Sechseläuten - Michael Theurillat - E-Book

Sechseläuten E-Book

Michael Theurillat

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Beschreibung

Ein Roman, der hinter die Kulissen der FIFA führt - visionär und brandaktuell! Mit dem Sechseläuten treibt man in Zürich den Winter aus. Bei diesem offiziellen Anlass wird eine Mitarbeiterin der FIFA niedergestochen - nur unweit von Kommissar Eschenbach. Neben der Leiche steht zitternd ein kleiner Junge. Hat er etwas gesehen? Was für Eschenbach als spontaner Einsatz beginnt, wird zu einer erschütternden Reise in die Vergangenheit.

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Das Buch

Kommissar Eschenbach und seine Chefin sind Ehrengäste beim Sechseläuten. Als dort eine Frau zusammenbricht, entsteht ein Tumult. Sie stirbt noch vor Ende des Volksfestes. Kommissar Eschenbach glaubt nicht an einen Unfall und beginnt zu ermitteln. Charlotte Bischoff, so hieß die Tote, arbeitete im Sekretariat des Weltfußballverbandes FIFA. Weder ihr Vorgesetzter noch die Familie scheinen daran interessiert zu sein, den Tod aufzuklären. Der kleine Junge, den man an ihrer Seite fand, schweigt. Als er nach Tagen zu sprechen beginnt, ist Eschenbach alarmiert – denn niemand versteht das Kind, niemand kennt die Sprache, die es spricht. Führte Charlotte Bischoff ein Doppelleben? In Sechseläuten erzählt Michael Theurillat von den tiefen Rissen in der bürgerlichen Fassade.

Der Autor

Michael Theurillat, geboren 1961 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften, Kunstgeschichte und Geschichte und arbeitete jahrelang erfolgreich in einer Bank. Zuletzt erschien sein Roman Eistod.

Von Michael Theurillat sind in unserem Hause bereits erschienen:

Im Sommer sterben Eistod

Michael Theurillat

Sechseläuten

Kriminalroman

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:www.list-taschenbuch.de

Ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin. 1. Auflage August 2010 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009 Satz und e-book: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-548-92026-9

Für Nicola und Doran

(und die Freundschaft, die sie verbindet)

»Was wir zu fürchten haben, ist nicht die Unmoral der großen Männer, sondern die Tatsache, dass Unmoral oft zu Größe führt.«

ALEXIS DE TOCQUEVILLE

EINLEITENDE BEMERKUNG

Die Ehrentribüne beim Zürcher Sechseläuten hat es nie gegeben.

Ebenso trifft dies zu für die Firma Goldmann Investments Ltd. in London, die Familien Bischoff und Kolegger sowie alle weiteren, agierenden Personen in diesem Roman. Sie sind frei erfunden, und mögliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sowie mit Handlungen (in der Gegenwart oder in der Vergangenheit) sind rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

Andererseits kennt die Phantasie des Autors auch Grenzen: Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse unter der Leitung der Pro Juventute Schweiz existierte tatsächlich. Die Aufzeichnungen in Kapitel 9 (Erste Halbzeit) und die Recherchen von Rosa Mazzoleni in Kapitel 7 (Verlängerung) wurden den Berichten von Thomas Huonker entnommen. Sie entsprechen weitgehend den historischen Gegebenheiten, nachzulesen unter: www.thata.ch

ZÜRICH, 3. APRIL 2008

Ich bin das Kind einer Feckerin.

An welchem Tag ich geboren wurde, weiß ich nicht, und auch nicht, wo. Man hat es mir nie wirklich erzählt.

Vermutlich flutschte ich auf einen dreckigen Küchenboden zwischen Ibach und Brunnen. Oder ich verbrachte meine ersten Stunden, Tage, Monate irgendwo im Stroh. Vielleicht in einem dieser alten Ställe beim Eschwäldli oder auf dem Tänsch bei der Muota.

Ich habe mir später diese Orte angesehen. Ärmliche Bleiben und Schlupfwinkel, die einem in der Not ein Dach über dem Kopf geben. Und die man wieder verlässt, wenn im Frühjahr die Sonne den letzten schmutzigen Schnee aus den braunen Matten brennt.

