Schöner sterben in Wien - Dagmar Hager - E-Book

Schöner sterben in Wien E-Book

Dagmar Hager

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Beschreibung

Rache aus der Vergangenheit: Vor Jahren hat die Wiener Reporterin Lilly den Unfalltod ihres Mannes und dessen Geliebter vertuscht. Nun der Schock: Jemand weiß Bescheid. Auf der Suche nach den Hintergründen stößt Lilly gemeinsam mit ihrem urigen Kameramann Ferdl und dessen cleverer Nichte Marlena auf einen Mörder, der mit Botox tötet. Ihre Jagd führt sie zu einer dubiosen Schönheitsklinik am Attersee - und zu jahrelang geschürtem Hass, tödlicher Eitelkeit und einer Wahrheit: Wer schöner stirbt, ist trotzdem tot.

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Seitenzahl: 446

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Dagmar Hager

Schöner sterben in Wien

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © aleksandr khomenko / unsplash.com

ISBN 978-3-8392-6984-8

Widmung

Für dich, Papili

PROLOG

Sie war ein Monster.

Die Haut aufgequollen, übersät mit Quaddeln, entzündet und vernarbt, der Kopf im Verhältnis zum Körper riesig. Die Wangen blähten sich, die Augen tränten ununterbrochen. Da, wo sich einst ihr Hals befunden hatte, rollten sich Fleischwülste. Der Arzt meinte, sie sei für immer entstellt.

Sie hätte sich das billige Silikon vom Schwarzmarkt nicht selbst ins Gesicht injizieren sollen. Und schon gar nicht das viele Speiseöl. Aber sie hatte doch keine Wahl gehabt! Man hatte sich geweigert, ihr noch einmal zu helfen. Sie solle lieber zum Psychiater gehen, anstatt sich erneut unters Messer zu legen. Außerdem sei die Haut bereits maximal ausgedehnt, nahe am Platzen.

Also hatte sie sich selbst behandelt. Es war gar nicht so schwierig gewesen, das Silikon aufzutreiben. Viel mehr Probleme hatte es ihr bereitet, vor dem Spiegel mit der Nadel die richtigen Stellen zu treffen. Und als sie feststellte, dass das Zeug nicht ausreichen würde, füllte sie kurzerhand die noch übrigen Stellen mit Speiseöl auf. Im Internet hatte gestanden, es würde funktionieren.

Hatte es aber nicht. Sofort war ihr Gesicht angeschwollen, die Schmerzen hatten begonnen und waren schlimmer und schlimmer geworden.

Sie wollte doch nur schön sein!

Mit 18 hatte sie ihre Brüste machen lassen und mit Botox und Säurepeelings angefangen. Dazu kamen Fettabsaugungen, Laserbehandlungen, aufgespritzte Lippen. Aber das hatte noch lange nicht gereicht. Sie gierte nach mehr, das änderte sich auch nach den richtig heftigen Operationen nicht. Jetzt allerdings, Jahrzehnte später, hatte sich das Blatt gewendet. Aus dem Spiegel blickte ihr ein aufgedunsener Fleischklumpen entgegen. Unwiderruflich verstümmelt und von allen entsorgt.

Sie ging kaum noch vor die Tür. Die Kinder vom Hof waren unbarmherzig, riefen ihr böse Dinge nach. »Gulaschgesicht! Netzhautpeitsche! Hackfresse!« Außerdem musste sie starke Schmerzmittel schlucken, die sie müde und unaufmerksam machten, weshalb sie zuletzt nach dem Einkaufen den Haufen Kot vor ihrer Tür nicht gesehen hatte und hineingetreten war. Direkt vor den Handykameras einiger grölender 14-Jähriger, die das Video umgehend ins Netz gestellt hatten. Unauslöschlich und viel geklickt.

Heute war sie allerdings nicht nur wegen ihrer hässlichen Fratze und der Beschwerden niedergeschlagen, denn heute hatte sie wieder ihren Termin mit den Schatten aus der Vergangenheit.

Es läutete.

Niemand kam sie je besuchen. Gewiss waren es nur wieder die herzlosen Gören, die eine Fortsetzung ihrer Grausamkeiten für YouTube drehen wollten. Aufseufzend schnitt sie noch mehr Karotten klein.

