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»Eine erschütternde, absolut fesselnde Saga.«
The New York Times
Eines Nachts im Dezember 1972 wird Jean McConville aus ihrem Haus in Belfast entführt. Sie wird nie wieder lebend gesehen. Ausgehend von diesem Moment entfaltet Patrick Radden Keefe eine gewaltige Erzählung über die blutige Vergangenheit des Nordirlandkonflikts.
Sage nichts verwebt die Geschichte von Jean McConville mit der von Dolours Price, die als 22-Jährige das Old Bailey bombardierte, und mit der von Brendan Hughes, einem furchterregenden Kommandeur, der den Schweigekodex der IRA brach. Dabei fängt Patrick Radden Keefe die Intrigen, die Dramatik und den hohen menschlichen Preis der sogenannten »Troubles« ein – und erzählt, wie Gesellschaften nach einem langen und blutigen Konflikt wieder zusammenwachsen können.
»Nordirland und seine Vergangenheit haben mich nie interessiert – bis ich dieses Buch in die Hand genommen habe.«
The Times
»Unbedingt lesen!« Gillian Flynn, Autorin von »Gone Girl«
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Seitenzahl: 733
»Eine erschütternde, absolut fesselnde Saga.«The New York TimesEines Nachts im Dezember 1972 wird Jean McConville aus ihrem Haus in Belfast entführt. Sie wird nie wieder lebend gesehen. Ausgehend von diesem Moment entfaltet Patrick Radden Keefe eine gewaltige Erzählung über die blutige Vergangenheit des Nordirlandkonflikts.Sage nichts verwebt die Geschichte von Jean McConville mit der von Dolours Price, die als 22-Jährige das Old Bailey bombardierte, und mit der von Brendan Hughes, einem furchterregenden Kommandeur, der den Schweigekodex der IRA brach. Dabei fängt Patrick Radden Keefe die Intrigen, die Dramatik und den hohen menschlichen Preis der sogenannten »Troubles« ein — und erzählt, wie Gesellschaften nach einem langen und blutigen Konflikt wieder zusammenwachsen können.»Nordirland und seine Vergangenheit haben mich nie interessiert — bis ich dieses Buch in die Hand genommen habe.«The Times»Unbedingt lesen!« Gillian Flynn, Autorin von »Gone Girl«
Patrick Radden Keefe
Sage nichts
Mord und Verrat in Nordirland
Aus dem Englischen von Pieke Biermann
hanserblau
Für Lucian und Felix
Alle Kriege werden zweimal geführt, das erste Mal auf dem Schlachtfeld, das zweite Mal in der Erinnerung.
Viet Thanh Nguyen
Die Schatzkammer
Juli 2013
Die John J. Burns Library ist in einem großen Neogotikgebäude auf dem grünen Campus des Boston College untergebracht. Es ähnelt einer Kirche mit seinen steinernen Ecktürmchen und Buntglasfenstern. Das College war 1863 von Jesuiten gegründet worden, als höhere Bildungsstätte für die Kinder armer Einwanderer, die vor der großen Hungersnot infolge der Kartoffelfäule aus Irland geflohen waren.1 Es wuchs und gedieh im folgenden Jahrhundert und hielt trotzdem enge Verbindungen zur alten Heimat. Heute besitzt die Bibliothek die umfangreichste Sammlung zur irischen Politik und Kultur in den USA — zweihundertfünfzigtausend Bücher und gut sechzehn Millionen Manuskripte. Vor einigen Jahren landete ein Bibliothekar im Gefängnis: Er war beim Versuch erwischt worden, ein Traktat von Thomas von Aquin aus dem Jahr 1480 an Sotheby’s zu verkaufen.2 Dass die Bibliothek wertvolle Antiquitäten erwarb, war überall bekannt. Einmal musste ein Direktor sogar das FBI einschalten, weil ihm ein irischer Grabräuber geplünderte Grabsteine mit alten lateinischen Kreuzen und verflochtenen Ringen und Buchstaben verkaufen wollte.3
Die kostbarsten Raritäten werden in einer eigenen Abteilung verwahrt, in der sogenannten Schatzkammer. Sie ist ein präzis temperierter, gesicherter Raum mit einem hochmodernen Brandschutzsystem.4 Er ist videoüberwacht und nur mit einem Code und einem Spezialschlüssel zugänglich. Der Schlüssel muss jedes Mal an- und abgemeldet werden. Die Erlaubnis dazu haben nur einige wenige handverlesene Leute.
Eines Sommertags 2013 besuchten zwei Detectives die Bibliothek.5 Sie gehörten nicht zur Bostoner Kriminalpolizei, sondern zur Abteilung für Schwerverbrechen des Police Service of Northern Ireland (PSNI) und waren eigens aus Belfast eingeflogen. Sie nahmen den Weg unter den Buntglasfenstern entlang zur Schatzkammer.
Die Detectives sollten geheime Unterlagen persönlich abholen: Minidisks mit Audioaufnahmen und eine ganze Reihe von Transkripten, die seit fast zehn Jahren in der Schatzkammer lagerten.6 Natürlich hätte man sie per Post nach Belfast schicken und den Detectives die Reise ersparen können. Aber das Material enthielten sensible und gefährliche Geheimnisse, und die Detectives gingen äußerst behutsam damit um. Denn jetzt handelte es sich um amtliche Beweisstücke in einem Strafverfahren. Die Detectives ermittelten in einem Mordfall.
Das Klare, Reine, Lautere
Jean McConville war achtunddreißig Jahre alt, als sie verschwand.1 Die Hälfte dieser Jahre war sie entweder schwanger oder hatte gerade eine Entbindung hinter sich. Vier der vierzehn Kinder, die sie austrug, hatte sie verloren, die zehn überlebenden zog sie groß. Anne, die Älteste, war inzwischen zwanzig, die jüngsten, die Zwillinge Billy und Jim mit den goldigen Augen, waren sechs.2 Zehn Kinder zu bekommen und auch zu versorgen, das klingt nach beinahe heldenhaftem Durchhaltevermögen, aber wir sind im Belfast des Jahres 1972. Hier sind große, schwer zu bändigende Familien die Norm. Jean McConville wollte keine Pokale gewinnen. Sie bekam auch keine.
Im Gegenteil, ihr Leben wurde noch schwerer, als ihr Mann Arthur starb. Er war lange schwer krank gewesen, und jetzt war er plötzlich weg, und sie stand allein da, ohne eigene Erwerbsarbeit, mit einer mageren Witwenrente und zehn Kindern, die versorgt werden mussten. Eine zermürbende Zwangslage, und sie gab sich alle Mühe, die emotionale Balance zu halten. Sie war die meiste Zeit zu Hause, überließ die jüngeren Kinder den älteren und rauchte eine Zigarette nach der anderen, um das Gefühl des Taumelns zu beschwichtigen. Aber irgendwie arrangierte sie sich mit all dem Unglück, sie schaffte sogar, Zukunftspläne zu schmieden. Und dann begann die wirkliche Tragödie der Familie McConville.
