Salzburgsünde - Manfred Baumann - E-Book

Salzburgsünde E-Book

Manfred Baumann

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Beschreibung

Osteridylle in der Festspielstadt Salzburg. Doch die Stimmung wird gestört. Auf dem Kapuzinerberg entdeckt man einen Totenschädel. Er gehört zu einer Frau, die vor 65 Jahren spurlos verschwand. Zugleich passiert ein Mord an einer Politikerin in der Gegenwart. Sie war einst Schülerin der Toten vom Kapuzinerberg. Alles nur Zufall? Kommissar Martin Merana glaubt nicht daran und beginnt zu ermitteln. Das führt ihn bis in höchste Kreise der Salzburger Gesellschaft und zugleich in ungeahnte Gefahr.

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Manfred Baumann

Salzburgsünde

Meranas neunter Fall

Impressum

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Rafinade  / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6982-4

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Erster Teil

I’ll be so lonely I could die

Scheibenhonig! Er braucht einen Bass. Unbedingt. Er steckt die Hände in die Taschen der Jacke. Ihm ist nicht kalt. Aber er will nicht, dass jemand sieht, wie er mit grimmig geballten Fäusten durch die Gegend tobt. Es sind nicht viele Leute an der Salzachpromenade unterwegs. Aber die wenigen reichen ihm schon. Alles Primitivlinge. Gucken alle wie nasse Ratten aus dem Ausguss. Er senkt den Kopf, hastet weiter. Er braucht einen Bass. Unbedingt. Keinen Kontrabass. Den würde ihm der Alte schon kaufen. Aber da müsste er seinem Erzeuger vorduseln, dass er endlich seinem Wunsch nachkäme und ab sofort gewillt sei, ein Streichinstrument zu lernen. Stunden zu nehmen. So, wie der Alte es wollte. Wenn er schon nicht zur Geige griff wie Mama und sein Erzeuger, nicht einmal zur Bratsche wie seine Schwester, dann wenigstens zum Kontrabass. Damit wäre der Alte einverstanden.

Aber er hat keinen Tick unterm Pony. Er nicht! Es reicht! Er will nichts mehr vorheucheln. Er will nicht geschissene Zeit vergeuden, sich mit irgendeinem volldoofen Lehrer abquälen, um einem geschissenen Instrument irgendwelche geschissenen Töne zu entlocken. Das ist nicht assig! Er reißt die linke Hand aus der Tasche, hebt die Faust. Eine ältere Frau blickt ihn verwundert an. Er wendet den Kopf ab, verbirgt schnell die Faust in der Jackentasche. Weiter. Ein geschissener Kontrabass würde ohnehin wenig nützen. Er braucht einen E-Bass. Nur das bringt’s. Es muss nicht unbedingt ein Precision sein. Den kann er sich sowieso nicht leisten. Obwohl er erst eine Taschengelderhöhung bekommen hat. Von Mama. Ohne dass der Alte das mitbekam. Gelegentlich bedient er sich in der Schreibtischschublade im Arbeitszimmer. Der Alte ist so dämlich, dass er meistens vergisst abzuschließen. Also, er hätte schon etwas Lakritze übrig. Aber das reicht nicht für einen Fender Bass. Niemals. Nicht einmal für einen gebrauchten. Aber er braucht einen Bass. Es muss kein Fender sein. Vielleicht treibt er irgendwo einen anderen auf. Gebraucht. Krummgut reicht auch. Und billig! Aber würde er in Salzburg einen E-Bass bekommen? In dieser verzopften Stadt? Er bleibt stehen, lugt über die Salzach. Sein Blick fällt auf die Festung, auf die Domkuppel, auf die Fassaden der Bürgerhäuser. Totale Verhaue. Aber er braucht einen. Dann würde er den Basslauf üben. Der gefällt ihm besonders auf der neuen heißen Scheibe. Von seinem Idol. Da ist Saft dahinter! Und eine E-Gitarre braucht er auch. Dann würden sie ihn auch nicht mehr auslachen, diese Blindgänger. So wie gestern.

Well, since my baby left me

Well, I found a new place to dwell

Well, it’s down at the end of Lonely Street

at Heartbreak Hotel

Er hat es riesig hinbekommen, echt fetzig. Das weiß er. Auch das kreisende Schwingen. Mit der Hüfte. Er bleibt stehen, schaut sich um. Niemand in seiner Nähe. Schnell kreist er einmal das Becken, lässt die Knie mitschwingen. Das hat er sich am vergangenen Sonntag im Kino abgeschaut. Der Alte hat die gesamte Familie mitgeschleppt. Die Zehn Gebote. Mit Charlton Heston. Was für ein Trollo! Fast vier Stunden saßen sie im riesigen Elmo-Kino! Keine Wucht in Tüten! Über 300 Leute! Aber für ihn hat es sich dennoch ausgezahlt. Wegen der Wochenschau vor dem Hauptfilm. Da sah er ihn. Elvis Presley. Bei einem Live-Auftritt. Er sang Heartbreak Hotel. Total lässig! Diese Stimme. Diese sautolle Art zu singen. Und dann das Hüftkreisen. Steile Sache. Er probiert es erneut. Ihm wird warm zwischen den Beinen. Er spürt, wie sein Glied in der Hose anschwillt. Gleichzeitig vernimmt er ein Kichern. Schnell dreht er sich um. Zwei Mädchen. Total grüne Erbsen. Sie halten kichernd die Hand an den Mund. Dieses Mal fährt er mit beiden Fäusten aus der Jackentasche. Die Schnören erschrecken. Dann wenden sie sich um, eilen davon. Er blickt ihnen nach. Er kann sich nicht erinnern, die beiden auf diesem Weg je gesehen zu haben. Die sind auch nicht in seiner Schule. Da ist er sich sicher. Aber wenn sie dort wären, hätten sie gewiss auch gekichert und gespottet. So wie alle anderen. Bei dieser blöden Fete in seinem Gymnasium. Es hat ja geheißen: Wer möchte, solle etwas zur Unterhaltung beitragen. Für alle. Der Mädchen- und der Knabenzweig würden dieses Mal miteinander feiern. Etwas Musikalisches. Es musste nichts mit Mozart direkt zu tun haben. Etwas, das einem selbst gut gefällt. Also hat er die Hüften geschwungen und getan, als schrubbe er auf seiner alten Kindergitarre. Was anderes hatte er ja nicht zur Hand. Und es gelang ihm magniperb, seiner Stimme ein besonderes Timbre zu verleihen. Genauso wie Elvis.

