Sachmet 6 Das Gesetz der Maat - Katharina Remy - E-Book

Sachmet 6 Das Gesetz der Maat E-Book

Katharina Remy

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Beschreibung

2012 AD: Saarbrücken und Luxor Was als geplante Auszeit und erholsamen Urlaub über die Weihnachtstage begann, endet im neuen Jahr in einer Katastrophe! Deutschland versinkt in diesem Winter im Schnee und während Raphael hofft, mit Anna gemeinsam ein besinnliches Weihnachtsfest zu feiern, durchlebt Georg seinen fürchterlichsten Alptraum! Seine letzte Rettung scheinen Anna und Raphael zu sein. Doch beide Männer, erbitterte Feinde um Annas Gunst, müssen sich erst zusammenraufen, wenn sie gemeinsam diese harte Prüfung bestehen wollen. Am Ende steht Anna, allein nach Luxor zurückgekehrt, vor einer schweren Entscheidung. Das wertvolle Artefakt, einst aus der Statue geraubt und in Annas Besitz, weckt Begehrlichkeiten und hoch über Deir el Medine findet ein Kampf auf Leben und Tod statt ... 1383 v. Chr.: Uaset, Kemet Bent in ihrer Position als Hohepriesterin des Isistempels ist zu einem prunkvollen Fest geladen: Die Hochzeit des Kronprinzen! Hoffte sie nach den aufregenden vergangenen Jahren endlich Ruhe und Erholung zu finden, so wird ihr schmerzhaft bewußt, daß sie niemals zu dieser Feier erscheinen darf. Denn hat nicht Sachmet selbst vor Jahren einst prophezeit, mit Bents Hilfe den Prinzen töten zu wollen? Doch eine Absage läßt Pharao Amenhotep nicht gelten! Beistand erhofft Bent sich von Tachut, ihrer mütterlichen Freundin. Doch die, alt und gebrechlich, scheint dem unglaublichen Geheimnis des Allerheiligsten auf die Spur gekommen zu sein und ist bereit eine schwere Sünde zu begehen ...

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2012 AD:

Saarbrücken und Luxor

Was als geplante Auszeit und erholsamen Urlaub über die Weihnachtstage begann, endet im neuen Jahr in einer Katastrophe!

Deutschland versinkt in diesem Winter im Schnee und während Raphael hofft, mit Anna gemeinsam ein besinnliches Weihnachtsfest zu feiern, durchlebt Georg seinen fürchterlichsten Alptraum! Seine letzte Rettung scheinen Anna und Raphael zu sein. Doch beide Männer, erbitterte Feinde um Annas Gunst, müssen sich erst zusammenraufen, wenn sie gemeinsam diese harte Prüfung bestehen wollen.

Am Ende steht Anna, allein nach Luxor zurückgekehrt, vor einer schweren Entscheidung. Das wertvolle Artefakt, einst aus der Statue geraubt und in Annas Besitz, weckt Begehrlichkeiten und hoch über Deir el Medine findet ein Kampf auf Leben und Tod statt …

1383 v. Chr.:

Uaset, Kemet

Bent in ihrer Position als Hohepriesterin des Isistempels ist zu einem prunkvollen Fest geladen: Die Hochzeit des Kronprinzen! Hoffte sie nach den aufregenden vergangenen Jahren endlich Ruhe und Erholung zu finden, so wird ihr schmerzhaft bewußt, daß sie niemals zu dieser Feier erscheinen darf. Denn hat nicht Sachmet selbst vor Jahren einst prophezeit, mit Bents Hilfe den Prinzen töten zu wollen? Doch eine Absage läßt Pharao Amenhotep nicht gelten!

Beistand erhofft Bent sich von Tachut, ihrer mütterlichen Freundin. Doch die, alt und gebrechlich, scheint dem unglaublichen Geheimnis des Allerheiligsten auf die Spur gekommen zu sein und ist bereit eine schwere Sünde zu begehen …

Die Autorin:

Ich bin im Saarland (Deutschland) geboren, lebe in der Nähe von Saarbrücken und bin verheiratet. Reisen - nicht nur nach Ägypten - sind unsere Passion.

Seit ich Kind war fühle ich eine unerklärliche Liebe für Ägypten - das Land am Nil ist seit Jahrzehnten das Reich meiner Leidenschaften und Träume. Um diese versunkene Kultur, den Glanz der Pharaonen in all ihrer Pracht vor meinen Augen erstehen zu lassen, begann ich mit dem Schreiben. Die Lebens- und Denkweise der alten Ägypter, ihr unerschütterlicher Glaube an die Götter und an Maat, die alles im Gleichgewicht hält, ist das, was mich inspiriert und all meinen bereits erschienenen Romanen Leben einhaucht.

Es gefiel meinem Herzen, gewaltige Monumente zu erschaffen, wie es sie seit Anbeginn der Beiden Länder nie gegeben hatte

Amenhotep, Gott, Herrscher von Uaset

Die Feder der Maat

symbolisiert das empfindliche Gleichgewicht der Welt

Mein Dank an Jürgen, für seine unermüdliche Tatkraft und Unterstützung bei der Entstehung dieses Romans.

Ein herzlicher, ganz liebevoller Dank geht auch dieses Mal an Elke Bassler für ihre tollen Bilder, mit denen ich abermals ein zauberhaftes Cover erstellen durfte.

Inhaltsverzeichnis

DENN ICH VERMAG WAHRHAFT ZU MEISTERN SETH, MEINEN GROßEN FEIND, AM TAGE DER GROßEN GEWITTER

PROLOG

DEUTSCHLAND, SAARBRÜCKEN

ICH BIN ZU DIR GEKOMMEN, NACHDEM ICH DIR DIE MAAT GEBRACHT UND DIR DAS UNRECHT VERTRIEBEN HABE

KEMET, UASET

NUT WIRD MUTTER DER GÖTTER GENANNT, WEIL SIE DIE STERNE GEBOREN HAT. NICHT EINER VON IHNEN GEHT ZUGRUNDE

SARA

ES IST ÜBERHAUPT KEIN LICHT DORT. WAS NUN JENEN ORT ANGEHT, LEER VON HIMMEL UND LEER VON ERDE, DAS IST DIE GESAMTE DUAT

ÄGYPTEN, LUXOR

DENN ICH VERMAG WAHRHAFT ZU MEISTERN SETH, MEINEN GROßEN FEIND, AM TAGE DER GROßEN GEWITTER

(Aus dem Amduat)

PROLOG

Deutschland, Saarbrücken

Februar 1982 A.D.

Sie erwachte, schaute zur Uhr, bezwang die Tränen, betrachtete das Schlafzimmer als sähe sie es zum ersten Mal. Da hing der weiße, seidene Traum immer noch auf seinem gepolsterten Bügel an dem messingfarbenen verschnörkelten Haken! Aus weiß Gott wievielen Metern Rüschen und Spitze, mit Puffärmchen, zuckersüß wie ein Sahnebaiser!

