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Sie nennen ihn "Saint". Doch er ist alles andere als ein Heiliger ...
Die Journalistin Rachel Livingston bekommt endlich ihre Chance, eine ganz große Story zu landen: Sie soll einen Enthüllungsbericht über Malcolm Saint schreiben. Saint ist mysteriös, privilegiert - eine Legende in den High-Society-Kreisen Chicagos. Doch obwohl die Presse jeden seiner Schritte verfolgt: Den wahren Malcolm Saint kennt niemand. Noch nicht. Denn genau dieses Geheimnis will Rachel lüften. Aber kann sie dem reichen Playboy so nahekommen, ohne ihm selbst zu verfallen?
Sexy, mitreißend und romantisch: New-York-Times- und USA-Today-Bestseller-Autorin Katy Evans schafft mit ihrer "Saint"-Reihe die perfekte Mischung.
"Saint gehört mir!" Sylvia Day
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Seitenzahl: 471
KATY EVANS
Saint
Ein Mann, eine Sünde
Roman
Ins Deutsche übertragen von Beate Bauer
SAINT: HEILIGER ODER SÜNDER?
Endlich bekommt die Journalistin Rachel Livingston ihre Chance, eine ganz große Story zu landen: Sie soll einen Enthüllungsbericht über Malcolm Saint schreiben. Malcolm Kyle Logan Preston Saint ist jung, privilegiert und steht schon seit seiner Geburt im Rampenlicht, und obwohl die Presse jeden seiner Schritte verfolgt, scheint ihn keiner wirklich zu kennen. Der skrupellose Geschäftsmann lässt niemanden an sich heran, schon gar nicht seine vielen Frauenbekanntschaften, mit denen sich der begehrte Bad Boy die Zeit vertreibt. Schon als Rachel ihm das erste Mal begegnet, ist sie von seiner elektrisierenden Anziehungskraft fasziniert. Doch was steckt hinter dieser Fassade? Rachel ist fest entschlossen, den wahren Malcolm Saint kennenzulernen und seine streng gehüteten Geheimnisse zu lüften. Allerdings hätte sie niemals damit gerechnet, dass aus der Story so viel mehr wird und plötzlich ihr Herz auf dem Spiel steht.
Apropos Schwelbrand;
wir bemerken ihn erst, wenn wir Feuer fangen.
Playlist
Addicted von Saving Abel
Undisclosed Desires von Muse
Superheroes von The Script
Climax von Usher
Stay with Me von Sam Smith
Peace von O. A. R.
I Believe in You von Kylie Minogue
Kiss You Slow von Andy Grammer
Talking Body von Tove Lo
My Heart Is Open von Maroon 5
Broken von Lifehouse
Need You Now von Lady Antebellum
Traumjob
Als ich heute Morgen in Helens Büro gehe, bin ich mir sicher, dass sie mich feuern wird. Es ist zwar nicht die Aufgabe meiner Vorgesetzten, mich zu feuern. Das ist die der Personalabteilung. Doch die Personalabteilung ist verkleinert worden. Edge, das Magazin, für das ich seit meinem Collegeabschluss schreibe und das ich liebe, steht am Abgrund.
Drei Schritte in das chaotische Zimmer, das mit Stapeln alter Magazine vollgestellt ist, unseren und denen der Konkurrenz, und mein Frühstück – Kaffee mit zwei Stück Zucker und Vollkorntoast mit Erdbeermarmelade – verwandelt sich in meinem Magen in einen Klumpen.
Ohne von der Mappe in ihrer Hand aufzublicken, zeigt Helen auf den Stuhl ihr gegenüber.
»Setz dich, Rachel.«
Schweigend setze ich mich, obwohl mir tausend Dinge auf der Zunge liegen: Ich kann das besser; lass mich mehr machen, besser zwei Artikel die Woche als einen. Sogar: Ich arbeite umsonst, bis wir wieder Fuß gefasst haben.
Ich kann es mir nicht leisten, umsonst zu arbeiten. Ich muss Miete zahlen, ich zahle noch immer meine Studiengebühren zurück, und ich habe eine Mutter, die ich liebe, mit einer chronischen Erkrankung und ohne Krankenversicherung. Aber ich liebe auch meinen Job. Ich will nicht entlassen werden. Ich wollte nie etwas anderes sein als das, was ich jetzt, in diesem Moment, bin, wo mein Schicksal in ihren Händen liegt.
Also sitze ich hier voller Furcht und habe Angst, alles zu verlieren, während ich darauf warte, dass Helen endlich die Mappe weglegt und mich anschaut. Als sich unsere Blicke treffen, frage ich mich, ob die nächste Geschichte, die ich in meinem Leben erzählen werde, die ist, wie ich von ihr gekündigt werde.
Ich liebe Geschichten. Wie sie unser Leben formen. Wie sie Menschen prägen, die uns nicht einmal kennen. Wie sie uns beeinflussen können, obwohl sie uns nicht einmal selbst widerfahren sind.
Das Erste, worin ich mich verliebte, waren die Worte, mit denen meine Mutter und Großmutter über meinen Vater sprachen. Mit diesen Worten bekam ich, was ich im wirklichen Leben nicht hatte – einen Vater. Ich teilte sie in Gruppen ein und speicherte sie ab. Wohin er meine Mutter bei ihrem ersten Date ausgeführt hatte (in ein japanisches Restaurant), ob sein Lachen humorvoll war (war es), was sein Lieblingsgetränk war (Dr Pepper). Ich bin mit der Liebe zu Geschichten und all ihren Fakten und Einzelheiten aufgewachsen, die mir Erinnerungen an meinen Vater schenkten, die mich schon mein ganzes Leben begleiten.
Meine Tanten meinten, ich wäre eine Träumerin, als ich sagte, dass ich später mein Geld mit Worten verdienen wollte, doch meine Mutter zitierte stets Picassos Mutter. »Picassos Mutter sagte zu ihm, wenn er zur Armee ginge, würde er General. Und wenn er ein Mönch würde, würde er Papst werden. Stattdessen war er ein Maler und wurde zu Picasso. Genauso empfinde ich in Bezug auf dich. Also, Rachel, tu, was dir gefällt.«
»Ich würde es noch lieber tun, wenn auch du tätest, was dir gefällt«, antwortete ich stets mit schlechtem Gewissen.
»Ich liebe es, für dich da zu sein«, war jedes Mal ihre Antwort. Sie ist eine begabte Malerin, doch außer mir und einer winzigen Galerie, die nur ein paar Monate nach ihrer Gründung pleite ging, glaubt das niemand. Also hat meine Mutter einen normalen Job, und der Picasso in ihr ist verstummt.
Doch sie hat so viel geopfert, um mir eine gute Bildung und mehr zu ermöglichen. Weil ich Fremden gegenüber ein wenig schüchtern bin, wurde ich nicht von vielen Lehrern ermuntert. Keiner von ihnen glaubte, dass ich das Zeug zu knallharter Berichterstattung hätte, weshalb ich das Einzige nahm, was ich als Motivation hatte: den Glauben meiner Mutter an mich.
Ich arbeite seit fast zwei Jahren für Edge, die Einschnitte begannen vor etwas mehr als drei Monaten, und meine Kollegen und ich haben Angst, als Nächste dran zu sein. Jeder von uns, ich eingeschlossen, gibt hundertzehn Prozent. Doch für einen Laden, der auf der Kippe steht, ist das nicht genug. Es scheint keinen anderen Weg zu geben, um Edge zu retten, als durch eine große Geldspritze, die nicht zu kommen scheint, oder mit viel spektakuläreren Geschichten, als denjenigen, die wir veröffentlichen.
In dem Moment, als Helen den Mund aufmacht, fürchte ich, die Worte Wir müssen dich leider entlassen zu hören. Ich denke schon über eine Geschichte, eine Idee nach, die ich für meine nächste Kolumne anbieten kann. Etwas Ungewöhnliches, das unserem Namen Aufmerksamkeit verleihen und es mir irgendwie ermöglichen könnte, meinen Job noch eine Weile zu behalten.
»Ich musste gerade an dich denken, Rachel«, sagt sie. »Hast du aktuell eine Beziehung?«
»Ähm. Eine Beziehung? Nein.«
»Nun, das ist genau, was ich hören wollte!« Sie schiebt den Papierkram beiseite, nimmt eins der Magazine vom Regal und klatscht es zwischen uns auf den Schreibtisch. »Schau mal, ich hab ein Angebot für dich. Vielleicht musst du dafür bei deinen Moralvorstellungen ein paar Abstriche machen. Doch ich glaube, dass es sich am Ende für dich auszahlen wird.« Mit einem reuigen Lächeln zeigt sie mir eins der alten Magazine. »Das war unsere Erstausgabe. Vor fünfzehn Jahren.«
»Ich liebe sie!«, sage ich.
