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Kurz bevor Bad Ischl Europäische Kulturhauptstadt wird, feiern die Gäste der Almrauschhütte auf der »Katrin«, dem Bad Ischler Hausberg, den traditionellen »Liachtbratlmontag«. Der Spaß wird zum Albtraum, als die Ärztin Marie Giesinger eine Leiche entdeckt - den grausam zu Tode gegrillten Kulturmanager Hubert Holzinger. Wenig später stürzt ein berüchtigter Anwalt vom Hallstätter Skywalk. Hängen die Fälle zusammen? LKA-Ermittler Ben Achleitner bekommt es auf der Jagd nach dem Täter nicht nur mit seiner Ex-Freundin Marie zu tun, sondern auch mit ausgekochten Gegnern.
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Seitenzahl: 354
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Dagmar Hager
Salzkammerblut
Kriminalroman
Tod im Salzkammergut Alles könnte so schön sein. Bad Ischl wird Europas Kulturhauptstadt. Die Menschen feiern. Doch dann findet die Ärztin Marie Giesinger am traditionellen »Liachtbratlmontag« hinter der Almrauschhütte auf der »Katrin« die Leiche eines grausam zu Tode gegrillten Kulturmanagers. Was für ein Albtraum! Ausgerechnet Maries schwieriger Ex-Freund Ben Achleitner übernimmt die Ermittlungen und verdächtigt zudem auch noch ihre spurlos verschwundene Sprechstundenhilfe Filo Hemetsberger. Mitten hinein in die Ermittlungen platzt ein zweiter Toter. Der Linzer Anwalt Theo Pühringer ist unter merkwürdigen Umständen vom Hallstätter Skywalk gestürzt. Zwei Fälle, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Bald entdeckt Ben aber doch Verbindungen und stößt auf einen Sumpf aus Manipulation, Rache und tödlicher Gleichgültigkeit. Eine mörderische Jagd quer durch das Salzkammergut beginnt. Marie ist in der Zwickmühle. Soll sie verraten, was sie weiß? Währenddessen kennen die Gegner keine Gnade.
Dagmar Hager lebt in Wien, Oberösterreich sowie Kärnten und arbeitet als Moderatorin und Redakteurin. Neben dem Schreiben ist sie vor allem als Bloggerin und Podcasterin (»Bücher sind wie Kekse«) aktiv. Sie mag ihre Freunde, ihr Mountainbike, Reisen, Berge, Bücher, Segeln und gute Gespräche. >Mehr Informationen zur Autorin unter: www.dagmarhager.com und www.dagmarsbuchwelt.com
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © 4FR / istockphoto.com
ISBN 978-3-8392-7914-4
Für meine Lieblingsmenschen
Auf da Gaudi.
Zwecks Vergnügung unterwegs.
Liachtbratlmontag.
Ausnahmezustand in Bad Ischl.
Alle, die einen runden Geburtstag feierten, zogen nach dem Gottesdienst am Morgen durch den Ort und wurden von ihren Freunden und Bekannten mit Gaben behängt, von Herzen bis zu kleinen Schnapsflascherln. Danach fuhr man zusammen ins Land hinein oder auf eine der umliegenden Berghütten, um ein wohlverdientes Liachtbratl zu verzehren, einen Schweinsbraten mit Knödeln und Kraut, und es dabei so richtig krachen zu lassen. Am Abend im Ort ging es ungebremst weiter. Vorsichtshalber blieben die Geschäfte an diesem Tag geschlossen. Wenn die Bad Ischler feierten, dann g’scheit.
Um bei diesem traditionellen Brauchtum so richtig auf den Putz zu hauen, musste man allerdings kein Jubilar sein. Das stellte Marie Giesinger soeben fest, als sie sich in der gesteckt vollen Almhütte umsah, in der die etwa 80 rotwangigen Gäste den Paschern am Stammtisch zujubelten. Sie hatten sich um einen Älteren mit Gamsbarthut und Quätschn gruppiert und begleiteten ihre frechen gesungenen Gstanzln mit rhythmischem Händeklatschen.
Ein Bierglas schob sich in Maries Sichtfeld. Umklammert von Hubert Holzinger, dem schönen Hubert, ihrem Sitznachbarn, dessen glasiger Blick Resultat der fünf davor war.
»Prost, Frau Doktor, sche, dass du da bist! Owi damit!«
Marie griff nach ihrem eigenen noch bis an den Rand gefüllten Glas, stieß bemüht lächelnd mit ihm an und stellte es, ohne davon zu trinken, zurück auf den Tisch.
Erst vor zwei Stunden hatte sie ihre Ordination geschlossen, sich ihre Sprechstundenhilfe Filomena geschnappt und war in die romantische Katrin-Seilbahn mit ihren urigen Gondeln gestiegen. Der authentische Charme der Bahn war für viele ein Grund mehr, den Ischler Hausberg zu stürmen und die grandiose Aussicht auf die Umgebung zu genießen, insbesondere auf das Goiserer Tal und den imposanten Dachsteingletscher.
Heute allerdings war nichts davon zu sehen.
Es schüttete an diesem ersten Oktobermontag, dem traditionellen Datum des Festes. Der Nebel hing schwer und die Sicht lag bei null. Was der brodelnden Stimmung in der Almhütte keinen Abbruch tat. Im Gegenteil. Man rückte einfach etwas enger zusammen und kümmerte sich nicht um das Wetter.
Sehnsuchtsvoll warf Marie einen Blick auf die prall gefüllten Teller, die Rudi Zoidl, der Hüttenwirt, ohne Unterbrechung aus der kleinen Küche hervorzauberte. Liachtbratln war seit ihrer Jugend ein Fixpunkt im Kalender gewesen, genauso wie die Dienstage danach, die man mit pelziger Zunge und jede Menge Kopfweh zu überstehen hatte. Was selbstverständlich niemanden daran hinderte, die ganze Gaudi im nächsten Jahr nicht minder ausgelassen zu wiederholen.
Endlich landete einer der Teller auch vor ihr. Mit einem Seitenblick auf ihren alkoholseligen Nachbarn, der gerade lauthals ein Gstanzl mitsang, machte sie sich dankbar, und vor allem ungestört, darüber her. Außer einem Weckerl hatte sie heute noch nichts im Magen, denn den vielen Wehwehchen ihrer Patienten war das Liachtbratln egal gewesen.
Zwischen zwei gierigen Bissen sah sie Filo amüsiert die Augen verdrehen. Mit beiden Händen hielt sich ihre Sprechstundenhilfe einen der anderen Gäste vom Leib, der sie umarmen und auf die Wange küssen wollte. Filo war eine stattliche Frau und trug ein Dirndl, das ihren wogenden Busen perfekt zur Geltung brachte, eine Tatsache, die es ihrem Verehrer sichtlich angetan hatte.
Filo verdrehte die Augen. »Ferdinaaaaand, aus jetzt. Dein Niveau lässt grüßen. Es weiß nicht, wo du bist!«
»Mensch Filo, du brauchst mal wieder einen richtigen Mann!«, schmollte der Angesprochene.