Zeit, daß sie das mal wegräumte bevor es völlig zustaubte oder gar verschoß. In diesem vom Licht durchfluteten Raum, dieser von Licht durchfluteten Wohnung hoch über der Stadt. Vaters teuerster Wohnung, mitten in Saarbrücken, das schönste Penthouse überhaupt. Nichts als Glas ringsum, ein Blick nicht mit Geld zu bezahlen. Hinüber zum Schloß, hinüber zum Theater und dem Stadtpark, dazwischen der glitzernde Fluß, auf der anderen Seite reichte der Blick über Saarbrückens schicke Flaniermeile an der Saar: die gesamte Berliner Promenade. Für seine geliebte Tochter war dem Herrn Thiel nichts zu teuer! Und brachte sie ihm nicht den Schwiegersohn, den er sich stets erträumte? War sie nicht eine brave Tochter?

Was war das bloß für ein klirrendkalter Winter? Bald Ende Februar. Schnee, Kälte, immer noch alles weiß, genau wie das Kleid.

Weiß und kalt!

Und dann diese Traumhochzeit! Der Pastor so selig über den gelungenen Plan des neuen Pfarrheims, daß er es sich nicht nehmen ließ, sie am ersten Weihnachtstag in der festlich geschmückten Kirche zu trauen. Ein Weihnachten wie im Märchen! Meterhoher Schnee, strahlendblauer Himmel, Sonnenschein! Eiszapfen glitzerten. Hat es nicht weiße Flocken geschneit, als sie aus der Kirche traten? Wie süße kleine Federchen schwebten sie über dem jungen Glück! Als würden kleine Engel sie verloren haben.

Kleine Engel!

Schon wieder kamen die Tränen, sie schluckte sie runter. Es hatte alles so vorzüglich geklappt. Niemand wäre je auf den Gedanken gekommen, daß die Tochter des größten Immobilien-Moguls an der Saar unter diesem Traum aus weißer Seide im dritten Monat war. Sah sie nicht aus wie Lady Di? Was für eine glanzvolle Hochzeit! Was für ein hübscher, stolzer Bräutigam, was für eine strahlende Braut! Jung und bezaubernd, gerade mal achtzehn Jahre alt. Und erst die zauberhafte Hochzeitsreise. Nach Kitzbühel, noch mehr Schnee, noch mehr blauer Himmel! Schlittenfahrt mit Pferden und Glöckchen, wie romantisch!

Oh, was haben wir nur gemacht!

Sie stand auf, riß das Brautkleid von dem Bügel, stopfte es lieblos, beinahe rabiat in die hinterste Ecke des Kleiderschranks, zog einen schwarzen Hosenanzug von den Bügeln, einen schwarzen Rolli aus dem Gefach, zog sich an.

Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz … Das Märchen war vorbei!

Nie wieder weiß!

Nie wieder Weihnachten!

Nie wieder Kälte!

Zeit weiterzumachen!

„Mein Schatz!“ Er betrat gutgelaunt das Schlafzimmer, in seiner Hand ein Tablett mit Kaffee und Frühstück, einer weißen Rose. „Guten Morgen, Süße.“

„Morgen.“

„Was machst du?“

„Zur Arbeit gehen. So wie ich es seit Jahren gewohnt bin! Vater wird froh sein, wenn ich komme um ihm wieder ein Teil der Büroarbeit abzunehmen. Ich bin lange genug im Selbstmitleid zerflossen!“

„Nicht doch!“ Er stellte das Tablett ab.

„Wenn du die Scheidung willst, ich bin einverstanden.“

„Was redest du denn?“

„Ich bin es nicht wert! Die Eltern warten auf einen Enkel, du hast dich so gefreut und was mach ich dumme Kuh? Zu dumm um ein Kind zu gebären! Ich habe euch alle enttäuscht!“

„Mäuschen!“ Er umarmte sie liebevoll, drückte sie auf das Bett, nahm sie tröstend in den Arm. „Sch! Nicht! Nicht weinen, ich bin doch da! Du hast mich noch nie enttäuscht, wie kommst du nur darauf.“

„Ich hätte dich von mir runterschubsen sollen!“, schluchzte sie in seinem Arm „Wir hätten das nicht tun dürfen!“

„Wir haben’s aber gemacht! Und wir stehen das zusammen durch. Kopf hoch, mein Schatz, ich liebe dich! Egal was kommt. Und du wirst …“

„Denk nicht mal dran!“

„Doch. Ich denke daran! Du wirst die Fehlgeburt irgendwann vergessen haben, dann können wir es nochmal versuchen. Ich werde warten, geduldig sein, selbst wenn es Millionen Jahre dauert! Und so lange verwöhne ich dich! Hm? Komm, zieh diesen dummen Hosenanzug aus. Meine Frau braucht nicht arbeiten! Das hast du gar nicht nötig. Mach es dir bequem, du mußt dich noch ausruhen!“

DEUTSCHLAND, SAARBRÜCKEN

Samstag, 17. Dezember 2011 A.D.

„Verdammt!“, fluchte Anna, krallte sich in ihre dünne Jacke, duckte sich, drehte sich weg. Ein eiskalter, strammer Ostwind wehte ihr eisigen Schnee ins Gesicht, stechend und schmerzend wie Millionen kleiner Nadeln, sie schlotterte wie Espenlaub. Raphael legte fürsorglich den Arm um ihre Schultern, schob sie durch die automatische Tür zurück, hinein in die Wärme.

„Nix wie wieder rein! Verfluchte Scheiße, ist das kalt!“ Er verschwand nochmal raus, holte den Kofferwagen.

„Auf so eine verrückte Idee konntest auch nur du kommen!“ Anna versuchte die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht zu bekommen, schaute sich in der warmen Flughafenhalle um. „Und jetzt? Bis wir am Taxi sind, sind wir erfroren! Selbst wenn sie gerade mal ein paar Meter weiter weg am Bordsteinrand stehen.“

„Ich hab zwei Sweat-Shirts im Koffer. Und T-Shirts mit langem Arm. Wir gehen einfach zu den Waschräumen und ziehen das über. Wo sind die?“

„Da hinten, links, gegenüber“, maulte sie, nickte mit dem Kopf in die Richtung. „Weihnachten in Deutschland, im Schnee!“, zeterte Anna, als sie hinter ihm und dem ratternden Kofferkarren zu den Waschräumen zockelte, die Abkürzung quer durch das kleine Bistro mitten im Terminal nahm, dabei elegant den ebenholzfarbenen Bistrostühlen mit ihren hellgrünen Bezügen auswich. „Pah! Du spinnst doch! Seit gefühlten hundert Jahren ist hier zu Weihnachten kein Schnee mehr gefallen und ausgerechnet jetzt versinkt die Welt im weißen Chaos! Hoffentlich kommt das Taxi noch durch. Bete Freundchen, bete!“