Erneutes Klingeln.

Sie legte das Messer zur Seite, zögerte, näherte sich der Wohnungstür und lugte, nun doch ein wenig neugierig, durch den Spion.

Erschrak furchtbar.

Brauchte ein paar Sekunden, um sich zu fangen.

Und wusste: Nichts würde mehr so sein wie zuvor.

1 LILLY Wien, Mittwoch

Mein Grab.

Es war schlicht, eine grasbewachsene Fläche mit ein paar Vergissmeinnicht darauf und einem Findling am Fußende. Keine Kerzen. Keine Einfassung. Kein Name. Eine Wand aus mannshohen Thujen rahmte es ein.

Ich kam gerne hierher an den nördlichen Stadtrand von Wien. Die unzähligen Bäume und vor allem die Einsamkeit beruhigten mich, halfen mir beim Grübeln und Nachdenken über meine furchtbaren Fehler.

Heute war wieder einer dieser Tage. Prinzipiell ein wunderbar sonniger Juli-Mittwoch. Pure Idylle. Wie üblich zeigte sich keine Menschenseele – der Hauptgrund dafür, mir diesen Friedhof auszusuchen.

Doch die zauberhafte Stimmung prallte an mir ab.

Wie so vieles.

Mein Grab war bisher das einzige in diesem Bereich des Gottesackers. Es lag direkt an einer hohen Steinmauer, in die eine eiserne Pforte eingelassen war. Wer hindurchschritt, traf auf einen schmalen Pfad, der 30 Meter weiter in einer Sackgasse endete, in der stets mein Auto parkte. So konnte ich ungesehen und auf kürzestem Weg hierhergelangen. Und ich kam oft. Um ehrlich zu sein, fast täglich.

Über ein Jahr lang hatte ich gesucht, bis ich diesen Ort gefunden hatte – die für meinen Zweck perfekteste der über 600.000 Wiener Grabstellen. Die Fläche war frisch parzelliert worden. Ich hatte das Nutzungsrecht für zehn Jahre bezahlt und bei der Friedhofsverwaltung den Hinweis, auf jeden Fall verlängern zu wollen, deponiert. Was allerdings nichts hieß. Wer in Wien auf den fristgerechten Antrag vergaß, dem konnte blühen, dass das Grab plötzlich verschwunden war.

Ich würde also gut aufpassen.

Nachdenklich nahm ich eine Handvoll Erde, ließ sie durch meine Finger rieseln und rief mir die Heidenarbeit in Erinnerung, die trotz der lockeren Erde nach einigen Regentagen nötig gewesen war, um die flache Grube auszuheben. Alles natürlich möglichst unauffällig. Die ganze Zeit über waren die vielen Vergissmeinnicht fröhlich vor sich hingewelkt. Ein riesiger Rollwagen voll, zur Tarnung.

Als alles fertig war, hatte ich die Blumen ab- und Georg aufgeladen, nachdem ich ihn zuvor, gut versteckt unter den Thujen, hierhergeschleppt hatte – verpackt in einen extra reißfesten, glänzend schwarzen Plastiksack.

Zum Schluss musste ich nur noch den Findling aus dem Kofferraum rollen. Weil er so schwer war, konnte ich nicht genau zielen, sodass er knirschend auf Georgs Unterschenkeln landete, gefolgt von meinem Frühstück Sekunden später. Entsetzt starrte ich auf meine nun vollgekotzte Grabdekoration. Aber ich hatte Glück. Niemand schien etwas bemerkt zu haben, niemandem musste ich vorlügen, lediglich die noch leere Gedenkstätte verschönern zu wollen. Mit den Blumen. Den Sträuchern. Und dem Stein.

Als es mir etwas besser ging, hatte ich eine Trauerfeier im intimsten Kreis abgehalten und geflüstert: »So, mein Geliebter, fast zwei Jahre lang musstest du in meiner Gefriertruhe im Keller ausharren, jetzt bist du angekommen! Ruhe sanft!«

Das Grab war also schon besetzt. Mein verstorbener Mann hatte darin seine voraussichtlich letzte Ruhestätte gefunden. Es sei denn, man würde noch vor meiner eigenen Beerdigung herausfinden, was ich getan hatte.