I’ll be getting so lonely, baby

Well, I’m so lonely

I’ll be so lonely I could die

Schon da haben die Ersten angefangen zu kichern. Aber er hat fetzig weitergemacht. Allzu weit kam er allerdings nicht. Nur bis …

Well, if your baby leaves you

You got a tale to tell

Dann hat fast die Hälfte in der dämlich geschmückten Turnhalle gelacht und gehöhnt. Darauf hat er seine alte Kindergitarre auf den Boden gedonnert und ist davongestürmt. Sie hat nicht gelacht. Nein, sie nicht. Sie ist ihm sogar nachgeeilt, hat ihm gratuliert. Was für ein origineller Beitrag, hat sie gesagt, und sehr gut aufgeführt. Ich bin sicher, das hätte auch dem Wolfgang Amadeus gut gefallen. Auch der liebte ja bekanntlich die ausgefallenen Sachen. Das hat sie gesagt.

»He, Halbstarker!«

Er bremst ab, lässt seinen Körper herumwirbeln. Den kennt er. Das ist der Prennwieser. Der ist aus seiner Schule. Eine Klasse über ihm. Der war auch bei der Feier. Alle waren sie da. Der hat ihn ganz besonders ausgelacht.

»Zeig mir mal deinen Hüftschwung! Und wo ist deine tolle Halbstarken-Babygitarre?«

Der Kerl ist einen halben Kopf größer. Doch das ist ihm egal. Zwei rasche Schritte. Beide Fäuste aus der Tasche. Den ersten Schlag setzt er so schnell und wuchtig, dass dem anderen nicht einmal Zeit bleibt, die Hände in die Höhe zu reißen. Beim dritten Schlag spritzt dem Gegenüber Blut aus der Nase.

You’ll be so lonely you could die …

1

Der Himmel über der Festung zeigte ein eigentümliches Schillern. Wie ein edler Damastvorhang verbreitete die helle Wolkendecke ihr silbriges Schimmern hoch über den Häusern der Stadt. Bricht jetzt endlich die Sonne durch?, fragte sie sich und hob die Augen zum Himmel. Tatsächlich. Wie eine Lanze bahnte in diesem Moment der erste goldglänzende Strahl sich seinen Weg durch die dünner werdende Wolkenmatte. Sie senkte die Augen, warf einen schnellen Blick auf ihr Handgelenk, als müsste sie die exakte Zeit festhalten für diesen beglückenden Augenblick. Die Uhr zeigte 8.33 Uhr. Die Sonnenlanze über der Stadt verstärkte ihre Kraft, wurde breiter, vergrößerte den Riss im Wolkenvorhang. Weitere Lanzen fanden nun Platz und gossen ihr kräftig wachsendes Leuchten über die Fassaden der Barockstadt. Endlich. Was für eine Freude nach dem tagelangen Unwetter. Ein wunderschöner Tag würde das werden. Davon war sie überzeugt. Was sie zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wusste: Eine grausige Entdeckung stand ihr heute bevor. Und das sehr bald. Ein widerlicher Fund. Aber davon hatte sie noch keine Ahnung, als sie den Hund von der Leine ließ.

»Lauf, Jacky.«

Der Boston Terrier bellte einmal hell. Die quäkende Stimme überschlug sich fast. Aber das Bellen klang freudig. Der schwarz-weiß gefleckte kleine Hund preschte los.

»Nicht zu schnell, Jacky. Sonst kann Frauchen dich nicht mehr einholen.«

Sie liebte es, mindestens zweimal in der Woche mit ihrem Jacky zu einer Tour über den Kapuzinerberg aufzubrechen. Marlene Stracker wohnte in der Neustadt, in der Auers­pergstraße. Wenn sie sich ganz weit aus dem Wohnzimmerfenster beugte, konnte sie sogar einen kleinen Teil des Salzburger Hausberges ausmachen. Mehr davon zu erspähen, war ihr wegen der hohen Häuser ringsum nicht möglich. Aber sobald sie ihre Wohnung verließ und ein Stück der Straße folgte, lag die ganze Pracht des von ihr so geschätzten Stadtberges vor ihr. Meist wählte sie den Aufstieg über die Imbergstiege in der Steingasse. Doch heute hatte sie sich für die ausgedehnte Route entschieden und an der nordöstlichen Bergseite die Strecke über den Doblerweg gewählt. Der Anstieg war zwar steil, aber oben angekommen wurde man gleich durch den Anblick des großartigen Franziskischlössls entschädigt. Glockengeläut würde sie dieses Mal aus der Stadt unter ihr keines vernehmen. Das war ihr klar gewesen, als sie aufbrach. Sie bedauerte es dennoch. Sie liebte das Läuten. Es erschien ihr jedes Mal wie eine freudvolle Botschaft aus einer märchenhaften Spielzeughäuserlandschaft. Aber heute war Karfreitag. Da gab es keine Glocken. Die befanden sich ja alle in Rom. Sie schmunzelte, als sie bei dieser Vorstellung zur Legende an ihre Kindheit dachte. Damals hatte sie tatsächlich an diese gerne erzählte alte Geschichte geglaubt. Einmal hatte sie sogar eine Zeichnung angefertigt. Die Osterhasenfamilie saß in der Wiese und war fleißig beim Eierbemalen. Und hoch über ihnen flogen Glocken in allen Größen und Farben über den Himmel, unterwegs zur Ewigen Stadt.