Grinsend zog er ihr die Kapuze seines Sweat-Shirts ins Gesicht, als sie wieder aus dem Waschraum kam. „Niedlich! Wie ein Zwerglein. Hei-hi, heiho!“ Liebevoll krempelte er sie ein wenig um. „Siehste wieder was?“

„Hmpf!“

„Du liewes bissje!“, stöhnte der Taxifahrer nachdem er Raphael geholfen hatte die Koffer und Reisetaschen zu verstauen. Er ließ sich auf den Sitz fallen, schnallte sich an, fuhr los. „Wo kummen ihr‘n her? Das dóó iss vielleicht ebbes! Hann ihr Glick gehat, daß na noch runnerkumm sinn. Die mache gleich alles discht. Das dóó war jo schunn long nimmé dóó.“

„Hä?“

„So ein Wetter gab es hier schon lange nicht mehr! Ein richtiger Schneesturm! Der Flugbetrieb wird gleich eingestellt. Ihr hattet Glück!“

„Können Sie ihre Heizung ein bißchen höher drehen?“

„Ist schon die höchste Stufe. Hann‘da Urlaub gemach? Die warm Jack vergess, hä?“, grinste der Mann in den Rückspiegel. Raphael drückte die bibbernde Anna fest an sich. „Hochzeitsreise, was?“, lachte der Fahrer verständnisvoll. Raphael drückte Anna nochmal, schaute ihr liebevoll tief in die Augen.

„Ja, Hochzeitsreise!“, flüsternd.

„Ich mach dir gleich den Kamin an!“ Raphael klopfte sich den Schnee ab, wuchtete die Koffer in den Korridor, die Taschen obenauf, schloß die Haustür ab, verschwand in der Doppelgarage, kehrte zurück mit einem Korb voller Feuerholz.

„Hab ich vielleicht einen Kohldampf. Ist was im Kühlschrank? Hat deine Frau Becker eingekauft?“

„Nicht nur das!“, rief Anna ins Wohnzimmer. „Sie hat uns sogar was gekocht!“

„Ich knutsch sie, wenn ich sie sehe! Dein Handy bimmelt!“

Anna kramte das bimmelnde Ding unten aus der Handtasche.

„Berger.“

„Wo steckst du denn? Seit Stunden versuche ich dich zu erreichen!“

„Och Georg!“

„Hast du das Ding mal wieder vergessen aufzuladen?“

„Nein. Was willst du?“

„Nur hören, wie es dir geht. Hier über Deutschland wütet ein Schneechaos. Sowas war seit Jahren nicht da.“

„Echt?“

„Völlig irre. Überall Schnee, meterhoch.“

„Sag bloß! Georgy, was willst du?“

„Alles ok in Luxor?“

„Bis vor ein paar Stunden war es das noch.“

„Aha. Wie geht’s an deiner neuen Ausgrabungsstätte?“

„Beschissen! Muß mir was gezerrt haben oder so, vielleicht auch den Ischiasnerv eingeklemmt. Hab mir ein paar Tage frei gemacht, gehe Montag zum Arzt. Ich seh kommen, das gibt einen Krankenschein.“

„Ach du Armes.“

„Ich bin hier, Georg, und über die Feiertage in Saarbrücken. Bin eben erst zur Tür rein. Macht es dir was aus, wenn wir ein ander Mal reden?“

„Nein! Nein, natürlich nicht. Kurier dich aus. Nimm ein heißes Bad … Und Raphael?“

„Der ist mitgekommen!“

„Achso. Ok, mein Schatz. Bis dann.“

„Bis dann mein Liebling.“

Anna legte das Handy nachdenklich auf die Arbeitsplatte, stellte den Topf auf den Herd, schaltete denselben ein.

„Sag mal, riecht der das?“ Raphael hob den Deckel hoch, begutachtete selig den Eintopf. „Linseneintopf! Lecker!“

„Der hörte sich gar nicht gut an!“

„Vielleicht hat er sich ‘ne Beule ins Auto gefahren oder sein Single Malt ist alle. Feuer brennt!“

„Wie schön. Was war das denn?“

„Hörte sich an wie weit entfernter Donner.“

Es war tatsächlich dröhnender Donner! Ein tosender Wintersturm fegte durch die Nacht heran, Blitze so dicht aufeinanderfolgend wie Stroboskoplicht rissen das niedergehende Schneegestöber unentwegt aus der Dunkelheit, die Luft geschwängert mit kosmischer, verheerender Energie. Unaufhörliches, bis tief ins Mark treffendes wütendes Donnergrollen ließ Anna zu Raphael auf die Couch flüchten. Schutzsuchend drückte sie sich fest an ihn, fühlte die grausame, gnadenlose Macht der Natur und die zerstörerische Urgewalt, die Kraft der mit Millionen Volt geladenen elektrisierten Luft selbst bis in die zarten, rosigen, empfindsamen Spitzen ihrer Brüste.

Müde starrte sie in die prasselnden Flammen des Kaminfeuers, hielt das Glas Rotwein in Händen, kuschelte sich tiefer in die weiche Felldecke und in Raphaels starken, beschützenden Arm, sinnierte über den vergangenen Sommer, vor allem über den letzten Septembertag nach.

Diese Bedrohung! Dieser Mann! Die Gefahr, die von ihm ausging! Sie hoffte so sehr, daß sie sich das alles nur eingebildet hatte, schob dieses gruselige Erlebnis in Saras Wohnung ihrer überbordenden Phantasie und den vorangegangenen aufreibenden, aufwühlenden Erlebnissen zu. Wahrscheinlich brauchte sie einfach mal sowas wie Urlaub. Abschalten von allem, es war einfach alles zuviel gewesen in den letzten Monaten. Vermutete obendrein, die Luft war geschwängert von dem, was Sara in ihren Keksen verbacken hatte. Ihre ganze Wohnung roch an dem Tag nach dem Gras. Wahrscheinlich war sie, Anna, davon high geworden und hatte sich diese bodenlosen Unverschämtheiten, diese rüpelhaften Anstößigkeiten, diesen ekelhaften Geruch nach Blut, Schweiß und Sperma nur eingebildet. Welch eine dreckige Phantasie! Anna meinte immer noch, seine harte, rauhe Zunge an ihrem Hals, ihrer Hand zu spüren. Und was viel schlimmer war: an ihren Lippen, in ihrem Mund. Dazu die fordernde, grapschende, brutale Hand in ihrem Ausschnitt, an ihrem Busen und am Hintern auf dem Weg zwischen ihre Beine. Sie fühlte sich in diesem Augenblick völlig herabgewürdigt, benutzt, vergewaltigt, gedemütigt; behandelt wie ein unwürdiges Stück Vieh, welches man zur Schlachtbank führt. Noch dazu gingen ihr seine Worte nicht aus dem Kopf. Worte, von denen es ihr nicht gelang sie zu glauben:

… Und irgendeiner mußte ja den Krieger machen, der zu dir zurückgeschickt wurde! Es ist mir doch gelungen? Oder? Bist du zufrieden mit ihm? Besorgt er es dir anständig? …

Von der Seite her betrachtete sie Raphael; diesen wunderschönen, verdammt attraktiven Mann, sein dunkelblondes, fast golden wirkendes, leicht gewelltes Haar mit dem dunklen Ansatz, die leuchtenden dunkelgrünen Augen mit den langen, dichten Wimpern, die vollen, begehrenswerten Lippen, seine markante Kinnlinie, dieses unvergleichlich schöne, sinnliche Männergesicht.