Sie waren erst vor Kurzem aus der Wohnung, in der Arthur seine letzten Tage verbracht hatte, umgezogen in eine etwas größere in den Divis Flats, einem gigantischen Sozialbaukomplex mit klammen Wohnungen in West Belfast. Es war ein kalter Dezembertag, schon spätnachmittags versank die ganze Stadt im Dunkeln. In der neuen Wohnung war der Herd noch nicht angeschlossen, deshalb schickte Jean die fünfzehnjährige Helen zu einem Imbiss in der Nachbarschaft, Fish & Chips zu holen.3 Sie ließ sich ein heißes Bad ein, während die Kinder auf Helen warteten. Manchmal ist ein Badezimmer mit einer verschließbaren Tür der einzige Ort, an dem man einen Augenblick für sich hat. Jean war klein und blass, sie hatte feine Gesichtszüge und nach hinten gekämmte dunkle Haare. Sie glitt ins Wasser und blieb eine Weile so liegen. Gerade als sie, rot am ganzen Körper, wieder aus der Wanne stieg, klopfte es an der Tür.4 Es war etwa 19 Uhr. Die Kinder dachten, das ist bestimmt Helen mit dem Abendessen.5
Aber kaum hatten sie aufgemacht, stürmte eine ganze Gang herein. Es kam so plötzlich, dass die Kinder nicht hätten sagen können, wie viele Leute es waren — ungefähr acht, vielleicht aber auch zehn oder zwölf.6 Männer und Frauen. Ein paar hatten Sturmhauben auf, andere Nylonstrümpfe über dem Kopf und maskenhaft verzerrte, gespenstische Gesichtszüge. Mindestens einer hatte eine Pistole.7
Als Jean sich hastig anzog und umringt von den verängstigten Kindern dazukam, herrschte einer der Männer sie an: »Mantel anziehen.« Sie zitterte am ganzen Körper, als die Eindringlinge versuchten, sie aus der Wohnung zu zerren. »Was ist denn los?«, fragte sie.8 Sie wurde immer panischer, und dann drehten die Kinder völlig durch.9 Der elfjährige Michael griff nach seiner Mutter. Billy und Jim klammerten sich schluchzend an ihr fest. Die Gangleute erzählten zur Beruhigung, sie würden Jean zurückbringen — sie müssten mal mit ihr reden, sie wäre nur ein paar Stunden weg.10
Der sechzehnjährige Archie, das älteste noch zu Hause wohnende Kind, fragte, ob er mitgehen dürfe, egal wohin seine Mutter sollte, und die Gang war einverstanden. Während Jean McConville ihren Tweedmantel anzog und ein Kopftuch umband, scheuchten die Eindringlinge die jüngeren Kinder in ein Schlafzimmer, redeten auf sie ein, logen ihnen unverfroren ins Gesicht. Und sie nannten sie bei ihren Namen. Ein paar der Männer waren nicht maskiert, und Michael McConville stellte entsetzt fest, dass die Leute, die seine Mutter mitnahmen, gar keine Fremden waren. Es waren Nachbarn.11
Die Divis Flats waren ein Albtraum wie aus einem Bild von M. C. Escher, ein Betonverhau aus Treppenhäusern, Durchgängen und überbelegten Wohnungen. Weil die Fahrstühle ständig außer Betrieb waren, wurde Jean McConville in einer wüsten Drängelei erst einen Laubengang entlang- und dann ein paar Treppen hinuntergetrieben. Normalerweise waren hier selbst abends im Winter immer viele Leute — Kinder spielten Fußball auf den Gängen, Arbeiter kamen von der Arbeit nach Hause. Archie fiel auf, dass der Komplex jetzt gespenstisch leer war, fast als wäre die ganze Gegend geräumt worden. Da war niemand, den man herbeiwinken, kein Nachbar, der Alarm schlagen konnte.12
Er schlich dicht neben seiner Mutter her, und sie klammerte sich an ihn, wollte ihn nicht loslassen.13 Unten an der Treppe warteten noch mehr Leute, bestimmt zwanzig, lässig gekleidet, maskiert mit Sturmhauben. Einige hatten Pistolen. Am Bordstein stand ein blauer VW-Bus. Dann drehte sich einer der Männer zu Archie. Eine Pistole schimmerte in der Dunkelheit. Der Mann presste ihm den Lauf auf die Wange und zischte ihn an: »Verpiss dich.«14 Archie erstarrte. Das kalte Metall drückte auf der Haut. Er wollte unbedingt seine Mutter beschützen, aber wie bloß? Er war ein einzelner Junge, sie waren viele und außerdem bewaffnet. Widerstrebend drehte er sich um und ging die Treppe hinauf.15
Auf der zweiten Ebene hatte die Außenmauer des Gangs senkrechte Durchbrüche, die Kinder nannten sie »Taubenlöcher«. Durch sie musste Archie mit ansehen, wie seine Mutter in den VW-Bus gezwängt wurde und der Bus aus den Divis Flats fuhr und verschwand. Erst später begriff er, dass er gar nicht auf seine Mutter aufpassen sollte — die Gang hatte ihn bloß benutzt, um sie aus der Wohnung zu locken. Er stand in der schrecklichen, eisigen Stille und versuchte zu begreifen, was gerade passiert war und was er jetzt tun sollte. Dann ging er zurück in die Wohnung. Das Letzte, was seine Mutter zu ihm gesagt hatte, war: »Pass auf die Kinder auf, bis ich wieder da bin.«16
Schon als kleines Mädchen hatte Dolours Price irische Märtyrer zu ihren Lieblingsheiligen erkoren. Eine sehr katholische Tante väterlicherseits sagte oft: »Für Gott und Irland.«1 Im Rest der Familie stand Irland an erster Stelle. Dolours wuchs in den 1950er-Jahren in West Belfast auf, sie ging jeden Tag in die Kirche, ihre Eltern aber nicht, wie ihr irgendwann auffiel. Mit ungefähr vierzehn erklärte sie: »Ich gehe nicht mehr zur Messe.«2
»Das musst du«, sagte ihre Mutter Chrissie.
»Muss ich gar nicht, und tu ich auch nicht mehr«, antwortete Dolours.
»Das musst du«, sagte Chrissie noch einmal.
»Hör mal«, sagte Dolours, »ich kann auch einfach losgehen und mich eine halbe Stunde an die Ecke stellen und hinterher sagen, ich wär zur Messe gewesen. War ich aber gar nicht.«
Sie hatte schon als Kind ihren eigenen Kopf, für sie war der Fall damit erledigt. Familie Price bewohnte eine kleine Doppelhaushälfte in Andersonstown, im aufgeräumten, leicht abschüssigen Slievegallion Drive.3 Vater Albert war Polsterer, die Sessel im vollgestopften vorderen Zimmer hatte er selbst gebaut.4 Auf dem Kaminsims, den andere Menschen mit Fotos von glücklichen Familienferien schmückten, prangten bei den Prices Schnappschüsse aus Gefängnissen.5 Albert und Chrissie waren glühende Verfechter der irisch-republikanischen Sache, also zutiefst überzeugt, dass die Briten seit Jahrhunderten als Besatzungsmacht auf der Insel waren und Iren die Pflicht hatten, sie mit allen erforderlichen Mitteln zu vertreiben.
Als kleines Mädchen saß Dolours oft auf Alberts Schoß und lauschte seinen Geschichten — wie er in den 1930er-Jahren als Junge in die Irisch-Republikanische Armee eingetreten und als Teenager nach England gefahren war und einen Bombenanschlag verübt hatte.6 Seine Schuhe hatten Pappeinlagen, weil er sich nicht leisten konnte, die Sohlen flicken zu lassen, aber er hatte das mächtige britische Empire herausgefordert.7
Albert war ein kleiner Mann mit Nickelbrille und tabakvergilbten Fingern und erzählte Geschichten voller Gewalt von längst toten, aber sagenhaft heldenmütigen Patrioten.8 Dolours hatte zwei ältere Geschwister, Damian und Clare, aber am vertrautesten war sie mit ihrer kleinen Schwester Marian. Albert beglückte die beiden vor dem Schlafengehen gern mit der Geschichte, wie er mal mit zwanzig anderen Insassen aus dem Knast in Derry abgehauen war: Sie hatten einen Tunnel gegraben, der direkt nach draußen führte, und ein anderer Insasse hatte Dudelsack gespielt, um die Fluchtgeräusche zu übertönen.910
In verschwörerischem Ton brachte er den Kindern sogar bei, wie man sicher Sprengstoff herstellt: Die Schale und das Werkzeug müssen aus Holz sein, auf keinen Fall aus Metall! »Ein Funke, und du bist hin.«11 Er schwelgte gern in Erinnerungen an geliebte Genossen, die von den Briten gehängt worden waren, und Dolours wuchs mit der Vorstellung auf, dass alle Kinder Eltern mit gehängten Freunden hatten und das das Natürlichste auf der Welt war.12 Die Geschichten des Vaters waren so erregend, dass sie manchmal beim Zuhören bebte und Gänsehaut am ganzen Körper hatte.13
Praktisch alle in der Familie hatten im Gefängnis gesessen. Chrissies Mutter, Granny Dolan, war Mitglied im Cumann na mBan gewesen, dem Frauenrat der IRA, und hatte drei Monate Knast in Armagh bekommen, weil sie versucht hatte, einen Polizisten der Royal Ulster Constabulary (RUC) um seine Dienstwaffe zu erleichtern.14 Auch Chrissie war beim Cumann, und sie und drei ihrer Schwestern hatten in Armagh gesessen, wegen eines »verbotenen Abzeichens« — sie hatten sich kleine orange-weiß-grüne Papierblumen angesteckt, die sogenannten »Osterlilien«.15
Bei Familie Price — wie in Nordirland allgemein — sprach man von längst vergangenen Schicksalsschlägen gern so, als wären sie erst letzte Woche passiert. Infolgedessen war es nicht ganz leicht festzulegen, wann der uralte Zwist zwischen Britannien und Irland eigentlich begonnen hatte. Ein Irland davor — also vor »der Sache«, wie die Prices schlicht sagten — war eigentlich kaum vorstellbar. Egal, wo eine Erzählung losging, »die Sache« war immer schon da. Sie lag schon vor der Einteilung in protestantisch und katholisch, denn sie war älter als die protestantische Kirche. Man konnte fast tausend Jahre zurückgehen, bis zu den normannischen Plünderern, die im zwölften Jahrhundert auf der Suche nach eroberbarem Neuland über die Irische See kamen.16 Oder bis zu König Heinrich VIII. und den Tudorherrschern, die Irland im sechzehnten Jahrhundert schließlich vollständig unterwarfen. Oder bis zu den protestantischen Einwanderern aus Schottland und Nordengland, die im Lauf des siebzehnten Jahrhunderts nach Irland einsickerten und ein Plantagensystem aufzogen, das die gälischsprachigen Einwohner zu Pächtern und Vasallen auf dem Land machte, das einst ihr eigenes gewesen war.
Aber als bedeutsamstes Kapitel der Saga galt im Haus auf dem Slievegallion Drive der Osteraufstand von 1916, bei dem eine Schar irischer Revolutionäre das Dubliner Hauptpostamt gestürmt und die freie, unabhängige Republik Irland ausgerufen hatte. Dolours wuchs auf mit Legenden über die verwegenen Helden des Aufstands und über Patrick Pearse. Der sensible gälische Dichter war einer der Anführer des Aufruhrs, er hatte auf den Stufen des Postamts verkündet: »In jeder Generation hat das irische Volk sein Recht auf nationale Freiheit und Souveränität geltend gemacht.«17
Pearse war ein unerschütterlicher Romantiker und zutiefst fasziniert vom Ideal des Blutopfers. Er träumte schon als Kind davon, sein Leben für etwas zu geben, und empfand Blutvergießen später als etwas »Reinigendes«.1819 Er pries das christushafte Sterben früherer irischer Märtyrer und schrieb bereits 1915, also ein Jahr vor dem Osteraufstand: »Das alte Herz der Erde bedurfte der Erwärmung durch den roten Wein des Schlachtfelds.«2021
Sein Wunsch ging in Erfüllung. Nach einem kurzen ruhmreichen Moment schlugen die britischen Machthaber den Aufstand in Dublin erbarmungslos nieder und stellten Pearse und vierzehn Genossen erst vors Kriegsgericht und dann vor ein Erschießungskommando.22 Der irische Unabhängigkeitskrieg von 1918 bis 1921 endete mit der Teilung des Landes, die Insel zerfiel in zwei Hälften. Die sechsundzwanzig Countys im Süden erlangten ein gewisses Maß an Unabhängigkeit als Irish Free State, die sechs Countys im Norden blieben unter britischer Herrschaft. Bei strammen Republikanern und auch bei Familie Price hieß die Gegend, in der sie zufällig lebten, weiterhin »der Norden Irlands« und nicht »Nordirland«. In der Umgangssprache waren selbst Eigennamen politisch aufgeladen.