»Das weiß ich – dich hat schon immer interessiert, wie wir begonnen haben. Deshalb mag ich dich, Rachel«, sagt sie ohne jede Wärme. Es ist bloß eine Feststellung. »Weißt du, Edge stand einmal für etwas. Zu Beginn hatten wir keine Angst, Regeln zu brechen und Dinge zu wagen, die andere Magazine nicht taten. Du scheinst die Einzige zu sein, die damit weitermachen will. Sharpest Edge ist unsere Kolumne, mit den meisten Kommentaren. Du konzentrierst dich auf Trends und lieferst deine freimütige, ungefilterte Meinung. Sogar wenn Leute nicht deiner Meinung sind, respektieren sie dich dafür, dass du sie ehrlich mitteilst.
»Deshalb bist jetzt wohl du anstelle von Victoria in meinem Büro.« Sie macht eine Bewegung mit dem Kinn dorthin, wo meine größte Konkurrentin, Victoria, in ihrer Arbeitsnische sitzt und fleißig ist.
Vicky. Sie ist die einzige andere Streberin bei Edge und hat bisher immer das Glück gehabt, mich zu übertreffen. Ich will mit Victoria nicht verfeindet sein. Doch es fühlt sich an, als gäbe es einen Beliebtheitswettbewerb, von dem ich nichts weiß. Sie wirkt immer so fröhlich, wenn Helen mit dem, was ich geschrieben habe, nicht zufrieden ist, und manchmal bringe ich kein Wort aufs Papier, nur weil ich Angst vor Victorias Reaktion habe.
»Hör zu, ich will alles ein wenig aufmischen. Wie sich herausstellt, brauchen wir etwas Drastisches, wenn wir im Geschäft bleiben wollen. Etwas, das die Aufmerksamkeit der Leute auf Edge lenkt. Stimmst du mir zu?«
»Ja. Wenn es etwas gibt, das Edge neues Leben einhauchen kann …«
»Wir kriegen keinen Fuß mehr auf den Boden, wir sind alle so ängstlich; wir berichten von einem warmen Plätzchen aus, aus Angst, wir könnten in die Luft fliegen, wenn wir den Knopf drücken. Wir verwelken langsam. Wir müssen über die Themen schreiben, die uns Angst machen, uns faszinieren … und von niemandem ist diese Stadt faszinierter als von unseren Millionärsjunggesellen. Weißt du, wen ich meine?«
»Die Playboys?«
Sie verzieht die Lippen. »Und zwar den schlimmsten von allen.« Sie nahm ein weiteres Magazin. Ich starre auf das Cover, auf dem steht Saint: Heiliger oder Sünder?
»Malcolm Saint«, flüstere ich.
»Wer sonst?«
Der Mann, der meinen Blick erwidert, hat ein perfekt geschnittenes Gesicht, wunderschöne Lippen und Augen, die grüner als der Boden einer Bierflasche sind. Sein Lächeln ist total durchtrieben. Es sagt, dass er gern über die Stränge schlägt und ihm am meisten daran gefällt, dass er damit davonkommt. Doch da ist etwas Verborgenes und irgendwie Eisiges in seinem Blick. Oh ja, diese grünen Augen sind aus grünem Eis gemacht.
»Ich habe von ihm gehört«, gestehe ich und werde langsam nervös. »Ich würde nicht mit offenen Augen durch Chicago laufen, wenn ich das nicht hätte.«
Skrupellos, heißt es.
Eine männliche Hure, heißt es.
Und so ehrgeizig, dass er Midas beschämen würde. Oh ja. Es heißt, Saint gibt keine Ruhe, bevor er nicht die Welt besitzt.
»Victoria findet, dass du zu jung und unerfahren bist, um ein so gewagtes Projekt zu übernehmen, Rachel. Aber du bist Single, und sie nicht.«
»Du weißt, wie gern ich über Trends schreibe, Helen, aber du weißt auch, dass ich gern größere Geschichten schreiben würde, Geschichten über das Zuhause von Leuten, über Sicherheit. Ich will mir diese Chance verdienen, und wenn ich das auf diese Weise tun kann, dann lass ich dich nicht hängen. An was für eine Art Story hast du dabei gedacht?«
»Eine Enthüllungsgeschichte.« Sie grinst. »Eine, in der wir saftige kleine Details über ihn erfahren. Ich denke dabei vor allem an vier Dinge. Wie es ihm gelingt, die ganze Zeit die Ruhe zu bewahren. Welchen Deal er mit seinem Vater hat. Welche Rolle die vielen Frauen in seinem Leben spielen. Und wieso er diese unverkennbare Neigung dazu hat, Dinge vierfach zu tun. Also«, sie schlug zum Nachdruck mit der Hand auf den Tisch, »um an die Beute ranzukommen … Seien wir ehrlich, Rachel, du musst versuchen, nah an ihn ranzukommen. Versuch’s mit Lügen, kleinen, harmlosen Lügen. Verschaff dir Zutritt zu seiner Welt. Es ist nicht leicht, an Saint heranzukommen, weshalb es keiner schafft, auch nur eins von diesen Dingen herauszufinden, erst recht nicht alle vier.«
Ich höre zu. Meine Neugier ist geweckt. Doch ich winde mich ein wenig. Lügen. Kleine, harmlose Lügen. Stimmt schon, ich habe schon ein paar Mal gelogen. Das ist menschlich. Ich habe schon das Richtige und das Falsche getan, aber ich tue lieber das Richtige. Ich schlafe gern gut, vielen Dank. Doch das ist die Gelegenheit, die ich wollte, seit ich das College verlassen habe.
»Und falls Saint sich an dich ranmacht«, fährt Helen fort, »dann sei darauf gefasst. Vielleicht musst du ein wenig mitspielen. Kannst du das?«
»Ich glaube schon«, sage ich, doch ich klinge viel zuversichtlicher als ich es bin. Es ist … ich weiß nicht genau, wie viele Gelegenheiten wie diese ich bekomme. Ich werde nie dazu in der Lage sein, über wichtige Themen zu berichten, wenn ich mir nicht ein besseres Gehör verschaffe. Ein Thema anzupacken, von dem die Leserschaft fasziniert ist, wird mir eine Stimme geben, und ich möchte unbedingt eine Stimme haben.
»Glaubst du, du schaffst das? Oder …?« Ihr Blick wandert nach draußen.
Nein. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Victoria die Story bekäme. Das wäre eine bittere Pille, die ich nicht schlucken will.
»Ich tu’s. Ich bin hungrig. Ich will eine gute Story«, versichere ich Helen.
»Wir können auch warten und dir eine andere gute Story besorgen, Rachel«, sagt sie und spielt damit des Teufels Advokat.
»Ich tu’s. Er ist jetzt meine Story.«
»Er ist Chicagos Story. Und Chicagos Liebling. Er muss mit Vorsicht behandelt werden.«
»Er ist die Geschichte, die ich erzählen will«, versichere ich ihr.
»Das wollte ich hören.« Sie lacht. »Rachel, du bist wirklich schön. Du bist klasse. Du bist witzig, und du arbeitest hart und bist bereit, alles zu geben, doch trotz deiner Erfahrungen bist du noch immer unschuldig. Du bist seit zwei Jahren hier, und schon vor deinem Abschluss hast du das alles hingekriegt. Aber du bist noch immer ein junges Mädchen, das in einer Erwachsenenwelt spielt. Du bist zu jung, um zu wissen, dass es unter den Reichen der Stadt Verhaltensregeln gibt.«
»Ich weiß, dass wir uns normalerweise auf die Reichen einstellen.«
»Denk einfach daran, dass Saint das Magazin plattmachen könnte. Er darf es nicht kommen sehen. Wenn, dann ist sein Gesicht bereits an den Zeitungsständen.«
»Er wird mich nicht erwischen«, murmle ich.
»Okay, Rachel, doch ich will intime Enthüllungen. Ich will Einzelheiten. Ich will das Gefühl haben, in seiner Haut zu stecken. Wie ist es, er zu sein? Und du wirst das der gesamten Stadt erzählen.« Sie lächelte fröhlich und erweckte ihren Computer mit einem Rütteln der Maus zum Leben. »Ich freue mich schon darauf. Also ab mit dir, Rachel. Finde die Story in der Story und schreibe sie auf.«
Heilige Scheiße, Livingston. Du hast deine Story!
Ich bin so benommen und beschwingt, so euphorisch, als ich zur Tür gehe, dass ich vor dem Wunsch danach, mit der Arbeit anzufangen, richtig zittere.
»Rachel«, ruft sie, als ich die Glastür öffne, während mein Magen auf ganz andere Weise rumort. Sie nickt. »Ich glaube an dich, Rachel.«
Hier stehe ich also, vollkommen überwältigt davon, endlich ihr Vertrauen gewonnen zu haben. Ich hatte nicht erwartet, dass dies mit einer riesigen Angst vor dem Scheitern einhergehen würde. »Danke für die Chance, Helen«, flüstere ich.