Anna suchte vergebens irgendeine Ähnlichkeit mit dem Mann, der da so unverhofft bei Sara aufgetaucht war, sich ihnen als Sebastian Roth vorstellte, konnte aber außer der Ähnlichkeit zu seiner Mutter nichts an Raphael feststellen. Und selbst wenn das alles wahr wäre, nicht ihrer blöden Phantasie entsprungen … Raphael dürfte es niemals erfahren! Man stelle sich das einmal vor! Urplötzlich taucht eine dunkle Macht auf, „Ich bin dein Vater“, schnaufend! Was für ein Quatsch!

Abermals zuckte Anna vor Schreck zusammen, zerriß brüllender, mächtiger Donner die Stille der Winternacht.

… jetzt gibst du mir das Herz aus Glas, Madame Berger, oder du wirst meinen Zorn am eigenen Leib erfahren …

Worte laut und hart wie Schlachtenlärm. Sie dröhnten immer noch in ihren Ohren.

Das will ich nicht riskieren! Ich will gar nicht wissen, wer du bist! Meine Phantasie reicht dazu nicht aus – nein, meine Phantasie ist dazu zu mächtig! Ich glaube, ich weiß ganz genau wer du bist! Aber mein Hirn spielt da nicht mit, mein Verstand setzt da einfach aus!

Und vor ihrem geistigen Auge erblickte sie ein Bild, kroch eine vage, uralte Erinnerung in Annas Gedächtnis. Wie sie in einem dunklen, von schwachem Kerzenlicht erhellten riesigen Raum einer älteren Frau …

… auf die Füße half.

„Du bist der Stern, den du gesehen hast, du warnst uns vor dem roten Mond!“, hörte sie die Alte sagen und Anna kam es vor, als höre sie Sara reden. „Er hat Böses vor, aber du bist die, der Re sich nähert, also bist du die von Gott begnadete. Du hast mit dir selbst geredet, das sage ich dir!“

„Du weißt doch mehr, als du zugibst, oder?“, hörte Anna sich selbst unwirsch sagen. „Du weißt ganz genau, wer er ist. Willst es mir nicht sagen! Der Herr der Schmieden? Ein Gott der Handwerker! Warum sollte so einer mein Herz stehlen?“

„So einer? Du wirst nicht wissen wollen, zu was er alles fähig ist!“ Die Alte klang ärgerlich. „… ich bin Nebethat, die Herrin des Hauses!“ Laut pochte ihr Stock auf den Boden, daß es nur so dumpf von Wänden widerhallte. „Ich bin die Älteste unter den Weisen! Erweise dem Alter Respekt! … er ist vor allem der Gott des Sturmes, der Gott der Wüsten, der Gott des Chaos! Wage es nicht, ihn zu unterschätzen! Er ist die reine Bosheit, dagegen ist deine Sachmet ein schnurrendes Kätzchen!“…

Einer heftigen Explosion gleich erschütterte ein weiterer bösartiger, knallender Donnerschlag die Luft, zerriß die Atmosphäre mit grimmiger Wucht, so laut, daß selbst die Gläser in den Vitrinen klirrten. Als würden die Götter in diesem Augenblick ihre ewigen Kämpfe um Gut und Böse über ihrem Haus austragen. Anna zog sich zitternd die Decke höher, kuschelte sich noch tiefer in Rafaels Arm, beschloß nachher als erstes im Safe nachzusehen, ob noch alles an seinem Platz stand. Ich werde es Ihr zurückgeben! Nur Sie allein kann mich vor ihm beschützen! Sie allein hat dazu die Macht! Aber wo soll ich Sie finden? Im Säuseln des ewig wehenden Nordwinds? Am Abendhimmel? Während dem Sundowner auf der Terrasse des Winter Palace? Sitzend im Sonnuntergang? Sie hat vergessen mir ihre Adresse zu geben! Falls ich mal schreibe! Postkarten oder so. Was für ein genialer, saublöder Witz!

Viel zu hastig trank Anna ihren Wein aus, meinte wie nebenbei:

„Ist Saras Bekannter eigentlich nochmal aufgetaucht? Wer war das überhaupt? Kanntest du ihn?“

„Nein! Hat wahrscheinlich nur Urlaub gemacht. Bestimmt irgendein Ex-Hippie aus ihrem früheren Leben, einer der Karriere gemacht hat, in Rente ging und die alten Liebschaften aufwärmen will. Kannst du mir mal sagen, was sie sich dabei dachte?“ Raphael schenkte sich einen letzten Schluck Wein aus.

„Sich diesen Lollipop da anzulachen? Ihn einzuladen? Nein. Ein Widerling. Dem möchte ich nicht nochmal begegnen.“

„Ich hatte den Eindruck, der wollte was von dir. Und er wußte, wer du bist. Ihr kanntet euch doch? Woher?“

„Er wohnte im Frühjahr im Winter Palace. Hat da gemeint, ich könnte ihm günstig Antiquitäten besorgen.“

„Ach die Sorte.“

„Das Gewitter ist endlich weitergezogen. Gehen wir schlafen?“

Raphael trank aus, zog ihr die Decke weg. „Jo!“

ANNAS HAUS

SONNTAG, 18. DEZEMBER

„Geht’s besser mit deinem Rücken?“

Raphael kam von draußen rein, wo er bestimmt über eine Stunde Schnee beiseite geschippt hatte und verschwand in der Küche.

„Ja! Die Wärmflasche hilft ein bißchen.“ Anna wandte den Blick von dem knisternden Kaminfeuer ab, starrte - immer noch über den mysteriösen Besucher bei Sara grübelnd und froh, wenn auch keineswegs beruhigt darüber, daß sie ihren Safe unangetastet fand - hinaus in den dunkel werdenden Dezemberhimmel, wurde das Gefühl von drohendem Unheil einfach nicht los.

„Bleib liegen, ich hab den Rest vom Eintopf auf den Herd gestellt. Ich bring alles hierher. Frau Becker meinte es gut, hm?“

„Schmeckt eben am besten beim dritten Aufwärmen!“, versuchte Anna ein Schmunzeln und schaute ihm nach, wie abermals in der Küche verschwand.

„So lang hält der nicht.“ Raphael – die Vorfreude auf einen leckeren Teller heiße Suppe stand ihm buchstäblich ins durchgefrorene Gesicht geschrieben – stellte die Teller hin, legte die Löffel dazu, setzte sich zu ihr auf die Couch.