Mein Geburtstag ist der 12. Februar. Geburtsort: irgendwo. Ich bin Wassermann. Manchmal lese ich sogar mein Horoskop. Und ich habe gelernt, damit zu leben, dass es für mich keine Vergangenheit gibt.

Zürich ist eine schöne Stadt, auch wenn man keine Wurzeln hat. Nicht laut und nicht leise: etwas dazwischen. Ein Ort mit beschaulichem Lärm. Und wenn man sich anstrengt hier, wenn man sich hinbiegen lässt von dieser geschäftigen Bürgerlichkeit, dann wird nichts Dummes aus einem.

Manchmal denke ich, es war ein Fehler hierzubleiben. Vielleicht hätte ich woanders hingehen sollen. Woanders leben. Weit weg vom Dreck, aus dem ich stamme. Dann habe ich Angst, dass mich der Morast einholt, in dem noch immer meine Wurzeln stecken. Alte, knorrige Wurzeln, vor langer Zeit durchschlagen, abgetrennt und verbannt.

Man bleibt oder geht. Ich glaube, es liegt in den Genen, im Blut, was man tut. So gesehen, ist es mir ein Rätsel, dass ich hiergeblieben bin.

In Zürich grüßt man mich auf der Straße.

Ich bin stolz, ich habe es geschafft. Es war ein weiter Weg. Ich bereue keinen Schritt, ich will nicht zurück in diesen Dreck, den ich nur aus Erzählungen kenne, an den ich mich überhaupt nicht erinnern kann.

Es gibt eine Hackordnung in diesem Stall, den man Leben nennt. Oben ist besser als unten. Und ich bin oben, fast ganz oben. Der Ausblick ist schön, auch ohne Wurzeln.

Gestern hat sie mich angerufen. Ich weiß nicht, was sie wieder will. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich in Ruhe lassen mit ihrem ewigen Wankelmut. Sentimentale Geister sind eine Plage. Sie bringen nichts als Unheil. Das war schon immer so. Die Vergangenheit bringt nichts Gutes; und es gefällt mir überhaupt nicht, wie sie sich entwickelt hat.

Sky is the limit.

Ich mag diesen Spruch, auch wenn ihn heute jeder Buchhalter gebraucht, um mit seiner jämmerlichen Existenz fertig zu werden.

Heute Morgen habe ich mir dieses Notizbuch gekauft. An der Bahnhofstrasse, bei Landolt-Arbenz. Handgeschöpftes Papier mit einem Ledereinband. Teuer, aber hübsch. Ich schreibe auf, was ich niemandem erzählen kann. Ich will es loswerden.

Ich habe nie Tagebuch geführt. Weshalb auch? Die Leute fragen mich, wenn sie Rat brauchen. Ich gebe Instruktionen und ordne an. Alle hören auf mich.

Das hier ist nur für mich. Wenn das Buch vollgeschrieben ist, verbrenne ich es.

Meine Heimat ist Zürich. Und bald kommt der Tag, das zu beweisen.

PAUSE

Nach der ersten Halbzeit ziehen sich die Spieler in die Kabine zurück. Je nach Verlauf der ersten fünfundvierzig Minuten erhobenen oder gesenkten Hauptes. Sie hinterlassen ein leeres Feld, eine dumpfe grüne Fläche, die zurückbleibt, wie ein ausgezogener Schuh.

Die Zuschauer holen Bier.

Im käsigen Licht der Umkleidekabinen wird die Mannschaft neu eingeschworen. Die Spieler hören ihrem Trainer zu, auch wenn er flüstert. Weitermachen, das will jeder; und doch hängt das Damoklesschwert einer Auswechslung über den schweißnassen Körpern der Stammelf. Nicht mehr auf den Rasen zurückzudürfen, wenn das Publikum tobt: Das ist der kleine Tod.

Die Pause wird unterschätzt. Sie ist eine unsichtbare Qual.