»Oh, eins noch. Saint ist normalerweise für die Presse nicht zu sprechen. Doch es hat Ausnahmen gegeben, und ich kann mir einen Weg vorstellen, mit dem du Glück haben könntest. Schau dir seine neue Social-Media-Seite an, Interface. Nutze sie als Zugang. Er mag die Presse vielleicht nicht, aber er ist ein Geschäftsmann und wird seinen Vorteil daraus ziehen.«
Ich nicke mit wenig Selbstvertrauen und großen Selbstzweifeln, und sobald ich draußen bin, seufze ich nervös.
Okay, Livingston. Konzentrier dich, und pack es an.
*
Ich habe so viele Informationen über Saint gefunden, dass ich mir selbst Dutzende von Links schicke, um die Recherche heute Abend zu Hause fortzusetzen. Ich rufe in seinem Büro an und bitte eine Assistentin um ein Interview. Sie versichert mir, dass man mir Bescheid geben wird. Ich drücke die Daumen und sage: »Danke, ich stehe jederzeit zur Verfügung. Meine Chefin freut sich darauf, etwas über Mr Saints letztes Projekt zu bringen.«
Nach getaner Arbeit fahre ich nach Hause. Meine Wohnung ist in der Nähe der Blommer Chocolate Company im Fulton River District. Ich wache mit dem Geruch von Schokolade auf. Mein Wohnhaus ist vier Stockwerke hoch und liegt am Rand von Downtown.
Manchmal kann ich es kaum glauben, dass ich meinen Traum lebe, oder zumindest einen Teil davon; ich wollte die Aktentasche, das Mobiltelefon, die hohen Schuhe und passend dazu Jackett und Rock. Ich wollte gut verdienen, um meiner Mutter ihren Traumwagen und eine eigene Wohnung kaufen zu können, damit man sie nicht zwangsräumt, wenn sie die Miete nicht bezahlen kann. Ich will diese Dinge noch immer.
Leider ist mein Berufsfeld ziemlich umkämpft. Bevor ich das College abschloss, hatte ich als Freelancer kein festes Einkommen. Man lebt von seiner Inspiration, die nicht fortwährend Ideen liefert. Dann bewarb ich mich auf eine Stelle bei der Chicago Tribune. Edge war auf der Suche nach Wochenkolumnisten für Themen wie Mode, Sex und Dating, Innovationen, Inneneinrichtung und sogar ungewöhnliche Haustiere. Das Büro umfasst zwei Stockwerke in einem alten Gebäude in Downtown, und es repräsentiert nicht gerade die Firmenumgebung, die ich mir vorgestellt habe.
Im oberen Stockwerk sitzen haufenweise Reporter an ihren Schreibtischen. Die Fußböden sind aus Holz, die Redaktionsbüros in grellen Farben gestrichen und immer erfüllt vom Klingeln der Telefone und dem Geschnatter der Leute. Anstelle des Kostüms, das ich gern zur Arbeit getragen hätte, schreibe ich in einem trendigen Oversize-T-Shirt mit einem Spruch darauf und einem Paar Socken, auf dessen Zehen Ich glaube steht. Es ist ein verrücktes Magazin, so verrückt wie die Storys und Kolumnen, die wir veröffentlichen – und ich liebe es.
Doch Blogger drängen uns aus dem Geschäft, unsere Auflage sinkt sekündlich. Edge braucht etwas Topaktuelles, und ich bin wild entschlossen, meiner Chefin zu beweisen, dass ich ihr das liefern kann.
»Gina!«, rufe ich meine WG-Partnerin, als ich unsere Zweizimmerwohnung betrete.
»Wir sind hier!«, höre ich Gina rufen.
Sie ist in ihrem Zimmer, mit Wynn. Sie sind meine besten Freundinnen. Wynn ist rothaarig, sommersprossig, rosig und süß, ganz anders als die dunkle sinnliche Gina.
Wir sind wie neapolitanische Eiscreme. Gina und ich sind groß, während Wynn einer Elfe gleicht. Gina und ich versuchen es mit Logik; Wynn kümmert sich um das Wir-Gefühl. Ich bin das Karrieremädchen, Wynn ist die Fürsorgliche und Gina die Sexbombe, die noch nicht gemerkt hat, dass sie Männer als ihre persönlichen Dildos benutzen könnte (wenn sie wollte). Sie will nicht. Wirklich.
Als ich meine Tasche an der Tür abstelle, sehe ich ihr üppiges Picknick mit chinesischem Essen und setzte mich zu ihnen auf den Boden.
Sie streamen eine alte Folge von Sex and the City.
Wir essen schweigend und schauen sie uns an, doch ich achte kaum auf den Bildschirm. Ich bin zu aufgedreht und platze schließlich damit heraus: »Ich hab meine Story.«
»Was?« Sie hören beide auf zu essen.
Ich nicke. »Ich habe meine erste richtige Story. Vielleicht drei oder vier Seiten – zum Teufel, fünf. Kommt darauf an, wie viel ich herausfinde.«
»Rachel!«, rufen sie im Chor und stürzten sich auf mich.
»Keine wilden Umarmungen. Shit! Ihr habt den Reis verstreut!«
Sie kreischen und weichen zurück, und Wynn holt den Handstaubsauger. »Worum geht’s?«, fragt sie.
»Malcolm Saint.«
»Malcolm Saint?«
»Was ist mit ihm?«, fragt Wynn.
»Das ist … irgendwie undercover.« Sie platzen beinahe vor Begeisterung. »Ich werde ihn kennenlernen.«
»Wie?!«
»Ich versuche ein Interview zu bekommen, um ihn über Interface zu befragen.«
»Aha.«
»Aber ich werde auch heimlich über ihn recherchieren. Ich werde ihn … entblößen«, necke ich sie.
»RACHEL!« Gina schlägt mir auf den Arm, weil sie weiß, dass ich sonst prüde bin.
Wynn schüttelt den Kopf. »Der Mann ist heiß!«
»Was wisst ihr zwei über ihn?«, fragt Gina.
Ich nehme meinen Laptop. »Ich war gerade online und habe alle seine Social-Media-Seiten geliket, und der Typ hat über vier Millionen Instagram-Likes.«
Wir klicken auf andere Seiten und überprüfen seinen Twitteraccount.
Was ich lese, beeindruckt mich nicht.
»Seine Sprecherin hat mir keinen Termin gegeben – sie hat mich auf eine Liste gesetzt. Ich frage mich, ob ich mehr Glück habe, wenn ich es über Social Media versuche.«
»Suchen wir ein sexy und kluges Profilbild, falls Saint es selbst zu Gesicht bekommt.«
»Das glaub ich nicht«, sage ich.
»Komm schon, Rachel, du musst dich so attraktiv wie möglich machen. Das hier.« Sie zeigt auf ein Bild in einem meiner Social-Media-Alben, wo ich einen Sekretärinnenrock und eine Bluse trage, doch die drei Knöpfe zwischen meinen Brüsten sind kurz davor abzuplatzen.
»Ich hasse diese Bluse.«
»Weil sie zeigt, was du hast. Komm schon, nimm es.« Ich ändere mein Profilbild und schicke ihm dann eine Nachricht.
Mr Saint, ich bin Rachel Livingston von Edge. Es wäre wunderbar, wenn Sie mir die Gelegenheit für ein persönliches Interview bezüglich des aufsteigenden Sterns Interface geben könnten. Ich habe auch über Ihr Büro eine Anfrage gestellt. Ich bin jederzeit verfügbar …
Ich hänge meine Unterlagen an und schicke sie weg. »Okay, Daumen drücken«, murmle ich mit Schmetterlingen im Bauch.
»Und Zehen.«
Später, nachdem Wynn nach Hause und Gina schlafen gegangen ist, gehe ich ins Bett. Ich setzte mich auf mein Kissen, Laptop im Schoß, und nuckle an einem Fruchtgummi. »Interessante Lektüre«, sage ich zu einem Online-Bild des Mannes. Ich bleibe bis Mitternacht auf und lese und lese. Ich habe bereits den ganzen Schmutz über ihn ausgegraben.
Malcolm Kyle Preston Logan Saint. Siebenundzwanzig Jahre alt. Seine Familie gehört zum alten Geldadel Chicagos, weshalb bereits seine Geburt eine Schlagzeile wert war. Im Alter von fünf war er mit Meningitis im Krankenhaus, und die Welt wartete gespannt darauf, ob er es schaffen würde.
Mit sechs Jahren erhielt er bereits einen schwarzen Gürtel in Karate, und an den Wochenenden flog er mit seiner prominenten Mutter in einem der Jets seines Vaters von einem Staat zum anderen. Mit dreizehn hatte er die meisten Mädchen in der Schule geküsst. Mit fünfzehn war er der weltgrößte Frauenheld und raffinierteste Lügner. Mit achtzehn war er ein richtiger Mistkerl und dazu noch reich. Mit zwanzig verlor er seine Mutter, war jedoch in einem Schweizer Bergort so mit Skifahren beschäftigt, dass er es nicht rechtzeitig zur Beerdigung schaffte.