»Jacky, langsam!«

Heute hatte sie sogar um 6 Uhr die Andacht besucht, in der Sebastianskirche in der Linzergasse. Eine regelmäßige Kirchgeherin war sie keine. Bei Weitem nicht. Aber zu den besonderen Festen, Pfingsten, Ostern und zu Weihnachten, streute sie gerne den einen oder anderen Besuch ein. Am Karfeitag gab es keine Messe, doch der Pfarrer von St. Sebastian bot schon seit vielen Jahren eine Andacht in den Morgenstunden an.

»Wir sehen Jesus am Kreuz«, hatte der Priester dabei gesagt. In gestochenem Hochdeutsch, mit gut vernehmbarem slawischen Akzent. »Gestorben für die Sünden der Welt.« Diese Vorstellung hatte ihr schon als Kind beängstigende Schwierigkeiten bereitet. Zu Gott im Himmel muss man ehrfurchtsvoll aufschauen. Denn er ist ein liebender Vater. Für alle. So hatte man es ihr oft und oft nahegebracht. Sie hatte immer ihre Zweifel an dieser Darstellung. Liebender Vater für alle? Warum ließ dieser Vater dann den eigenen Sohn umbringen? Um uns Menschen von unseren Sünden zu befreien, hatte man sie in der Religionsstunde gelehrt. Und dafür ließ er den eigenen Sohn geißeln, leiden, ans Kreuz nageln, umbringen? Ihre Kinderseele konnte und wollte das nie verstehen. Von so einem »liebenden« Vater war nicht viel zu erwarten. Davon war sie als Kind überzeugt. Daran hatte sich bis heute wenig geändert. Auch heute früh hatte sie sich mehrmals während der Zusammenkunft bei leichtem Kopfschütteln ertappt. Dennoch hatte ihr die ruhige, andächtige Stimmung in der Kirche gutgetan.

»Jacky, nein, heute nicht!« Sie wusste genau, wo der kleine Lauser hinwollte. Sie blickte sich rasch um. Keine Spaziergänger zu bemerken. »Jacky, komm sofort her zu mir!« Doch der Hund ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Ihre Blicke kreisten. Noch immer niemand zu sehen. »Also gut, mein Lieber. Dann mach. Aber ganz schnell. Hurtig.«

Der Terrier hastete mit seinen etwas pummligen Pfoten über die breiten Stufen, die auf der sanft ansteigenden Wiese nach oben führten. Sein Ziel war das auffällige, steinerne Gebilde am Ende des Treppenaufgangs. Er liebte es, am Fuß des Monuments sein Bein zu heben, um seine flüssige Markierung zu hinterlassen. Damit es auch wirklich allen klar wurde: Hier war er zur Stelle gewesen. Er, Jacky, Boston Terrier und Rassehund. Dort oben am Sockel mochte zwar der große Sohn der Stadt thronen, Wolfgang Amadeus Mozart, der berühmte Komponist. Doch wer den Platz tatsächlich beherrschte, war eindeutig er. Der Urin am Fuß des Denkmals stammte von ihm! Und von sonst niemandem.

»Jacky, beeil dich!« Der Hund bellte. Es klang stolz, in jedem Fall zufrieden. Marlene blickte sich um. Sie waren allein. Zu dieser frühen Stunde war am Karfreitag niemand heroben unterwegs. Gott sei Dank.

»Brav, mein kleiner Liebling! Und jetzt schnell zurück!« Das Tier stutzte. Dann drehte es den Kopf nach oben. Jacky begann zu bellen. Laut. Sehr laut. Doch der in die Ferne blickende versteinerte Genius am anderen Ende des Monuments verzog keine Miene. Was macht er denn da? Marlene irritierte Jackies Verhalten. Wollte er vom berühmten Sohn der Stadt beachtet werden? Der steinerne Mozart auf seinem Sockel hatte ihn doch noch nie interessiert. Erneut begann der Terrier zu bellen. Dann steckte er die kurze Schnauze nach unten, schnüffelte hektisch über den Boden.

»Was ist los, Jacky?« Warum gebärdete sich ihr Liebling plötzlich so?

»Komm, wir müssen zurück!«

Sie wandte sich nach rechts, fuchtelte mit der Hand. Sie würden den Stefan-Zweig-Weg nehmen, vorbei am Kapuzinerkloster hinunter in die Stadt. So wie immer. Doch der Terrier folgte ihr nicht. Im Gegenteil. Er hastete weiter kläffend durch das Gras. Schließlich hopste er von der Wiese auf den Asphalt des Basteiwegs, der an der Wehrmauer entlang in die entgegengesetzte Richtung führte.

»Nein, Jacky, nicht dorthin! Komm sofort zurück!«

Doch der kleine Hund gehorchte nicht. Marlene stöhnte laut. Es blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste dem kläffenden Racker hinterhereilen. Sie hastete die Mauer entlang. Der Weg stieg leicht an. Der Hund war etwa 30, 40 Meter vor ihr. Er bellte hysterisch. Gleich darauf fiel die Mauer scharf nach rechts ab und gab den Wald frei. Jacky stoppte. Dann verschwand er zwischen den Bäumen.

»Nein, Jacky, bleib da!« Den breiten Ast am Wegrand sah sie zwar. Aber viel zu spät. Sie stolperte, landete hart auf dem Boden. Sie schrie auf, kämpfte mit der Orientierung und der schlagartig einsetzenden Übelkeit. Sie war mit Knien und Oberkörper auf den Asphalt gekracht, aber der Kopf landete zum Glück auf einem Gewirr aus Zweigen neben dem Weg. Jackies aufgeregtes Bellen war zu vernehmen. Und noch etwas hörte sie. Plötzlich war da eine Stimme, dicht neben ihr.