Märtyrerkult birgt Gefahren, und in Nordirland waren alle Gedenkrituale durch den Flags and Emblems Act streng reguliert.23 Die Furcht vor dem irischen Nationalismus saß im Norden so tief, dass man ins Gefängnis kommen konnte, wenn man nur die republikanische Trikolore zeigte. Die kleine Dolours zog ostersonntags immer ihr bestes weißes Kleid an und ging mit einem Korb Eier am Arm und der dreifarbigen Osterlilie an der Brust zum Gedenkmarsch für die verpfuschte Rebellion. Ein berauschendes Ritual für ein Kind, fast wie der Eintritt in einen Geheimbund der Geächteten. Als Erstes lernte sie, Polizisten schon von Weitem zu erspähen und sofort die Hand über die Lilie zu halten.24
Sie machte sich keine Illusionen, dass die Hingabe an die Sache einen hohen persönlichen Tribut erfordern konnte. Ihr Vater hatte sein erstes Kind nie kennengelernt, die älteste Tochter starb noch im Säuglingsalter, während er hinter Gittern saß.25 Dolours’ Tante Bridie, eine Schwester ihrer Mutter, war als Jugendliche im Kampfeinsatz gewesen. 1938 hatte sie beim Transport einer Kiste mit Brandsätzen geholfen, und die waren plötzlich explodiert.26 Bridies Hände waren abgerissen bis zum Handgelenk, ihr Gesicht entstellt und sie selbst fortan blind. Sie war siebenundzwanzig, als es passierte.
Bridie überlebte wider alle ärztlichen Vorhersagen, war aber so schwer behindert, dass sie lebenslang Pflege brauchte.27 Sie konnte sich ohne Hilfe weder anziehen noch die Nase putzen oder sonst etwas selber tun. Bridie wohnte zeitweise mit im Haus im Slievegallion Drive. Wohl auch, weil die Familie Mitleid mit ihr hatte, aber vor allem, weil alle sie bewunderten, denn sie war bereit gewesen, für ein Ideal alles hinzugeben.28 Nach dem Krankenhaus blieb Bridie nur das Leben in einem winzigen Haus mit Außentoilette, ohne staatliche Fürsorge, ohne Rente — ein Leben in Blindheit.29 Aber nie kam ein Laut des Bedauerns, so viel für ein vereinigtes Irland geopfert zu haben.30
Dolours und Marian wurden als kleine Mädchen oft nach oben geschickt, »mit eurer Tante Bridie reden«.31 Bridie lag allein in einem dunklen Zimmer. Dolours ging gern auf Zehenspitzen die Treppe hoch, aber Bridie hatte ein extrem feines Gehör und hörte immer, wenn jemand kam. Sie war Kettenraucherin, und Dolours hatte die Aufgabe, die Zigaretten anzuzünden und ihr sanft zwischen die Lippen zu klemmen.32 Sie hasste es. Sie fand es ekelhaft.33 Sie starrte ihre Tante an, musterte ihr Gesicht eindringlicher, als man sich traut, wenn einen jemand dabei sehen kann, und sog all das Schreckliche, das Bridie zugestoßen war, förmlich ein.34 Dolours redete gern und posaunte in Kindermanier heraus, was ihr gerade in den Sinn kam. Manchmal fragte sie Bridie einfach: »Wärst du nicht lieber dabei gestorben?«35
Sie nahm aber auch Bridies Handstümpfe in ihre kleinen Hände und streichelte die wächserne Haut. Sie kamen ihr vor wie »Katzenpfoten«, erzählte sie gern. Bridie trug immer eine dunkle Brille. Einmal sah Dolours eine Träne unter dem Rand hervor- und die welke Wange hinunterrollen.Sie überlegte: Wie kann man eigentlich weinen, wenn man keine Augen hat?36
*
Am 1. Januar 1969, einem kalten, klaren Morgen, versammelte sich eine Schar Studenten vor dem Rathaus am Donegall Square im Belfaster Zentrum. Sie planten einen mehrtägigen Protestmarsch nach Derry, in die gut hundert Kilometer entfernte Stadt mit der berühmten Stadtmauer.37 Sie protestierten gegen die systematische Diskriminierung der Katholiken in Nordirland. Die Teilung der Insel hatte eine perverse Lage geschaffen. Jede der beiden Konfessionen, die seit Jahrhunderten in einem gewissen Spannungsverhältnis standen, hielt sich plötzlich für eine bedrängte Minderheit: Die Protestanten, in Nordirland in der Mehrheit, auf der Insel insgesamt aber in der Minderheit, fürchteten die Unterjochung durch ein katholisches Irland; und die Katholiken, auf der Insel in der Mehrheit, in Nordirland aber in der Minderheit, fühlten sich in den sechs nordirischen Countys diskriminiert.
Nordirland war Heimat für eine Million Protestanten und eine halbe Million Katholiken, und Katholiken litten in der Tat überdurchschnittlich unter Diskriminierung: Gute Jobs und Wohnungen blieben ihnen oft verwehrt, Zugang zu politischen Machtpositionen, in denen sie ihre Bedingungen hätten verbessern können, bekamen sie erst recht nicht.38 Nordirland hatte — wie Wales und Schottland — eigene, dezentralisierte politische Institutionen mit dem Stormont Castle am Belfaster Stadtrand als Regierungssitz. Seit einem halben Jahrhundert hatte kein Katholik ein Regierungsamt bekleidet.39
Auch der Zugang zur Werftindustrie und anderen attraktiven Berufen blieb Katholiken versperrt, weshalb sie oft auswanderten, in der Hoffnung, in Amerika oder Australien an Arbeit zu kommen, die sie zu Hause nicht fanden. Katholiken in Nordirland hatten eine etwa doppelt so hohe Geburtenrate wie Protestanten, trotzdem hatte ihre Zahl in den dreißig Jahren vor dem Marsch nach Derry nicht zugenommen, weil so viele Katholiken das Land verlassen mussten.40
Für die jungen Protestmarschierer funktionierte Nordirland nach einem Kastensystem, ähnlich der Rassendiskriminierung in den Vereinigten Staaten, sie nahmen die amerikanische Bürgerrechtsbewegung ausdrücklich als Vorbild.41 Sie hatten sich den Marsch von Dr. Martin Luther King und anderen Bürgerrechtlern 1965 von Selma nach Montgomery, Alabama, genau angesehen. Und so zogen sie jetzt aus Belfast hinaus, in Dufflecoats gemummelt, untergehakt, mit Civil-Rights-March-Schildern, und sangen »We Shall Overcome«.42
Auch Dolours Price und ihre Schwester Marian liefen mit. Dolours war achtzehn, jünger als die meisten anderen, die von der Uni kamen.43 Sie war inzwischen eine auffallend schöne junge Frau mit dunkelroten Haaren, strahlenden blaugrünen Augen und hellen Wimpern. Marian war ein paar Jahre jünger, aber die Schwestern waren unzertrennlich. In Andersonstown kannte sie jeder als »Alberts Töchter«.44 Untereinander nannten sie sich »Dotes« und »Mar«, sie schliefen auch von klein auf nicht nur in einem Zimmer, sondern auch in einem Bett.4546 Dolours war groß, durchsetzungsstark und keck-respektlos. So marschierten die Schwestern in dem Zug mit, munter plaudernd in ihrem schroffen Belfaster Akzent, den auch die streng katholische Highschool für Mädchen, St. Dominics in West-Belfast, nur leicht milderte, schlagfertig und immer wieder mit schallendem Gelächter.4748
Dolours bezeichnete ihre Kindheit später als »Indoktrination«.49 Aber sie blieb ein unabhängiger Sturkopf und konnte ihre Überzeugungen nie gut für sich behalten. Sie fing im Teenageralter an, die Dogmen zu hinterfragen, nach denen sie erzogen wurde. Und gegen die kulturellen Wellen, die in den 1960er-Jahren durch die ganze Welt schwappten, hatten die Nonnen in St. Dominics wenig aufzubieten. Dolours war Rock-’n’-Roll-Fan. Und verehrte Che Guevara, wie viele junge Belfaster, den fotogenen argentinischen Revolutionär und Kampfgefährten von Fidel Castro.50 Diesen Che hatte das bolivianische Militär erschossen (und ihm zum Identitätsnachweis die Hände abgetrennt wie bei Aunt Bridie), was ihm einen Platz in ihrer Menagerie revolutionärer Helden sicherte.