Kommissar Eschenbach von der Kantonspolizei Zürich hatte Pause. »Suspendiert« war der Fachjargon, den Elisabeth Kobler vier Tage zuvor verwendet hatte.

Trotzdem hatte der Kommissar weitergemacht. Erst gestern noch war er mit Rosa bei den Fahrenden in Seebach gewesen, hatte Gespräche geführt, bis die Kollegen kamen: Und wie sie gekommen waren. Mit Blaulicht und Sirene! Ein Einsatzwagen der Abteilung Sicherheit, inklusive Begleitfahrzeug. Insgesamt acht Mann. Und das alles wegen eines kleinen Jungen!

Dass seine Chefin auf diese Weise durchgreifen würde, hätte Eschenbach nie für möglich gehalten. Dazu an einem Sonntag, wenn andere Leute in die Kirche gingen.

Heute war Montag – und vielleicht der Zeitpunkt gekommen, etwas anderes zu tun, dachte er. Aber was, wenn Kraft und Mut dazu fehlten? Überhaupt, warum waren Neuanfänge immer dann ein Thema, wenn das Alte in Schutt und Asche lag? Auf dem Höhepunkt seiner Karriere aufhören – das hatte er gewollt. Nun war er weiter denn je davon entfernt.

Eigentlich hatte er von der Polizeichefin des Kanton Zürich Schützenhilfe erwartet. Wenn man als Polizeibeamter von außen unter Druck gerät, so wie er bei diesem Sechseläuten-Fall, steht die Kommandantin normalerweise hinter einem.

Erwartete Kobler etwa, dass er kündigte – in Schmach und Schande?

Wenn schon aufhören, dann freiwillig, dachte der Kommissar. Am Ende eines gelösten Falles den Hut nehmen und in den Sonnenuntergang reiten wie Lucky Luke.

Eschenbach saß auf der kleinen Terrasse seiner Stadtwohnung, sah in die dunklen Wolken eines späten Morgens und wurde die Gedanken, die ihn plagten, nicht los. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer zurück und machte sich an der Stereoanlage zu schaffen. Wieder einmal erklang Mahlers Neunte.

Sein Seufzen gesellte sich zum Andante comodo, das in D-Dur aus den Boxen kroch. Er humpelte in die Küche, nahm ein Ibuprofen 600. Am liebsten wäre er aus der Haut gefahren. Oder aus dem Gips, der bleischwer an seinem linken Fuß hing.

Endlich war Frühling. Wie ein Kind hatte sich Eschenbach darauf gefreut: auf das erste Grün der Blätter und auf die Möwen, die am Bürkliplatz kreischend um die Wette flogen. Er hatte sich ausgemalt, wie er an den Wochenenden mit Kathrin und Corina (falls sie Zeit hatten) ein Picknick am Horgener Bergweiher machen oder durch das Niederdorf bummeln würde (mit anschließendem Spaghettiplausch in der Commihalle). Auf seine Liege auf der Terrasse hatte er sich gefreut, und auf die Samstagmorgen, die er lesend verbringen wollte: mit einem Glas Tessiner Merlot und der Wochenendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung.

Endlich war Frühling. Und kaum etwas von alldem hatte er unternommen. Dazu der Gips, der alles noch zusätzlich verkomplizierte. »Du bist nicht genießbar«, hatte seine Frau am Telefon gesagt. Und so, wie es schien, war Corina froh, dass sie im Moment getrennt lebten und jeder seine eigene Wohnung hatte.

Kobler hatte ihm Alterssturheit vorgeworfen. Mit Sturheit hätte er noch leben können, aber das war zu viel gewesen.

Wieder ging er hinaus auf die Terrasse, setzte sich auf die alte Teakholzliege und sah mürrisch auf die umliegenden Dächer.