Maries Freundin nahm den blöden Spruch mit Humor. »Stimmt. Siehst du hier irgendwo einen?«
Ein Hauch Bierdunst nahm Marie fast den Atem und ließ keinen Zweifel aufkommen: Hubert war wieder da. Der Mittfünfziger war Kulturmanager und hatte ihr vorhin ohne Pause von den intensiven Vorbereitungen für das in drei Monaten beginnende Jahr 2024 erzählt, in dem Bad Ischl europäische Kulturhauptstadt sein würde. Er galt als Frauenschwarm. Maries Fall war er aber nicht. Heute schon gar nicht. Sein grünlich blasses Gesicht samt rotgeäderter Nase sprach Bände. »Ich brauch mal frische Luft vorm Kaiserschmarren. Den musst du nachher unbedingt noch kosten, Mädl. Rudi macht den allerbesten, und dazu g’hört natürlich ein Schnapserl.«
Nichts anderes hatte Marie vorgehabt, vorzugsweise aber ohne den Hochprozentigen.
Dankbar für die Pause, aber auch leicht besorgt, sah sie ihm nach, als er zur Tür wankte. Draußen ging gerade die Welt unter.
Sie nutzte die Gelegenheit, um in die Gegenrichtung auf die Toilette zu verschwinden. Wie immer zog sich die Schlange vor der Tür mit der aufgemalten Frau in die Länge. »Das sind die einzigen Momente, in denen ich gern ein Mann wär«, seufzte eine junge Brünette und kniff die Beine zusammen.
Auf dem Rückweg wurde Marie von zwei jungen Blondinen am Nebentisch abgefangen, beides Patientinnen. Sie hatten, wie viele, keine Skrupel, sie auch in ihrer Freizeit mit medizinischen Fragen zu löchern.
Danach legte ihr Ignaz Grallinger die Pranke auf die Schulter, der Chef einer großen Baufirma und ebenfalls Teil ihrer Patientenkartei, allerdings im Augenblick zum Glück ohne ärztliche Bedürfnisse. Vielmehr drückte er ihr einen Klaren in die Hand und bestand darauf, dass sie ihn vor seinen Augen hinunterkippte, um auf das Du anzustoßen. Keine Chance zu entkommen. Mit brennendem Hals kehrte sie zu ihrem Tisch zurück.
Sofort fiel ihr auf, dass Hubert immer noch fehlte.
Oje, den armen Kerl hatte es wohl ziemlich erwischt.
Die Ärztin in ihr übernahm.
Es goss Bindfäden, der Boden war schlüpfrig und fiel insbesondere direkt vor der Hütte steil ab. Besser, sie sah nach, wo er blieb. Seufzend schnappte sie sich ihre Regenjacke mit der großen Kapuze und machte sich auf den Weg.
Im Zelt vor dem Eingang hockte ein Raucher. Sie fragte ihn nach Hubert. »Hab niemanden gesehen, bin aber auch gerade erst raus, für an schnellen Tschick. Die Sucht, weißt eh!«, schnaufte der Mann. Marie besah sich kurz sein aufgeschürftes Knie. Er zuckte mit den Schultern. »Ausg’rutscht.« Sein Blick war verhangen und die kurze Lederhose hatte große Mühe, unter seinem stattlichen Bauch an Ort und Stelle zu bleiben. Außerdem roch er streng.
»Geh bitte wieder rein, damit dir nicht noch mehr passiert«, sagte sie fürsorglich, richtete sich auf und umrundete die Vorderseite der Berghütte. Die hatte weit über hundert Jahre auf dem Buckel und besaß eine ausgeprägte Patina. Schon seit sie denken konnte, hatte diese Hütte Marie fasziniert.
Kurz schoss ihr das Bild einer anderen, ebenso reizenden Hütte in Bad Goisern durch den Kopf. Bei gutem Wetter würde man sie mit dem Fernglas von hier aus vielleicht sogar sehen können, dort drüben auf der anderen Talseite, am Fuß der Ewigen Wand. Dieses Refugium, das Ben gehörte. Ihrer Jugendliebe.
Wie es ihm wohl gerade ging? Seit über zehn Monaten hatte sie ihn vollkommen aus den Augen verloren. Er war Ermittler beim LKA in Linz und letzten Herbst im Zuge eines Mordfalles an einer bekannten Influencerin am Wolfgangsee wieder in ihr Leben geschneit. Dabei waren sie sich erneut nähergekommen. Ohne Happy End allerdings. Es war endgültig vorbei. Was zählte, war das Hier und Jetzt.
Noch mehr Pascher-Gstanzln drangen an ihr Ohr. Die Stimmung kochte. Da die Bahn nur bis 17 Uhr fuhr, würden bald alle die zum Glück nur wenigen hundert Meter hinüber zur Bergstation in Angriff nehmen und hoffentlich heil ins Tal gelangen.
Vorsichtig überquerte sie die glitschige Terrasse, auf der sich an schönen Tagen die Ausflügler drängten. »Hubert«, rief sie leise. »Bist du hier irgendwo?«
Als Antwort gab’s nur Stille.
Okay, dann halt anders. Mit aller Kraft schrie Marie in den Regen. »Huuubert! Wo bist du?«
Das ungute Gefühl in der Magengrube wuchs. Unschlüssig hielt sie noch einen Moment lang inne und beschloss dann, lieber noch einmal im Inneren der Hütte nachzusehen.
Wenn auch vergeblich.
Resolut trat sie an den Tresen und fing Rudi ab. Der stämmige Glatzkopf mit dem grauen Ziegenbart stemmte gerade eine dampfende Pfanne in die Höhe. »Die Liachtbratln sind aus!«, brüllte er. »Aber Schmarren gibt’s!«
»Rudi, kommst du bitte kurz nach draußen? Ich weiß, du hast Stress, aber lass mal trotzdem für einen Moment deine Leute ran!« Rudis zwei Angestellte arbeiteten im Akkord, ließen das Chaos aber dennoch mit einem breiten Lächeln an sich abprallen.
Nachdenklich musterte Rudi ihren ernsten Gesichtsausdruck, stellte die Pfanne auf einen der großen Holztische und nickte zustimmend. »Kimm!«
Im Freien nahm er einen tiefen Atemzug und wischte sich mit seinem Fetzerl, einem Schweißtuch, über die Stirn. Er wirkte angeschlagen. Kein Wunder bei den Strapazen heute. »Also, was ist los?«
»Ich kann den Hubert Holzinger nicht finden. Vor etwa einer halben Stunde ist er raus, weil er frische Luft schnappen wollte. Glaubst du, er hat, ohne Bescheid zu sagen, die Gondel genommen?«
Rudis Blick verschattete sich. »Wart kurz.«
Einen Anruf später war klar: Keiner vom Seilbahn-Personal hatte den Mann gesehen.
Der Abstieg ins Tal war lang und gefährlich. Niemand bei Verstand würde ihn bei diesem Wetter wagen. Genau das sprach der Wirt gerade auch laut aus.