Dolours und Marian Price
Aber Dolours hielt auch, als sich die Spannungen zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland verschärften, den bewaffneten Kampf, wie ihn ihre Eltern verfochten, für überholt, für ein Relikt aus der Vergangenheit. Albert Price diskutierte leidenschaftlich gern, er konnte mitreißend reden.51 Dabei legte er einem gern den Arm um die Schulter, während er mit der anderen Hand die allgegenwärtige Zigarette bewegte und einen so lange mit Geschichte, Anekdoten und Charme beglückte, bis man die Dinge so sah wie er. Dolours hielt unerschrocken dagegen. »Guck dir doch die IRA an«, konterte sie zum Beispiel, »so habt ihr das schon mal probiert, und ihr habt verloren.«52
In mancher Hinsicht war die Geschichte der IRA tatsächlich eine Geschichte des Scheiterns. Genau wie Patrick Pearse gesagt hatte: Jede Generation hatte ihre Art von Revolte angezettelt, und die IRA war Ende der 1960er-Jahre weitgehend eingeschlafen. Zwar trafen sich immer noch alte Männer an Wochenenden in Trainingscamps jenseits der Grenze in der Republik und übten Zielschießen mit antiken Waffen aus alten Kampagnen, aber als Kampftruppe nahm niemand sie besonders ernst. Die Insel war weiterhin geteilt, die Bedingungen für Katholiken noch immer nicht besser. »Ihr seid gescheitert«, erklärte Dolours ihrem Vater. 53 »Es gibt aber andere Wege.«
Sie ging seit Kurzem in die Queen’s University zu den Treffen der People’s Democracy, einer neuen politischen Gruppe.54 Sie war jetzt auch irgendwie Sozialistin, wie Che Guevara und viele der Derry-Marschierer. Sie betrachtete das konfessionelle Schisma zwischen Protestanten und Katholiken inzwischen als vergiftetes Ablenkungsmanöver: Protestantische Arbeiter mochten ja ein paar Vorteile haben, aber auch sie hatten oft mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen.55 Die Protestanten in den Bruchbuden auf der Shankill Road hatten auch keine Innentoilette. Man müsste ihnen eigentlich nur klarmachen, wie viel besser das Leben in einem vereinigten — sozialistischen — Irland wäre, dann könnte die Zwietracht, die beide Konfessionen seit Jahrhunderten niederdrückte, endlich verschwinden.
Einer der Anführer des Protesmarschs war Eamonn McCann, ein lässiger, wortgewandter junger Sozialist aus Derry, mit dem sich Dolours während des Marschs sofort anfreundete.56 McCann beschwor die Demonstranten, protestantische Arbeiter nicht zu dämonisieren. »Die sind nicht unser Feind, in keiner Weise«, beharrte er.57 »Die sind keine Ausbeuter im edlen Zwirn. Die sind selber die Dummen in diesem System, Opfer der unionistischen Land- und Industriebesitzer. Das sind auch Leute im Blaumann.« Soll heißen: Eigentlich sind sie auf unserer Seite. Sie wissen es nur noch nicht.
*
Irland ist eine kleine Insel, misst keine dreihundert Kilometer an der breitesten Stelle. Mit dem Auto kommt man an einem Nachmittag von Küste zu Küste. Aber die Demonstranten wurden, seit sie den Donegall Square verlassen hatten, von protestantischen Gegendemonstranten behindert: »Unionisten«, die in glühender Loyalität zur britischen Krone standen. Ihr Anführer war Ronald Bunting, ein vierundvierzigjähriger stämmiger Mann mit Segelohren, ehemals Mathematiklehrer, dann Offizier der britischen Armee, »der Major« für seine Anhänger. Er hatte früher progressivere Ansichten gehabt, war aber dem Pfarrer und glühenden Katholikenhasser Ian Paisley in die Fänge geraten.58 Paisley hatte sich um Buntings Mutter gekümmert, als sie im Sterben lag. Bunting war Orangeman, Mitglied des protestantischen Oranierordens. Die Bruderschaft verstand sich seit Langem als Gegner der katholischen Bevölkerung. Bunting und seine Sympathisanten rempelten und pöbelten die Demonstranten an, versuchten, ihnen die Banner zu entreißen, und schwenkten ihre eigene Fahne — den Union Jack. Ein Journalist fragte Bunting, ob es nicht besser wäre, die Demonstranten in Ruhe zu lassen und einfach zu ignorieren.
»Den Teufel darf man nicht ignorieren, Bruder«, erwiderte Bunting.59
Bunting war ein bigotter Eiferer, allerdings waren manche seiner Ängste weit verbreitet. »Die Protestanten in Nordirland haben die elementare Angst, von den Römisch-Katholischen übervölkert zu werden«, hatte Terence O’Neill, der britische Premierminister der dezentralisierten nordirischen Regierung, in jenem Jahr erklärt.60 Und dass London zu Hilfe käme, falls die Protestanten wirklich irgendwann in Unterzahl gerieten, schien auch nicht völlig sicher. Auf dem englischen »Festland« hatte kaum jemand die Unruheprovinz vor der schottischen Küste auf dem Schirm, und viele wären Nordirland mit Freude los gewesen. Großbritannien gab schließlich seit Jahrzehnten eine Kolonie nach der anderen auf. Die Unionisten in Nordirland waren, in den Worten eines zeitgenössischen englischen Journalisten, »britischer als die Briten, eine Gesellschaft, für die sich die Briten überhaupt nicht interessierten«.61 Bei »Loyalisten« — den besonders eifernden Unionisten — führte all das dazu, dass sie sich als die letzten Beschützer einer vom Aussterben bedrohten nationalen Identität sahen. Getreu Rudyard Kiplings Gedicht »Ulster« von 1912: »Am Ende aller Worte wissen wir, / wir gehen unter, wenn wir weichen.«62
Major Bunting empfand den Protestmarsch womöglich aus einem persönlicheren Grund als Bedrohung. Sein eigener Sohn gehörte zu den schmuddeligen Demonstranten mit ihren Hippieliedern und braven Transparenten.63 Ronnie Bunting, ein Queen’s-Student mit mächtigen Koteletten, war im Sommer 1968 ins radikale Lager abgedriftet.64 Er war nicht der einzige Protestant im Zug. Dass auch Protestanten an die irische Unabhängigkeit glaubten, hatte sogar eine lange Tradition. Zum Beispiel in Gestalt von Wolfe Tone, einem der irisch-republikanischen Helden. Er hatte 1798 einen gewaltsamen Aufstand gegen die britische Herrschaft angeführt. Aber mit Sicherheit hatte niemand außer Ronnie Bunting einen Vater, der eine ganze nervige Gegendemonstration aufgezogen hatte und jetzt die Störmanöver seiner loyalistischen Marschtruppe anführte und antikatholische Beleidigungen durchs Megafon bellte. »Da hinten ist mein Vater und macht sich gerade lächerlich«, grummelte Ronnie seinen Freunden zu, peinlich berührt.65 Die ödipale Dynamik schien die Sturheit von Vater und Sohn erst richtig aufzuladen.66
Ronnie Bunting war wie die Price-Schwestern Mitglied der People’s Democracy. Bei einem Treffen hatte er dafür plädiert, lieber nicht nach Derry zu marschieren, er dachte, dass wahrscheinlich »etwas Schlimmes« passiert.67 Demonstrationen waren von der Polizei schon oft gewaltsam aufgelöst worden. Nordirland war nicht eben eine Bastion der Meinungsfreiheit. Dank dem Special Powers Act, einem aus der Zeit der Teilung stammenden drakonischen Gesetz gegen eventuelle katholische Volksaufstände, herrschte permanenter Ausnahmezustand: Versammlungen und bestimmte Reden wurden einfach verboten, Menschen ohne Haftbefehl festgenommen und ohne Gerichtsverfahren auf unbegrenzte Zeit interniert.68 Die Royal Ulster Constabulary war überwiegend protestantisch und hatte zusätzlich eine Hilfstruppe aus bewaffneten und oft vehement antikatholischen Unionisten, die B-Specials. Deren Rekrutierungsprinzip fasste ein ehemaliges Mitglied so zusammen: »Ich brauche Männer, und zwar je jünger und wilder, desto besser.«69
Auf dem Marsch durchs Land kamen die Demonstranten immer wieder durch Dörfer von Protestanten, die unionistische Hochburgen waren. Und jedes Mal tauchte aus dem Dorf ein Mob Stöcke schwingender Männer auf und blockierte die Straße, während ein Polizeikordon die Protestierenden gleichzeitig zum Umweg um das Dorf herum zwang.70 Auch ein paar von Major Buntings Männern liefen ständig neben dem Zug her und verhöhnten die Demonstranten. Einer hatte eine Lambeg Drum — auch Riesenkracher genannt — umgehängt, die unheilschwangeren Paukenschläge hallten bis über die grünen Hügel und durch die kleinen Dörfer und lockten weitere kraftstrotzende Gegendemonstranten aus dem Haus.71
Die Studenten waren darauf gefasst, dass es wirklich zu gewaltsamen Zusammenstößen kommen könnte. Manche waren sogar sehr dafür.72 Bei dem Marsch nach Selma hatte sich die Polizei zu wüsten Knüppeleien hinreißen lassen, ihre gewalttätige Überreaktion hatte spektakuläre Fernsehbilder produziert, womöglich den Zündfunken für wirklichen Wandel.73 Viele Studenten hofften noch, dass sich auch das hartnäckigste Unrecht durch friedlichen Protest beenden ließe: In aller Welt übernahmen 1969 junge Menschen eine Vorreiterrolle dabei. Vielleicht ließen sich die Frontlinien in Nordirland neu ziehen, vielleicht ginge es dann gar nicht mehr um Katholiken gegen Protestanten oder Republikaner gegen Loyalisten, sondern um Jung gegen Alt — um einen Konflikt zwischen den Kräften der Zukunft und den Kräften der Vergangenheit.
Am vierten und letzten Tag des Marschs, an einer Kreuzung knapp zwanzig Kilometer vor Derry, rief ein Demonstrant durchs Megafon: »Gut möglich, dass hier ein paar Steine fliegen.« Es schien nach Ärger zu riechen. Seitdem sie Belfast verlassen hatten, hatten sich immer mehr junge Menschen dem Zug angeschlossen, inzwischen waren Hunderte auf der Straße. Der Mann mit dem Megafon brüllte: »Seid ihr bereit, mögliche Verletzungen in Kauf zu nehmen?«74
Die Demonstranten brüllten zurück: »Ja!«
*
Am Vorabend, als die Demonstranten im Dorf Claudy in einem Saal auf dem Boden schliefen, hatte Major Bunting seine Anhänger in Derry — oder wie er es nannte: Londonderry — zusammengetrommelt.75 Hunderte aufgekratzte Loyalisten hatten sich in der Guildhall, einem prächtigen Gebäude aus Buntglas und Stein am Ufer des Foyle, zu einem angeblichen »Gemeinschaftsgebet« eingefunden. Auch Ian Paisley war da, um seine Schäfchen zu begrüßen.