Mit einundzwanzig waren er und seine beiden besten Freunde, Callan Carmichael und Tahoe Roth, die berühmtesten Treuhand-Babys unserer Generation.
Er besitzt vier Bugattis: Autokennzeichen BUG 1, BUG 2, BUG 3 und BUG 4. Er hat Häuser überall auf der Welt. Luxuskarossen. Dutzende von Golduhren, einschließlich eines ewigen Kalenders aus Roségold, den er für zwei Komma drei Millionen ersteigert hat. Er ist ein Sammler, könnte man sagen. Von Firmen, Spielzeug und Frauen, wie es scheint.
Malcolm ist ein Einzelkind, und nachdem er die Millionen seiner Mutter geerbt und während der darauffolgenden Jahre ein verblüffendes Talent fürs Geschäftsleben gezeigt hatte, wurde er nicht nur zum Milliardär, sondern auch zum Sinnbild für Macht. Nicht politische Macht, sondern die gute alte Macht des Geldes. Saint hat nichts mit den dubiosen Geschäften des Chicagoer Klüngels zu tun, doch er kann seinen Einfluss geltend machen, wenn er will. Jeder Politiker weiß das – weshalb es in seinem Interesse ist, dass der Playboy ihm gewogen bleibt.
Saint unterstützt nicht jeden. Die Öffentlichkeit vertraut irgendwie darauf, dass Saint völlig egal ist, was sie denken – er unterstützt niemanden, den er nicht besitzen will, also kann jemand, der von Saint unterstützt wird, nicht gleichzeitig von jemand anders besessen werden. Er ist der Champion der Underdogs. Mit seinem beträchtlichen Vermögen wurde Saint schon in jungen Jahren zu einem Risikokapitalgeber und hat die Tech-Projekte vieler seiner Ivy-League-Kumpel gefördert, von denen einige erfolgreich waren und Saint ein paar hundert Millionen reicher gemacht haben als seinen Vater. Noch immer managt er Risikokapitalanlagen von seinen Büroräumen M4 aus. Benannt nach dem Anfangsbuchstaben seines Vornamens und seiner Lieblingszahl, ist M4 eine Firma, die er in frühen Jahren gründete, als mehrere seiner Investments im NASDAQ verzeichnet wurden – eines dazu noch im Wert von ein paar Milliarden.
Aktuelles Cover des Enquirer:
Malcolm Saint, unser liebster Bad Boy, enthüllt:
mit wie vielen Frauen er geschlafen hat.
Weshalb er nicht am Heiraten interessiert ist.
Wie er zu Amerikas heißestem Frauenheld
wurde. Und mehr!
Twitter:
@MalcolmSaint ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen!
#eatshitanddie
DU BIST SCHEISSTOT!@MalcolmSaint du hast meine Freundin gefickt und du bist so was von TOT!
Will jemand einen Drink umsonst? @MalcolmSaintzahltinderBlueBarDowntown
Facebook Pinnwand:
Hey Mal, erinnerst du dich an mich? Ich habe dir letzte Woche meine Nummer gegeben. Ruf mich an oder schick mir eine Nachricht!
Saint – Drinks nächstes Wochenende, ich bin mit meiner Frau in der Stadt. (Nicht dass ich sie mitbringen würde. Sie hat sich schon genug bei dir eingeschmeichelt.) Schreib mir, damit wir einen Treffpunkt vereinbaren.
Siehst gut aus auf den Yacht-Fotos, Saint. Zeit für ein paar mehr? Meine Freunde und ich würden gerne wieder mit dir feiern! J XOXO
*
Wow. »Du bist wirklich ein Prachtkerl, was?«, flüstere ich und klappe gegen Mitternacht meinen Laptop zu. Ich wette, dass die Hälfte der Dinge im Internet völlig überzogen und unwahr sind, weshalb ich verlässlicheres Recherchematerial brauche – aus erster Hand. Ich grinse und schaue auf die Uhr, wobei ich feststelle, dass es zu spät ist, um meiner Mutter mitzuteilen, dass ich endlich meine Story habe.
Neue Recherche
Twitter:
@MalcolmSaint folge mir bitte auf Twitter!
@MalcolmSaint wirft den ersten Ball beim Cubs Spiel
Mein Posteingang:
LEER.
Ich habe bereits eine fünf Zentimeter dicke Akte über Malcolm Saint, doch noch keinen Anruf von seinem Pressebüro.
Die Pläne mit meiner Mutter heute sind ebenfalls nicht von Erfolg gekrönt.
Ich hatte vor, mich mit ihr zu treffen, um unsere Unterstützung für die Kampagne »Beendet die Gewalt« in unserer Nachbarschaft zu demonstrieren, doch sie ruft an und sagt, dass sie es nicht schafft. Ihr Chef hat sie gebeten, für jemanden einzuspringen. »Es tut mir leid, mein Schatz. Warum bittest du nicht eins der Mädchen, dich zu begleiten?«
»Keine Sorgen, Mom. Das werde ich. Du nimmst dein Insulin, okay?«
Ich weiß, dass sie es nimmt, aber ich kann nicht anders, als es jedes Mal zu erwähnen, wenn wir telefonieren. Ich bin zwanghaft, was sie betrifft.
In der Tat mache ich mir so viele Sorgen um meine Mutter, dass Gina und Wynn sich wiederum Sorgen darum machen, dass mich das krank machen könnte. Ich will ein dickes Sparpolster, damit ich die Krankenversicherung für sie übernehmen und mir sicher sein kann, dass sie eine anständige Wohnung und gutes, gesundes Essen und ebenfalls gute Pflege hat. Ich will meiner Mutter alles geben, was sie mir gegeben hat, damit sie in Rente gehen und endlich das tun kann, was sie liebt. Jeder verdient es, das zu tun, was er liebt. Ihre Liebe zu mir und ihr Wunsch, mir so viel wie möglich zu ermöglichen, haben sie davon abgehalten. Ich will so erfolgreich sein, dass sie diesmal ihre Träume verwirklichen kann.
Die Enthüllungsgeschichte könnte zu zahlreichen weiteren Gelegenheiten führen. Eine Tür, die eine Vielzahl weiterer Türen öffnet.
Ich klicke wie verrückt auf Links zu Malcolm Saint, als Gina schließlich in ihrem bequemsten Outfit aus ihrem Zimmer geschlappt kommt.
»Ich hab dir gesagt, es sollte etwas sein, bei dem es dir egal ist, wenn Farbe drauf kommt«, erinnere ich sie. »Ist das nicht deine Lieblingsjeans?«
»Oh verdammt, stimmt! Wieso habe ich das vergessen, als ich die in meinem Schrank gefunden habe?« Sie marschiert in ihr Zimmer zurück.
Gegen elf Uhr stellen Gina und ich uns an eine Ecke des Parks beim Basketballfeld, ganz erpicht darauf, unsere mit Farbe bedeckten Hände auf eine mauergroße Leinwand zu klatschen.
»Jeder hat in diesem Kampf jemanden verloren. Angehörige, unseren Lebensmittelhändler, einen Freund …«, sagt einer der Organisatoren.
Ich war zwei Monate alt, als ich meinen Dad verloren habe.
Ich weiß nur, was meine Mutter mir erzählt hat: dass er ein ehrgeiziger, hart arbeitender Mann voller großer Träume war. Er schwor ihr, dass ich nie arbeiten müsste … er war besessen davon, uns ein traumhaftes Leben zu schenken. Wir baten ihn nicht darum, doch das spielte keine Rolle für ihn.
Es brauchte nur eine Waffe, und nichts davon wurde wahr.
Ich habe keine Erinnerung an seine Augen, die wahrscheinlich grau waren wie meine. Ich habe nie seine Stimme gehört. Erfuhr nie, ob er morgens wie Ginas Vater schlechtgelaunt oder reizend wie Wynns war. Ich erinnere mich, dass die Nachbarn jahrelang Torte brachten, als ich heranwuchs. Ihre Töchter kamen herüber, um mit mir zu spielen. Ich erinnere mich, dass ich auch mit Kindern anderer Leute spielte, als mich meine Mutter zu denen brachte, die ebenfalls jemanden durch einen gewaltsamen Tod verloren hatten.
Heute, dreiundzwanzig Jahre, nachdem mein Vater gestorben ist, wünsche ich mir jedes Mal, wenn etwas Schlimmes passiert, dass wir dem ein Ende machen könnten, und ich will niemals vergessen, wie es sich anfühlt, das zu wollen.
Wir sind wegen unserer Methoden, eine sicherere Stadt zu fordern, kritisiert worden – manche sagen, wir seien zu passiv, andere, dass es sinnlos sei – doch ich glaube, dass es selbst die leiseste Stimme verdient hat, gehört zu werden.
Nach Anweisung der Organisatoren kippe ich einen Zentimeter rote Farbe auf mein übergroßes Tablett, und lege dann meine Hand hinein. Dickflüssige rote Farbe breitet sich bis zu meinen Fingerspitzen aus.