»Vernunft und Huberts sechs Halbe Bier schließen sich allerdings aus«, folgerte Marie kopfschüttelnd. »Hoffentlich ist er nicht von deiner Terrasse gekippt!«
Vorsichtig lugte sie über die steile Kante, konnte jedoch in den dichten Nebelschwaden nichts erkennen. Im Umdrehen bildete sie sich ein, einen Schatten zu sehen.
»Das müssen wir schleunigst klären«, lenkte Rudi sie im selben Moment ab, »aber unauffällig. Ich hol Hilfe …«
Abrupt hielt der Wirt inne.
Beim Sprechen waren sie weitergegangen und standen nun direkt vor dem riesigen Smoker, einer Art überdimensionalem Grill, auf dem Rudi das ganze Jahr über herrliche Spareribs und Steaks garte. Und heute Tonnen von Liachtbratln. In der Brennkammer loderte die Glut, aus dem seitlich angebrachten hohen Kaminrohr strömte Rauch.
Dazwischen, in der großen zylindrischen Garkammer, steckte etwas.
»Aber …?«, rang Rudi fassungslos die Hände.
Marie schnappte nach Luft, würgte, als sie mit einem Mal den Gestank nach verkohltem Fleisch und verbrannten Haaren wahrnahm.
Auf dem Smoker lag ein Mensch.
Liagn tuat a jeda.
Niemand sagt immer die Wahrheit.
Mit fest zusammengepressten Lippen schlüpfte Benediktus Achleitner aus der kleinen roten Gondel und trat ins Freie.
Die Plattform vor der Bergstation der Katrin-Seilbahn wurde von der Außenbeleuchtung erhellt, ansonsten herrschte tiefe Dunkelheit. Zumindest hatte der Regen etwas nachgelassen. Dennoch war es eisig kalt hier oben auf über 1.500 Meter Seehöhe.
Ein paar tiefe Atemzüge später war sein Kopf halbwegs klar. Mit einem knappen »Griaß di, Kollegin!«, begrüßte er die junge Polizistin, die am Eingang auf ihn gewartet hatte. Täuschte er sich oder war sie ungewöhnlich blass?
Sie nickte nur.
»Wie schlimm ist es?«, fragte er und schob sich verstohlen ein Minzzuckerl in den Mund.
Die Polizistin schüttelte den Kopf. »Ziemlich heftig.«
Er ersparte es sich, weiter nachzufragen. In wenigen Minuten würde er sich selbst ein Bild machen.
Vor etwas mehr als einer Stunde hatte ihn die Bereitschaft des LKA in seiner Lieblingsbar in Bad Ischl erreicht, wo er gemeinsam mit einigen alten Schulfreunden den Liachtbratlmontag hatte ausklingen lassen. »Die Polizei ist schon oben auf der Katrin. Wennst in der Gegend bist, übernimm bitte gleich. Das wird ein Fall für uns, wir sind am Weg.«
Wie bitte? Eine gegrillte Leiche in einem Smoker? Hatten die vier Seiterl Bier auf seine Ohren geschlagen oder stimmte die Info tatsächlich? Sicherheitshalber hatte er sich bei Conny, der Besitzerin des »Pfiffikus«, eine Schnitzelsemmel to go bestellt und war umgehend auf die Toilette verschwunden. Jede Menge kaltes Wasser im Gesicht und auf den Unterarmen hatten zum Glück ihre Wirkung getan, ein paar große Schlucke aus der Leitung ebenfalls. Er war zwar immer noch ein ganzes Stück davon entfernt, nüchtern zu sein, aber das musste niemand wissen.
Er ließ den Geländewagen, mit dem die Polizistin gekommen war, links liegen. »Ich geh zu Fuß!« Sie zuckte mit den Schultern. »Okay, dann warte ich hier gleich auf die Spurensicherung.«
Die Steine waren schlüpfrig. Konzentriert setzte er einen Fuß vor den anderen. Wie oft er diesen knappen Kilometer flachen Schotterweg zur Almrauschhütte schon gegangen war! Aber noch nie nachts und bei Nieselregen. Dank der kräftigen Stablampe der Kollegin sah er zumindest, wohin er trat.
Die kleine Almwirtschaft kam in Sicht. Einen Moment lang hielt er inne, um das Szenario auf sich wirken zu lassen.
Über dem sonst so zauberhaften Ort lastete eine drückende Stille.
Die Kollegen hatten bereits ganze Arbeit geleistet, alles abgesperrt, Baustrahler aufgestellt und einen Sichtschutz aus rot-weiß-roten Tischtüchern gebastelt. Sämtliche Gäste hatten sie im Inneren der Hütte zusammengepfercht. Nur der Hüttenwirt sowie einige uniformierte Polizisten waren zu erkennen.
Und die Notärztin. Marie. Er hatte es befürchtet.
Langsam ging er auf die schweigende Menschengruppe zu.
Marie bemerkte ihn als Erste. »Ben, du?«, entfuhr es ihr. Auch sie war bleich, hatte die Arme schützend vor ihrem Körper verschränkt.
Wie auf Kommando fuhren alle zu ihm herum.
»Hallo, zusammen«, sagte er schlicht und wandte sich Reinhard Oberndorfer zu, dem Bad Ischler Postenkommandanten. Man kannte sich. »Servus, Reinhard! Was ist passiert?«
Der schlanke Polizist mit dem dunklen Vollbart musterte ihn kurz und machte dann eine Geste Richtung Smoker. »Griaß di, Benediktus. Das war der schöne Hubert, ich meine, der Holzinger Hubert. Kennst du ihn?«
Ben hatte noch nie von ihm gehört. In Kürze würde er allerdings mehr über das Opfer wissen, als ihm lieb war.
»So wie es ausschaut, wurde er in den Smoker gestopft«, fuhr Reinhard Oberndorfer angewidert fort. »Er ist verbrannt, oder erstickt, oder beides. Jedenfalls ist er hinüber. Wir haben alles abgesperrt und so belassen. Es hieß, die Kollegen und die SpuSi seien schon am Weg, wir dachten aber, es würde noch länger dauern.«
Ben nickte. »In einer guten halben Stunde sind sie da. Ich war zuvor schon in Ischl.«
Zögerlich ging er auf den Smoker zu, der auf einem Betonsockel vor einer hohen Bretterwand stand und ihn damit uneinsichtig machte, wappnete sich, und lugte vorsichtig über die Barriere.
Holzingers Leiche lag halb ausgezogen auf dem Rücken. Offensichtlich hatte man ihm das Hemd vom Leib geschnitten und versucht, ihn mittels Herzdruckmassage und Defibrillator wiederzubeleben. Dort, wo sich sein Gesicht befunden hatte, klaffte schwarzrot verbranntes Fleisch, Augen, Nase und Mund waren verklebt, die Haut warf Blasen. Sein halber Oberkörper war ebenfalls verbrannt. Alles vom Bauchnabel abwärts schien hingegen unverletzt. In der Tat war hier nichts mehr zu machen. Hubert Holzinger würde nie wieder einen Liachtbratlmontag feiern.