Paisley, Sohn eines baptistischen Predigers, war ein Radikaler mit einem tollwütigen Gefolge. Nach der Ausbildung an einem unbedeutenden evangelikalen College in Wales hatte er seine eigene Hardliner-Kirche gegründet. Er überragte alle mit seinen ein Meter neunzig, hatte einen Silberblick und nach hinten gestriegelte Haare und hing über der Kanzel, während er zähnebleckend und zornbebend gegen »das Monster Rom« wetterte.76 Seiner Ansicht nach steckten der Vatikan und die Republik Irland heimlich unter einer Decke und schmiedeten finstere Pläne für den Umsturz des nordirischen Staats. Die Katholiken würden dank ihrer stetig wachsenden Macht und Zahl bald zum »Tiger, der seine Beute in Stück reißen will«.
Paisley agitierte wie ein Rattenfänger, führte sein Gefolge gern durch katholische Wohngegenden und sorgte, wo immer er hinkam, für Aufruhr. Katholiken seien Abschaum, schwadronierte er im basso continuo, und »pflanzen sich fort wie Karnickel und vermehren sich wie Ungeziefer«.77 Er war ein grandioser Spalter, ein Meister der Anstachelung. Er gebärdete sich so empathielos, so unverhohlen borniert, dass manche Republikaner fanden, unterm Strich sei er vielleicht sogar gut für ihre Bewegung. »Warum sollten wir Paisley töten?«, pflegte Dolours Mutter Chrissie zu sagen.78 »Der ist unser größter Aktivposten.«
Für Loyalisten war Derry ein symbolischer Ort, ein lebendes Monument des protestantischen Widerstands, obwohl hier überwiegend Katholiken lebten. 1689 bei der Belagerung der Stadt durch eine katholische, James II. treue Armee hatten protestantische, dem neuen König Wilhelm von Oranien treue Truppen standgehalten. Anderswo auf der Welt würde man eines mittlerweile eher unbedeutenden Ereignisses mit einer Plakette gedenken. In Derry dagegen feierten die protestantischen Ortsvereine den Waffengang mit alljährlichen Märschen. Paisley und Bunting suggerierten ihren Anhängern, der Einmarsch von demonstrierenden Studenten am nächsten Morgen könnte als Reenactment der Belagerung gemeint sein.79
Diese Bürgerrechtler gäben sich bloß als friedliche Demonstranten aus, behauptete Paisley, sie seien aber verkleidete »IRA-Männer«.80 Er erinnerte an Londonderrys Bedeutung als Bollwerk gegen papistische Übergriffe. Waren sie bereit, sich jetzt wieder zu erheben und die Stadt zu verteidigen?81 Die Antwort war jubelndes »Halleluja!«. Das war Paisleys Masche — erst eine Menge zu gewalttätiger Erregung aufpeitschen und dann von der Bühne verschwinden, bevor wirklich Steine flogen. Sein designierter Adjutant Major Bunting gab dem Mob dann die Anweisung: Alle, die »ihren Mann stehen wollen«, sollten sich mit allem bewaffnen, »was sie für brauchbar zur Verteidigung halten«.82
Auf den Äckern oberhalb der Straße nach Derry trugen Männer im Dunkel der Nacht ein ganzes Arsenal an Wurfgeschossen zusammen.83 Ein sympathisierender Bauer half mit einem Traktor, denn was da in strategischen Abständen für den geplanten Hinterhalt aufgeschichtet werden musste, waren keine kleinen Kieselsteine, sondern frisch gehauene Felsbrocken.
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»Wir haben von Anfang an gesagt, dass unser Marsch gewaltfrei sein soll«, erinnerte Eamonn McCann die Demonstranten am letzten Morgen. »Heute wird unsere fromme Erklärung auf die Probe gestellt.«84 Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, langsam und mit wachsender Beklommenheit. Eine Riesenmenge auf einem schmalen Feldweg zwischen hohen Hecken, an dessen Ende ein Flaschenhals — die steinerne alte Burntollet Bridge über den Faughan. Dolours, Marian und die anderen jungen Leute marschierten direkt auf sie zu. Plötzlich kreuzte ein Mann auf dem steilen Gelände hinter den Hecken auf. Er trug eine weiße Armbinde, ruderte theatralisch mit den Armen und gestikulierte wie ein Matador, der einen unsichtbaren Stier anlocken will.85 Kurz danach erschienen weitere Gestalten, lauter stämmige junge Männer standen plötzlich in Grüppchen auf dem Hügelkamm und schauten von oben auf Hunderte Menschen, die auf dem Feldweg zwischen den Hecken feststeckten und nicht ausweichen konnten.86 Auf den Feldern erschienen immer mehr Männer mit weißen Armbinden. Dann flogen die ersten Steine.
Bernadette Devlin, einer Freundin von Dolours, die den Marsch mitorganisiert hatte, kam es vor wie ein »Vorhang« aus Geschossen.87 Auf den Feldwegen zu beiden Seiten waren plötzlich Dutzende Männer und Jungen und schleuderten Steine, Ziegel und Milchflaschen. Manche griffen von den Äckern und Weiden oben an, wieder andere schwärmten aus, um vor den Demonstranten an der Brücke zu sein.88 Die Demonstranten an der Spitze des Zugs sprinteten auf die Brücke zu, die am Ende ließen sich zurückfallen, um dem Sperrfeuer zu entgehen. Dolours und Marian steckten in der Mitte fest.89
Der Hinterhalt an der Burntollet Bridge
Sie kletterten über eine Hecke, aber der Steinhagel ging weiter.90 Jetzt rannten die Männer von den Hügeln in die Menge und griffen die Demonstranten an. Dolours kam sich vor wie in einem Hollywood-Western, wenn die Indianer auf die Prärie herunterstürmen.91 Die Angreifer kamen heruntergerannt, Knüppel, Brechstangen, Bleirohre und Holzlatten schwingend.92 Einige trugen Motorradhelme, einige hatten nagelgespickte Holzlatten, mit denen sie zuschlugen und den Demonstranten Fleischwunden beibrachten.93 Viele zogen sich den Mantel über den Kopf, stolperten blindlings und verwirrt vorwärts und klammerten sich Schutz suchend aneinander.94
Wer auf die Felder flüchtete, wurde zu Boden gerissen und so lange getreten, bis er das Bewusstsein verlor.95 Jemand schlug einem jungen Mädchen mit einem Spaten auf den Kopf.96 Zwei Pressefotografen wurden zusammengeschlagen und mit Steinen beworfen.97 Der Mob nahm ihnen die Filme ab und verkündete, wenn sie wieder herkämen, würden sie getötet. Und mittendrin schwang Major Bunting, der Großmarschall, die Arme in blutverschmierten Mantelärmeln wie ein Dirigent.9899 Er schnappte sich ein Transparent aus dem Zug, und jemand zündete es an.
Die Demonstranten leisteten keinen Widerstand. Sie hatten sich vor dem Marsch auf das Prinzip der Gewaltlosigkeit eingeschworen.100 Dolours war umringt von jungen Leuten mit Schnittwunden im Gesicht, denen das Blut in die Augen lief.101 Sie sprang in den Fluss, ins eiskalte Wasser.102 Andere Demonstranten wurden von der Brücke in den Faughan geschubst.103 Einmal, als Dolours sich durch das Wasser kämpfte, traf sich ihr Blick mit dem eines knüppelbewaffneten Angreifers, und seinen wie vor Hass verglasten Blick sollte sie ihr Leben lang nicht loswerden.104 Sie hatte ihm in die Augen gesehen, und darin war nichts gewesen.105
Endlich watete ein Polizist der Royal Ulster Constabulary ins Wasser, um das Gerangel zu beenden. Dolours griff nach seinem Mantel und ließ ihn nicht los.106 Aber noch während der stämmige Polizist sie in Sicherheit brachte, wurde ihr etwas erschreckend klar. Es waren Dutzende RUC-Beamte an dem Tag vor Ort gewesen, aber kaum einer hatte eingegriffen. Im Nachhinein wurde vermutet, dass die Angreifer weiße Armbinden trugen, damit ihre Freunde bei der Polizei sie von den Demonstranten unterscheiden konnten.107 Von Major Buntings Männern gehörten tatsächlich viele, nämlich genau die, die geprügelt hatten, zur RUC-Hilfspolizei, den B-Specials.108
Später, auf dem Weg nach Derry ins Altnagelvin-Krankenhaus, brach Dolours erschüttert von einem seltsamen Gemisch aus Erleichterung, Frustration und Enttäuschung in Tränen aus.109 Als sie und Marian endlich wieder in Belfast waren und niedergeschlagen und mit Blutergüssen vor dem kleinen Haus auf dem Slievegallion Drive standen, ließ Chrissie Price sich genau berichten, was ihre Töchter erlitten hatten. Danach stellte sie nur eine Frage: »Warum habt ihr nicht zurückgeschlagen?«110
Jean McConville hat nur wenige Spuren hinterlassen. Es waren chaotische Zeiten, als sie verschwand, und die meisten ihrer hinterbliebenen Kinder waren noch zu jung für einen ausgeprägten Erinnerungsschatz. Aber ein Foto ist erhalten, ein Schnappschuss vor dem Haus der Familie in East Belfast, Mitte der 1960er-Jahre.1 Jean steht neben drei Kindern, ihr Mann Arthur hockt unten vorne. Sie blickt in die Kamera, mit verschränkten Armen, leicht lächelnd und ins Gegenlicht blinzelnd. Ein paar der Kinder erinnern sich noch gut an ein Detail — die blaue Sicherheitsnadel für Babywindeln. Die hatte sie immer am Kleid stecken, denn bei irgendeinem Kind fehlte immer irgendein Knopf oder musste irgendetwas geflickt werden. Sie war ihr Markenzeichen.2
Jean McConville mit Robert, Helen, Archie und Ehemann Arthur
Jean Murray wurde 1934 in East Belfast als Tochter des protestantischen Ehepaars Thomas und May Murray geboren. Belfast war damals grau und verrußt, eine Stadt mit vielen Kirchtürmen und Schornsteinen zwischen flachen grünen Hügeln zur einen Seite und dem Belfast Lough, einem Zufluss vom North Channel, zur anderen. Es gab Leinewebereien und Tabakfabriken, einen Tiefseehafen mit Schiffsbauanlagen und endlose Reihen identischer Backsteinhäuser für Arbeiter. Die Murrays wohnten in der Avoniel Road, nicht weit von der Harland & Wolff-Werft, auf der die Titanic gebaut worden war.3 Jeans Vater arbeitete bei Harland & Wolff.4 Er reihte sich, als sie ein Kind war, jeden Morgen bei den Tausenden Männern ein, die auf dem Weg zur Werft am Haus vorbeitrotteten, und trottete jeden Abend wieder zurück nach Hause.5 Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs produzierten die Belfaster Leinewebereien Millionen Uniformen, und die Werften lieferten Kriegsschiffe am Fließband. Kurz vor Jeans siebtem Geburtstag 1941 heulten eines Abends die Sirenen — Fliegeralarm. Ein Bombergeschwader der Luftwaffe strich über die Küste und warf Minen und Brandbomben an Fallschirmen ab.6 Harland & Wolff ging in Flammen auf.