»Wir machen unsere Handabdrücke auf dieses riesige Wandbild als Symbol dafür, der Gewalt auf den Straßen, in unseren Gemeinschaften, in unserer Stadt, in unserer Nachbarschaft Einhalt zu gebieten«, fährt der Organisator fort.
Das Telefon in meiner linken Gesäßtasche vibriert.
»Also gut«, ruft die Frau.
Auf drei – eins, zwei, drei! – presse ich meine Hand auf die Wand, während Gina das Gleiche tut, ihre Hand rot wie meine und ein klein wenig größer.
Sobald wir unseren Abdruck gemacht haben, eilen wir zu den Brunnen, um die Farbe abzuwaschen. Gina lehnt sich über meine Schulter, und ich schreie auf und versuche mich zu befreien.
»Hey, du bekleckerst mich überall mit Farbe!«, rufe ich lachend, während ich meine Hände abtrockne und beiseite trete. Während sie die Farbe abschrubbt, ziehe ich mein Telefon heraus.
Und der Magen sinkt mir in die Kniekehlen, weil ich eine Antwort habe.
Nachricht
Malcolm Saint:
Ms Livingston, ich bin Dean, der Pressekoordinator von Mr Saint. Wir haben heute um 12.00 Uhr eine zehnminütige Lücke.
Ich bekomme diese Mitteilung jetzt, am Samstag um elf Uhr achtzehn.
»Scheiße, ich hab’s!«, berichte ich Gina, als ich ihr die Nachricht zeige. Doch anstatt mit mir abzuklatschen, blickt sie vielsagend auf meinen Overall.
»Oh nein«, stöhne ich. »Ich kann ihn so nicht treffen!«
»Okay, nimm meinen Gürtel.«
»Oh mein Gott, wirklich? Ich sehe lächerlich aus!«
Sie schlingt ihn mir um die Taille und macht ihn zu. »Rachel, konzentrier dich. Es gibt keinen Laden in der Nähe, du hast keine Zeit dich umzuziehen.«
Wir werfen uns panische Blicke zu, als wir beide meine Klamotten begutachten. Ich trage einen Jeansoverall mit Farbklecksen überall und darunter ein Tanktop und einen roten Gürtel. »Ich sehe aus wie eine Nutte am Waschtag!«
»Du hast Farbe im Gesicht«, sagt Gina und windet sich.
Ich stöhne und flüstere dem Universum zu: Das nächste Mal, wenn du einen meiner Träume wahr werden lässt, wäre ich gern passend für den Anlass gekleidet.
Als würde sie meine Gedanken lesen, versucht Gina mich aufzumuntern. »Komm schon, Kleider machen nicht das Mädchen aus. Hey, zumindest bist du nicht nackt.«
*
Ich habe versucht, mein Haar irgendwie zu bändigen, aber nein, es verbessert mein Erscheinungsbild nicht. Ich hasse diese Situation aus tiefstem Herzen, während ich seitlich auf dem Rücksitz eines Taxis sitze, weil ich befürchte, dass Gina mir Farbe auf den Rücken gekleckst hat, da sie erst nach mir die Hände gewaschen hat. Erst vor ein paar Sekunden habe ich gespürt, wie ich am Plastiksitz des Taxis kleben geblieben bin, und jetzt hasse ich diese Situation so sehr, dass sie mir Magenkrämpfe verursacht. Ich bitte den Fahrer, den Rückspiegel zu senken und blicke in mein Gesicht.
»Oh mein Gott«, sage ich.
Und da bin ich. Mein langes blondes Haar ist zu unordentlichen Zöpfen geflochten und auf meinem Hals ist ein Klecks Farbe, der auf meiner blassen Haut wie Blut aussieht. »Oh mein Gott«, stöhne ich.
Ist das die Frau, die der berühmte Malcolm Saint gleich zu Gesicht bekommt?
Und wenn ich auf dem Rücksitz des Taxis diese Situation wirklich zu hassen glaube, habe ich keine Ahnung, wie viel mehr ich sie hassen werde, wenn ich das Firmengebäude M4 betrete.
Das Gebäude selbst türmt sich mit seinen schicken verspiegelten Fenstern beinahe so hoch auf wie der Sears-angeblich-jetzt-Willis-genannt-aber-zum-Teufel-mit-dem-Namen-Tower. In der Lobby gibt es von vorn bis hinten nur Marmor und Granit unter meinen Füßen. Stahlkonstruktionen halten gläserne Treppen, die zur zweiten Lobbyebene führen, während transparente Aufzüge hinauf- und hinabfahren.
M4 ist so schick wie ein Nachtclub, aber so ruhig wie ein Museum. Ich fühle mich wie ein Luftballonmädchen, das seine Luftballons vergessen hat, als es die Drehtür nimmt und auf die Rezeption zugeht.
Oh verdammt, das ist wirklich nicht so toll. Alle in der Lobby schauen mich an.
Ich kann das nicht, ich kann das nicht, ich kann das nicht.
Livingston! Konzentrier dich. DOCH. Du kannst.
Ich strecke mein Kinn vor und marschiere hocherhobenen Hauptes auf die Rezeptionistin zu. »Rachel Livingston für Malcolm Saint.«
Sie beäugt mich stumm. Prüft meinen Personalausweis. Runzelt ein wenig die Stirn.
Mit einem Meter vierundsiebzig bin ich wahrlich nicht klein. Doch ich habe das Gefühl, immer kleiner zu werden. Ich schrumpfe genau hier, während ich warte. Wortlos gedemütigt.
»Oberster Stock«, sagt sie und betrachtet mich bis hinab zu meinen Converse-Sneakern.
Gott. Verdammt.
Ich eile mit so viel Hochmut, wie ich nur aufbringen kann, zum Aufzug.
Der Aufzug rauscht in das oberste Stockwerk und spuckt unterwegs meine Begleiter aus – alle schwarz und weiß in schicke Businessanzüge gekleidet –, bis ich ganz allein bin. Meine Nerven liegen beinahe blank. Ich wette, Victoria würde sich niemals so präsentieren. Nicht einmal, wenn man sie dafür bezahlen würde.
Doch Victoria ist nicht hier, Rachel. Du bist es.
Der Aufzug macht Ping, und ich trete hinaus.
Es gibt vier Schreibtische, zwei rechts, zwei links, und riesige Mattglastüren, die zu seiner … Höhle führen. Ich weiß, dass es sein Büro ist, denn die mattierten Türen erwecken den Eindruck eines Glasforts, das sowohl auffallend als auch seltsam unaufdringlich ist. Es signalisiert Zugänglichkeit, während es außerhalb der Reichweite der restlichen Welt liegt.
Eine Frau kommt um einen Schreibtisch herum und macht mir Zeichen, im linken Bereich Platz zu nehmen.
Nachdem ich ihr leise gedankt habe, sitze ich ein paar Minuten auf dem Rand eines Stuhles, während ich seinen vier Assistentinnen dabei zusehe – jede auf ihre Art schick und attraktiv –, wie sie fortwährend Anrufe annehmen. Sie arbeiten völlig synchron.
Ein Aufzug öffnet sich, und ich erhasche einen Blick auf einen großen, auffälligen Mann, der mir ins Gedächtnis ruft, dass ich eine Frau bin, als er mit einer Gruppe Geschäftsmänner im Schlepptau herauskommt. Die Schultern breit wie eine Straße, rabenschwarzes Haar, gutsitzender Designeranzug, schneeweißes Hemd und einen Schritt, als wollte er das Universum verschlingen. Er nimmt eine Mappe, die ihm einer der anderen Männer reicht, und als er eine Art Befehl erteilt hat, der die anderen mit einem Affenzahn auseinanderspringen lässt, stürmt er vorbei. Er bewegt sich mit der Kraft eines drohenden Hurrikans und verschwindet in seinem Glaskäfig, wobei er mich ganz benommen zurücklässt, den letzten Blick auf sein schwarzes Haar, seinen breiten Rücken und den heißesten Männerhintern, den ich je in Chicago gesehen habe, gerichtet.
Einen Moment lang habe ich das Gefühl, als hätte sich die Welt schneller bewegt, als ob zehn Sekunden zu einer zusammengeschrumpft wären – derjenigen, in der dieser Mann an mir vorbeiging. Wie ein Blitz.
Eine der Assistentinnen springt auf und geht in das Glasbüro, in dem er verschwunden ist, während die drei anderen zur Tür starren, als wünschten sie, der Blitz hätte ein wenig näher eingeschlagen.
Dann wird es auch mir klar.
Dass der Sturm Malcolm Saint war.
Ja, der Hurrikan war Saint.
Ich spüre einen Anflug von Furcht.
Ich werfe einen Blick auf meine Sneaker. Und ja. Es sind noch immer Sneaker. Würg!
Ich bemerke, dass die Assistentin die Tür einen Spalt breit offen gelassen hat, und ich kann es mir nicht verkneifen, mich vorzubeugen, um zu lauschen.