Hinter dem Toten ragte, mit weit geöffneter Abdeckung, der riesige Smoker auf. Es roch intensiv nach verbranntem Grillgut. Ben wagte sich keinen Schritt weiter. Das Terrain gehörte der Spurensicherung. Wenigstens hatte es beinahe aufgehört zu regnen. Mit etwas Glück waren nicht alle Spuren weggewaschen.
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte er mit enger Kehle. Die verstümmelte Leiche schlug ihm auf den Magen.
»Rudi und ich.« Marie hatte sich unbemerkt neben ihn gestellt. »Hubert brauchte frische Luft und kam fast eine halbe Stunde lang nicht zurück, deshalb machten wir uns auf die Suche. Ich wollte ihm noch helfen, aber na ja …« Sie machte eine hilflose Geste.
»Habt ihr jemanden gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es hat geregnet. Alle waren drin.« Mit dem Daumen deutete sie in Richtung Hütte.
»Was ist mit dem Hinterausgang, Rudi?«
Ben war hier aufgewachsen, kannte die Almrauschhütte in- und auswendig, und wusste daher, dass es zwischen Küche und Smoker einen nachträglich eingebauten schmalen Durchgang gab.
»Geh, bitte, Ben«, stöhnte Rudi Zoidl entnervt. »Du weißt doch genauso gut wie ich, dass meine Küche tabu ist. Da darf niemand rein außer mir und dem Personal. Wär’ aber sowieso egal gewesen. So voll, wie der Laden war, gab’s keine Geheimnisse.«
Mit dieser Antwort hatte Ben gerechnet. Unter Garantie hatten mindestens zehn Personen direkt am Tresen gebechert und den Zugang zur Küche blockiert. Wer genau, würde sich demnächst herausstellen. Sollte jemand den Hinterausgang benutzt haben, dann auf keinen Fall unbemerkt.
»Gibt es sonst irgendwelche Zeugen?«, wandte Ben sich erneut an Reinhard Oberndorfer.
»Die Kollegen sind gerade drin und fragen sich durch. Aber etwas getrunken haben so gut wie alle. Wird wohl nicht viel bringen.«
Ein kurzer Seitenblick auf die immer noch blasse Marie genügte, um Bens Beschützerinstinkt zu triggern. Was ihn einmal mehr fürchterlich ärgerte. Seit der sechsten Klasse hatte diese Frau ihn fasziniert und ihm sowohl die glücklichste Zeit seines Lebens beschert als auch vor einigen Jahren durch ihr Verschwinden ohne ein erklärendes Wort beinahe das Herz gebrochen. Ein wenig machte er sie außerdem immer noch für den Tod seines Bruders Andi verantwortlich. In seiner abgrundtiefen Verzweiflung hatte Ben damals einen riskanten Tauchgang im Attersee gewagt, bei dem in großer Tiefe sein Inflator vereist war. Andi hatte ihm durch einen Notaufstieg das Leben gerettet, seines dabei aber verloren. Während der Ermittlungen im letzten Jahr hatten Marie und er sich darüber ausgesprochen, dennoch blieb ein Teil seiner Seele unnachgiebig.
Unwirsch schob er die dunklen Erinnerungen beiseite. »Erzähl mir bitte genau, was ihr gemacht habt!«, forderte er sie stattdessen auf, harscher als gewollt.
Kein Wunder, dass Marie zusammenzuckte.
Dennoch hatte sie sich im Griff und erzählte ihm in knappen Worten, was geschehen war. »Als wir ihn schließlich gefunden haben, versuchten wir, den Deckel des Smokers zu öffnen, was eine ziemliche Herausforderung darstellte«, schloss sie ihren Bericht. »Hubert hatte keine Chance, wäre aber in seinem alkoholisierten Zustand wahrscheinlich ohnehin nicht in der Lage gewesen, sich zu wehren.« Sie senkte den Kopf und verschränkte die Arme. »So wie es aussieht, ist sein Hinterkopf zertrümmert.«
Ben schnappte nach Luft. »Moment mal, du glaubst, jemand hat ihn zuvor niedergeschlagen und erst dann in den Smoker gestopft?«
»Gut möglich«, antwortete sie knapp. »Die Obduktion wird es klären. Unfall war das jedenfalls keiner, da lege ich mich fest. Ohne Zweifel hast du es mit einem kaltblütigen Mörder zu tun.«
Er warf einen langen Blick auf die zugedeckte Leiche. Das fröhliche rot-weiße Karo der Tischdecke wirkte nach Maries Worten reichlich makaber.
»Hatte er Feinde?«
Rudi Zoidl meldete sich zu Wort. »Jeder hat Feinde, Ben. Hubert war zwar ein netter Kerl, aber seit er für die Kulturhauptstadt tätig war, musste er sich einiges anhören.«
Marie schüttelte den Kopf. »Aber er ist doch urplötzlich raus, weil ihm schlecht wurde. Das konnte doch keiner vorher wissen.«
»Vielleicht hat ihn jemand beobachtet und die Gelegenheit beim Schopf gepackt«, mutmaßte Rudi und rieb sich seinen Ziegenbart. »Oder ihm wurde etwas ins Getränk gekippt.«
»Halt’s z’samm, Rudi!«, schnaubte Marie. »K.-o.-Tropfen in der Almrauschhütte? Der Hubert hatte literweise Bier und einige Schnäpse intus, da wird sogar dem Stärksten schlecht. Noch dazu bei der verbrauchten Luft. Die Fenster waren wegen dem Wind und dem Regen ja alle zu. Ich hab fast nichts getrunken und hatte auch zu kämpfen.«
Ben hörte den beiden schweigend zu und behielt seine Überlegungen für sich. Vielleicht hatte Hubert rein zufällig etwas beobachtet und das als unliebsamer Zeuge mit dem Leben bezahlt.
Bislang nichts als Spekulation.
Starkes Licht blendete auf. Über Maries Kopf hinweg sah er den Geländewagen auf sie zukommen. Das Tatort-Team war eingetroffen.
Es würde eine lange, kalte und feuchte Nacht werden.
Am nächsten Morgen
Pfeilgrad in d’Höll.
Direkt in die Hölle.
»Also, was haben wir?«
Chefinspektor Christian Franz blickte erwartungsvoll in die Runde.
»Viele Menschen, die wenig gesehen haben«, fasste Ben erschöpft die Befragung der letzten Nacht zusammen.
Er war erst heute Morgen gegen halb fünf nach Linz zurückgekehrt. Tiefe Ringe unter seinen Augen zeugten von wenig Schlaf. »78 Personen und kein brauchbares Ergebnis. Wäre Marie Giesinger nicht so besorgt gewesen, hätte man Hubert Holzinger womöglich überhaupt erst heute früh entdeckt. Der Smoker steht etwas geschützt hinter dem Bretterverschlag und ist weder vom Inneren der Hütte noch vom Wanderweg aus zu erkennen. Der Wirt meinte, er hätte den Grill wie immer zunächst abkühlen lassen wollen und erst am nächsten Morgen gereinigt.«
»Mit wem war das Opfer dort?«
»Auf Einladung von Ignaz Grallinger, dem Inhaber der gleichnamigen Baufirma. Aber lass mich von vorne beginnen. Unser Opfer heißt Hubert Holzinger, ist 55 Jahre alt, ledig und kinderlos. Ein Arbeitstier. Geborener Ischler. Hat die Tourismusfachschule besucht, dann lange in Salzburg gelebt und dort unter anderem für die Festspiele gearbeitet. Vor etwa einem Jahr kam er dann für den Job in der Arbeitsgruppe der Europäischen Kulturhauptstadt zurück. Er galt als Frauenheld, Spitzname: der schöne Hubert.« Ben hielt ein auf A4 vergrößertes Foto des Verstorbenen hoch.