Bildung für Mädchen stand in der Belfaster Arbeiterklasse damals nicht an erster Stelle, also ging Jean mit vierzehn von der Schule ab und suchte sich Arbeit. Sie fand eine Stelle als Dienstmädchen bei Mary McConville, einer katholischen Witwe, die nicht weit weg in der Holywood Road wohnte und einen erwachsenen Sohn hatte.7 Arthur, ein Einzelkind, diente in der britischen Armee. Er war zwölf Jahre älter und sehr groß. Er überragte Jean, die es sogar in Schuhen auf kaum mehr als einen Meter fünfzig brachte.8 Seine Vorfahren waren traditionell Soldaten, und er erzählte gern Geschichten, zum Beispiel, wie er im Krieg in Burma gegen die Japaner gekämpft hatte.9
Dass Jean und Arthur sich verliebten, wurde innerhalb ihrer Familien keineswegs freudig zur Kenntnis genommen. Sie stammten nun mal aus zwei verschiedenen konfessionellen Lagern, und auch wenn die religiösen Spannungen in den 1950er-Jahren nicht so heftig waren wie davor und dann wieder danach, kamen »Misch-Beziehungen« nur selten vor.10 Das lag nicht nur an der inneren Bindung an den eigenen Stamm, sondern auch daran, dass Protestanten und Katholiken zumeist in abgeschotteten Welten lebten: Sie bewohnten verschiedene Viertel, besuchten verschiedene Schulen, hatten verschiedene Arbeitsplätze und verschiedene Kneipen.11 Jean hatte diese Grenzen allein dadurch überschritten, dass sie als Dienstbotin ins Haus von Arthurs Mutter kam.12 Dann fing sie auch noch etwas mit Arthur an, was seine Mutter sehr übel nahm. (Jeans Mutter nahm die Heirat hin, wenn auch nicht erfreut, einer ihrer Onkel dagegen war Mitglied des Oranierordens und verpasste ihr eine Tracht Prügel.)13
Das junge Paar brannte 1952 nach England durch und wohnte auf dem Kasernengelände, wo Arthur stationiert war.141957 kehrten sie nach Belfast zurück und zogen zu Jeans Mutter in die Avoniel Road. Jeans erstes Kind Anne hatte eine seltene Erbkrankheit und verbrachte die meiste Zeit im Krankenhaus. Bald danach kamen Robert, Arthur (genannt Archie), Helen, Agnes, Michael (für alle Mickey), Thomas (für alle Tucker) und schließlich die Zwillinge Billy und Jim. Zusammen lebten Jean, ihre Mutter, ihr Mann und die Kinder, also ein gutes Dutzend Menschen, lebten zusammengepfercht in einem winzigen Haus.15 Im Erdgeschoss gab es ein kleines Wohnzimmer vorn und eine Küche hinten, die Toilette lag außerhalb, gekocht wurde auf offenem Feuer, die Spüle hatte fließend kaltes Wasser.
1964 schied Arthur aus der Armee aus, bekam eine Rente und eröffnete ein kleines Geschäft für Instandsetzungen.16 Er wollte aber viel lieber angestellt arbeiten. Er fand eine Stelle in der Maschinenfabrik Sirocco und verlor sie wieder, als die Firma erfuhr, dass er Katholik war. Danach arbeitete er eine Zeit lang in einer Seilerei.17 Aus dieser Zeit stammt das Foto — die Kinder hatten sie als glückliche Zwischenzeit in Erinnerung. Sicher, es gab auch Entbehrungen, aber das war für Arbeiterkinder im Nachkriegs-Belfast nichts Ungewöhnliches. Ihre Eltern waren am Leben. Die Existenz schien gesichert. Das Leben war intakt.
Aber in den 1960er-Jahren nahm der gegenseitige Argwohn bei Katholiken wie Protestanten allmählich zu. Jeden Sommer zogen die Mitglieder des örtlichen Oranierordens demonstrativ direkt vor der Haustür der McConvilles zu ihren Triumphmärschen los.18 Ian Paisley rief seine Protestantenbrüder schon seit Jahren dazu auf, die Katholiken in ihrer Nachbarschaft ausfindig zu machen und zu vertreiben. »Was ist mit euch los, ihr Leute von der Shankill Road«, bellte er.19 »Shankill Road 425 — wisst ihr, wer da wohnt? Das sind Papstkerle, sind das!« Es war eine ethnische Säuberung im Kleinformat: Paisley spulte Adressen ab — Aden Street 56, Crimea Street 38, die Inhaber der Eisdiele. Alles »Katholen« seien das, Spione für Rom, und die gehörten vertrieben. Im Haus in der Avoniel Road gab es keinen Fernseher, aber seit die Bürgerrechtsbewegung in Gang kam und Nordirland von Tumulten geschüttelt wurde, gingen Jean und Arthur zu den Nachbarn und sahen immer beklommener die Abendnachrichten dort.20
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Als 1969 die Hölle losbrach, war Michael McConville gerade acht. Ein loyalistischer Orden namens Apprentice Boys (Handwerksburschen) veranstaltete jeden Sommer in Derry einen Gedenkmarsch für die jungen Protestanten, die 1688 gegen König James’ katholische Truppen die Stadttore verbarrikadiert hatten. Die Feierlichkeiten endeten traditionell damit, dass sie auf die berühmten Stadtmauern kletterten und von oben Pennys auf die Bürgersteige und Häuser des katholischen Ghettos Bogside warfen. Aber dieses Jahr blieb die Provokation nicht unwidersprochen, es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen, und Derry versank in der später berüchtigten Battle of the Bogside.21
Als sich die Zusammenstöße in Derry in Belfast herumsprachen, verbreitete sich auch hier Tumult wie ein Virus. Protestantische Jugendgangs zogen durch katholische Viertel, warfen Fenster ein und fackelten Häuser ab. Katholiken schlugen zurück und warfen Steine, Flaschen und Molotowcocktails. Die RUC und die B-Specials schritten zwar ein, aber die Amtsgewalt bekamen vor allem Katholiken ab und beschwerten sich, bei Straftaten von Loyalisten sehe die Polizei bloß zu. Rund um die katholischen Wohngebiete schossen Barrikaden hoch, Schulbusse und Brotlieferwagen wurden gekapert, auf die Seite gekippt und ganze Straßen damit blockiert und als Schutzwall genutzt. Katholische Jugendliche rissen Pflastersteine hoch und stapelten sie auf den Barrikaden oder bewarfen gleich Polizisten damit.22 Die RUC rumpelte aus lauter Angst vor dem Steinhagel nur noch in Pigs durch die engen Straßen, breiten Panzerwagen mit schwenkbaren Geschützen. Wo sie vorbeikamen, flogen Steine. Brandbomben drangen durch die stählernen Motorhauben, als wären es Eierschalen, blaue Flammen spritzten heraus.23
Es gab Momente anarchischer Poesie: Ein paar Kinder kaperten einen liegen gebliebenen Bulldozer auf einer Baustelle in West Belfast, erklommen ihn und kurvten fröhlich und unter heftigem Johlen und Jubeln der Anwohner eine Straße entlang.24 Irgendwann verloren sie die Kontrolle über den Koloss, er krachte gegen einen Telegrafenmast, und sofort warf jemand eine Benzinbombe, und der Bulldozer ging in Flammen auf.