Ich war alles andere als ein netter Mensch.

Hatte getötet.

Eine Verkettung unglücklicher Umstände und ein Unfall hatten dazu geführt. An den irreversiblen Tatsachen änderte es nichts.

Ich hatte mich in einen Mann verliebt, den alle wollten, und das Pech gehabt, ihn auch zu bekommen. Ihn, den aufstrebenden Schauspieler voller Ehrgeiz und dunkler Geheimnisse, den Ex-Callboy mit kaputter Seele. Von Anfang an belog und betrog er mich, war verschlossen, verletzend, zerstörend.

Was mich nicht daran hinderte, ihn zu heiraten.

Danach wurde es noch schlimmer. Nach nicht einmal zwei Jahren hatte ich jegliches Vertrauen verloren. Unsere Beziehung war eine nach außen perfekte Hülle, doch die seltsamen Ereignisse häuften sich und ich begann mich vor Georg zu fürchten. Ich sah mich in meiner Angst bestätigt, als mich direkt vor meinem Haus ein Auto niederstieß und einfach weiterfuhr. Der Fahrer – ich erkannte es genau: Georg!

Was hätte ich tun sollen, als er mich um eine finale Aussprache in meiner Wohnung bat und mit einer Waffe kam? Mich angriff? Der Elektroschocker war in diesem Augenblick die logische Wahl gewesen. Ich wollte ihn keine Sekunde lang töten, nur überleben! Doch er war einfach nicht mehr aufgestanden, hatte zusammengesunken auf meinen Eichendielen gelegen – mit verwunderten, starren Augen und einem Brief in der Hand – der »Waffe«. Seiner Entschuldigung, seinem klaren Bekenntnis für eine gemeinsame Zukunft ohne Lügen.

Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Ich schreckte hoch und sah mich um. Auch das passierte mir immer wieder. Dieser Sog aus Schuld und Hoffnungslosigkeit zerrte so sehr an mir, dass ich darüber meine Umgebung vergaß.

Nach wie vor befand ich mich allein in dieser entlegenen Ecke ohne Schatten. Stöhnend massierte ich meine verkrampften Beine. Hinter der Mauer lachten Kinder. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und stopfte meine langen dunklen Haare unter den riesigen Strohhut. Einen Moment ließ ich mich von den umherschwirrenden Bienen ablenken, dann übermannten mich wieder die düsteren Bilder.

»Ich war so dumm, Georg«, flüsterte ich, »und das musstest du mit deinem Leben bezahlen. Wenn ich deine wahren Absichten gekannt hätte, hättest du nicht sterben müssen. So aber dachte ich, du seist mein Ende.«

Ich war barfuß, ertrug keine Schuhe in dieser brütenden Hitze. Die leichten Sandalen standen fein säuberlich neben einer der hässlichen Thujen. Wie oft ich schon hier gesessen hatte, mit Gedanken, die wie Torpedos durch meinen Kopf schossen! Was hätte ich anders machen sollen? Was wäre gewesen, wenn? Und was hatte Georg wirklich umgebracht? Es gab verschiedene Möglichkeiten, jede denkbar, keine bestätigt. Fragen konnte ich ja schlecht. Also reimte ich mir zusammen, dass er wohl so etwas wie eine unentdeckte Herzschwäche gehabt haben musste. In der Regel starb niemand an einem billigen Elektroschocker aus dem Internet.

Doch das, was mich seither verfolgte und an mir klebte wie Leim, waren die Momente danach, diese Augenblicke bar jeglicher Vernunft. Das, was in mir zerbrochen war und mich zu einer Handlung getrieben hatte, die mir aus heutiger Sicht vollkommen unerklärlich erschien.

Anstatt die Polizei zu rufen und alles einzugestehen, den Ermittlungen ihren Lauf zu lassen, herauszufinden, was Georg tatsächlich das Leben gekostet hatte, ihn zu beerdigen und danach mit den Folgen umzugehen, traf ich eine völlig irrationale Entscheidung und versteckte seine Leiche in meiner Kühltruhe. Das Nachdenken kam erst, als es schon längst zu spät war. Jetzt musste ich mit den Konsequenzen der Vertuschung leben, einem Riesenhaufen stinkender Altlasten.