Wie die Zürcher Polizeibehörde gestern mitteilte, wurde die Untersuchung im Todesfall Bischoff eingestellt. Charlotte Bischoff, Mitarbeiterin des Zentralsekretariats der FIFA, war beim Sechseläuten auf tragische Weise zu Tode gekommen. Kommissar Eschenbach, Leiter der Kriminalpolizei des Kanton Zürich, musste sich seitens der Angehörigen wegen seines krassen Fehlverhaltens schwere Vorwürfe gefallen lassen. Er wurde auf unbestimmte Zeit von seinem Dienst suspendiert, hieß es.

Der Weltfußballverband begrüßte diesen Schritt. Zu den Ergebnissen der Voruntersuchung bezog niemand Stellung. Das Interesse gelte nun ganz der EURO 08, wurde betont.

Auf die Frage eines Journalisten, was nun künftig auf seiner Agenda stünde, antwortete Eschenbach lakonisch: »Brot und Spiele.«

Von all dem, was in der vergangenen Woche über den Fall geschrieben worden war, war dies noch der sachlichste Kommentar; und dennoch war er falsch. Es gab keine Untersuchungsergebnisse, jedenfalls keine, die Eschenbach bekannt gewesen wären. Es gab nur Vermutungen, angenommene Zusammenhänge und Ungereimtheiten, denen er nicht hatte nachgehen können. Alles war auf ein Machtspiel hinausgelaufen, auf Erpressung. Dass er alldem den Rücken gekehrt und den Kampf verweigert hatte, half ihm nicht. Es schmerzte wie die übelste Niederlage.

Eschenbach konnte die Niederlage verdrängen; aber vergessen konnte er sie nicht. Fußball hat seine eigenen Gesetze. Doch so, wie es aussah, hing in den Fluren der Demokratie nun das Regelwerk des Spiels. Eine Zeitlang wenigstens. Und deshalb hatte er sich die zweite Halbzeit sparen wollen.

Mitten in Mahlers erstem Satz läutete es. Das Hornregister blies in voller Stärke. Eschenbach zögerte. Er erwartete niemand.

Als die Glocke zum zweiten Mal erklang, humpelte der Kommissar zur Tür, öffnete sie und horchte.

»Ich bin’s!«, hörte er von unten. Es war die vertraute Stimme von Rosa Mazzoleni. Groß, vollschlank und mit einem türkisfarbenen Kaschmirkleid stand Eschenbachs Sekretärin etwas später im Halbdunkel der Diele. Schnaufend. Hinter ihrem Rücken versteckte sich ein kleiner Junge mit dunklen Locken.

Rosa hebelte am Lichtschalter: »Sie müssen die Glühbirnen ersetzen, Kommissario«, sagte sie. »Sonst knallen Sie hin mit Ihrem Gips.«

»Sind Sie deswegen hier?«, fragte Eschenbach. Er suchte die Augen des Jungen. Was war los mit dem Kleinen, kannte er ihn nicht mehr?

»Draußen wird es gar nicht hell. Und hier drinnen ist auch alles zappenduster …« Energisch nahm Rosa den Jungen bei der Hand, und gemeinsam marschierten sie an Eschenbach vorbei ins Wohnzimmer.

Rosa machte Licht. Sie knipste die Leselampe neben der Couch an, ging in die Küche und stürzte sich auch dort auf alle Schalter, die irgendwie mit Licht in Verbindung standen.

»Jetzt sieht man wenigstens etwas«, sagte sie zufrieden und zupfte dabei an ihrer Frisur. Seit ein paar Tagen trug sie ihr pechschwarzes Haar kurz, drapierte die kleinen, mit viel Gel gezähmten Strähnen um ihr altersloses, hell gepudertes Gesicht. Einen Moment standen sie sich gegenüber. Rosa, wie eine Madonna des einundzwanzigsten Jahrhunderts; der Kleine, den Blick auf den Fernseher gerichtet, und Eschenbach, gestützt auf eine Krücke (die zweite hatte er in der Eile nicht gefunden).

Der Junge schenkte ihm einen misstrauischen Blick.