„Was hältst du von einem richtig schönen, kitschigen Weihnachtsfest. Mit allem Drum und Dran?“, meinte er kurz darauf, füllte die Teller mit dem dampfenden, deftigen Eintopf.

Wie bitte? Anna griff nach dem Teller, dem Löffel, total perplex. Das hätte sie ihm nicht zugetraut. Was für ein sentimentaler süßer …

„Tut mir leid, Kerl! Ich feiere keine kirchlichen Feste!“, knallte sie ihm barsch vor den Latz.

„Ho, ho, nicht so aufbrausend, Schönheit! Ja, das erwähntest du mal. Trotzdem. Bei diesem schönen Winterwetter. Ein Tannenbaum mit Glocken und Lametta … Es schneit übrigens schon wieder. Hätt‘ mir die Schipperei sparen können.“ Als sei ihm der Appetit vergangen stocherte er auf einmal lustlos in seinen Teller rum.

„Ich glaub, ich hör‘ schlecht! In meinem Wohnzimmer? Lametta? Eine harzende Baumleiche? Auf meinem Parkett?“

„Ich mein ja nur …“, unvermittelt stellte er seinen Teller ab, rieb sich stöhnend mit schmerzverzerrtem Gesicht die Narbe am Hals. „Linsen …“

„Was ist denn?“

„Es waren verdorbene Linsen …“

„Hör auf!“

„Ich bin nicht aus deinem Leben verschwunden! Ich bin elendig verreckt!“

„Raphael, laß!“

„Ein Messer … aus Eisen … du hast mir nicht geholfen …“

„Ich habe dir mehr geholfen als du glaubst!“

„Lange Winterabende, Bent! Es sind lange Winterabende! Was war mit dem Messer?“

„Ich will mich nicht erinnern!“

„Aber ich! Ich will wissen, was damals passiert ist!“ Er starrte düster vor sich hin, in das knisternde Kaminfeuer. „Es ist wie ein schwarzes Loch in meiner Seele! Und ich weiß, daß da etwas geschehen ist! Da war ein Raum. In blutiges Rot getaucht. Ein kalter harter Sitz, eine Frau, nein. Eine Priesterin. Überall blutverschmiert, schreiend, klagend, betend … und das Messer … Und eine weitere Frau. Eine Heilerin? Sie reichte mir ihre Hand, riß mich aus dem Dunkel … ich fürchtete mich vor ihren blauen Augen …“

„Du lagst im Fieberwahn!“, giftete Anna.

„Nein!“

„Man stirbt nicht an verdorbener Linsensuppe!“

„An was denn?“

Anna knallte unwirsch ihren Teller auf den Tisch. „Was weiß denn ich!“

„… Augen so blaßblau wie deine, als Sara uns zum Kaffeeklatsch einlud …“

Anna starrte ihren Liebhaber an, als sei er nicht bei Sinnen.

„Meine Au… Was willst du hören?“

Das du fast gestorben bist? In meinen Armen? Du warst doch schon tot als Sie dich zurückholte … Denn Sie läßt dich sterben bevor sie dir ihre Gnade erweist! Sie allein ist die Geisterfürstin, Totengöttin, die Mutter aller Götter …

Dingdong

Anna zuckte schon wieder zusammen, anscheinend taugte ihr Nervenkostüm nicht mehr viel, war nicht mehr das Allerbeste. Es läutete Sturm.

Jetzt wurde an die Tür gehämmert.

„Ich geh schon! Bleib sitzen.“

Trotzdem schlug sie die Decke zur Seite, zerrte die heiße Wärmflasche aus ihrem Kreuz, schaute Raphael nach, der die Haustür öffnete. Wind fegte Schnee in die Diele, jemand Vermummtes kam herein, wirkte wie gehetzt, als wäre der Teufel hinter ihm her, drückte Raphael ein dickes Bündel in den Arm, „Halt mal, Nachtwächter!“, schob sich die Kapuze vom Kopf und eine dicke Reisetasche und ein großes Paket in den Flur.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“, schimpfte sie erbost, eilte trotz ihrer Rückenschmerzen in den Flur. „Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, Georgy?“

Er gab keine Antwort, nahm von draußen noch ein Paket in Empfang. Anna linste durch die Tür, bemerkte ein Taxi auf der Straße.

„Danke! Warten Sie auf mich. Es dauert nicht lang!“, brummte Georg dem Fahrer zu und schloß die Haustür hinter sich. Entgeistert zupfte Anna an der dicken Decke, die Georg eben Raphael in den Arm gedrückt hatte.

„Wann kommt die Polizei?“, bemerkte sie bissig.

„Sch, Anna! Mach ihn nicht wach!“, murmelte Raphael.

„Spinnst du!“, zischte sie Georg wütend zu. „Wie kannst du mit dem Kind hier aufkreuzen? Was hast du gemacht?“

Georg lehnte sich schnaufend an die Wand, zog den Zipper der dicken Daunenjacke auf, schaute Anna flehend ins Gesicht, wirkte so unwirklich wie ein Wesen von einem anderen Stern, „Ihr seid meine letzte Rettung“, keuchend, „Tizia ist tot!“

„Um Gottes willen!“, entfuhr es Anna. „Was hast du gemacht?“

„Nichts!“, brauste er auf und hielt anscheinend mühsam Tränen zurück. „Wollte schon früher kommen um mit euch in Ruhe zu reden, aber dieser verdammte Schneesturm hat meinen ganzen Zeitplan durcheinander gebracht. Wir waren verabredet. Tizia und ich, Montag letzte Woche. Wollten klären, wie wir den Umgang mit dem Kind halten wollen. Ich wartete auf sie im Café, sah sie an der Ampel stehen … den Kinderwagen neben sich. Diese Scheiß LKW’s! Er hat die Kurve nicht richtig gekriegt! Das Heck scherte ein bißchen aus. Touchierte sie … erwischte sie am Kopf … sie war sofort tot, wie mir später der Arzt berichtete … bekam nicht mal mehr mit, wie sie auf den Boden schlug. Und ich hab das verdammt nochmal mitansehen müssen!“

„Ich glaub, mir wird schlecht!“

„Wenn dem Kleinen was passiert wäre, Anna … das hätte ich nicht ausgehalten! Es stand mit dicken Lettern geschrieben in allen Schlagzeilen der Berliner Gazetten. Immobilienmogul verliert geliebte Freundin bei tragischem Unfall. Sie hinterläßt ein kleines Kind blabla …“