Jeder Blick in den Spiegel zeigte mir den abscheulichen Menschen, der ich war, jeder Tag verhöhnte mich mit schlaflosen Nächten, Albträumen, schlechtem Gewissen und bohrender Sehnsucht. Auch die Einsamkeit war treu. Seit Georgs Tod hatte ich nur eine einzige kurze Affäre gehabt. Es gab nicht viele Menschen, die ich ertrug. Wie denn auch, wo ich mich doch selbst kaum aushielt!

Wie an den anderen Tagen war ich an diesem Tag, dem letzten, bevor sich alles ändern sollte, hierhergekommen, führte meine nun schon gewohnten Selbstgespräche, haderte.

Noch einmal legte ich wehmütig lächelnd die flache Hand auf die Erde. Dann wandte ich mich ab, um mich dem zu stellen, was mein Dasein jetzt bestimmte.

Eine Stunde später war ich wieder zu Hause in meiner kleinen Wohnung direkt gegenüber dem Haus des Meeres im 6. Bezirk.

Ich sah aus dem Fenster. Die Menschenschlange am Einlass des Zoos, der in einem alten Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg untergebracht war, reichte wieder einmal bis auf den Vorplatz. Ein wenig neidisch beobachtete ich die vielen fröhlichen Menschen, die sich auf Haie, Schlangen und die traumhafte Aussicht von ganz oben freuten.

Seufzend holte ich mir ein Glas Wasser aus meiner modernen Designerküche und suchte mein iPad. Es war ungewöhnlich für einen Mittwoch, aber in der Tat wollte heute niemand ins Fernsehen. Morgen stand allerdings eine Spendengala im Rathaus an. Als Chefreporterin für Society-Themen eines nationalen privaten TV-Senders würde ich hingehen. Es handelte sich um eine der etwa 800 Veranstaltungen jährlich im Amtssitz des Wiener Bürgermeisters, und gefühlt war ich, wie auch er, bei mindestens der Hälfte dabei.

Seit Georgs Tod hatte ich mich – wenig verwunderlich – noch mehr in die Arbeit gestürzt. Sie war so schön hohl und damit die perfekte Ablenkung. Unser Team war klein, ich konnte mich also austoben, hätte jeden Tag zweimal auf Dreh fahren können. Mein Chef liebte mich für so viel Einsatzbereitschaft.

Die innere Unruhe fraß mich auf. Heute war Georg präsenter denn je und schlich sich in jeden meiner Gedanken. Ich brauchte Aufmunterung. Was immer half: eine Runde Laufen. Also holte ich mein Auto aus der Tiefgarage und fuhr in den Park des Schlosses Schönbrunn. Auch hier traf ich auf jede Menge sorglose Familien, viele mit Kindern, die zielstrebig auf den Zoo zuströmten und damit auf die Tierbabys, die er um diese Jahreszeit beherbergte.

Eine Stunde später war ich ausgepowert, aber immer noch zappelig. Mittlerweile war es später Nachmittag. Ich hatte keine Lust auf meine kleine Wohnung, deshalb setzte ich mich, verschwitzt, wie ich war, in einen Gastgarten und bestellte ein Bier. Lautes Lachen umgab mich. Ich war umringt von ausgelassenen Menschen, die ihren Feierabend und ihre Gesellschaft genossen, und fühlte mich wie ein Alien.

Irgendetwas musste passieren. So konnte ich nicht weitermachen. Dieser Klotz, der sich Herz nannte, schrie nach Leben, Freude, Spaß, Erleichterung. Doch die Kralle, die ihn seit Georgs Tod umklammert hielt, ließ es nicht zu. Ich steckte fest in einer Senkgrube aus Erinnerungen.

Die Frau war nackt.

Es war ihr Job, aber wie viele der Anwesenden empfand ich es trotzdem als unpassend, befanden wir uns doch im Wiener Rathaus, einem altehrwürdigen Ringstraßenbau. In dem hatte zwar auch Europas freizügigste Aids-Gala, der Life Ball, stattgefunden, aber der Event heute war eine andere Liga.