Sechs Augenpaare im kleinen Besprechungsraum des LKA musterten es neugierig. »Wenn man den Typ mag«, murmelte Helene Almesberger, die einzige Frau im Team. Auf dem Ganzkörperbild trug Holzinger Lederhosen und den Sweater einer Kultmarke, dazu Sneakers. Seine schwarzgrauen Haare fielen ihm in die gebräunte Stirn, darunter strahlten braune Augen unter dichten dunklen Brauen. Er lächelte breit und präsentierte dabei eine Reihe perfekter Zähne.
»Und, magst du?«, konnte Gruppeninspektor Dino Cortone es sich nicht verkneifen zu fragen.
Helene Almesbergers entgeisterter Gesichtsausdruck sagte alles. »So einen alternden Gigolo? Ich bitte dich. Männer mit Bauchansatz sind für mich ein absolutes No-Go. Und schau dir dieses verlebte Gesicht an. Also: danke, nein.«
»Trotzdem müssen wir auch in diese Richtung ermitteln«, meinte Bens engster Kollege Peter Neumüller amüsiert. »Wenn’s wahr ist, gab es nämlich, im Gegensatz zu dir, viele Frauen, denen er zusagte, und er scheint alles andere als ein Kind von Traurigkeit gewesen zu sein. Gelegenheit macht Liebe. Zumindest für eine Nacht.«
»Eifersucht, das älteste Mordmotiv der Welt«, seufzte Ben. »Hab ich den Fall eigentlich offiziell, Christian?«
Der Chefinspektor zog die Stirn in Falten. »Schaut so aus. Haut’s euch auf ein Packerl. Meine Ecke ist das sowieso nicht. Man muss schon von dort stammen, um zu verstehen, wie ihr tickt. Ich halte mich lieber an die gute, alte Provinzhauptstadt mit ihren bösen Buben und Mädchen. Wir supporten von hier aus und entscheiden noch, ob wir eine Soko bilden. Ist immer ein Aufwand, weil es über Wien genehmigt werden muss.«
Ben nickte zufrieden.
Christian Franz hatte keine Zeit zu verlieren und fuhr fort. »Haben die Befragungen in der Hütte irgendetwas Verwertbares ergeben?«
»Offiziell hat niemand etwas gesehen. Aber ich möchte mich heute Nachmittag auf jeden Fall noch mal persönlich mit Marie Giesinger, Rudi Zoidl und den beiden Kellnerinnen unterhalten und mir auch den Tatort in Ruhe ansehen.«
»Was ist mit der Obduktion?«
Man hatte die Leiche auf Bens Bitte hin noch in der Nacht nach Linz gebracht. »Die beginnt um zehn. Auch da werden wir dabei sein, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was geschehen ist.«
Ben war kein großer Freund davon, den Rechtsmedizinern bei ihrer Arbeit zuzusehen, dennoch wusste er natürlich um deren Wichtigkeit. Ohne Kaffee würde er das nach der langen Nacht allerdings nicht hinbekommen.
Er bedeutete Peter Neumüller mitzukommen. »Pack dein Zeug. Wir werden ein paar Tage in Ischl bleiben müssen. Antonia soll dir ein Zimmer buchen. Was immer du jetzt tust, mich findest du an der Kaffeemaschine.«
»Was hältst du denn von einem Semmerl mit frischem Beef Tartare dazu?«, fragte sein Kollege hoffnungsvoll. Er war berühmt dafür, in jeder Lebenslage essen zu können. Was man dem fülligen Enddreißiger auch ansah. Auch seiner Liebe für gewöhnungsbedürftige Motto-T-Shirts frönte er heute wieder ungeniert. In weißen Buchstaben auf schwarzem Grund spannte sich der Spruch des Tages über seinen Bauch: Es gibt nichts Romantischeres als einen gemeinsamen Spaziergang zum Kühlschrank.
Christian Franz gestattete die Marotte mit der Auflage, darüber stets ein Sakko oder eine Jacke zu tragen.
»Vor der Obduktion?« Ben schüttelte sich und verdrängte das Bild von Hubert Holzingers Gesicht und Oberkörper, in das sich der Grillrost des Smokers eingebrannt hatte. »Dein Saumagen in Ehren, aber ich bleibe ausschließlich bei Koffein.«
»Die Todesursache ist wohl Ersticken. Der arme Kerl bekam einfach keine Luft mehr. Die Ischler Kollegin hatte recht, sein Hinterkopf ist zertrümmert, aber gestorben ist er daran nicht.« Mit ungerührter Miene deutete Rechtsmediziner Hans Einwaller auf Hubert Holzingers Hinterkopf. Diese Verletzung stammt von der Kante des Smokers. Er muss sie sich vor seinem Tod zugezogen haben, denn die Platzwunde hat noch geblutet. Außerdem hat er Rauch in der Lunge.«
Ben verschränkte die Arme. »Was, denkst du, ist passiert?«
»Möglich, dass es Streit gab. Vielleicht wurde er gestoßen und landete zunächst rücklings auf dem Rost, wurde hochgezogen, umgedreht und mit dem Gesicht voran darauf gedrückt. Außerdem habe ich Spuren eines Brandbeschleunigers gefunden. Vermutlich hochprozentiger Alkohol. Das Feuer muss heftig gewesen sein, ehe der Deckel des Smokers es löschte. Man kann nur hoffen, dass der arme Kerl während all dem bewusstlos war und seine unfreiwillige Verwendung als Grillgut nicht mehr mitbekommen hat. Scheußliche Sache. Da kannte jemand keine Gnade.«
So viel Brutalität schrie nach einem persönlichen Motiv. Rache. Eifersucht. Wut. Ben war einiges gewöhnt, schließlich arbeitete er in der Mordgruppe, aber das hier war in seiner Grausamkeit dennoch ungewöhnlich.
»Brandbeschleuniger?«, fasste Ben nach. »Wir haben in der Wiese hinter dem Smoker eine zerbrochene Flasche Selbstgebrannten gefunden. Rudi Zoidl meinte, er habe eine dort stehen gehabt und beim Zubereiten der Liachtbratl hin und wieder davon getrunken.«
»Wenn der Schnaps mehr als 40 Prozent Alkohol hat, und davon gehe ich aus, ist es gut möglich, dass damit nachgeholfen wurde. Wie gesagt muss es eine gehörige Stichflamme gegeben und dann ziemlich gebrannt haben. Die Verletzungen würden passen. An eurer Stelle würde ich das Ding schleunigst auf Fingerabdrücke prüfen. Vielleicht habt ihr den Fall dann ja ganz schnell gelöst.«
Möglich, aber Ben glaubte nicht daran. Mit finsterem Gesicht wandte er sich ab.