Besorgt musterte Rosa Eschenbachs Bein. »Geht es?«, fragte sie leise. Dann glitt ihr Blick nach oben. »Und Ihrer Nase auch?« Ihre Stimme klang auf eine ungewohnte Art brüchig. Doch dann schickte sie ein »Ma, Kommissario!« hinterher. »Sie lassen sich doch wegen so was nicht hängen, oder?!« Herausfordernd sah sie ihm in die Augen.

Eschenbach humpelte zur Stereoanlage und drehte Mahler den Strom ab. »Es geht prima«, sagte er. Dann ging er zur Couch, sammelte Pullover, Socken und ein paar Bücher ein. »Setzt euch hin, Herrgott!«

»Ich kann uns auch einen Kaffee kochen.« Rosa hielt noch immer den Jungen an der Hand, der wie ein scheues Jungtier die Umgebung musterte.

»Er kennt mich doch.«

Rosa zuckte die Schultern. »Die haben ihn gestern gleich ins Heim gefahren. Frau Dr. Kirchgässner hat mich angerufen, sie meint, er habe immer noch einen Schock …«

»Kunststück«, fuhr Eschenbach dazwischen, dem die Szene vom Vortag noch bestens in Erinnerung war.

Zögerlich, von einer kindlichen Neugier getrieben, löste sich der Junge von Rosas Hand und begann sich umzusehen. Auf dem Couchtisch lagen Stapel von Akten und Bücher. Halbvolle Gläser standen herum und eine Schale mit Früchten; auf dem Holzboden zwei leere Weinflaschen.

»Er muss sich doch erinnern«, sagte Eschenbach.

»Am besten, wir lassen ihn«, meinte Rosa. Langsam gingen sie zur Küche, die durch eine kleine Bar vom Wohnraum getrennt war.

»Und wie geht es nun weiter?«, wollte Eschenbach wissen.

»Frau Kirchgässner wird weiterhin … Sie denkt, es brauche Zeit. Und so, wie die Dinge im Moment liegen …« Rosa wollte den Satz nicht beenden.

Eschenbach nickte und stopfte dabei Pulver in den Kolben der Espressomaschine. »Jetzt verläuft es einfach im Sand.«

»Vermutlich.« Rosa nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank. »Trinken Sie auch dieses grässliche Zeug?«

»Kathrin, meine Tochter … sie trinkt es, wenn sie mich mal besuchen kommt.« Eschenbach seufzte. Er sah zu, wie schwarzer Ristretto brummend in eine Mokkatasse tröpfelte. »Der Junge ist der Einzige, der uns weiterhelfen könnte.«

»Sie glauben also immer noch, er hat etwas gesehen?«

»Er stand direkt daneben. Irgendetwas muss er gesehen haben.«

In diesem Moment erklang im Wohnzimmer ein Schrei.

»Mamma mia!«, rief Rosa und rannte los.

»Latscho hets gspient. Jell, der Mulo ischs gsii!«, schrie der Kleine. Er stand neben dem Couchtisch und drückte seine kleinen Finger auf einen Bildband: »Lagg … Mulo, der Mulo!«

Es klang wie ein Fluch.

»Er spricht«, sagte Eschenbach. Intuitiv sah er sich nach einem Stück Papier um, er wollte wieder notieren, was der Junge gesagt hatte.

»Dio mio!« Rosa drückte den Kleinen, der am ganzen Körper zitterte, an sich.

Das Bild auf dem Umschlag zeigte eine Schar mittelalterlicher Reiter, die um einen brennenden Scheiterhaufen herumgaloppierten. Zuoberst auf dem lodernden Holz stand festgezurrt ein Schneemann.

»Er erinnert sich«, sagte Eschenbach. »Zürcher Sechseläuten von Andreas Honegger. Das Buch hat mir Kobler geschenkt, bevor die ganze Sache angefangen hat.«

ERSTE HALBZEIT

Mit der ersten Halbzeit ist es wie mit dem ersten Kuss: Man beginnt einfach.

Wenn man sich auf dem Feld zum ersten Mal begegnet, gut vorbereitet durch einen ehrgeizigen Trainer, dann ist man zuversichtlich. Hoffnungsvoll. Und wenn es ein Heimspiel ist, vielleicht sogar euphorisch. Dies ist umso erstaunlicher, als dass keiner der Beteiligten wirklich weiß, wie das Spiel ausgehen wird. Womit wir wieder beim ersten Kuss wären, da ist es ebenso.