»Sind Sie verletzt?« Ein junger Mann beugte sich über sie. Er war in einen hellblauen Jogginganzug gekleidet. Sie hatte den Mann vorhin gar nicht bemerkt. Er war wohl den Weg aus der Linzergasse heraufgelaufen. »Vorsicht. Ich helfe Ihnen.« Er streckte die Hand aus, half ihr behutsam auf. Sie fühlte sich zittrig, klammerte sich an seinen Arm. »Vielleicht setzen Sie sich kurz auf den Boden«, meinte er. »Ich bleibe gerne bei Ihnen, bis Sie sich besser fühlen.«

Sie nickte, ließ sich langsam auf dem Asphalt nieder. Erst jetzt schien dem Mann das laute Bellen aufzufallen. Er wandte den Kopf, spähte durch die Bäume.

»Das ist mein Hund. Ich weiß nicht, was er hat. Er rennt sonst nie weg. Ich bin ihm vorhin nachgelaufen.«

Sie machte Anstalten, sich in die Höhe zu stemmen. Der junge Mann legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich schaue mal nach, was Ihren kleinen Freund so aufregt.«

Sie nickte. »Das ist sehr nett von Ihnen. Er heißt Jacky.« Sie griff in die mitgeführte Handtasche und reichte ihm eine Hundeleine. »Und ich bin sein Frauchen, Marlene Stracker.«

»Freut mich. Ich heiße Aaron Treps.«

Dann setzte er sich in Bewegung, hielt auf das Bellen zu. Der Untergrund fiel sanft ab. Etwas weiter unten zog sich die alte Wehrmauer durch die Ansammlung der Bäume. Wenn die Blätter nicht so dicht wären, hätte man von hier aus einen wunderbaren Ausblick. Selbst die Festung Hohensalzburg wäre zu sehen. Aaron Treps wusste das. Er vollführte seine Joggingeinheiten über den Kapuzinerberg auch in Spätherbst und Winter. Dann waren die Zweige kahl und gaben fast überall den Blick auf die Stadt frei.

»Worüber regst du dich so auf, mein Kleiner?« Er war dem Kläffen nahe. Der Waldboden fühlte sich an manchen Stellen sehr matschig an. Erst gestern Abend hatte das Unwetter nachgelassen. Es hatte seit Tagen Salzburg förmlich überrollt. Zwischen den unterschiedlichen Stämmen waren urtümlich bewachsene Felsbrocken auszumachen. Daneben Bäume, die schon vor vielen Jahren entwurzelt worden waren. Sie lagen da wie hingestreckte mächtige Drachen. Und dann erkannte Aaron, was den kleinen Terrier hierhergelockt hatte.

»Na so was!« Ihm bot sich ein absonderlicher Anblick. In einer Art Mulde am schräg abgleitenden Waldboden lag neben den mächtigen Wurzeln eines umgekippten Baumstammes ein bizarr verkrümmter Körper. Ein Tier. Eine tote Gämse. Aaron beugte sich vorsichtig nach unten zum kleinen Hund. Der Terrier hatte bei Aarons Eintreffen das Bellen eingestellt, äugte neugierig auf den Angekommenen. Aaron legte ihm die Leine an.

»Komm, mein Lieber. Ich bringe dich zurück zu deinem Frauchen. Und dann rufen wir den Stadtförster an.« Der Hund folgte ihm bereitwillig.

Eine halbe Stunde später traf der Stadtförster ein.

»Hallo, Benedikt.«

»Hallo, Aaron.« Die beiden kannten einander gut. Schließlich war Aaron Treps seit vielen Jahren auf dem Kapuzinerberg unterwegs, und das meist mehrmals in der Woche. Da begegnete man sich eben. Marlene Stracker war mit ihrem Jacky hinuntergestiegen. Aaron hatte ihr zuvor den Fund der verendeten Gämse geschildert. Marlene hatte ihn gefragt, ob es ihm etwas ausmache, alleine auf den Stadtförster zu warten. Sie wolle lieber gleich nach Hause. Der freundliche und stets hilfsbereite technische Zeichner hatte gerne eingewilligt.

»Wo liegt das tote Tier?«

»Gleich da unten neben einem der umgestürzten Baumriesen.« Aaron Treps ging vor, der Stadtförster folgte ihm.

»Aber das ist ja die Milly!« Benedikt Keutschach ging neben dem toten Tier in die Hocke. »Ich erkenne sie an der linken Krucke.« Er deutete auf eine Krümmung am linken Horn des Tieres. Er hob den Kopf des Tieres leicht an. »Die Milly war immer in bester Verfassung, nie krank, sehr kräftig, eine elegante Kletterin.« Er erhob sich, trat einen Schritt zurück, ließ seine Augen auf dem Tier ruhen. »Also abgestürzt ist sie hier sicher nicht. Das passt nicht zum Gelände. Und ihre extrem verkrümmte Haltung kann ich mir auch schwer erklären. Da kann uns sicher die Tierärztin später mehr dazu sagen.« Er ließ seine Augen langsam über das abfallende Gelände und die verdeckte Mulde gleiten. Er schüttelte den Kopf, nagte mit den Zähnen an der Unterlippe. »Das Ganze kommt mir sehr eigentümlich vor. Äußerst seltsam.«

Das Erstaunen wuchs an, als der Stadtförster Milly in die Höhe hob. Er hatte sich dazu Handschuhe übergestreift. Was war das? Da lag etwas. Sie konnten es beide sehen. Direkt unter dem toten Tier. Das Gebilde war halb im weichen Lehmboden versunken, aber dennoch gut auszumachen.