Auch Peter Neumüller schien der Humor vergangen zu sein, wenn auch nicht der Appetit. Er war zwischendurch verschwunden, um sich ein zweites Beef-Tartare-Brötchen zu holen. Ein Stück Schnittlauch steckte immer noch zwischen seinen Schneidezähnen. »Super, Hans«, nuschelte er und schleckte mit der Zunge darüber, als Ben ihn mit dem Zeigefinger dezent darauf hinwies. »Wir warten dann auf deinen endgültigen Bericht.«
Im Vorbeigehen klopfte er auf Bens Schulter. »Danke, dass du auf meine Schönheit achtest, Alter, aber jetzt finden wir besser heraus, wer sich da dermaßen ausgetobt hat. Fahren wir zurück nach Ischl.«
Grantscherm.
Eine chronisch schlecht gelaunte Person.
Gedankenverloren ergänzte Filo Hemetsberger eine Patientendatei. Nach den Ereignissen von gestern Abend fühlte sie sich wie gerädert. Noch immer schien ihr unfassbar, was mit Hubert Holzinger geschehen war. Ungeachtet dessen hatte Marie die Ordi heute ganz normal aufgesperrt.
Als jahrzehntelang gefragte Hebamme hatte Filo viel gesehen und erlebt, dennoch wunderte sie sich immer noch über die Starrköpfigkeit mancher Ewiggestriger. Diese Frau zum Beispiel war Ende 60 und hatte schwere Osteoporose. Dennoch verwehrte sie sich gegen Hilfe, mit einem ihr leider nur zu bekannten Argument: »Mein Mann sagt, ich hab nix.« Gewisse Krankheiten durften schlichtweg nicht sein, egal was die Untersuchung ergab. Insbesondere bei den Frauen.
Der nächste Termin ließ auf sich warten. Gott sei Dank. Endlich ein kurzer Moment zum Durchatmen.
Die Tür knallte gegen die Wand und Gust Rachlinger marschierte herein. Da es fast 12 Uhr mittags war, umwehte ihn die übliche Wolke aus G’spritztem, Pils und Schnaps. Seit Kindertagen konnten sich Filo und er nicht leiden.
»He, Hemetsberger, wann bin i dran?«, sparte er sich jede Höflichkeit.
»Ich freu mich auch nicht, dich zu sehen, Gust Rachlinger, aber deine Leber wird’s dir danken. Die Frau Doktor hat deine Ergebnisse gekriegt. Ab sofort solltest du lieber nachdenken statt nachschenken.«
»Halt die Papp’n, Speckbarbie. Schwing deinen Walarsch zur Seite und lass mich ang’lahnt.«
Derlei gewohnt, gab Filo sich ungerührt. »Beruhig dich, Gust, und nimm Platz. Es wird noch ein Weilchen dauern.«
Zehn Sekunden lang beobachtete sie aufmerksam, wie die Visage des ehemaligen Tierarztes mehr und mehr Farbe bekam. Dann explodierte der Dampfkessel. »Des machst du mit Absicht. Ich hab einen Termin. Aber du Fettfoz’n glaubst ja seit ewig, dass du etwas Besseres bist.«
Bei seiner Tirade waren jede Menge Speicheltröpfchen quer über den Tresen auf Filos Brille geflogen. Noch ehe sie reagieren konnte, öffnete sich die Tür und Marie erschien.
»Grüß Gott, Herr Doktor Rachlinger, wenn Sie bitte weiterkommen würden«, ignorierte sie dessen Aggression und gab den Weg frei. Als der Mann an ihr vorbei war, suchte sie Filos Blick und schüttelte fast unmerklich den Kopf.
Filo biss sich auf die Lippen. Schon den ganzen Vormittag über war Marie so seltsam gewesen.
Irgendetwas stimmte nicht.
Geh leck.
Ausdruck der Überraschung.
»Ist das Wetter nicht der blanke Hohn?«
Mit zusammengekniffenen Augen blickte Rudi Zoidl quer über das ihnen zu Füßen liegende Goiserer Tal in Richtung Hoher Dachstein. In der Tat waren Himmel und Luft wie blankgeputzt, die Aussicht überwältigend. Einen Augenblick lang genoss Ben den kühlen Wind auf der Haut, ehe er sich dem Hüttenwirt zuwandte.
Das Absperrband um den Smoker wehte in der Brise. Noch hatte niemand die verstreut herumliegenden Hinterlassenschaften der Spurensicherung weggeräumt. Auch das Zelt, das den Tatort schützen sollte, stand noch da.
»Ich hab alles so gelassen, wie es war, nur den Deckel des Smokers zugemacht. Den werd ich unter Garantie auch nie mehr öffnen. Keine Ahnung, ob ich mir nach der Geschichte einen neuen kaufe.«
So erschüttert hatte Ben Rudi Zoidl noch nie erlebt. Der Wirt war ein gestandener Mann, seit 15 Jahren führte er die Hütte hier oben. Da sie keine Übernachtungsmöglichkeit bot und nur zu den Betriebszeiten der Gondel öffnete, hatte er geregelte Arbeitszeiten und schlief in seiner kleinen Wohnung im Ort. Der Endvierziger war legendärer Single, auch wenn so manche Besucherin ihm schöne Augen machte. Zwar war er klein, kaum 1,70, und mit seiner Glatze und dem Kinnbart, den er neuerdings geflochten trug, nicht gängig attraktiv, aber seine charmante Art und seine Kochkünste machten ihn begehrt.
Wie immer trug er eine speckige Krachlederne. Ben konnte sich nicht erinnern, je ein anderes Kleidungsstück an ihm gesehen zu haben. Entweder eine kurze oder eine lange Lederhose, derbe Schuhe, Hemd, Joppe – das war Rudi, der soeben resolut in die Hände klatschte. »Also, was mach ma? Den Kellnerinnen hab ich im Übrigen freigegeben. Die Dirndln tun mir leid, sie sind fix und fertig. Ich hab ihnen gesagt, dass ihr euch bei Bedarf meldet’s und zu ihnen kommt’s. Ich hoff, das passt so.«
»Zuerst möchten wir gemeinsam mit dir noch mal alles rekonstruieren«, begann Ben. »Wer wo in der Hütte war und so weiter.«
Konzentriert gingen sie die gestrigen Ereignisse noch einmal durch. Neue Erkenntnisse gab es nicht. Schließlich standen sie vor dem Smoker, der Ben immer noch schaudern ließ.
In einiger Entfernung entdeckten sie Wanderer, die neugierig herüberlugten. Rudi reagierte unverblümt wie immer. »Die Hütte ist heute geschlossen. Es gibt nix zu sehen. Schauts, dass ihr weiterkommt!«
Die Gruppe starrte zurück und blieb, wo sie war. Die üblichen Katastrophentouristen, denen nichts peinlich war. Ben hatte schon erlebt, dass Leute unter den Absperrbändern hindurchgekrochen waren, um bessere Fotos schießen zu können.