»Ihr Zwölf-Uhr-Termin ist da. Sie haben zehn Minuten.«
Wegen des nervösen Herzklopfens kann ich die Antwort nicht hören.
»Oh, und Mr Saint, diese … Reporterin … ist ein wenig unkonventionell gekleidet.«
Gott, ich kann noch immer nichts verstehen.
»Von Edge, einem kleinen Magazin. Dean fand es wichtig, jede Publicity zu nutzen, um das neue Facebook anzustoßen.«
Ich bekomme Gänsehaut, als ich eine leise, verstörend tiefe, männliche Stimme etwas murmeln hören.
»Rachel Livingston«, antwortet die Assistentin.
Ich spüre Schauer, als mich der unverständliche, jedoch tiefe Klang seiner Stimme erneut erreicht. Die Schauer schießen vom obersten Punkt meiner Wirbelsäule bis hinab zu meinem Steißbein.
Ich habe noch nie zuvor so gezittert, nicht einmal, als ich mir draußen den Hintern abgefroren habe. Sind das die Nerven?
»Ja, Mr Saint …«, sagt die Assistentin schließlich.
Sie kommt heraus und kann ihre Verwunderung nicht verbergen. Mist, und ich bin als Nächste dran. Dabei sehe ich aus, als hätte man mich mit einer Dose Farbe in einen Mixer geworfen.
Sie ruft mich zur Tür. »Mr Saint hat heute einen engen Terminplan. Genießen Sie Ihre zehn Minuten«, sagt sie und stößt sie auf.
Ich versuche zu antworten, aber ich bin so nervös, dass ich im Vorbeigehen nur ein leise gekrächztes »Danke« herausbekomme. Börsenticker bewegen sich auf Dutzenden von Bildschirmen auf einer Wand. Es gibt keine Pflanzen, nichts außer Technik und Steinfußboden und viel Platz, den er zu brauchen scheint.
Die Fenster bieten einen weiten Blick über Chicago, aber ich kann ihn nicht lange genießen, weil ich sehe, wie er – stumm, mit stürmischer Intensität in Armani – mit dieser hurrikanähnlichen Kraft, die beinahe außerirdisch wirkt, auf mich zukommt.
Wow. Alles an ihm ist wow. Sein Gesicht, seine Präsenz, seine Schultern, seine Augen. Seine Augen schimmern lebendig – grün und tief, wie reißende Flüsse, doch sind die kleinen Eisstücke darin, die beinahe nach meiner Wärme schreien, nicht zu übersehen.
»Miss Livingston.«
Er reicht mir die Hand, und als meine Finger seinen warmen Griff spüren, merke ich, dass ich nicht atmen kann.
Nickend und schluckend und mit einem künstlichen Lächeln ziehe ich meine Hand zurück, während ich ihn mit wachsender Ehrfurcht betrachte.
Sobald er sich auf seinen Stuhl gesetzt hat, wirkt seine Haltung täuschend lockerer, doch ich kann die Energie spüren, die er verströmt.
»Mr Saint«, murmle ich schließlich, meiner unpassenden Aufmachung inmitten dieses eleganten Luxus bewusster denn je.
Er blickt mich auf eine seltsam stille Art an. Ich wette, ich bin die einzige Frau, die er je in einem Overall und in Sneakern gesehen hat. Ich wette, jeder trägt seine besten Sachen, wenn er mit ihm verabredet ist.
Mist.
Er blickt auf seine Uhr und erschreckt mich, als er etwas sagt. »Die Uhr tickt, Miss Livingston, also legen Sie ruhig los.« Er zeigt auf den Stuhl gegenüber seines Schreibtisches und … darf ich anmerken, dass diese Stimme ein echtes Erlebnis ist?
Seine Gegenwart ist ein echtes Erlebnis. Kein Wunder, dass die Leute im Netz darüber berichten – wen zum Teufel das auch immer interessiert.
Sein kantiges Kinn, seine Augenbrauen zwei dunkle Striche über tiefliegenden, mit dichten Wimpern versehenen Augen. Seine Lippen sind sinnlich und in den Winkeln leicht nach oben gezogen. Die Sorte Lippen, die Gina »essbar« nennt.
»Danke, dass Sie Zeit für mich haben, Mr Saint«, sage ich.
»Saint genügt.« Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück.
Adrenalin pulsiert durch meinen Körper, als ich schließlich keine andere Wahl habe, als mich auf den Stuhl zu setzen, auf den er zeigt. Ich versuche mich nicht zurückzulehnen, um keine Farbe auf den Stoff zu schmieren – und ein wenig steif zücke ich mein Telefon, in dem ich mir die Fragen auf dem Weg hierher notiert habe.
»Ich bin natürlich hauptsächlich an ihrer neuen Social-Media-Plattform interessiert, die erste, die es wirklich mit Facebook aufnehmen will …«
Mir entgeht nicht, dass er von meinen Sachen abgelenkt ist, als ich ihm gegenübersitze. Ich kann seinen prüfenden Blick auf mir spüren. Ist er über meine Aufmachung empört? Ich kann auch seinen heißen Blick auf mir spüren, und fange gleich an, mich zu winden.
Er setzt sich anders hin und verdeckt seinen Mund mit der Hand. Verbirgt er etwa ein Lächeln? Oh mein Gott, bebt seine Brust ganz leicht? Er lacht wegen meines Outfits! Weil ich steif bin wie eine Puppe, nervös und schrecklich besorgt darüber, dass ich mit Farbe bekleckert sein könnte.
»Wie Sie wissen«, zwinge ich mich fortzufahren, obwohl ich am liebsten im Erdboden versinken würde, »haben Investoren nachgefragt, ob Sie mit dem Unternehmen an die Börse gehen wollen …«
Ich verstumme, als er aufsteht und zum anderen Ende seines Büros geht. Er geht auf eine Weise, wie es nur selbstsichere Männer tun. Es ist verwirrend, als er wieder auf mich zukommt und mir etwas reicht, das wie ein sauberes Anzughemd aussieht.
»Hier, ziehen Sie das an.«
Heilige Scheiße. Ist das etwa sein Hemd? »Oh nein.«
Seine Augen sind sehr nah und blicken mit einer Neugier zu mir herunter, die ich zuvor nicht bemerkt habe.
»Ich bestehe darauf«, sagt er mit der Andeutung eines Lächelns.
Mein Herz schlägt schneller. »Wirklich«, protestiere ich kopfschüttelnd.
»Sie werden sich besser fühlen.« Er zeigt auf mich, und ich spüre, wie ich erröte. Daraufhin lächelt er, mit einem Funkeln in den Augen.
Nachdem ich aufgestanden bin, um ihm das Hemd abzunehmen, öffne ich jeden Knopf mit zitternden Fingern und schlüpfe dann in die Ärmel. Als ich es zuknöpfe, kehrt er zum Schreibtisch zurück, diesmal mit langsamen, fast raubtierhaften Schritten … denn er wendet den Blick nicht von mir ab, als er darum herumgeht.
Je schneller ich meine Finger zu bewegen versuche, desto ungeschickter scheinen sie zu sein. Das Hemd reicht mir bis halb über die Oberschenkel – ein Hemd, das ihn berührt hat, seine Brust, seine Haut, und plötzlich entgeht mir nicht, was er tut; wie er Chicagos begehrtesten männlichen Körper in seinem Stuhl zurücklehnt.
»Okay«, verkünde ich.
Aber es ist nicht okay. Es ist gerade nicht okay.
Ich erröte bis unter die Haarwurzeln, und seine Augen funkeln gnadenlos, als wüsste er es. »Es steht Ihnen besser als mir«, versichert er mir.
»Sie nehmen mich auf den Arm, Mr Saint«, sage ich leise, während ich mich erneut auf den Stuhl sinken lasse. Sein Hemd riecht nach Waschmittel, der gestärkte Kragen sitzt locker um meinen Hals. Gott. Meine Knie fühlen sich schwach an. Ich könnte mich nicht verwundbarer fühlen, wenn ich mich vor ihm ausgezogen hätte.
»Na schön, jetzt, wo Sie mich angemessen eingekleidet haben«, sage ich lachend zu ihm und verachte mich selbst für meine plumpe Vertraulichkeit. Konzentrier dich auf deine Fragen, Rachel. Und sei objektiv.
Sein Mobiltelefon klingelt. Er ignoriert es, und ich sehe, dass er über meine Bemerkung lächelt. Seine Lippen verziehen sich verführerisch in den Mundwinkeln, und seine Zähne sind absolut gleichmäßig und weiß im Kontrast zu seiner Bräune.
Sein. Lächeln.
Oh.
Mir wird plötzlich ganz flau. »Wollen Sie etwas dazu sagen?«
»Nein«, sagt er ganz unverblümt. »Machen Sie weiter. Es ist Ihre Zeit.«
Es klingelt erneut. Er blickt auf das Display, und seine Augen werden schmal.