„Komm rein, Kumpel. Schick das Taxi weg.“

„Nein! Ich hab keine Zeit.“

„Wie keine Zeit? Georg, was wird das hier?“

„Ich muß nach Frankfurt, meinen Flieger erwischen.“

„Was machst du denn dort?“

„Ich muß in Frankfurt meinen Flieger nach Chicago erwischen.“

„Drehst du jetzt ganz am Rad? Hast du sonst keine Sorgen?“

„Das ist schon lange geplant. Herrgott nochmal, ich kann das nicht absagen oder irgendeinen lauen Ersatz hinschicken! Ich bin als Hauptredner bei einem Congress of Real Estate and Investment eingeplant, treffe mich mit führenden…“

„Spinnst du?“

„Und ich will, nein, muß mir mit eigenen Augen ein Bild von der US-Immobilienkrise machen … ich werde mir diese einmalige Chance nicht entgehen lassen, Anna! Das ist verdammt wichtig für unsere Branche, wenn diese Immobilienblase platzt hat es weltweite Auswirkungen!“

„Dann nimm ihn mit! Oder noch besser, bring ihn zu seinen Großeltern! Was soll ich mit dem Kind hier?“

„Ich kann doch das Kind nicht mit in die USA nehmen! Wer soll sich denn dort um ihn kümmern? Und er hat sonst niemanden … Scheiße! Verdammt! Nur mich! Und ich habe keine Zeit! Weder jetzt noch überhaupt!“

„u-äh“

„Ruhe!“, zischte Raphael.

Georg drückte Anna einen Umschlag in die Hand, öffnete die Haustür.

„Kauft was er benötigt, und ich muß wirklich! Nach den Weihnachtstagen bin ich wieder da! Ich melde mich, wenn ich angekommen bin. Und keine Angst: der ist sowas von pflegeleicht!“ Schon war er die Treppe hinunter, öffnete die Tür vom Taxi.

„Ey, Großmaul!“, rief Raphael ihm durch das Schneegestöber hinterher.

„Was?“

„Wie heißt der Setzling?“

„Leon!“

Anna schloß entgeistert die Haustür, musterte die Pakete, starrte Raphael perplex, geradezu sprachlos ins Gesicht.

„Dein Schorsch als Klapperstorch! Das ging ja mal flott!“, flachste er. „N fix und fertig gebratenes! Ich leg ihn mal auf die Couch, wenn’s der frischgebackenen Mutti recht ist.“

„Ich geb dir gleich Mutti!“

„Und ihn auspacken, sonst kocht er noch in den warmen Sachen. Guck mal in der Tasche nach und was in den Paketen ist.“

„Ein Reisebettchen und ein Hochstuhl“, meinte Anna kurz darauf. „Krachneu. Das muß er eben erst gekauft haben. In der Tasche sind seine Sächelchen, Spielzeug, Fläschchen, Töpfchen, Windeln und das dazugehörige Gedöns, in einer Vakuumtüte seine Bettsachen, und ein Babyphone.“

„Wickel das kalte Bettzeug mal um deine Wärmflasche und bring mir einen Imbusschlüssel.“

„Was?“

„Sag mir wo du dein Werkzeug aufbewahrst, ich hol‘s mir selbst.“

„Woher weißt du, was für einen Schlüssel du brauchst?“

„Ist ne schwedische Marke, da geht nur Imbus“, spaßte er. „Der ist zum fressen niedlich, guck mal.“

„Das hat Mutter Natur mit Absicht gemacht! Das du schön drauf reinfällst!“, giftete Anna und öffnete das Kuvert. „Auf all die kleinen Monster mit den Kulleraugen und niedlichen Näschen.“

„Sauer? Doch nicht auf dieses arme Würmchen?“

„Stinksauer!“ Sie zog erbost zwei Fünfhunderter Noten aus dem Umschlag, „Für den Kronprinz ist ihm nichts zu teuer!“, lästernd.

„Ein Spiegel, Anna“, grollte Raphael gefährlich, „für ein paar Kröten! Ein kleiner, blöder billiger Zusatzspiegel für den toten Winkel und das Kind hätte noch seine Mutter!“

Sie setzte sich innerlich zitternd und bebend, von den Ereignissen der letzten Minuten vollkommen überfahren auf die Couch, betrachtete das schlafende Kind, zupfte die Decke zurecht, nahm ihm die Plastikkette mit dem Schnuller ab, schaute Raphael zu wie er geschickt das Bettchen zusammenbaute.

„Er ist wirklich süß“, meinte sie dann zaghaft, legte Mützchen, Jäckchen und Handschuhchen zusammen. „Sieht aus wie sein Papa.“

„Naja, man kann nicht alles im Leben haben. Entweder Geld oder Schönheit.“

„Du Spinner!“, gelang ihr nach außen ein Lächeln; tief drinnen in ihr tobte ein Sturm. Ein gewaltiger Sturm. Da war es, das drohende Unheil! Das da stellte ihr ganzes zukünftiges Leben gründlich auf den Kopf!

„Dann mal hopp. Ins Gästezimmer mit ihm. Du nimmst den Setzling, ich das Bett.“

„Nein!“ Es hörte sich fast wie ein panischer Schrei an.

„Alles gut?“

„Ich nehm das Bett. Wegen meinem Kreuz …“

„Ok.“

Als sie erwachte war er längst weg, der Platz an ihrer Seite erkaltet. Noch müde schlich Anna in aller Herrgottsfrühe barfuß durchs Treppenhaus, hörte Raphael in der Küche rumoren. „Sie wird gleich da sein“, hörte sie ihn sagen. „Und wehe, sie bekommt ihren Espresso nicht sofort! Dann ist der Teufel los, glaub mir!“

Sie schlich an der angelehnten Küchentür vorbei ins Eßzimmer, setzte sich auf einen Stuhl, linste von dort neugierig in die Küche. Besuch so früh am Morgen? Raphael, barfuß, in hellgrauen Sporthosen und dunkelblauem T-Shirt, schälte einen Apfel, schnitt schmale Scheibchen ab, redete mit jemandem, der anscheinend am Küchentisch saß. Anna beugte sich vor und … nicht wirklich!

Da saß der Zwerg in seinem nigelnagelneuen schwedischen Kindersitz und schaute Raphael fröhlich quietschend interessiert zu, in der Hand einen großen Holzrührlöffel.

„Und wenn ich sie morgens so sehe … echt, sie ist das süßeste Mädchen daß mir je begegnet ist. Mit ihrem strubbeligen Haar, unausgeschlafen, morgenmuffelig … hier, probier das mal, das ist lecker … im Schlafanzug oder diesem knuffligen langen T-Shirt …“

„ga“

„Ich sag doch, Apfel ist lecker! Ehrlich Krümel, diese Frau ist einfach ne Wucht. Gib mal den Löffel, Kumpel, den brauch ich jetzt für die Eier. Da! Nimm ein Stück von dem Knäckebrot.“

„a-ga“

„Außerdem sollte ich mal die Schweinerei mit den Eier- und Apfelschalen entsorgen, was meinste?“

„da da“

„Eben. Sonst wird sie wirklich sauer. Ich sag dir Kumpel, wenn du sie siehst, bist du hin und weg! Du wirst sie lieben, dich für alle Zeiten unsterblich in sie verlieben!“

„ja-i ja-i ja-i bfff“

Anna mußte schmunzeln. Männergespräch. Aber das geht doch wohl zu weit? Raphael schüttete das ohne Fett gebackene Rührei in eine neue, kalte Pfanne, pustete, wartete bis es abgekühlt war, stellte es auf das Tischchen des Hochstuhls, zog einen Stuhl bei, setzte sich dem Kind gegenüber.