Aber wie fängt man an? Einfach loslegen ist nicht leicht. Die einen starten zögerlich, die Reaktion des Gegenübers abwartend, während andere drauflosstürmen wie junge Stiere. Es gibt kein Rezept. Beides kann gut oder schlecht sein. Je nach Gegner (und in Abhängigkeit von den eigenen Möglichkeiten) wird man sich für diese oder jene Strategie entscheiden.

Hat das Spiel einmal begonnen, gelten andere Gesetze. Das runde Leder rollt oder fliegt. Wem gehört es eigentlich? (Und wem die Liebe?) Mit etwas Glück treten Strategien in den Schatten der Intuition; die Lust triumphiert über das Kalkül, und es wird tatsächlich Fußball gespielt.

Der erste Kuss blendet das Ende aus. Seine Geschichte ist die Hoffnung, sonst nichts.

1

In Zürich kämpfte die Frühlingssonne gegen den Nebel. Kurz nach ein Uhr mittags verzogen sich die grauschwarzen Wolken, und die alte Stadt an der Limmat strahlte, als hätte sie kaum Schlechtes zu berichten.

Kommissar Eschenbach kam zu nichts an diesem Tag. Zu nichts Wesentlichem jedenfalls, wie er fand. Er saß in seinem Büro in der Kasernenstrasse am Schreibtisch und hatte den ganzen Morgen Akten studiert: Berichte, Statistiken und die Budgetkontrolle fürs erste Quartal. Das Update Sicherheitsdispositiv EURO 8 war er durchgegangen und den Schlussbericht zur Operation Bevölkerungsschutz, Großraum WEF Davos.

Er streckte die Arme, drückte seinen breiten, schmerzenden Rücken gegen die Stuhllehne. Das schwarze Leder knarzte.

»Beep«, machte der Computer.

Mürrisch blickte der Kommissar auf den Bildschirm, eine weitere E-Mail war eingegangen. Die zweiunddreißigste an diesem Morgen. Er löschte sie.

Die Bürotür ging einen Spalt weit auf, und Rosa Mazzoleni steckte ihren Kopf herein: »Ich hab Ihnen eine E-Mail geschickt.«

»Aber Sie sind doch jetzt da, Frau Mazzoleni.«

»Frau Kobler hat angerufen. Sie lässt fragen, wo Sie stecken.«

»Hier«, sagte Eschenbach.

»Ich glaube, die Chefin erwartet Sie.«

»Hat sie das gesagt?«

»Nein.« Rosa seufzte. »So wie sie gefragt hat, habe ich das herausgehört. Und sie hat Ihnen eine E-Mail geschickt, hat sie gesagt.«

»Tatsächlich?« Eschenbach blickte auf, sah seine Sekretärin an, für die der ganze Bürowahnsinn so normal schien wie der Abendverkehr in ihrer Heimatstadt Neapel.

»Hier ist sie.« Rosa traute sich nun doch ganz herein und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. Daneben platzierte sie eine rosarote Sichthülle mit weiteren Blättern. »Ich habe gleich alle ausgedruckt.«

»Sie lesen meine E-Mails?«

»Natürlich nicht.« Rosa zupfte an ihren schwarzen Haaren, die ihr halblang auf die Schultern fielen. »Aber wenn Sie sie nicht lesen, dann muss ich sie wohl durchsehen.«

»Wissen Sie«, sagte der Kommissar. »Mit den E-Mails ist es wie mit Ihrem Sugo: Von den vielen Tomaten bleibt am Ende nur wenig übrig. Kochen lassen und abwarten, Frau Mazzoleni.«

»Das ist Porzellan.« Rosa betrachtete die zwei Zigarillostummel auf der Untertasse. »Und eine Luft ist das hier drin …« Hustend ging sie zum Fenster und öffnete es.