Wie immer trug Rudi sein Herz auf der Zunge. »Volltrotteln. Kimmts eini«, sagte er an die Ermittler gewandt. »Es ist kalt, und im Gastraum simma ungestört.«
Versorgt mit Kräutertee, hockten sie sich an den Stammtisch. »Niemand will etwas gesehen haben. Bei 78 Menschen finde ich das ungewöhnlich, auch am Liachtbratlmontag«, fasste Ben das Ergebnis der Befragungen zusammen.
»Sogar den Rauchern war’s gestern zu ungemütlich draußen, Ben«, hielt Rudi Zoidl dagegen, »und das heißt was. Ihre Tschick oder Pfeiferl sind vielen heilig, wie du weißt. Aber der Heizstrahler fürs Vorzelt hat den Geist aufgegeben und es war eiskalt, grad so, dass es nicht geschneit hat. Umso voller war es drinnen.«
»Und du bist dir sicher, dass außer dir und dem Personal niemand in der Küche war?«
»Ganz sicher. Zum Smoker raus bin überhaupt nur ich, weil ich das den dreien nicht antun wollte.«
Ben horchte auf. »Wieso den dreien? Ich dachte, du, Hannah und Leonie habt den Laden geschmissen?«
In einer für ihn typischen nachdenklichen Geste strich Rudi sich über seinen Bart. »Ja, schon. Gestern allerdings hatte ich noch eine Hilfskraft fürs Abwaschen. Aber wo du es sagst … Den hab ich gar nimmer gesehen, nachdem wir den Hubert gefunden haben. Ist mir in der Aufregung wohl durchgerutscht, weil er halt nur ausnahmsweise da war.«
Peter Neumüller und Ben stellten zugleich dieselbe Frage: »Und wer war diese Aushilfe?«
Rudi sagte es ihnen.
Strizzi.
Ein leichtfertiger Mensch.
Seit gestern hatte sie kein Auge zugetan.
Sobald sie die Lider schloss, ploppten die furchtbaren Bilder auf. Gewiss, sie war Ärztin, doch Hubert Holzingers grausam entstellter Anblick verfolgte sie, obwohl sie den alternden Schönling nicht einmal besonders gemocht hatte.
Sein Ruf war ihm vorausgeeilt – und er ihm gerecht geworden, als er bereits bei seinem ersten Termin in ihrer Ordination versucht hatte, mit ihr anzubandeln. Allerdings ohne jeden Erfolg.
»Nein, danke, Herr Holzinger. Ich bin Ihre Ärztin, nicht Ihr Date. Wenn ich sage: Ziehen Sie sich aus, dann meine ich das medizinisch, nicht erotisch.«
Er hatte die klare Zurückweisung mit Humor weggesteckt. »Okay, Frau Doktor, bei dir kann ich nicht landen, verstanden.«
»Ein bissl dumm ist ja süß, aber der ist echt ein Zuckerschock!«, hatte Filo den plumpen Annäherungsversuch kommentiert. »Was man so hört, stehen aber viele auf ihn. Und er lässt auch nix anbrennen!«
»Auf so einen Weiberer bin ich leider auch schon mal hereingefallen«, hatte Marie gesagt und den Kopf über ihre eigene Dummheit geschüttelt. »Am Beginn lieb und hartnäckig, aber letztlich voller Angst, hinter der nächsten Ecke eine Bessere zu versäumen. Ich hätte gewarnt sein müssen, er hatte drei Kinder von drei Frauen und eine für die jeweils andere verlassen – immer mit dem Satz: Was soll ich denn machen, wenn ich mich neu verlieb’? Jetzt ist er über 50 und man sieht ihm seinen Lebenswandel an. Keine Ahnung, ob ihn überhaupt noch eine will, beziehungsfähiger ist er sicher nicht geworden.«
»Wer zu viel Auswahl hat, für den wird Freiheit zur Mauer«, hatte Filo es auf den Punkt gebracht.
Hubert Holzinger hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und sich Marie gegenüber seither korrekt verhalten. Immer wieder waren sie sich über den Weg gelaufen. Kein Wunder in einer Stadt mit nur etwa 14.000 Einwohnern. In der Praxis hatte er sich allerdings nicht mehr blicken lassen, was aber eher seiner guten Gesundheit geschuldet zu sein schien als einem schlechten Gewissen. Seine Frauengeschichten jedoch hatten alle den Weg hierher gefunden.
Nun wartete Marie mit einem dicken Kloß im Hals auf Ben Achleitner. Sein Kollege und er hatten sich angekündigt, sie waren überfällig. Zum Schrecken von gestern kam nun auch noch das ganze Ben-Schlamassel.
In den vergangenen Monaten hatte sie kaum an ihn gedacht, doch seit ihrem Treffen gestern geisterte er wieder durch ihren Kopf. Ja, sie waren einmal zusammen gewesen, ja, sie hatte ihn Hals über Kopf verlassen, aus Angst, sonst bei ihm und damit in Ischl steckenzubleiben. Und ja, sie hatte es hundertmal bereut. Doch nach dem Tod seines Bruders war ein Weg zurück ausgeschlossen. Was für eine Überraschung, als er letzten Oktober plötzlich wieder vor ihr gestanden hatte. Letztlich hatte sie es als Erleichterung empfunden, dass er nach der Klärung des Falles wieder aus ihrem Leben verschwunden war. Bis gestern hatte sie gedacht, ihren Frieden damit gefunden zu haben.
Von wegen.
Alles war wieder da.
Sanft legte sich eine Hand auf ihre Schultern. Filo, die genau wusste, wie sie sich gerade fühlte. Die beiden Frauen verband nicht nur eine Arbeitsbeziehung, sondern mittlerweile auch eine tiefe Freundschaft, die damit begonnen hatte, dass Marie die unvermittelbare ehemalige Hebamme als Sprechstundenhilfe eingestellt hatte. Und doch …
»Magst du einen Tee, Marie? Die beiden haben gerade angerufen, dass sie sich um eine halbe Stunde verspäten.«
»So wie es mir geht, lieber einen Schnaps.« Maries Lächeln geriet schief.
»Hätte ich auch da, wirst du aber schön bleiben lassen. Nimm lieber die hier!« Sie reichte Marie pflanzliche Beruhigungstropfen. »Normalerweise reichen 15, in deinem Fall 30.«
Marie tat, wie ihr geheißen. Dennoch zuckte sie heftig zusammen, als der Türsummer ertönte. Inzwischen war es später Nachmittag. Dunkelheit setzte ein. Seit der Früh hatte sie mechanisch die Patientenflut abgearbeitet. Seit einer Stunde jedoch saß sie hier herum, unfähig, die anstehenden Dinge zu erledigen, zu essen, oder hinaus an die frische Luft zu gehen, was ihr ohne Zweifel gutgetan hätte.
»Augen zu und durch«, bemerkte Filo resolut. Auch sie schien ein wenig nervös zu sein.
Ben wirkte müde, hatte Ringe unter den Augen. Kein Wunder, konnte er doch seit der letzten Nacht keine Ruhe gefunden haben. »Hallo, Marie«, begrüßte er sie und schien verunsichert, ob er ihr die Hand geben sollte.