„Vergiß deine Gläschen, Krümel, vergiß den Brei! Wir zwei machen jetzt ein richtiges Männerfrühstück, was? Mit ordentlich Wumms drin, damit du groß und stark wirst, nicht so wie dein Paps. Da brauchen wir keine Löffelchen, lang zu, so lange es noch warm ist.“

„ei jei jei“

„Bioeier! Von glücklichen Hühnern!“

„ma ma“

„Sorry Kumpel, aber Mama ist nicht da, mußt mit mir vorlieb nehmen!“

Anna schossen heiße Tränen in die Augen. Was mußte Georg da nicht durchgestanden haben? Seine so perfekt geplante Welt von ein auf die andere Sekunde ins Chaos gestürzt und auf den Kopf gestellt. Diese Aufregung! RTW, Notarzt, Polizei, Martinshorn, gaffende Idioten, das schreiende Kind im Kinderwagen, seine tote Geliebte … wenn sie auch getrennt waren, so eiskalt war Georg nicht, daß er nichts mehr für sie empfunden hätte. Und sie so da liegen sehen … eine junge Frau, sinnlos mitten aus dem Leben gerissen … die Mutter seines Kindes … das arme Kind … gottseidank verstand er es nicht … was wird nun aus ihm? Was zum Geier wird mit dem Kind? Wie soll es denn jetzt weitergehen? Georg kennt nur seinen Beruf … Es muß doch Verwandte geben, irgendwen? Tante, Onkel, Geschwister? Letizia kann doch nicht alleine im Leben gestanden haben? Oder? Jeder hat doch irgendwo Familie!

Ich nicht!

Jugendamt? Pflegeeltern? Kinderheim?

Was für blöde Gedanken!

Georg mit dem Kind zusammen im Büro, auf Baustellen oder einem Maklertreffen, Kundentreffen? Mit dem Lätzchen über der Schulter des Armani-Anzugs! Was für eine göttliche Vorstellung!

Ein noch blöderer Gedanke!

Und trotzdem! Millionen berufstätiger Mütter in der ganzen Welt sind alleinerziehend und schaffen das! Da wird Georg doch klar kommen! Mit seiner Zielstrebigkeit, alles getaktet, der muß sich doch Gedanken über die Zukunft seines Prinzen gemacht haben?

Nein!

Ein Kindermädchen!

Ja, das ginge!

Wie oft im Jahr ist er weg? Zusammengerechnet annähernd drei Monate, wenn nicht noch mehr … das Kind völlig alleingelassen in den Händen einer fremden Person?

Idiotisch!

Das ist sein Sohn! Sein Kronprinz! Alles, was er sich im Leben wünschte!

Niemals gibt er das Kind in fremde Hände!

Wie soll das denn gehen?

Wer soll sich da kümmern?

Anna und Raphael?

Ha! Saublöd! Wirklich!

Der dümmste Gedanke überhaupt!

Ich kann ihn doch nicht hängen lassen!

… Was willst du dann? So eine anscheinend neuerdings überall moderne Patchwork-Scheiße? …

Aber doch nicht so!

Als hätte ich es geahnt

… Bist eine starke Frau, meine Heldin, mutig und draufgängerisch. Ich war und bin immer stolz auf dich. Läßt dir nichts gefallen, läßt dich nicht unterkriegen. Und falls doch mal was wäre: ich bin immer für dich da! …

Sollte das nicht auch umgekehrt gelten?

Ach was! Er sollte einfach kürzer treten! Wurde dieses Jahr fünfzig! Ein alter Sack! Ständig im Streß. Da wird der Herzinfarkt nicht mehr lange auf sich warten lassen! Wenn er so weiter macht, trifft ihn noch der Schlag! Und dieser neue Furz von ihm, in Luxor eine Ferienwohnanlage zu bauen … der spinnt doch! Als hätten wir nicht genug mit den vorhandenen Immobilien …

Es ist sein Leben …

Alles was er hat! Alles was er kann!

Er wird niemals kürzer treten!

Anna schaute dem Kind zu, wie es selig mit den kleinen Händchen in die Pfanne patschte und sich überglücklich von dem Ei in die süße kleine Schnute schob. Was war das ein süßer Schatz!

Georgs Kind!

Und ich?

Anna blieb der Atem stehen, das Herz stockte. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen runter. Ein kalter Winter vor genau dreißig Jahren … draußen alles weiß, drinnen, im Herzen, alles tot …

Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz … Das Märchen war damals schon vorbei! Habe ich damals nicht geschworen?

Nie wieder weiß!

Nie wieder Weihnachten!

Nie wieder Kälte!

Anna ballte die Hände zu Fäusten, spürte nicht den Schmerz der langen Fingernägel die sich in ihre Handflächen bohrten.

Ich kann Georg nicht im Stich lassen! Er hat mich auch nie im Stich gelassen!

Sie betrachtete weiter das süße Kind, betrachtete Raphael, der sich liebevoll kümmerte.

Leon

Ein kleiner Löwe

Du wirst das Herz eines Löwen brauchen, Kleiner.

Das wird nicht einfach werden!

Ich will es versuchen!

Ich bin Anna und ich stehe das durch!

Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben!

Anna stand auf, ging leise zurück in den Flur, wuschelte sich durchs Haar, öffnete die Küchentür, gähnte herzhaft. „Moin“, nölte sie, durch die Küche schlurfend. „Ich brauch erst mal meinen Espresso! Oh wie siehts’n hier aus! Ihr Ferkel! Ich komm wieder, wenn Ordnung ist!“

„Das geht so nicht“, meinte Raphael später und schüttelte im Schlafzimmer seine Decke auf. „Dieses klapprige Bettchen hoch und runterschleppen, damit man mal fünf Minuten nicht auf ihn aufpassen muß. Was ist?“

„Mein Rücken!“, jammerte Anna und setzte sich auf ihr ungemachtes Bett.

„Ist das immer noch nicht besser?“

„Nein.“

„Was hast du bloß gemacht?“

„Nichts!“, fuhr sie hoch, schüttelte das Kissen. „Ich bin lediglich aus diesem blöden Loch gestiegen! Wie ich diese Ausgrabungsstätte hasse! Saß gefühlt stundenlang dort unten und schabte Schicht für Schicht Geröll und Sand beiseite. Für was? Nichts! Ein paar Ostraka, ein paar Scherben.“ Sie zog die Decke gerade und verließ jammernd das Schlafzimmer.