Benefiz. High Class. Teuer. Gut betuchte Gäste. Aufwendigste Deko.

Auch wenn die Frau für den Klimaschutz kämpfte, hätte ihr etwas mehr Kleid gutgetan. Es ließ kaum Interpretationsspielraum. Gut gemachte Brüste trafen ungebremst auf frische Luft, 400 Milliliter pro Implantat, grob geschätzt. Dennoch war es für das Weltklima wohl hilfreicher, an Kohlendioxidemissionen zu sparen als an Stoff.

Soeben hatte ich also ein waschechtes amerikanisches Supermodel vor der Kamera. Blutjung, mit dezent aufgespritzten Lippen und 50 Kilo Lebendgewicht, verteilt auf einen Meter 80. Die Veranstalter hatten sie wegen der weltweiten PR extra aus Los Angeles eingeflogen. Im Privatjet übrigens, was ich in meinem Beitrag sicherlich erwähnen würde. Als trüge der Stargast einer Demonstration gegen Tierversuche einen Pelzmantel.

Aber bitte. So wie die Kollegen drängelten, war das Kalkül aufgegangen und der Gala jede Menge Aufmerksamkeit gewiss, weit über unsere kleinen österreichischen Grenzen hinaus. Die deutschen Kollegen hatten das Material bereits angefragt.

Das Mädel setzte einen ihrer zwei möglichen Gesichtsausdrücke auf: den gelangweilten. Ich war selbst eine attraktive Frau, vielleicht deshalb. Neben mir drängte sich der etwas abgehalfterte Kollege eines Konkurrenzsenders ins Bild und ich wurde Zeugin, wie Gesichtsausdruck Nummer zwei zum Zug kam: mäßiges Interesse. Ich hatte sie noch nie lächeln sehen, schob es aber, bei ihrem Nettoverdienst, nicht unbedingt auf schlechte Zähne.

Mein Lieblingskameramann Ferdl deutete auf einen anderen Interviewgast. Schließlich standen genug herum und ich würde ohnehin nur die Nahaufnahme der Supermodel-Brustwarzen in den Beitrag schneiden, garniert mit den weltbewegenden Worten: »Oh yes, I like Vienna very much. Please take care of our climate!«

Nachdem ich auch noch den wie stets sehr adretten Bundeskanzler und einen erfolgreichen Skirennläufer in der Sommerpause vors Mikro gezerrt hatte, schickte ich Ferdl allein los, um Schnittbilder zu drehen, und suchte mir eine Bar.

Der Gin Tonic war hervorragend, so wie die Band, die es schaffte, in der richtigen Lautstärke zu spielen, damit die Gäste sich nicht anbrüllen mussten. Man hatte die bunt angestrahlte Glastheke in einer Ecke des großen Festsaals aufgebaut. Ich lehnte daran, nippte an meinem Drink und genoss den schönsten Moment des Abends: Job erledigt, Zeit für die Meute.

Wie immer in diesem beeindruckenden Gebäude ließ ich mich von der großartigen Architektur verzaubern. Der Bürgermeister höchstpersönlich hatte einmal für mich den Fremdenführer gespielt und mir das Haus gezeigt. Seither wusste ich, dass 71 Meter zwischen den beiden Orchesternischen an den Stirnseiten lagen. Und dass die in den Boden eingelassenen Schmiedeeisengitter früher als Heizung gedient hatten. »Darunter hat man Kohlefeuer erhitzt, damit die warme Luft aufsteigen konnte!« Rauchgasvergiftung inklusive? Ich hatte nicht gefragt.

Mein Gin Tonic war fast leer. Mir reichte es, deshalb hielt ich Ausschau nach Ferdl. Kein leichtes Unterfangen in dem Gewühl. Leider fiel er nicht so auf wie das grüne Plüschmaskottchen, das fröhlich herumhüpfte und den Daumen nach oben reckte. Mir tat der, wie ich annahm, Student darunter leid. Es war mit Sicherheit höllisch, den ganzen Abend verpackt in jede Menge Plastik zu verbringen. Mein Blick fiel auf den Stargast. Ob sie sich nach all den OPs auch so fühlte? Nur der Plüsch fehlte.