»Furchtbar«, sagte Eschenbach. Bedächtig nahm er eine neue Brissago aus der Schachtel und zündete sie an.

»Sie sind dieses Jahr Ehrengast«, sagte Rosa, nachdem sie auf dem Schreibtisch Ordnung gemacht und das Kaffeegeschirr auf ein Tablett geräumt hatte. »Und weil es das Jahr der Fußball-Europameisterschaft ist, hat die UEFA eine Ehrentribüne errichten lassen.«

»Steht das auch in Ihren E-Mails?«

»Ma sì. Traditionen sind der Kitt der Gesellschaft.«

»Tribünen haben keine Tradition, Frau Mazzoleni. Nicht beim Sechseläuten. So etwas hat es dort noch nie gegeben, in zweihundert Jahren nicht. Man steht einfach, basta!« Der Kommissar legte Rosas Sichthülle in die oberste Schublade und erhob sich. »Ehrengast, Ehrengabe, Ehrendame, Ehrenpreis, Ehrenabzeichen …«, referierte er, während er an Rosa vorbei zur Tür schritt. »Das sind alles Tomaten für Ihren Sugo.«

»Das heißt, Sie gehen nicht hin?«

»Doch, eben. Bei dem ganzen global warming muss man den Winter austreiben, solange es ihn noch gibt.«

»Was schätzen Sie, wie lange wird’s dieses Jahr dauern?«

»Hoffentlich nicht so lange«, sagte Eschenbach.

Auf dem Weg von der Kasernenstrasse zur Sechseläutenwiese erfuhr Eschenbach von Elisabeth Kobler, dass eine Delegation deutscher Polizeiobersten eingeladen war. Er hatte seine Chefin abgeholt, um sich auf den neuesten Stand bringen zu lassen. »Die haben Erfahrung mit Fußballanlässen«, sagte sie. Als Mitglied der Gesellschaft zu Fraumünster, der einzigen Frauenzunft Zürichs, trug die Polizeichefin einen wallenden, dunkelblauen Umhang, unter dem, wenn sie sich bewegte, ein mittelalterliches, mit Brokatbändern verziertes Kleid zum Vorschein kam.

Eschenbach verkniff sich einen Kommentar zu ihrer Aufmachung, zumal er fand, dass Kobler schlecht gelaunt war und unter ihrer mittelalterlichen Kopfbedeckung aus dunklem Samt geradezu mürrisch dreinblickte. Vielleicht rührte der Unmut auch daher, dass sie dauernd auf ihren Umhang trat.

Eschenbach tat so, als ob er über alles im Bilde wäre. Vermutlich gab es auch dazu E-Mails, dachte er. Es ging also um die EURO08 – um die bevorstehende Europameisterschaft, deren Austragung Kobler schon seit Monaten Kopfzerbrechen bereitete.

Kurz vor sechs saß Kommissar Eschenbach dort, wo er nach seinem Verständnis nichts zu suchen hatte: auf der Ehrentribüne beim Bellevue. Reihe fünf, Mitte.

»Aufregend, nicht wahr?«, bemerkte der Mann rechts neben ihm. Er deutete auf die Menschenmenge, die den Platz überflutet hatte. »Wann geht es denn los?«, fragte er.

»Um sechs.« Eschenbach sah auf seine Uhr, dann auf den riesigen Holzberg, der vor ihnen auf der Wiese zum Abfackeln bereitstand. »In fünf Minuten also.«

Sein Nachbar rieb sich die Hände. Er hatte sich als Lebenspartner von Klaus Wowereit vorgestellt. Wowereit, der zwei Reihen weiter vorne neben dem Zürcher Stadtpräsidenten saß, war als Regierender Bürgermeister von Berlin auch einer der Ehrengäste, mit denen sich die Zunftherren jedes Jahr anlässlich des Sechseläutens schmückten.

»Jetzt geht’s los!«, riefen einige der Gäste.