Sie blickten einander verblüfft an.

Da lag ein Totenschädel.

Ein menschlicher.

Well, it’s one for the money two for the show

100 Schilling! 100!!! Der Blindgänger ist verrückt. Für den Betrag muss ein Arbeiter im Betrieb seines Vaters verdammt lange strampeln. Eine halbe Woche mindestens. Manche in der Produktion wohl noch länger. Und dieser hinterfotzige Prennwieser verlangte diese Mal sogar noch mehr. 130 Schilling! Alles Quatsch mit Anlauf. Der wollte den dicken Otto markieren. Aber nicht mit ihm! Er konnte ihn auf 100 runterquetschen. Vergangene Woche waren sie noch mit drei Zwanzigern ausgekommen. Der Saukerl wurde immer unverschämter! Fast drei Wochen ist die Sache jetzt her. Er hat ihm zwar beim Zusammenstoß an der Salzach nicht das Nasenbein gebrochen. Aber der Angeber musste dennoch drei Tage lang mit geschwollenem Riechkolben herumlaufen. Prennwieser hat ihm auch sofort gedroht, ihn anzuzeigen. Bei der Polizei, bei den Eltern, in der Schule. Das konnte er absolut nicht gebrauchen. Also begann er noch an Ort und Stelle, mit ihm zu verhandeln. Noch auf dem Salzachweg. Alles ausgekübelt. Dass ein paar Erwachsene kopfschüttelnd vorbeigingen, störte ihn kaum. Den nilligen Prennwieser nach einiger Zeit auch nicht mehr. Ja, es hat gedauert. Aber schließlich hatte er ihn soweit. Sie einigten sich. Der Typ ist nicht der hellste. Er würde kein Wort über ihren Zusammenstoß verlieren. Er würde keinem erzählen, was tatsächlich passierte. Weder zu Hause noch in der Schule noch sonst wo. Er würde allen sagen, er sei unversehens gegen einen Laternenmasten gerannt. Dafür würde er ihm jede Woche einen Batzen Geld zustecken. Und das zwei Monate lang. Ursprünglich wollte der Gammelknilch drei Monate rausschinden. Aber er hat ihn auch da runtergedrückt. Zumindest das hat er von seinem Alten gelernt. Wie man erfolgreich Verhandlungen führt. Wie man den eigenen Vorteil nicht außer Acht lässt und sich den Gegner so zurechtbiegt, wie man ihn braucht. So macht der Alte es im Betrieb, bei den Lieferanten und auch bei manchen Geschäftspartnern. Und er macht es eben am Salzachufer. Alles stinkrichtig. Der Ort ist egal. Was zählt, ist das Ergebnis. Sie einigten sich auf 40 Schilling. Die steckte er ihm gleich zu. Und auch in der Woche darauf. Und jetzt? Da wollte der Trollo schwer aufs Blech hauen. Verlangte einen Hunderter! Nein. So kann das nicht weitergehen. Immerhin, das muss er zugeben, hat der Affe sich an die Vereinbarung gehalten. Bis jetzt ist nichts von ihrem Zusammenstoß durchgesickert. Und so soll es auch bleiben. Aber es muss ihm etwas einfallen. Wenn der Schlabberheini weiterhin unverschämt immer mehr verlangt, geht ihm bald die Lakritze aus. Schon jetzt ist es schwierig, die nötige Kohle bereitzuhalten. Erst neulich hat ihn der Alte gefragt, ob er unerlaubt in dessen Arbeitszimmer gewesen sei. Ihm fehle Geld aus der Schublade. Er hat natürlich alles abgestritten. Zum Glück hat die Mama sich eingemischt. Sie habe sich etwas herausgenommen für Einkäufe. Wie viel das genau war, wisse sie nicht mehr, hat sie gesagt. Ob es sich tatsächlich so abgespielt hat, weiß er nicht. Vielleicht verdächtigte sie ihren Sohn und wollte ihm zu Hilfe kommen, bevor der Alte wieder einmal ausrastete. Kann sein, kann nicht sein. Er hat mit seiner Mutter nicht darüber geredet. Sie mit ihm auch nicht.

Elvis war wieder in der berühmten Stage Show der Dorsey Brothers. Schon zum sechsten Mal. Das hat er in der Zeitung gelesen. Und vorige Woche auch im Dudelkasten gehört. Elvis wurde bei seinen Auftritten in der Show auch von Bill Black begleitet. Auf dem Kontrabass! Da muss er kichern, wenn er daran denkt. Vielleicht soll er doch Bassgeige lernen. Nein. Es würde nicht lange dauern, und der Alte würde ihn in irgendein schwindliges Klassiker-Ensemble stecken. Und jeden Sonntag Familienmusik! Ächz! Aber E-Bass hatte er auch noch keinen. Elvis würde bald in Las Vegas auftreten. Hat er gelesen. Und in der Quäke gehört.

Elvis Presley. Der totale Anmacher. Riesentyp! Endlich gibt es von ihm auch ein eigenes Album. Ein großes. Eben erschienen. Er hat es sich sofort besorgt. Zwölf Songs. Geile Scheibe! Scharfer Klopfer!

Well, you can knock me down, step in my face

Slander my name all over the place

Er singt mit, kennt jede Silbe des Textes. Die schwarze Scheibe dreht sich. Er hat sich den tragbaren Plattenspieler zu Weihnachten gewünscht und auch bekommen. Es ist für ihn jedes Mal saudufte, wenn er durch Schwenken des weißen Tonarms die Abspielung startet und dann vorsichtig die Nadel am äußersten Rand der Platte in die Rille setzt.