»Nur zu«, ermuntert er mich.
Ich will wirklich, dass er für einen Moment irgendwo anders hinblickt.
Was passiert nur mit mir?
Ich trage sein Hemd!
Schließlich murmelt er. »Entschuldigen Sie«, nimmt das Gespräch an und dreht sich ein Stück zur Seite, während er zuhört.
Während ich seufzend erneut die Fragen in meinem Telefon aufrufe, hebe ich den Blick und betrachte sein Profil. Selbst wenn er nur dasitzt und telefoniert, verbraucht er den gesamten Sauerstoff im Raum. Er verströmt Klasse, Geld, Raffinesse und Einfluss.
Es heißt, er sei einmal vom Dach seines Büros gesprungen.
Er wird als mutig und verwegen sowohl im Geschäftsleben als auch sonst bezeichnet.
Ich glaubte nicht alles, was ich gestern Abend gelesen habe.
Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es eine Lüge ist.
Unter diesen Businessklamotten steckt ziemlich viel Energie.
Er trägt seine Klamotten wie eine zweite Haut – als würde er darin schlafen. Unter seinem weißen Hemd kann ich die beeindruckende Muskulatur seiner Brust und Arme erkennen. Kein Foto, das ich online gesehen habe, hat die Wirkung dieses gebräunten, wohlgeformten Gesichts eingefangen. Nicht ein einziges. Sein Gesicht ist absolut atemberaubend, und ich will erst gar nicht auf seinen Körper eingehen, doch jetzt verstehe ich, weshalb sein Bett der begehrteste Ort in dieser Stadt ist.
Er beendet das Gespräch und dreht sich wieder zu mir, und wir schauen uns erneut einen Moment lang an. »Wollen Sie fortfahren, Miss Livingston?«, fragt er und zeigt auf mein Telefon.
»Ich amüsiere Sie«, platze ich heraus.
Er zieht eine Braue hoch und scheint die Frage ein wenig hin und her zu wenden, während er die Fingerspitzen aneinanderlegt. »Sie machen mich neugierig, ja. Malen Sie?«
»Ich war heute Morgen in einem Park meines Wohnviertels. Leute aus der Nachbarschaft versammeln sich manchmal; wir versuchen etwas gegen Gewalt auf der Straße, Gangkämpfe, und Drogenhandel zu unternehmen.«
»Tun Sie das gerade?«, fragt er tonlos.
Ich bin mir nicht sicher, ob er wirklich neugierig ist oder einfach beschlossen hat, sich lieber doch nicht von mir interviewen zu lassen. Als ich wieder an meine Fragen denke und daran, wie dringend ich ihm Informationen entlocken muss, öffne ich den Mund, um ihn auf meine Seite zu ziehen – vielleicht mit einer Schmeichelei? –, doch eine seiner Assistentinnen unterbricht uns.
»Mr Saint, China ist am Telefon«, sagt sie, als sie zur Tür hereinspäht. »Und der Wagen steht bereit.«
Er erhebt sich aus seinem Stuhl, und seine Muskeln bewegen sich unter dem Hemd, als er die Arme in das schicke schwarze Jackett steckt. Er greift nach der Kappe der Chicago Cubs, die auf seinem Schreibtisch liegt, und als er sie betrachtet, zuckt ein Muskel in seinem Kiefer, als wäre er plötzlich über etwas verärgert.
Ich will seine Geduld nicht überstrapazieren, also zwinge ich mich aufzustehen.
Er hebt den Kopf, um mir kurz einen letzten Blick zuzuwerfen. »Es war interessant. Rachel«, fügt er hinzu.
Ein schreckliches Verlustgefühl befällt mich auf einmal und wird mit jedem seiner entschlossenen gleichmäßigen Schritte größer. Oh Gott, das war’s?
»Mr Saint, würden sie mir noch einen Termin geben …?«, beginne ich.
Er ist bereits im Türrahmen. Seine Assistentin reicht ihm ein paar gelbe Post-its, und er senkt den dunklen Kopf, als er sie rasch durchsieht. Er hat seinen extrem straffen Rücken – ein perfektes V von seinen breiten Schultern bis zu seiner Taille hinunter – in dieses perfekt sitzende Jackett gehüllt. Als eine weitere Assistentin den Aufzug holt, bringt ihm einer seiner Mitarbeiter einen Ball.
Einen Baseball. Natürlich. Entweder lässt er sich den von den Spielern heute signieren, oder er wirft ihn auf dem Wrigley Field.
Ich blicke zu seinen Assistentinnen. Zwei tippen. Eine wartet beim Aufzug. Und diejenige, die stets in seiner Nähe ist, … ist in seiner Nähe. Alle Blicke ruhen auf ihm, als er einsteigt. Niemand scheint zu atmen, bis er hinunterfährt, nicht einmal ich.
Als ihn der Aufzug wegbringt, kehren die Assistentinnen zu ihren Plätzen zurück. Außer mir habe ich noch nie jemanden gesehen, der erpichter darauf gewesen wäre, sich wieder an die Arbeit zu machen.
Ich lächle, als ich auf diejenige zugehe, die mich in sein Büro geführt hat. Auf ihrer Namenstafel steht Catherine H. Ulysses. »Er ist beeindruckend, nicht wahr?«, versuche ich ein Gespräch anzufangen. Schläft er mit einer von euch?, wollte ich am liebsten wissen.
Sie blickt ein wenig finster. Beschützend? »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ja, ich wüsste gern, ob es eine Möglichkeit gibt, erneut einen Termin mit Mr Saint zu vereinbaren. Wir konnten das Thema, das mich interessiert, nicht vollständig erörtern. Ich hätte gern mindestens eine Stunde mit ihm, wenn das nicht zu viel verlangt ist.«
Sie sagt, sie werde mir Bescheid geben, und die vier blicken auf das Hemd, das ich trage, und das nicht besonders glücklich. Seufz.
Seine Assistentinnen hassen mich, und er verbannt mich wahrscheinlich lebenslang aus dem M4.
Ich bin so enttäuscht, als ich mit dem Taxi zurück nach Hause fahre, dass ich die Situation wieder und wieder Revue passieren lasse und etwas zu finden versuche, das ich verwenden kann. Es kostet Mühe, mein Verlegenheitsgefühl beiseite zu schieben, um zum Kern des Treffens vorzudringen.
Ich mache rasch Notizen:
Pünktlich
Wird von den Mitarbeitern respektiert – guter Chef?
Gedanklich scheint er dauernd mit etwas beschäftigt zu sein. Fusionen?
Sein Blick ist … der tiefste, den ich je gesehen habe (vielleicht ein Hinweis darauf, dass er andere durchschaut?)
Er hat mir sein Hemd gegeben
Ich blicke auf das Hemd und betrachte die Knöpfe und das Etikett. Es ist eine unvorhersehbare Geste, dass er mir sein Shirt gegeben hat. Unvorhersehbar. Ja, das beschreibt ihn ganz gut. Kühl und überlegt, seine anregende, hurrikanähnliche Energie an einer kurzen Leine. Und da ist etwas Interessantes tief in ihm versteckt.
Ich kremple die Ärmel hoch und notiere mir das. Manchmal lasse ich meine Story mit einer Wörterliste beginnen. Ich komme schließlich auf die folgenden fünf Dinge. Das ist es also, was ich aus dem Treffen mitgenommen habe? Fünf Dinge mit sehr wenig Beweiskraft, um sie zu untermauern, und mit einem seltsamen Knoten im Bauch. Und mit seinem unglaublich wohlriechenden Hemd.
*
»Was hat das Männerhemd hier zu suchen? Das ist ein geheiligter weiblicher Ort«, protestiert Gina, als sie von der Arbeit nach Hause kommt.
»Mein Aufzug war ihm peinlich, und er hat mir sein Hemd gegeben.«
Ich sitze vor einer leeren Word-Datei, und bin nicht begeistert. Normalerweise liebe ich leere Seiten – sie sind mein Spielplatz. Doch ein Spielplatz mit einem einzigen Thema und ohne Informationen, mit denen ich hätte spielen können, macht mich mürrisch. Neben mir liegt eine Tüte mit Joghurtbrezeln von Whole Foods, und nicht einmal die kann meine Stimmung aufhellen.
»Er hat dir was zum Anziehen gegeben, anstatt dir zu sagen, dass du deinen Overall ausziehen sollst? Was für ein Frauenheld soll das sein?«
»Gina! Wir waren in seinem Büro. Er hat eine gute Arbeitsmoral. Er mischt Arbeit nicht mit Vergnügen.«
Gina kommt herüber und greift in meine Brezeltüte. »Saint lebt für das Vergnügen … Was soll der finstere Blick?«
Ich stöhne, stelle meinen Laptop beiseite und lasse mich vom Bett plumpsen. »Ich muss dieses Hemd zurückgeben, aber der Fleck auf der Innenseite von deinem verdammten Handabdruck lässt sich nicht entfernen.«
»Wieso solltest du es zurückgeben?«
»Weil ich noch nie … du weißt schon … Geschenke von einem Mann bekommen habe. Ich fühle mich unwohl dabei.«
»Du hattest keinen Dad, der dir Sachen geschenkt hätte. Oder einen Bruder. Nicht einmal einen Freund. Trotzdem musst du Sachen annehmen, wenn du sie bekommen kannst. Vertrau jemandem, der sich damit auskennt, so oft passiert das nicht.«
»Ich behalte sein Hemd nicht. Was würde das nur über mich sagen?« Ich schüttle missbilligend den Kopf.