Eine Smoking-Kehrseite nahm mir die Aussicht. Ein Mann war eben von einem der aufwendig dekorierten Tische aufgestanden und drängte sich an mir vorbei. Weil ich große grauhaarige Männer mochte, betrachtete ich ihn genauer. Er bestellte ebenfalls GT, wobei ein Hauch von Akzent mitschwang. Definitiv kein Wiener, vermutlich der Grund, weshalb ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Nach Jahren in meinem Job liefen mir auch in unserer Großstadt immer wieder dieselben Leute über den Weg.

In diesem Augenblick tauchte Ferdl auf und mahnte zum Aufbruch: »Hab alles. War keine Hetz heut’. Sammas?«

Das Material würde auf jeden Fall ausreichen. Schneiden und ausstrahlen würden wir die ganze Pracht dann in der extralangen Samstagssendung, unserem Quotenbringer. Wir klapperten die ganze Woche über möglichst viele Events ab, oft gebucht, weil jeder sich selbst gerne im Fernsehen sah oder wissen wollte, wer da gewesen war. Simples Konzept. Sichere Einnahmen. Daran konnten auch die Sozialen Medien und YouTube nicht knabbern.

Wir sagten also »Pfiat Gott« und waren weg.

Müde, aber völlig überdreht kam ich zu Hause an. Es war nach 23 Uhr an diesem lauen Abend, der sich über die Stadt gelegt hatte. Glücklicherweise war es nicht mehr ganz so heiß wie in den letzten Tagen, als wir unter der schon zweiten Hitzewelle dieses Sommers gestöhnt hatten, während die staubige, flirrende Luft alles verklebte und es sich kaum atmen ließ.

Ich öffnete meine große Terrassenschiebetür und zog mein verschwitztes Kleid aus. Danach ging ich unter die Dusche und ließ das kühle Wasser eine gefühlte Ewigkeit auf mich herabprasseln.

Mein Kühlschrank beherbergte einen herrlich kühlen Pinot Grigio. Normalerweise hätte ich jetzt bei meiner besten Freundin und Nachbarin Regina geklopft, um ein Glas mit ihr zu trinken und noch ein wenig zu plaudern. Doch mittlerweile hatten die Sommerferien begonnen. Sie war mit ihren beiden zehnjährigen Jungs nach Kärnten auf Urlaub gefahren. Warum bloß hatte ich es abgelehnt mitzukommen? Wem schadeten schon ein paar Tage Spaß am Wörthersee? Spontan beschloss ich, mir freizunehmen und sie zu besuchen.

Nach einem weiteren Schluck des leckeren Weins schnappte ich mir mein iPad und checkte kurz Facebook und Instagram, verlor allerdings bald das Interesse. Auch meine Lieblingswebsites konnten mich nicht reizen. Schließlich landete ich auf Netflix und stolperte über eine Folge von »Aufräumen mit Marie Kondo«. Ich blieb dran, sah mir eine zweite an und nahm es als Zeichen.

Meine Wohnung lag ebenerdig, war klein und spärlich möbliert. Ich mochte es hell – und leer. Neben dem offenen Hauptraum gab es noch ein großes Schlafzimmer mit einem kuscheligen Boxspringbett sowie ein Bad mit Wanne. Meine Kleidung befand sich hinter einer nachträglich errichteten Trennwand im Schlafzimmer, die an das mexikanische Betthaupt anschloss und beidseitig begehbar war.

Ebendort stand ich nun in Shorts und T-Shirt, rieb mir die Hände und legte los. Mitternacht. Eine bescheuerte Zeit für Vollchaos. Jeder andere hätte sich einen Schlechtwettertag und eine andere Uhrzeit ausgesucht. Egal, ich war niemandem Rechenschaft schuldig.

Eine Stunde später betrachtete ich fix und fertig das Ergebnis. Ausmisten war anstrengend, auch wenn ich gut wegwerfen konnte und definitiv nicht zu denen gehörte, die alles horteten. Der Caritas-Laden »Carla« würde sich bald über tonnenweise Zuwachs freuen.