Loyalistische Gangs zogen planmäßig durch die Bombay Street, die Waterville Street, die Kashmir Road und andere katholische Enklaven und warfen Fenster ein und Benzinbomben hinterher.25 Hunderte Häuser wurden geplündert und zerstört, die Bewohner auf die Straße getrieben. Als die Krawalle immer mehr um sich griffen, verrammelten Familien in ganz Belfast ihre Türen und Fenster, als wäre ein Hurrikan im Anmarsch.26 Sie räumten die vorderen Zimmer leer, damit wenigstens nicht nicht die alten Möbel brannten, wenn wirklich ein Brandsatz durchs Fenster flog. Dann hockten sie sich hinten in der Küche zusammen, die Großeltern hielten die Rosenkränze umklammert, und warteten ab, bis das Chaos vorbei war.27
In jenem Sommer flohen in Belfast fast zweitausend Familien aus ihren Häusern, die allermeisten Katholiken.28 In den folgenden Jahren zogen von den gut 350.000 Belfaster Einwohnern zehn Prozent weg.2930 Manchmal rotteten sich vor einem Haus hundert Leute zusammen und zwangen die Bewohner hinaus.31 Andere Male flatterte ein Zettel durch den Briefschlitz und teilte ihnen mit, dass sie eine Stunde zum Räumen hatten.32 Die ehemaligen Bewohner brachten sich mit vollgestopften Autos in Sicherheit: Ein Pkw, in dem eine achtköpfige Familie eingezwängt quer durch die Stadt fuhr, war kein ungewöhnlicher Anblick.33 Bald standen auch Tausende Katholiken auf dem Bahnhof Schlange und warteten auf Züge nach Süden, in die Republik.34
Es dauerte nicht lange, dann waren auch die McConvilles dran. Ein Mob von Männern aus der Nachbarschaft stattete Arthur einen Besuch ab und teilte ihm mit, er habe auszuziehen. Er schlich sich im Schutz der Dunkelheit aus dem Haus und schlüpfte bei seiner Mutter unter.35 Jean und die Kinder blieben zunächst da und hofften, dass die Spannungen nachlassen würden. Aber schließlich wurden auch sie zur Flucht gezwungen und beluden ein Taxi mit allen greifbaren Habseligkeiten.36
Es war eine andere Stadt, durch die sie jetzt fuhren. Lkw mit Möbeln aller Art, die die Leute noch hatten zusammensuchen können, sausten hin und her. Männer schleppten alte Sofas und Schränke durch die Straßen und schwankten unter der Last.37 Auf Kreuzungen brannten Autos. Ausgebombte Schulen schwelten vor sich hin. Der Himmel verschwand hinter dicken Rauchschwaden. Alle Ampeln waren kaputt, weshalb auf manchen Kreuzungen junge Leute in Zivil den Verkehr regelten.38 Katholiken hatten sechzig Busse beschlagnahmt und Straßenbarrikaden damit errichtet, neue Frontlinien zur materiellen Markierung ethnischer Hochburgen. Für die überall verstreuten Trümmerteile und Glassplitter fand ein Dichter später die denkwürdige Bezeichnung »Belfast-Konfetti«.39
Aber die sturen Belfaster richteten sich selbst in diesem Gemetzel ein und lebten einfach weiter. Bei kurzen Feuerpausen ging hier und da vorsichtig eine Haustür auf, steckte eine Belfaster Hausfrau mit Hornbrille den Kopf hinaus und sah nach, ob die Luft rein war. Wenn ja, kam sie heraus und spazierte aufrecht — im Regenmantel und mit Lockenwicklern unterm Kopftuch — zum Einkaufen durch das Kriegsgebiet.40
Der Taxifahrer hatte solche Angst vor dem Chaos, dass er sich weigerte, Jean und die Kinder über die Falls Road hinaus zu fahren, sie mussten ihre Habseligkeiten zu Fuß weiterschleppen.41 Endlich waren sie wieder mit Arthur zusammen, aber das Haus seiner Mutter hatte nur ein Schlafzimmer. Mary McConville war fast blind und hatte dieses ehemalige Dienstmädchen, das ihren Sohn geheiratet hatte, noch nie leiden können.42 Die beiden Frauen kamen nicht gut miteinander aus. Außerdem gab es häufig Schießereien in der Gegend, und Jean und Arthur fürchteten, dass jemand das Holzlager hinter dem Haus anzündete und das Feuer übersprang.43 Also zog die Familie wieder um, diesmal in eine katholische Schule, die zur Notunterkunft umgewidmet worden war. Sie schliefen in einem Klassenzimmer auf dem Fußboden.
Die Belfaster Wohnungsverwaltung ließ Behelfsunterkünfte für Tausende bauen, die plötzlich Flüchtlinge in der eigenen Stadt geworden waren, und schließlich bekamen die McConvilles ein nagelneues Holzhaus zugewiesen. Aber als sie einziehen wollten, war es von einer anderen Familie besetzt worden. Viele vertriebene Familien besetzten Häuser, wo immer sie konnten.44 Katholiken zogen in Häuser, die Protestanten verlassen hatten, Protestanten zogen in Häuser, aus denen Katholiken vertrieben worden waren. Beim nächsten Holzhaus standen die McConvilles vor demselben Problem: Auch hier wohnte schon eine Familie und wollte nicht ausziehen. Aber auf der Divis Street wurden neue Häuser gebaut, und diesmal wich Arthur McConville den Bauarbeitern nicht von der Seite, bis sie fertig waren. Diesmal sollte ihm niemand zuvorkommen.45
Jetzt hatten sie zwar nur ein schlichtes Holzhaus, vier Zimmer mit Außentoilette, aber zum ersten Mal einen Ort, der ihnen gehörte, und Jean ging sofort los und kaufte Stoff, um Gardinen zu nähen.46 Hier wohnte die Familie bis 1970, dann endlich kam die dauerhafte Wohnberechtigung für eine neue Sozialbausiedlung namens Divis Flats, an der seit ein paar Jahren gebaut worden war und die jetzt alles in der Umgebung überragte und verschattete.47
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Die Divis Flats sollten eine Zukunftsvision sein.48 Gebaut wurde die Siedlung von 1966 bis 1972, als Teil des Projekts zur »Slum-Beseitigung«. Dafür war ein ganzes Viertel mit überbelegten Wohnungen aus dem neunzehnten Jahrhundert, genannt Pound Loney, plattgemacht worden. Die Divis Flats waren zwölf miteinander verbundene Betonriegel mit insgesamt 850 Wohneinheiten. Die Anlage war, inspiriert von Le Corbusiers vertikaler Stadt, als »Skycity« gedacht und sollte nicht nur den Wohnungsmangel lindern, sondern auch einen Komfort bieten, der normalen Belfastern wie Familie McConville vorkam wie reiner Luxus.49 Hier gab es Duschen und Innentoiletten und fließend warmes Wasser. Die Gebäuderiegel hatten einen Laubengang von einem Ende zum anderen auf jeder Ebene, eine Art Betonterrasse vor der Wohnungstür. Das sollte an die kleinen Straßen vor den Reihenhäusern in Pound Loney erinnern — eine Erholungszone, wo die Kinder spielen konnten. Bonbonbunte Wohnungstüren in Rot, Blau, Gelb setzten lebenssprühende Farbtupfer gegen die vielen Grautöne von Belfast.
Die McConvilles zogen in eine zweistöckige Wohnung mit vier Zimmern im Riegel namens Farset Walk.50 Aber die Freude über die neue Unterkunft verflog schnell, denn an Verständnis dafür, wie Menschen wirklich leben, hatte es den Erbauern gemangelt. Es gab keine sozialen Einrichtungen, keine Grünflächen, keine Stadtlandschaft. Es gab — abgesehen von zwei öden Fußballfeldern und ein paar eingezäunten Schaukeln auf Asphalt — auch keine Spielplätze, und das bei mehr als tausend Kindern.51
Michael McConville kam die Siedlung vor wie ein Labyrinth für Ratten, nichts als Flure, Treppenhäuser und Rampen.52 Die Innenwände waren aus billigem Rigips, wenn sich die Nachbarn beim Abendessen unterhielten, war jedes Wort zu hören.53 Und die Außenwände waren aus nicht porösem Beton, sodass sich bald Kondenswasser bildete und heimtückischer schwarzer Schimmel über die Wohnungswände und -decken kroch.54 Für ein utopisches Architekturprojekt war das Ergebnis ziemlich dystopisch, die Siedlung wurde zum »Skyslum«, wie ein Schriftsteller später schrieb.55
Im selben Sommer, in dem die McConvilles aus dem heimischen East Belfast verjagt wurden, wurde die britische Armee nach Nordirland entsandt, als Antwort auf die Battle of the Bogside und die Tumulte. Ein paar Tausende grün uniformierte junge Soldaten kamen per Schiff herüber und rückten in Belfast und Derry ein. Von Katholiken wurden sie anfangs herzlich begrüßt, sie waren ähnlich willkommen wie die alliierten Truppen bei der Befreiung von Paris. Die Ankunft der vergleichsweise neutralen Armee schien mehr Sicherheit zu verheißen, die RUC und die B-Specials dagegen erregten den Zorn der katholischen Bevölkerung, die sie als einseitig-konfessionelle Obrigkeit betrachtete. In West Belfast wagten sich katholische Mütter bis zu den sandsackbewehrten Militärposten vor und boten den Soldaten Tee an.56
Michaels Vater war zurückhaltender.57 Arthur McConville war selbst Soldat gewesen und mochte es gar nicht, wenn ihn Soldaten auf Patrouille nicht förmlich grüßten, schließlich hatte er auch mal einen Rang gehabt. An einem Ende der Divis Flats stand ein zwanzigstöckiges Hochhaus, das höchste Gebäude in Belfast, das keine Kirche war. In den unteren achtzehn Stockwerken lagen Wohnungen, die beiden oberen nutzte die britische Armee als Beobachtungsposten. Wenn auf den Straßen die Spannung zunahm, konnten die Späher die gesamte Stadt mit ihren Ferngläsern überwachen.
Die Soldaten waren kaum richtig angekommen, als sie die Gunst der Leute schon wieder verloren. Die jungen Männer hatten keinen Sinn für die komplizierte ethnische Topografie der Stadt.58 Sehr bald wurden sie nicht mehr als neutrale Konfliktschlichter, sondern als Besatzungsmacht wahrgenommen — als schwer bewaffnete Verbündete der B-Specials und der RUC.