„Bleib mal stehen“, meinte er als sie am Fuß der Treppe angekommen war. „Du hast da was im Haar, halt still.“ Er stand auf der untersten Stufe, strich ihr sanft durch das Haar, „Ein Federchen“, schnurrend, küßte ihr den Nacken, umfaßte sie sanft von hinten, packte richtig fest zu, hob sie unverhofft hoch.

Knirsch knack krach

„A…“, er ließ sie los, „ua!“

„Besser?“

„Spinnst du? Äh … ja.“

„Na komm, umarm mich mal.“ Er bückte sich zu ihr runter. „Gib mir zum Dank 'n Kuß, Lady.“

Sie legte ihm die Arme um den Hals und schon hob er sie wieder hoch.

Knirsch knack krach

„Jetzt langts aber!“, schimpfte sie.

„Du warst ausgerenkt!“

„Bist du Orthopäde?“

„Alter Trick vom Knochendoc. Wenn’s jetzt besser ist, fahr ich mal in die Stadt. Muß was erledigen. Kommst du klar mit dem Zwerglein? Bück dich mal, dreh dich mal, aber zart.“

„Es ist wirklich besser. Sag mal, was kannst du eigentlich nicht?“

„Polka tanzen“, meinte er lachend und griff nach seinem Handy um ein Taxi zu rufen. „Wenn ich zurück bin“, meinte er als er das Freizeichen hörte, „dann geh ich einen Schneemann bauen!“

Anna hörte das Garagentor hochfahren, einen Motor dröhnen! Sie schaute zu dem Kind hin, das am Boden auf der Decke aus Pelz saß, mit seinem Spielzeug ernsthafte Gespräche führte. Huschte dann in den Flur, schloß die Tür in der Diele auf, blickte fassungslos in die Garage. Raphael, gut verpackt in eine krachneue warme Jacke und ebenso neuen Stiefeln, stieg aus einem dicken Land Rover, zerrte vom Beifahrersitz einen hölzernen Schlitten mit Rückenlehne und die Tüte eines Bekleidungsgeschäftes, vollgestopft mit Pullovern, Handschuhen, Bommelmütze und Schal.

„Ok“, meinte sie bissig und bemerkte mißmutig den festgezurrten Tannenbaum auf dem Dach. „Hast du im Lotto gewonnen?“

„Ich brauchte ein paar warme Sachen!“

„Das meine ich nicht!“

„Ist nur ein Leihwagen. Über die Feiertage.“

„Ach nee!“

„Wenn das Kind krank würde und wir wegen der Feiertage kein Taxi bekämen, wegen dem Wetter ein Krankenwagen zu spät käme … Deshalb brauch ich das Auto, Anna. Ich will mir nicht nachsagen lassen, ich hätte auf die kostbare Frucht seiner Lenden nicht genügend aufgepaßt! Der Kindersitz ist geliehen, prima Service vom Autohaus.“ Er öffnete die Heckklappe, wuchtete ein Paket heraus.

„Und das?“

„Knastställchen“, flachste er. „Da kommt er hinter schwedische Gardinen, damit wir unsere Ruhe vor ihm haben.“

„Das wird auch bitter nötig sein!“, kreischte Anna und verschwand eilends im Wohnzimmer. Der Setzling hatte rutschend und krabbelnd die kalte Asche im Kamin entdeckt und sah aus wie ein zu kurz geratener, furchtbar glücklicher kleiner Schornsteinfeger am Ende einer langen Schicht.

„Ich kann das nicht, Raphael! Ich habe keine Ahnung von kleinen Kindern und schon gar nicht die Nerven dazu!“, echauffierte sie sich, kramte Handtücher aus dem Schrank.

„Ach, na komm. Das ist doch kein Drama!“

Sie schaute zu ihm hin, wie er mit dem fröhlich planschenden Kleinen in der Badewanne saß, aufpaßte, daß er nicht noch absoff. Wie wenn er mit Navajo schmuste! So zärtlich und fürsorglich!

Das Bild einer anderen Katze schlich sich in Annas Gedanken, einer hellen, sandfarbenen Katze; liebevoll hochgehoben um sie ordentlich zu knuddeln … und das Bild eines Hündchens, eines kleinen schwarzen tapsigen Welpen … Sie zwinkerte, rieb sich über die Augen.

„Alles ist mit Ruß verschmiert! Brauchst bloß den schwarzen Tapsen zu folgen! Auf der weißen Couch, dem hellen Teppich! Toll!“

„Das kann man alles abwaschen!“

„Ich kann das nicht! Was, wenn wir was falsch machen?“

„Solange wir oben genügend reinstopfen, gucken daß am anderen Ende alles sauber ist, er nicht nochmal auf Entdeckertour geht, kriegen wir das hin!“

„Georg hat mich damit komplett überrollt und ich hasse es, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden! Wie kannst du nur so gelassen bleiben?“, schimpfte sie. „Dieser Wicht geht dich doch überhaupt nichts an! Und trotzdem benimmst du dich als … wie … wenn … Als sei der Kleine ein Spielzeug! Und du der kleine Junge!“

„Ich weiß wie sich das anfühlt, Anna! Wenn ein Elternteil einfach verschwindet …“

„Was? Ich ruf Georg an! Gleich wenn wir hier fertig sind! Was bildet der sich ein! Der soll gefälligst herkommen und das Kind dieser Frau an sich nehmen! Wer bin ich denn? Seine Putzfrau? Sein Mädchen für alles? Was denkt der sich überhaupt!“

„baupt dada“

„Genau!“

„nana“

„Jo, Anna ist mies drauf, Kumpel!“

„Du spinnst doch!“, blaffte sie.

„He! Ist jetzt gut!“

„u-äh“

„Das hast du nun davon!“

„Ach, ihr könnt mich! Alle beide!“ Die Tür knallend verließ sie das Badezimmer, verschwand in der Küche, im Putzschrank nach Eimer, Schrubber und Lappen suchend, machte sich daran die Schweinerei im Wohnzimmer wegzuwischen.

ANNAS HAUS

DIENSTAG, 20. DEZEMBER

Sie schaute Raphael zu, wie er den juchzenden Kleinen, zusätzlich gut in die Pelzdecke verpackt, auf dem Schlitten durch den Garten zog. Und kurz darauf baute er auf der Terrasse den größten und dicksten Schneemann, den sie je gesehen hatte. Gerade klopfte er sich halbherzig die Stiefel ab, betrat das Wohnzimmer.

„Ey!“, maulte sie. Er blieb stehen wo er war, mit schuldbewußter Miene.

„Ein Möhrchen, Anna! Bitte! Die dickste und längste Karotte aus deinem Kühlschrank. Wärst du so lieb?“

„Das Kind wird noch erfrieren!“ Sie drückte ihm die Karotte in die Hand, bemerkte mißmutig die kleine Pfütze auf dem Parkett.

„Ach was! Es geht kein Wind und die Sonne scheint!“