Der Kommissar steckte die Hände in die Hosentaschen. Er sah auf den Scheiterhaufen, der nur mühsam zu brennen begann. Weil es am Morgen noch geregnet hatte, warf der Brandmeister in kurzen Abständen offene Behälter mit Benzin in den brennenden Holzberg. Eschenbach dachte an seine Zeit bei den Pfadfindern und daran, wie verpönt es gewesen war, ein Feuer mit Benzin anzuzünden. »Es wird schon noch«, sagte er.

»Und das Ganze heißt Sechseläuten, weil es um sechs Uhr beginnt?«, wollte sein Nachbar wissen. Er schien hell begeistert zu sein, und er betonte mehrmals, dass er es schätze, neben einem Einheimischen zu sitzen. Kobler, die links neben Eschenbach saß, hielt sich vornehm zurück.

Der Kommissar nickte. Und nach anfänglichem Zögern gab er einen kurzen Abriss über das Sächsilüüte, wie es die Zürcher nannten. Über die Schirmherrschaft der Gesellschaft zur Constaffel und die fünfundzwanzig Zürcher Zünfte und den Ablauf der Veranstaltung, die an einem Sonntag Mitte April mit einem Kinderumzug beginnt.

»Und am Tag darauf, am Montag um sechs Uhr abends, treffen sich alle hier auf dem Sechseläutenplatz beim Bellevue. Dann wird der Böög verbrannt.«

»Es geht also um diesen Kerl dort?« Eschenbachs Nachbar zeigte auf den Schneemann, der zuoberst auf dem Holzhaufen festgezurrt war.

»Richtig, um den Böög. Er verkörpert den Winter.« Der Kommissar redete sich langsam warm. »In seinem Kopf befinden sich Knallkörper. Wenn die Flammen ihn erreichen, explodiert er. Dann brennt die ganze Figur. So treiben wir Zürcher den Winter aus.«

»Schreckliches Ende.«

Eine Weile sahen beide schweigend auf den Holzberg. Nur zögerlich bahnten sich die Flammen einen Weg durch das feuchte Holz. Der Üetliberg jenseits des Seebeckens verschwand hinter einer gewaltigen Rauchfahne.

»Achtzehn Minuten schon.« Eschenbach sah wieder auf die Uhr.

»Gibt es ein Zeitlimit?«, fragte der Berliner.

»Nein. Je schneller, desto besser. Denn je schneller, desto schöner der Sommer.«

»Ach so.« Sein Nachbar lächelte höflich, aber skeptisch.

Eschenbach zog ein zerknülltes Blatt Papier aus der Hosentasche. »Letztes Jahr dauerte es zwölf Minuten und neun Sekunden.«

»Da wird also richtig Buch geführt?«

Der Kommissar zeigte ihm die Liste. »Der Rekord war 1974. Da dauerte es gerade einmal fünf Minuten und sieben Sekunden. Und jetzt …«

»1974 wurden wir Fußballweltmeister.«

»Schon neunzehn Minuten … Das wird nix.«

»Gerd Müller schoss das 2 : 1 gegen die Holländer …«

»Ich weiß«, sagte Eschenbach. »Liegend!«

»Das waren noch Typen.«

»Zwanzig Minuten.«

»Das wird aber ein ganz schlechter Sommer. Und dann haben Sie noch die EURO08.«

»Eben – und Spieler, die nicht einmal stehend treffen.«

Der Wind drehte und blies den Rauch direkt auf die Tribüne zu.

2

Lara Bischoff saß in ihrem Büro an der Finsbury Avenue in London. Vor ihr auf dem Tisch lag der Vertrag. Es blieben noch fünf Minuten bis zur Verhandlung. Danach wollte sie nach Zürich fliegen und ihre Schwester treffen. Charlotte hatte versucht sie zu überreden, früher zu kommen – »Dann gehen wir zum Sechseläuten und essen dort gemütlich eine Bratwurst«, hatte Charlotte gemeint –, aber »gemütliche Bratwurst« war nicht ihr Ding. Sie hatte es ihr, so freundlich wie eben möglich, zu erklären versucht. Es waren Welten, die sie trennten. Wenigstens arbeitete Charlotte bei der

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