Inzwischen hatten auch Katholiken angefangen, sich zu bewaffnen und auf gegnerische Loyalisten, Polizisten und schließlich die Armee zu schießen. Die ersten Feuergefechte brachen aus, abends zogen ein paar katholische Heckenschützen auf die Dächer, legten sich flach zwischen die Schornsteine und lauerten auf Ziele unten.59 Gereizt von so viel Aggressivität schossen Armee und Polizei mit schwereren Waffen zurück.60 Die ganze Gegend hallte wider von ihren knatternden M1-Karabinern und barsch ratternden Sterling-Maschinenpistolen. Dann schossen die B-Specials abends die Straßenlaternen aus und tauchten die Stadt in Dunkelheit; so, dachten sie, könnten die Heckenschützen sie nicht so gut sehen.61 Soldaten rollten in halbtonnenschweren Landrovern durch menschenleere Straßen, mit ausgeschalteten Scheinwerfern, um kein Ziel abzugeben.62 Es war ein Riesenchaos, und trotzdem gab es am Anfang der Troubles nur wenige Tote: 1969 starben neunzehn Menschen, 1970 neunundzwanzig.63 Aber dann nahm die Gewalt rasant zu, 1971 wurden fast zweihundert Menschen getötet. 1972 stieg die Zahl auf knapp fünfhundert.
In den Divis Flats wohnten fast ausschließlich Katholiken, die Siedlung wurde zur Hochburg des bewaffneten Widerstands.64 Auch die McConvilles bekamen gleich nach dem Einzug die sogenannte »Kette« erklärt.65 Sobald Polizei oder Armee vorn an der Tür erschienen, um nach Waffen zu suchen, hängte sich jemand hinten aus dem Fenster und gab die Waffe einem Nachbarn, der nebenan aus dem Fenster hing und sie dem nächsten gab und so weiter bis ganz ans Ende des Riegels.
In den Divis Flats kam auch das erste Kind während der Troubles ums Leben. Das war noch, bevor die McConvilles einzogen. Im August 1969 wurden eines Abends in der Umgebung zwei Polizisten von Heckenschützen verwundet. Daraufhin ballerten deren Kollegen, panikanfällig und ungeübt im Umgang mit Feuerwaffen in einer solchen Lage, aus einem gepanzerten Fahrzeug wahllos in die Divis Flats. In einer kurzen Feuerpause schrie jemand hörbar von innen: »Es hat ein Kind erwischt!«66
Der neunjährige Patrick Rooney und seine Familie hatten in einem der hinteren Zimmer Schutz gesucht, eine Kugel aus einer Polizeiwaffe hatte die Rigipswände durchschlagen und ihn in den Kopf getroffen.67 Gewehrsalven gingen hin und her, die Polizei ließ einen Notarztwagen nicht über die Falls Road. Irgendwann kam ein Mann aus den Divis Flats und schwenkte aufgeregt ein weißes Hemd.68 Zwei weitere Männer trugen den Jungen mit dem zerschmetterten Kopf. Sie schafften es, Patrick Rooney zu einem Notarztwagen zu bringen, aber er starb kurz danach.
Michael McConville wusste, wie gefährlich es hier war. Patrick Rooney war ungefähr in seinem Alter gewesen. Arthur bellte immer, sobald abends die Feuergefechte losgingen: »Runter auf den Boden!«, dann schleiften die Kinder ihre Matratzen in die Mitte der Wohnung und schliefen dort, eng aneinandergekuschelt.69 Zeitweise schliefen sie öfter auf dem Boden als in ihren Betten, jedenfalls kam es ihnen so vor. Dann lag Michael wach, starrte an die Decke und lauschte, wie die Kugeln draußen vom Beton abprallten. Es war ein Wahnsinnsleben. Aber die Anarchie hielt an, Monat für Monat, und bald war es das einzige Leben, das er kannte.70
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Eines Nachmittags im Juli 1970 schwärmte eine Kompanie britischer Soldaten in das Gassengewirr um die Balkan Street, hinter der Falls Road, um nach versteckten Waffen zu suchen.71 In einem Haus fanden sie fünfzehn Pistolen und ein Gewehr sowie eine Maschinenpistole, eine deutsche Schmeisser. Als sie wieder in die Panzerwagen steigen und wegfahren wollten, stand plötzlich ein Haufen Leute da und fing an, Steine zu werfen. Ein Fahrer setzte panisch seinen Pig zurück, in die Menge, und erdrückte einen Mann, was die Bewohner noch mehr aufbrachte. Der Konflikt eskalierte, eine zweite Kompanie wurde zur Verstärkung geschickt, jetzt schossen die Soldaten kanisterweise Tränengas in die Menge.
Kurz darauf rückten dreitausend Soldaten in die Lower Falls ein.72 Sie schlugen Türen ein und stürmten die schmalen Häuser.73 Offiziell suchten sie nach Waffen, aber sie traten mit einer solchen destruktiven Wucht auf, dass es wie ein Racheakt wirkte.74 Sie schlitzten Sofas auf und kippten Betten um. Sie rissen Linoleum und Dielen hoch und Gas- und Wasserleitungen aus der Wand. Als die Dämmerung kam, kreiste ein Militärhubschrauber über der Falls Road, und eine Lautsprecherstimme verkündete in feinstem Eton-Englisch eine Ausgangssperre: Alle haben in den Häusern zu bleiben oder mit Festnahme zu rechnen.75 Mit den Gewehrspitzen wickelten Soldaten Nato-Draht von riesigen Rollen und spannten ihn quer über die Straßen.76 Die Lower Falls wurden abgeriegelt. Soldaten in Körperpanzern mit Schutzschilden und geschwärzten Gesichtern patrouillierten durch die Straßen. Aus den Fenstern der kleinen Häuschen starrten die Bewohner mit unverhohlener Verachtung.77
Womöglich sorgte vor allem das Tränengas für den erbitterten Widerstand in West Belfast. Die Granaten schlidderten über den Bürgersteig, zogen dicke Schwaden hinter sich her und trieben die jugendlichen Steinewerfer auseinander.78 An jenem Wochenende verschoss die Armee hier sechzehnhundert Tränengasgranaten, das Gas trieb in Böen durch die engen Gassen und sickerte durch die Ritzen in die undichten alten Häuschen.79 Es kroch in Augen und Kehlen und löste Panik aus.80 Die jungen Männer wischten sich die Gesichter mit essiggetränkten Lappen ab, gingen wieder raus und warfen weiter Steine.81 Für einen Reporter, der über die Belagerung berichtete, war Tränengas eine Art Klebstoff, eine Substanz, die »eine Menschenmenge in gemeinsamer Sympathie und gemeinsamem Hass auf die, die es verschossen, zusammenschweißen« kann.82
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Michael McConville arrangierte sich irgendwie mit seiner turbulenten Kindheit und Jugend. Er entwickelte eine gesunde Skepsis gegenüber der Obrigkeit. Die britische Armee war für ihn auch nichts anderes als die Polizei. Er sah mit an, wie Soldaten Männer gegen die Wand knallten und ihnen die Beine auseinandertraten.83 Er sah, wie Soldaten Väter und Brüder aus Wohnungen zerrten und abtransportierten, zur Internierung ohne Prozess. Arthur McConville war arbeitslos.84 Nichts Ungewöhnliches in den Divis Flats, hier lebte die Hälfte aller Familien ausschließlich von Sozialhilfe.85
Wenn die Kinder nach draußen gingen, schärfte Jean ihnen ein, nicht zu weit weg zu gehen.86 »Nicht rumschweifen«, sagte sie. »Bleibt hier in der Nähe.« Offiziell herrschte kein Krieg — die Behörden behaupteten hartnäckig, es seien bloß innere Unruhen —, aber es fühlte sich an wie Krieg. Michael und seine Freunde und Geschwister zogen oft bis in fremdes, unberechenbares Terrain. Manche Kinder schienen selbst in den schlimmsten Jahren der Troubles keine Angst zu kennen. Sowie eine Schießerei vorbei war und die Brände verglommen, hüpften Kinder wieder nach draußen, krochen in ausgebrannten Lkw-Wracks herum, sprangen auf alten Lattenrosten Trampolin oder spielten in einer verwaisten Badewanne zwischen den Trümmern Verstecken.87
Michael war die meiste Zeit in Gedanken bei seinen Tauben. In Irland galten Tauben schon im neuzehnten Jahrhundert als »des armen Mannes Rennpferd«.88 Michael hatte durch seinen Vater und seine älteren Brüder Zugang dazu bekommen, die McConvilles züchteten Tauben, solange er denken konnte. Wenn Michael in die Kampfzone aufbrach, dann um nach nistenden Tauben zu suchen. Und wenn er eine entdeckte, warf er ihr seine Jacke über wie ein Fischernetz und schmuggelte das warme aufgeregte Geschöpf in sein Zimmer.89
Manchmal geriet er dabei in verfallene Häuser. Er hatte keine Ahnung, was da an Gefahren lauern könnte — Hausbesetzer, Paramilitärs, Bomben oder sonst was —, aber Furcht kannte er auch nicht. Einmal stand er mit einem Freund vor einer alten Fabrik mit einer komplett weggesprengten Fassade. Sie kletterten hoch, um nachzusehen, ob vielleicht Tauben irgendwo drinnen nisteten. In einem oberen Stockwerk starrten sie plötzlich auf einen Trupp britischer Soldaten, die dort ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die brüllten sofort: »Halt oder wir schießen!«, und rissen die Gewehre hoch. Michael und sein Freund kletterten schnell wieder nach unten.
Etwa ein Jahr nach der Ausgangssperre in den Lower Falls verlor Arthur McConville plötzlich rasant an Gewicht. Bald war er so schwach und zittrig, dass er nicht mal mehr die Teetasse halten konnte.90 Als er endlich zum Arzt ging und sich untersuchen ließ, stellte sich heraus, dass er Lungenkrebs hatte.91 Er schlief jetzt im Wohnzimmer, und Michael hörte ihn nachts vor Schmerzen stöhnen.92 Er starb am 3. Januar 1972. Michael sah den Sarg mit seinem Vater in die eiskalte Erde hinabgleiten und dachte, noch schlimmer könnte es nicht kommen.