You can burn my house, steal my car …

Er schaut auf sein Handgelenk. Die Armbanduhr hat er zur Firmung bekommen. Von seinem Paten. Ziemlicher Bomber, Geschäftsfreund des Alten. Eine Rolex Precision. Wenn alle Stricke reißen, kann er auch die verscherbeln. Die bringt eine Menge Zaster ein, das weiß er. Kurz vor 16 Uhr. Herrje, schon so spät. Er muss sich beeilen.

Fünf Minuten später hetzt er durch die Straßen der Stadt. Er will nicht zu spät kommen. Er will sie nicht versäumen. Steile Sache. Meist verlässt sie gegen 16.30 Uhr das Haus. Nicht immer, aber zumindest jeden dritten Tag. Flotter Dampfer. Das weiß er.

Three to get ready now go, cat, go

But don’t you step on my blue suede shoes …

2

Sie stellte den Keramikbehälter mit den Schwarzbrotscheiben in die Mitte des kleinen Tisches. Dann hob sie den Deckel von der Suppenschüssel, griff zur Schöpfkelle und füllte ihm den Teller.

»Danke, Oma.« Er wartete, bis sie sich selbst eingeschenkt hatte, dann begann er zu essen. Köstlich. Zugleich mit dem hervorragenden Geschmack breitete sich eine wohltuende Wärme in ihm aus. Das vertraute Gefühl seiner Kindheit stieg in ihm hoch. Erneut tauchte er den Löffel in die Suppe.

Offenbar hatte die Großmutter dieses Mal Süßkartoffeln zu den üblichen Erdäpfeln hinzugefügt. Neben Karotten, Sellerie, Lauch und Brokkoli. Und dieses Gewürz, dessen Geschmack ein wenig hervorstach? Er blickte sie an.

»Thymian?«

Sie lächelte. »Ausgezeichnet, Herr Kommissar. Aus den vielen Fährten hast du sofort die richtige Spur herausgefiltert. Ein wenig Petersilie und Majoran, und eine gute Prise Thymian. Auch wenn der Winter heuer streng war, habe ich meinen Thymian bestens über die kalte Jahreszeit gebracht. Du weißt, Martin, ein wenig Fichtenreisig und das passende Stroh, und schon kann der Frost wenig ausrichten.«

Er wusste genau, wovon sie sprach. Er hatte schon als Kind von ihr die richtigen Handgriffe und passenden Tricks gelernt. Der Garten mit den Blumen, den Sträuchern und dem Zauberreich der Gewürze war immer schon eine ihrer großen Leidenschaften gewesen. Seine eher nicht. Er hatte sich zwar unter Großmutters Anleitung redlich bemüht, aber die große Begeisterung war nie in ihm aufgekommen. Aber immerhin. Den Thymian hatte er herausgeschmeckt. Sie lächelte ihn erneut an. Und wieder einmal wurde ihm bis tief in sein Innerstes bewusst, wie sehr er diese kleine weißhaarige Frau liebte. Sie war und blieb der wichtigste Mensch in seinem Leben.

Martin Merana war bei seiner Großmutter aufgewachsen. Er war neun Jahre alt, als seine Mutter unter tragischen Umständen starb. Hier im Haus der Großmutter war er herangereift, groß geworden. Erst nach der Matura war er ausgezogen, um in der Stadt Salzburg zu studieren. Das Studium hatte er nicht beendet. Die Gelegenheit, in den Exekutivdienst zu treten und Kriminalpolizist in Salzburg zu werden, war ihm dazwischengekommen. Seine Arbeit war inzwischen sehr aufwendig. Als Kripochef war er mit den vielfältigsten Aufgaben eingedeckt. Freie Zeit blieb ihm wenig. Aber wann immer er es sich irgendwie einrichten konnte, hielt er Kontakt zu seiner Großmutter. Gelegentlich besuchte er sie sogar in seiner ehemaligen Heimatgemeinde im Oberpinzgau. So auch dieses Mal. Er war gestern, am Gründonnerstag, angekommen. Er hatte Urlaub bis Dienstag nach Ostern. Bis zum frühen Ostermontag wollte er die Zeit zusammen mit der Großmutter verbringen. Ursprünglich hatte er geplant, zusammen mit Jennifer ein paar Tage ins Friaul zu reisen. Doch der unvorhergesehene, aber wichtige Besuch eines Geschäftspartners aus Asien brachte Jennifers Pläne durcheinander. Und so musste sie die Ostertage für eine Reihe von Meetings zu Hause in Hamburg verbringen.

»Und wie deiner feinen Zunge sicherlich aufgefallen ist, Martin, habe ich dieses Mal Knollenwinden dazugegeben. Die habe ich zwar nicht im Garten. Aber der Haspinger hat sie mir empfohlen.« Der Haspinger war der Leiter des kleinen Gemischtwarenladens, der sich im Dorf gehalten hatte, trotz der Konkurrenz durch zahlreiche Großmärkte in der näheren Umgebung. Knollenwinde war ein anderer Name für Süßkartoffel. Da hatte Merana also richtig getippt.

»Und wie du weißt, Martin, gebe ich manchmal Speck in die Gemüsesuppe. Aber natürlich nicht heute.«

Natürlich nicht. Heute war Karfreitag. Da aß man kein Fleisch. Die Großmutter konnte mit vielen Vorschriften der katholischen Kirche eher wenig anfangen. Das wusste er. Von der Ehelosigkeit der Priester und der amtskirchlichen immer noch kuriosen Haltung zur Stellung der Frau hielt sie so gut wie gar nichts. Aber manches aus der christlichen Lehre passte gut zu ihrem Verständnis von Gemeinschaft. Und es harmonierte mit ihrer eigenen Sicht auf die lebensbestärkenden Seiten des Daseins. Deshalb fand sie die Empfehlungen für die Fastenzeit sinnvoll. »Das kannst du in allen Kulturen finden, Martin, nicht nur in der christlich-abendländischen«, hatte sie ihm schon als Kind beigebracht. »Dadurch nehmen wir uns besser aus der Hektik des Alltags zurück. Unerwartete Freiräume tun sich auf, in denen wir uns selbst näherkommen können. Wir reduzieren dabei vieles, nicht nur das Essen.«

Aber das auch. Und so hielt sie sich eben auch an die traditionelle Praxis während der Karwoche. Noch ein wenig mehr fasten. Und kein Fleisch am Karfreitag. Wenig essen am Karfreitag und am Karsamstag, das hatte ihm schon als Kind nie etwas ausgemacht, ihm sogar gutgetan. Er hatte sich dadurch sogar noch mehr auf die Osternacht gefreut. Die kirchliche Osternachtsfeier hatte oft stundenlang gedauert, wie er sich heute noch erinnern konnte. Ihm hatte sie dennoch gefallen.

Anfangs war das Gotteshaus verdunkelt. Es kam zum Einzug.

Lumen Christi! Wie eine helle, nahezu antike Säule hatte der Pfarrer die große Osterkerze vorangetragen. Er selbst hatte immer kräftig mitgesungen. Deo gratias!

Und wie viele andere hatte auch er einen Korb getragen. In dem befanden sich die Speisen. Ostereier, Schinken, Butter, ein von der Großmutter gebackenes Brot in Form eines Osterlamms. Dazu Butter, Salz und frische Kräuter. Und diese Köstlichkeiten wurden noch in der Osternacht feierlich geweiht und am Ostersonntag zum Frühstück verspeist.

»Darf ich dir noch ein wenig Suppe geben, Martin? Es bleibt genug Zeit, bis Salzburg heute beginnt.« Er nahm dankend an. Salzburg heute war die regionale TV-Nachrichtensendung. Er war am frühen Nachmittag mit der Großmutter auf dem Platz zwischen Kirche und Pfarrhof gewesen. Die Ministranten hatten dort ihre selbst produzierten Karfreitagsratschen präsentiert. Auch er hatte sich in seiner Kindheit an diesem weit verbreiteten Brauch beteiligt. Und das mit Begeisterung. Ab dem Abendgottesdienst des Gründonnerstags bis zum Gloria der Osternacht schwiegen die Glocken. Also brauchte es für diesen Zeitraum entsprechenden Ersatz. Und das waren eben die Ratschen, mancherorts auch Kleppern genannt. Meist funktionierte dieser Lärmbrauch so, dass in den speziellen Geräten kleine Hämmer auf Holzbretter schlugen und dadurch ein klapperndes Geräusch erzeugten. Die Ratschen, die er aus seiner Kindheit kannte, waren seiner Meinung nach sogar um eine Spur raffinierter. Da wurde der Lärm mithilfe einer Kurbel ausgelöst. Diese Drehvorrichtung hob die Holzleisten an und ließ sie augenblicklich zurückschnellen. Das verursachte genügend Wirbel. Auch die heute im Pfarrgelände präsentierten Ratschen funktionierten nach der Kurbelmethode. Ein TV-Team war anwesend und hielt die lärmende Präsentation der stolzen Ministrantentruppe mit der Kamera fest. Und davon würde in der gleich folgenden Nachrichtensendung ein Beitrag zu sehen sein. Er blickte kurz zur Uhr an der Wand, deren altertümliches Ziffernblatt von einem Bogen aus dunklem Holz umschlossen war. Ja, es blieben noch gut 20 Minuten, ehe die Sendung anfing. Sie hatten genug Zeit. Also gestattete er sich ein weiteres Stück Bauernbrot und widmete sich wieder der Suppe.

Dann war es so weit. Sie verließen den Essbereich der Küche und wechselten hinüber in die kleine Stube. Die Großmutter reichte Martin die Fernbedienung, er schaltete ein. Das TV-Gerät stand auf einer kleinen Kommode. Ein moderner Flatscreen. Der Bildschirm war zwar nicht sehr groß, aber von bester Ausführung. LED, Dolby, hervorragende Farbqualität und manches mehr.

»Warum soll ich weiter in das alte Röhrenkastl schauen, wenn ich hier so wunderbare Bilder bekomme?«, hatte die Großmutter schon vor vielen Jahren argumentiert, als sie sich den ersten Flachbildschirm anschaffte.

Der Beitrag über die Ratschenbuben war gleich der erste in der Sendung, gestaltet als Aufmacher. Merana schaute aufmerksam zu. Ihn interessierte immer, welches Ergebnis schlussendlich aus den zahlreichen Bild- und Worteinstellungen bei den doch sehr langen Aufnahmen hervorkam. Die Kamera schwenkte vom Kirchturm herunter zum Platz. So begann der Beitrag. Der Lärm der Ratschen war dabei von Beginn an zu hören. Allmählich kamen die Ministranten ins Bild. In der nächsten Einstellung auch ein Teil der Zuschauer. Die Großmutter stieß ein glucksendes Lachen aus, als sie sich selbst entdeckte, an der Seite ihres Enkelsohnes. Man zeigte das Gesicht der alten Frau sogar in Großaufnahme. Zwei der Ministranten erklärten das Innenleben ihrer Lärmwerkzeuge, schwärmten davon, wie sie die Ratschen gebaut hatten. Es kam auch ein Experte ins Bild. Er erklärte die besondere Stellung der Ratschen im Umfeld des Brauchtums. Mit einem letzten Schwenk von der Ratschengruppe zurück zur immer noch schweigenden Glockenstube am Kirchturm war der Beitrag zu Ende.

»Lass uns auch noch die anderen Beiträge anschauen, Martin.« Er hatte nichts dagegen. Es folgte ein Kulturbericht, ein Porträt der Mezzosopranistin Mati Tamm. Sie sang bei den diesjährigen Salzburger Osterfestspielen die Kundry. Merana würde sie bald live erleben. Denn er hatte eine Karte für den Ostermontag ergattert. Er freute sich schon lange auf diese Aufführung. Er kannte zwar Richard Wagners Parsifal von einer CD-Gesamtaufnahme, aber er hatte die Oper noch nie live auf der Bühne gesehen. Nach dem Porträt folgte ein längeres Interview mit dem Landeshauptmann-Stellvertreter. Es ging um mögliche Unterstützungen des Landes für bestimmte Wirtschaftsprojekte. Dann wurde ein Bericht vom Salzburger Kapuzinerberg präsentiert. Es ging dabei um ein verendetes Stück Gamswild. Dabei kam mehrmals der Salzburger Stadtförster ins Bild. Es sei noch zu früh, erklärte der Förster, die näheren Umstände zu kennen, die zum Ableben der Gämse geführt hätten. Dazu brauche es weitere Untersuchungen. Aber man werde die Öffentlichkeit selbstverständlich auf dem Laufenden halten. »Und natürlich auch die Zuseherinnen und Zuseher von Salzburg heute«, wie die Moderatorin kurz vor ihrer Verabschiedung anmerkte. Der Meteorologe versprach, dass das heute schon deutlich spürbare Hoch, das sich vom Atlantik in Richtung Mitteleuropa schob, auch in den kommenden Tagen die Wetterlage bestimmen würde. Das freute Merana. Dann konnte er mit der Großmutter einiges unternehmen. Und das bei angenehmen Temperaturen, wie es aussah.

»Ach, Jacky, das tut mir aber sehr leid! Da sind wir wohl zu früh aufgebrochen!«

Der Terrier hob kurz den Kopf. Er lag auf dem rosafarbenen Teppich neben der Standuhr und widmete sich genüsslich seinem Bio-Geflügelchip. Normalerweise ließ er sich beim Verzehr seines Lieblingsleckerlis nicht so leicht stören, aber die Stimme seines Frauchens klang bedauernswert kläglich. »Und kein Wort haben die darüber gesagt, dass du die tote Gämse gefunden hast. Weil du so ein aufmerksamer Hund bist.« Sie nahm die Fernbedienung und schaltete missmutig den Fernseher aus. Der Hund äugte nochmals kurz in ihre Richtung. Er hatte jetzt keine Zeit für ihr Gejammere. Schließlich musste das Leckerli verspeist werden. Und gleich darauf das nächste.

»Wenn wir länger geblieben wären, wärst du sicher ins Fernsehen gekommen, mein Liebling. Und ich auch.« Davon hatte sie schon öfter geträumt. Immer wurden alle möglichen Leute auf der Straße angehalten, um ihre Meinung direkt in die Kamera zu sagen. Aber niemals sie. So gern hätte sie einmal ihr Gesicht im Fernsehen gesehen. Einmal wäre es fast dazu gekommen. Da drehte man tatsächlich eine Reportage. Bei einem Kegelabend. Das war fast 15 Jahre her.

Damals hatte Olaf noch gelebt, ihr Ehemann. Er hatte sie jede Woche zum Kegeln geschleppt. Sie hatte ihn dafür gehasst. Es hatte sie nie interessiert. Sie hatte nie verstanden, wie man Spaß daran finden konnte, eine dämliche Kugel über eine Bahn kullern zu lassen, nur damit am Ende der Strecke ein paar Holzfiguren polternd umfielen. Aber die anderen aus dem Bekanntenkreis ihres Mannes hatten das sehr genossen. Es wurde gejubelt und gekreischt. Und viel Alkohol gesoffen. Und dann, eines Abends, tauchte tatsächlich ein Kamerateam auf. Die wollten eine Reportage über die neu eröffneten Bahnen in diesem Kegellokal drehen. Sie machten Interviews. Auch mit ihr. Sie wusste heute nicht mehr, was sie gesagt hatte. Aber an ihre Freude damals konnte sie sich noch gut erinnern. Und was war dann? Am Abend? Keine Spur von ihr. Als sei sie gar nicht da gewesen! Jedes läppische Detail aus dem Lokal wurde gezeigt. Und viele der Gäste. Wie sie Kugeln schoben, Kegel trafen und jubelten. Aber sie nicht! Sie war kein einziges Mal im Bild.

Aber heute hätte sie wieder die Chance bekommen, vor die Kamera zu treten. Immerhin war es ihr Hund, der die tote Gämse gefunden hatte. Sie hatte ja nicht wissen können, dass tatsächlich ein Fernsehteam auf dem Kapuzinerberg auftauchen würde. Sie war natürlich früher abgehauen, weil sie dem Stadtförster nicht begegnen wollte. Schließlich hatte sie ihren Jacky ja ohne Leine herumlaufen lassen. Das war im gesamten Stadtgebiet verboten. Und auch auf dem Kapuzinerberg war es nicht erlaubt. Vom Besudeln des Mozartmonuments durch den Urin ihres Hundes einmal ganz abgesehen.

»Aber wenn ich gewusst hätte, dass wir ins Fernsehen kommen, Jacky, dann hätte ich gerne eine Strafe in Kauf genommen. Die paar Euro hätte ich locker hingestreckt. Alle hätten uns zugeschaut.«

Sicher auch die Kroninger Lore. Mit der pensionierten Lehrerin traf sie sich manchmal im Café. Beim nächsten Treffen wäre sie garantiert wohl vor Neid geplatzt, die Lore. Sie vernahm ein Winseln. Jacky hockte auf dem Boden neben ihr und blickte sie treuherzig an. Sie wusste genau, was er jetzt dachte. Bring mir bitte noch einen Bio-Chip. Sie erhob sich, machte sich auf den Weg in die Küche, um das Leckerli zu holen. Das Leben war manchmal schon verdammt hart. Besonders zu ihr.