Peter Neumüller hatte weniger Skrupel. »Grüß Gott, Marie, Filo!«, tönte er und reichte ihnen seine Pranke.
Den angebotenen Kaffee lehnten beide ab. Wenig später landeten sie zu viert an Maries kleinem Besprechungstisch in ihrem Büro, dessen Farbgebung in Grün, Grau und Weiß beruhigend hätte wirken können. Im Augenblick jedoch lag fiebrige Anspannung in der Luft.
»Habt ihr schon eine Todesursache? Was hat die Obduktion ergeben?«, fiel Marie mit der Tür ins Haus.
Ben fasste die Ergebnisse kurz zusammen.
»Wie grausam.« Sie schüttelte sich. Die Situation fühlte sich seltsam an, außerdem spürte sie, dass etwas passiert sein musste. Ihre feinen Antennen Ben betreffend waren in Alarmbereitschaft.
Aber auch Filo benahm sich merkwürdig. Mit verschränkten Armen saß sie da, geradeso, als ob sie sich unbewusst vor etwas schützen wollte.
Schließlich unterbrach Ben das unangenehme Schweigen. »Filo, du weißt, warum wir hier sind, nicht wahr?«
Die ohnehin schon verschlossene Miene der Frau verfinsterte sich noch mehr. Eine Antwort blieb sie schuldig.
Ihr Unbehagen ignorierend bohrte er nach. »Wo ist er, Filo?«
Die Angesprochene schloss für einen Moment die Lider, streckte dann den Rücken durch. »Ich weiß es nicht.«
»Was ist hier los?«, fragte Marie. »Wärt ihr bitte so freundlich, mich aufzuklären!«
Ohne Filo aus den Augen zu lassen, tat Ben wie geheißen. »Auf der Almrauschhütte gab es gestern nicht nur zwei, sondern ausnahmsweise drei Personen Personal. Die beiden Schwestern Hannah und Leonie Wenninger, die diese Saison fix bei Rudi Zoidl arbeiten, und einen jungen Mann namens Hannes Reiter. Er war nur aushilfsweise da, extra für den Liachtbratlmontag, empfohlen von dir, Filo. Rudi Zoidl konnte jede Hilfe gebrauchen und fragte nicht lange nach, wen er sich da in die Küche stellte.«
»Was soll das, Ben?«, fragte Marie unwirsch. »Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, Hannes habe etwas mit dem Mord zu tun?«
Bens Blick blieb neutral. »Du kennst Hannes Reiters Geschichte genauso gut wie wir alle. Er ist vorbestraft, war wegen Totschlag im Gefängnis. Selbstverständlich gilt er als verdächtig.«
»Aber …«, hob die perplexe Ärztin zu einer Entgegnung an, wurde aber abrupt von Peter Neumüller unterbrochen. »Marie, würdest du bitte kurz den Mund halten?«
Überrumpelt hielt die Ärztin tatsächlich inne.
Filos erboste Stimme durchdrang die Stille. »Hannes hat mit der Sache nicht das Geringste zu tun. Stimmt, er hat gestern in der Küche ausgeholfen, aber genauso wenig bemerkt wie wir alle.«
»Woher weißt du das?«, hakte Ben ein. »Du behauptest doch, keine Ahnung zu haben, wo er ist. Oder hast du ihn seit gestern doch noch mal getroffen?«
Sein lauernder Ton war unüberhörbar.
Filos Antwort kam mit Verzögerung. »Nein.«
»Und wann das letzte Mal?«
Die Sprechstundenhilfe rang die Hände. »Unmittelbar nachdem wir gestern ankamen. Ich habe bei ihm in der Küche vorbeigeschaut und Hallo gesagt. Er hatte alle Hände voll zu tun mit dem Abwasch. Das Geschirr stapelte sich meterhoch.«
»Also etwa eineinhalb Stunden vor dem Mord«, stellte Ben fest. »Als Marie Rudi Zoidl bat, ihr bei der Suche nach dem Opfer zu helfen, war er schon nicht mehr in der Küche und spurlos verschwunden. Offenbar zu Fuß. Die Seilbahn hat er sicher nicht genommen, das haben wir vorhin überprüft.«
»Und wenn«, murmelte Filo mit immer noch viel Trotz in der Stimme, »es beweist gar nichts.«
»Stimmt schon, aber Timing und Optik sind verheerend. Ein Mann wird ermordet und just zu diesem Zeitpunkt taucht ein vorbestrafter Totschläger unter. Du wirst verstehen, dass wir ihn schleunigst finden und befragen möchten. Also wenn du doch etwas weißt, dann sag es uns jetzt, sonst machst du die Sache nur noch schlimmer!«
Maries Freundin hatte Ben während seiner Sätze mit so viel Abscheu betrachtet, dass sich die kleinen Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Den Tonfall, in dem sie ihre nächsten Sätze hervorstieß, kannte er sonst nur von abgebrühten Verbrechern, nicht aber von der Frau, die er bislang wegen ihres Schicksals immer bemitleidet hatte.
»Ich. Weiß. Verdammt. Noch mal. Nicht. Wo. Er. Ist. Ihr werdet ihn leider ohne meine Hilfe finden müssen. Hannes lebt zwar offiziell bei mir, lässt sich aber oft tagelang nicht blicken.«
Peter Neumüller versuchte, der Anspannung die Spitze zu nehmen. »Filo«, gab er den Good Cop, »erklärst du mir bitte die Zusammenhänge genauer? Für mich ist deine Geschichte nämlich nur schwer nachvollziehbar. Soviel ich weiß, ist Hannes Reiter schuld am Tod deines Sohnes Justus, hat ihn im Drogenrausch totgefahren. Dennoch warst du regelmäßig bei ihm im Gefängnis, nahmst ihn unmittelbar nach seiner Entlassung bei dir auf und unterstützt ihn seither, wo du nur kannst. Wieso tust du das, wo er dir doch so viel Leid zugefügt hat?«
In mia is koit und bong.
Ich habe entsetzliche Angst.
Fett. Alt. Hässlich.
Niemand sprach es aus, natürlich nicht, schließlich war man zivilisiert, aber sie sah ihnen an, was sie dachten.
Sah es an der Art, wie sich ihre Augen einen Tick verkleinerten, sobald sich ihre Blicke distanzlos an ihrer großporigen Haut festfraßen, an den vom Weinen verquollenen Augen, dem dünnen Haar von undefinierbarer Farbe. Blicke, die ungeniert über ihren rosa Pulli und den unförmigen Rock glitten, die an ihrer Aufgabe, ihre Leibesfülle zu kaschieren, kläglich scheiterten, und mit leiser Missbilligung an ihren abgekauten Fingernägeln kleben blieben.
Sie registrierte diese seit Langem gewohnte Gnadenlosigkeit, aber im Augenblick war in ihrem Inneren kein Platz für noch mehr Schmerz. Es war ausgefüllt bis obenhin mit dem anderen, älteren, der ungezähmt in ihr brannte und seit damals nie mehr aufgehört hatte zu lodern.