Die Flasche war mittlerweile beinahe leer und mir schwummrig. Intelligent geht anders, Speltz, schimpfte ich mit mir, in ein paar Stunden musst du fit sein, der Tag wird endlos werden. Auf dem Programm stand diesmal der gefühlt hundertste Geburtstag eines Stadtbaumeisters, der beim Reden immer spuckte wie ein Kamel, besonders wenn er angesäuselt war. Nichts, worüber ich im Augenblick auch nur ansatzweise nachdenken wollte.

Stattdessen nippte ich an meinem Glas, verwundert über die Zufriedenheit, die ich verspürte. Es tat wirklich gut, sich von altem Plunder zu trennen, auch wenn mir der Schweiß in Strömen herunterlief und ich dringend noch einmal duschen musste.

Verwaschen drangen die Geräusche der Stadt herein und vermischten sich mit der Klaviersonate auf meinem Smartspeaker. Leise summte ich ein paar Takte mit. Autsch! Mein schwer beleidigter Rücken protestierte! Ächzend drückte ich ihn durch.

Da piepste mein Telefon. Es steckte noch in meiner riesigen schwarzen Arbeitshandtasche im Flur. Steif stakste ich hin, kramte ein wenig herum, bis ich es fand, und musterte das Display. Ein Kollege des Öffentlich-Rechtlichen hatte getwittert. Ich mochte seine Kommentare zwar, aber jetzt war keine Zeit dafür. Damit es in meinem Tohuwabohu nicht verloren ging, legte ich das Handy auf mein Vorzimmertischchen und beschloss, beim Ausmisten gleich hier weiterzumachen.

Nach meinem Notizheft, dem Kosmetiktäschchen und einer Bürste fischte ich auch noch meinen BH heraus, den ich vorhin auf der Toilette im Rathaus ausgezogen hatte, weil er gescheuert hatte. Dann war die Tasche leer. Sie war innen aus Stoff und besaß ein kleines nie benutztes Seitenfach ohne Reißverschluss. Dennoch schien etwas darin zu stecken, was sich durchdrückte. Seltsam! Oder irrte ich mich? Sicherheitshalber schaute ich nach. Das Teil war hart und vollkommen verkeilt. Ich zerrte daran, bis ich es endlich mit zwei Fingern fest genug packen und herausziehen konnte.

Neugierig untersuchte ich meinen Fund. Es war eine Plastikkarte mit einem Muster in Rosa und Blau. »Ridičsky prúkaz«, stand da in Großbuchstaben, neben einer blauen EU-Flagge samt Sternen und den Buchstaben CZ in der Mitte. Ich verstand kein Wort, dennoch wusste ich natürlich genau, was ich da in Händen hielt.

Einen Führerschein.

Aus Tschechien.

Wo der bloß herkam?

Er schien echt zu sein. Die Schrift war winzig und für mich ohne Brille nur schwer zu entziffern, also musterte ich neugierig das Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigte eine Blondine, die sogar auf ihrem Ausweisbild hübsch war.

Der Führerschein hatte in meiner Arbeitstasche gesteckt, die ich täglich benutzte und ausräumte, was nur einen Schluss zuließ: Er musste heute Abend im Rathaus hineingelangt sein!

Ich überlegte.

Ferdl und ich hatten unsere Sachen hinter dem Technikmischpult abgestellt und umgehend mit dem Dreh begonnen. Meine Tasche war also lange unbeobachtet gewesen, aber relativ abgeschottet von den Besuchern. So war es auch eher unwahrscheinlich, dass das Ding zufällig hineingerutscht war.

Noch einmal betrachtete ich die ausgesprochen attraktive Frau, die ernst in die Kamera blickte.

Dann griffen die Synapsen.

Es durchfuhr mich eiskalt.

Oh. Mein. Gott!

Ich kannte die doch!

Aus einem anderen Leben.

Und sie war tot.

Mausetot!

2 LILLY Donnerstag

Den ganzen Tag über hatte ich mich lausig gefühlt, aber dennoch mein Programm wie ferngesteuert abgespult. