückte ein zweites Mal auf den Liftknopf.

»Hochzeit im Grossmünster … und danach eine Riesenparty im Dolder. Wir waren alle eingeladen damals, die ganze ehemalige Klasse, auch die Lehrer. Hemmungslos haben die sich den Ranzen vollgeschlagen … Und um Mitternacht hat es ein Feuerwerk gegeben, wie am Seenachtsfest. Eine halbe Stunde hat’s gekracht … Das hab sogar ich gehört, unten an der Limmat.«

»Du bist nicht hingegangen?«

Eschenbach schüttelte den Kopf, dann lachte er: »Ich hab mich volllaufen lassen … auf einer Parkbank beim Landesmuseum.«

»Wegen dieser Anne-Christine Dings?«

»Bum!«, machte Eschenbach. »Bum, bum, bum … Bei mir im Kopf und oben am Himmel. Herrgott, war ich ein Arschloch!«

Die Klimaanlage röchelte eiskalt an der Decke, und Corina stand da, als wisse sie nicht recht, ob sie mitlachen sollte. Als der Aufzug kam, stiegen beide wortlos zu – und in Gesellschaft dreier älterer Damen aus Alliance, Nebraska, fuhren sie in die achte Etage.

Nachdem sie geduscht und sich für den Abend frisch angezogen hatten, bestand Corina darauf, dass Eschenbach für den kurzen Weg ins Pan Pacific ein Taxi rief. Wegen ihrer neuen Schuhe, argumentierte sie; und weil sie das frisch erstandene Kleid (es war die Strawberryfields-Variante) mit einem Fußmarsch nicht »verschindludern« wollte.

Eschenbach wäre lieber zu Fuß gegangen. Er mochte den lauen Abendwind, der vom Pazifischen Ozean her wehte, und gerne hätte er noch ein wenig darüber nachgedacht, was Banz wohl dazu getrieben haben mochte, sich nach über dreißig Jahren bei ihm zu melden. Vancouver lag nicht gerade auf dem Weg, und Banz gehörte nicht zu der Sorte Leute, die eine halbe Weltreise auf sich nahmen, nur um mal eben »hallo« zu sagen.

»Wie sieht er denn aus?«, wollte seine Frau wissen, nachdem sie neben Eschenbach im Fond des Wagens Platz genommen hatte.

Das war typisch Corina. Sie las keine Wirtschaftsmagazine, und was die Politik des Landes anging, so waren es hauptsächlich die kulturellen Themen, die sie interessierten. Vermutlich stellte Corina sich einen schlanken, an den Schläfen leicht graumelierten Banker vor.

Aber das war nicht Jakob Banz. Nicht mehr.

Die Bilder, die Eschenbach in den letzten Jahren von seinem einstigen Mitschüler gesehen hatte, belegten, dass aus dem feingliedrigen und zweifellos gutaussehenden jungen Mann ein Schwergewicht geworden war. Noch immer charismatisch und charmant, jedenfalls attestierte man das Banz seitens der Wirtschaftspresse. Von seinem vollen blonden Haarschopf waren nur noch ein paar Strähnen übrig, und das energische Kinn war zu einem formlosen, schwammigen Etwas aufgedunsen. Rein äußerlich war es eine traurige Transformation, ohne deren Kenntnis der Kommissar seinen früheren Schulkameraden wohl nicht wiedererkannt hätte.

Das Taxi hielt vor einem mächtigen Bau aus Glas und Beton.

Nachdem Eschenbach den Fahrer bezahlt hatte, folgte er mit Corina am Arm dem roten Teppichstreifen, der zum Hoteleingang führte.

Eine unterkühlte Halle empfing sie.

Corinas Absätze hallten aufdringlich laut, während sie über den hellen, glattpolierten Steinboden in Richtung concierge desk gingen.

Ein junger Schlaks kam auf sie zu und bat sie, ihm zu folgen. Der Mann trug einen enggeschnittenen italienischen Anzug. Eschenbach schätzte ihn auf Mitte dreißig. Sie gingen wortlos hinter ihm her, traten durch eine offene Verandatür und blickten auf einen kleinen Garten, der mit halbhohen Sträuchern und einigen Palmen umsäumt war.

Eschenbach sah Banz schon von weitem. Der Bankier war nicht zu übersehen. In einem sandfarbenen Leinenanzug, der ihm auf den Leib geschneidert war, saß er auf einer ausladenden Couch unter einem großen Sonnenschirm. Sein Kopf steckte unter einem Panamahut.

»Freude herrscht«, rief er aus, als er Eschenbach und Corina erblickte. Und mit einer für sein Körpergewicht erstaunlichen Leichtigkeit erhob er sich aus den Kissen.

Das Mäntelchen an Herzlichkeit, in das Banz seine Begrüßungsfloskeln packte, fand Eschenbach lächerlich. Es vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Banz und er sich fremd geworden waren und sich noch nie wirklich gemocht hatten.

Shame on you, du Heuchler, dachte der Kommissar. Shame on you!

* * *

Schweißgebadet wachte Eschenbach auf. Es war dunkel im Zimmer; allerdings nicht so finster, dass er nichts hätte erkennen können. Als er sich etwas aufrichtete, erschien ihm das halbhohe Fußteil seines Bettes als schattenhaftes Gespenst mit zwei Hörnern links und rechts. Weiter vorne machte er Stuhl und Schreibtisch aus; rechts davon an der Wand hing ein großes Kreuz.

Der Kommissar sank zurück ins Kissen und starrte zur Decke. Nach einer Weile folgte sein Blick den Fluchten der Wände, die sich über ihm als dunkelgraue Linien abzeichneten. Es war kein großer Raum, in dem er sich befand. Möglicherweise eine Zelle, folgerte er und atmete ein paarmal tief durch. Mühsam hebelte er die Beine seitwärts aus dem Bett und setzte sich auf die Kante seiner Matratze.

Durch das Fenster, ein kleines Quadrat in der Mauer, schimmerte das bleiche Licht einer Mondnacht.

»Wo zum Teufel bin ich?«, murmelte er.

Ein knarzendes Geräusch drang aus der Stille des Raums: Eschenbach zuckte zusammen und schaute zum Fenster.

»Sie sprechen im Schlaf«, sagte jemand.

Eschenbach erkannte die Stimme sofort wieder. Sie kam aus der dunklen Nische, links neben dem Fenster. Judith. Der Kommissar entdeckte die sitzende, schattenhafte Gestalt. »Was zum Teufel machen Sie hier?«

»Ich wache über Sie.«

»Und belauschen mich.«

»Shame on you!«

»Wie bitte?«

»Das haben Sie gesagt … im Schlaf. Ich nehme an, Sie meinten nicht mich.«

Eschenbach räusperte sich. »Nein, natürlich nicht.« Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Ich weiß nicht, was los war …«

»Haben Sie noch Schmerzen?«

»Besser.« Der Kommissar setzte sich vorsichtig auf. Tatsächlich blieben die Blitze in seinem Kopf aus.

Er stand langsam auf und machte ein paar Schritte.

Auch die Messer stachen nicht mehr. Nur noch ein dumpfes Pochen und in der linken Schulter ein Reißen, als wollte ihn jemand unsanft zurückhalten. »Wo bin ich hier …?«, fragte er. »Wo zum Teufel bin ich hier?«

Judith schwieg.

Eschenbach ging langsam auf die sitzende Gestalt zu. Er spürte, wie er ungehalten wurde, wie langsam die Wut in ihm hochkochte. »Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten. Verdammte Scheiße!«

»Nicht so laut«, flüsterte Judith und richtete sich auf. Beide standen sich nun gegenüber, kaum eine Handbreit voneinander entfernt.

»Also gut.« Der Kommissar, der die junge Frau um mehr als einen Kopf überragte, drosselte seine Stimme. Er fasste Judith mit beiden Händen an den Schultern und sagte: »Sie setzen sich jetzt wieder hin, und dann reden wir, verstanden? Ich will wissen, was geschehen ist. Und ich will verdammt noch mal wissen, warum ich hier festgehalten werde. Auch verstanden?«

Judith hob den Kopf und sah ihn an. »Sie können sich nicht erinnern, nicht wahr?«

»Doch, kann ich.« Eschenbach sah, wie ihn Judiths Augen im einfallenden Dämmerlicht anstarrten. »Mein Gedächtnis funktioniert wunderbar … Aber langsam verliere ich die Geduld. Die Geduld mit Ihnen. Und wenn es nicht anders geht, dann rufe ich jetzt meine Kollegen, und wir führen dieses Gespräch bei mir im Präsidium weiter.«

Für einen kurzen Moment senkte Judith ihren Blick. »Sie sind ein Narr, Doktor.« Sie kramte eine kleine Karte aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, hielt sie Eschenbach vors Gesicht: »Vielleicht waren Sie ja einmal Polizist … in einem früheren Leben. Es gibt Menschen, die glauben an so was. Sie waren lange bewusstlos, möglicherweise liegt es daran … Keine Ahnung. Ich weiß aber, dass Sie kein Bulle sind. Diese Karte haben Sie mir letzte Woche gegeben.« Judith drückte ihm das kleine Stück Karton in die Hand. »Lesen Sie … und denken Sie darüber nach.«

Eschenbach hielt die Karte hoch. Weil er sie im Halbdunkel nicht lesen konnte, tastete er sich zu dem Schreibtisch mit der Leselampe. Diesen kurzen Augenblick nutzte Judith. Sie lief an ihm vorbei und verschwand durch die Tür.

Der Kommissar hörte das klackende Geräusch, mit dem sich der Schlüssel im Schloss drehte. Er war gefangen – ein alter Trottel, der mit sich selbst und der Welt nicht mehr zurechtkam. Ein Jammerlappen.

Unter dem Schein der Lampe betrachtete er das Stück Karton: Es war eine Visitenkarte der Banque Duprey, das Logo zeigte eine rote Taube mit ausgebreiteten Flügeln. Und in der Mitte stand in dunkelblauem Prägedruck sein Name. In Großbuchstaben und mit Doktortitel: Er war Chief Compliance Officer und Member of the Board.

Was um alles in der Welt war mit ihm geschehen?

Kapitel 4

Der lange Weg zurück

Ich bin am Arsch, jetzt weißt du’s«, sagte Banz.

Dieser Satz war dem Bankier schwergefallen. Banz schien geradezu körperliche Schmerzen zu empfinden, als er ihn aussprach. Eschenbach musterte das gerötete Gesicht seines Gegenübers, das einen Moment den Blick gesenkt hielt.

Nachdem sie an einem großen Tisch im Garten des Pan Pacific kulinarisch verwöhnt worden waren, hatte Banz sie in eine lauschige Ecke im hinteren Teil der Anlage geführt. »Ich habe diesen Platz für uns reservieren lassen«, hatte er gemeint. »Damit wir ungestört sprechen können.«

Außer Hörweite der anderen Gäste des Hotels saßen Corina und er dem Bankier gegenüber, in ausladenden Lounge-Chairs von Dedon.

Der Kellner brachte die dritte Flasche Dom Perignon und öffnete sie.

Banz ließ sich eine Serviette geben, hob seinen Panamahut etwas an und trocknete die glänzende Stirn.

Eschenbach schwieg eine Weile. Sie hatten eine Menge getrunken. Aber im Gegensatz zu Corina und ihm, die der Alkohol sichtlich ermüdet hatte, schien der Bankier erst richtig in Fahrt zu kommen. Vermutlich war es die Erleichterung, die Banz verspürte, nachdem er ungewöhnlich kleinlaut, mit leiser und etwas rauer Stimme seine missliche Lage offenbart hatte.

Und aus dieser Lage, eingesunken im Morast, versuchte Banz sich offenbar hochzurappeln.

In diesem Moment wurde dem Kommissar klar, weshalb sein ehemaliger Mitschüler um den halben Globus geflogen war, um ihn zu treffen. Banz brauchte Hilfe. Und geduldig wartete Eschenbach darauf, dass einer der einflussreichsten Privatbankiers von Zürich seine Hand ausstrecken und ihn darum bitten würde.

»Liest du eigentlich keine Zeitung hier in der Pampa?«

»Keine Schweizer Presse jedenfalls«, sagte der Kommissar.