Sie schnappt sich noch eine Brezel und streift ihre Schuhe ab. »Er ist ein Milliardär, wahrscheinlich hat er noch ein Dutzend davon, an denen noch immer die Etiketten dran sind. Wolltest du einfach vorbeifahren und es ihm aushändigen? Hast du einen Dauerausweis von M4 oder was?«
»Nein«, gebe ich zu und greife nach meinem Telefon auf dem Schreibtisch und gehe ins Internet, damit sie selbst die Nachricht lesen kann, die ich bekommen habe.
Malcolm Saint:
Miss Livingston, Dean hier. Mr Saint kann Sie am Montag treffen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können wir das Interview zwischen zwei andere Termine schieben, er wäre um 15.00 Uhr bereit Sie zu treffen.
»Rachel!«, ruft sie und boxt mich gegen den Arm. »Na bitte, Mädchen!«
Ich grinse wortlos und blicke auf sein Hemd, das an meiner Zimmertür hängt.
Es heißt, wenn man etwas will, soll man es visualisieren, und man bekommt es. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas so sehr wollte, dass es nun endlich wahr werden muss.
Er hat mir ein weiteres Interview gewährt. Er hat andere Verpflichtungen, doch er trifft mich erneut. Selbst nach dem chaotischen ersten Termin. Es ist so fantastisch, dass ich das erneute Schwindelgefühl, das mich bei einer tollen Story befällt, bis Montag um fünfzehn Uhr bestimmt nicht mehr loswerde.
Montag
Ein glänzender schwarzer Rolls-Royce steht in der Auffahrt von M4, und die Sonne schimmert auf seinem Dach. In dem Moment, als ich aus dem Taxi springe, tritt ein uniformierter Fahrer auf mich zu. »Miss Livingston?«
Ich nicke stumm. Er tippt sich förmlich an seine Mütze und öffnet rasch die Fondtür. Ich entdecke Saint im Wageninnern, wie er ungeduldig jemandem am Telefon Befehle erteilt. Hoppla. Sieht nicht so aus, als hätte er heute gute Laune. Er brüllt nicht, doch er scheint auch nicht der Typ Mann zu sein, der brüllen muss, um gehört zu werden. Seine Stimme ist genau so, wie ich sie in Erinnerung habe, doch seine Worte sind schärfer, versehen mit Autorität und einem unnachgiebigen Grundton. Ich sauge scharf die Luft ein, als mir klar wird, dass ich zu ihm in den Wagen steigen soll. Oh je.
Ich ignoriere meine weichen Knie und steige ein. In dem Augenblick, als der Fahrer die Tür hinter mir zuschlägt, scheint der Wagen um eine ganze Nummer zu schrumpfen. Saint scheint mit seinem nicht sehr feingliedrigen Körper, der sich auf der gegenüberliegenden Sitzbank befindet, den gesamten Raum einzunehmen. Er trägt ein weißes Button-down-Hemd, das oben offen ist und ein Stück seiner Brust zeigt. Sein Jackett liegt zusammen mit ein paar Aktenmappen und einem iPad achtlos neben ihm. »Versuch nicht dich herauszureden, und sprich nicht darüber. Tu es einfach«, knurrt er ungeduldig. Er beendet das Gespräch und nimmt gleich ein anderes an. »Santori, schießen Sie los.«
Während er sich übers Kinn streicht und dem anderen zuhört, betrachtet er mich nachdenklich. Ich lehne mich zurück, während sich der Wagen in den Verkehr einfädelt. Ich nehme mein Telefon heraus und maile mir selbst ein paar Notizen, wobei ich versuche, keinen Lärm zu machen und ihn nicht abzulenken. Business? Kaufen oder Verkaufen? Namen – sind es Vor- oder Nachnamen?
Währenddessen beobachte ich ihn die ganze Zeit durch meine gesenkten Wimpern und versuche, nicht dabei ertappt zu werden. Wenn er zwischendurch verstummt und seinem Gesprächspartner am anderen Ende zuhört, wandert sein Blick seltsamerweise an meinem Sitz entlang und … bleibt an mir haften.
Rasch blicke ich auf mein Telefon, und mir wird auf einmal ganz heiß. Dieser Mann ist so intensiv. Und da ist noch dieser aufreizende arrogante Zug an ihm bei allem, was er tut.
Legionen von Frauen waren mit ihm im Bett – er ist eine Herausforderung und eine Beute, wie ich gesehen habe. Doch bei der ganze Recherche gestern Abend habe ich nichts über eine Büroaffäre mit jemandem bei M4 gefunden. Saint mischt Business und Vergnügen nicht,habe ich gestern Abend notiert.
Während ich im Fond eines schwarzen Rolls-Royce sitze, wird mir klar, dass dieser Mann überhaupt nichts mit dem Business zu vermischen scheint. Er sitzt mir gegenüber und erlaubt mir einen freien Blick auf sein Gesicht, während er sich mit zahlreichen Transaktionen beschäftigt. Er ist ziemlich attraktiv, selbst wenn er die Stirn runzelt – und er macht gerade eine nachdenkliche Miene, während er …
Äh, mich anstarrt.
»Bei Geschäften ist Nein keine Antwort«, sagt er leise und grollend ins Telefon. »Nein ist nur eine Aufforderung zum Verhandeln.«
Ich lächle über den Ärger in seiner Stimme und blicke aus dem Fenster, während er leise mit seinem Angestellten spricht.
Er hat noch nicht einmal unterbrochen, um mir auch nur eine einfache Frage zu stellen, aber ich beschwere mich nicht. Ich habe die beste Sendezeit bekommen, einen Blick in die Windungen seines Gehirns von der ersten Reihe aus – und auf seine Persönlichkeit.
Ich dachte, ich wäre ein Workaholic, aber die Art von Geschäften, die Saint managt, auch wenn er dabei passiv im Wagen sitzt, ist unbeschreiblich. Obwohl passiv nicht ins Wörterbuch dieses Mannes passt. Dieser Typ setzt sich durch, und ich werde mir eine Scheibe davon abschneiden und diesen Drive dazu benutzen, meinen Enthüllungsbericht zu bekommen.
Ich bekomme das Drama eines Bieterkriegs mit. Adrenalin pumpt durch meine Venen, während er Zahlen ausspuckt. Kauft er eine Firma? Etwas bei Sotheby’s? Ich schreibe den Namen der Person auf, mit der er spricht. Christine. Und die Zahlen, die er nennt. Er erhöht sein Gebot um jeweils einhunderttausend und hört auf bei etwas über zwei Millionen. »Gut«, murmelt er, und nach seinem strahlenden, Gänsehaut verursachenden Lächeln zu urteilen, hat er bekommen, was er wollte.
Als ich den Blick von den Straßen Chicagos abwende, sehe ich, dass sein Telefon jetzt neben dem Jackett liegt, und dass er mir jetzt seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt.
Eine seltsame Wärme steigt an meinem Hals hinauf, weil er nun mit mir sprechen wird. »Gehört Ihnen der Mond bereits?«, frage ich ihn.
Er nimmt eine Flasche Wasser aus dem seitlichen Barmöbel, öffnet sie und trinkt einen Schluck. »Noch nicht.« Er lächelt darüber, runzelt dann die Stirn und greift nach einer zweiten Wasserflasche, die er mir reicht. »Hier.«
Als ich sie nehme, lehnt er sich einen Moment lang zurück, dreht den Hals zur Seite … trommelt mit den Fingern auf die Armlehne… was mich verunsichert. Stimmt etwas nicht?
Ich habe keinen Overall an. Ich trage … Ich fühle mich augenblicklich mittelmäßig, weil mich sein Blick nervös macht. Eine schwarze Hose, eine weiße Button-down-Bluse, ein hübsches weißes Jackett, die Haare mit einem schwarzen Band zusammengebunden. Ich sehe professionell und adrett aus, bereit fürs Geschäftliche. Oder nicht?
»Darf ich Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen?«
»Legen Sie los«, sagt er reserviert.
Als ich meine Karteikarten herausnehme, nippt er am Wasser und blickt mich an. Sein Gesicht lenkt einen völlig ab, und ich versuche auf professionelle Weise zwischen ihm und meinen Karten hin und herzublicken. »Wann ist die Idee für Interface entstanden?«
»Als Facebook sein verficktes System verhunzt hat.«
»Deren Schwäche war Ihr Vorteil?«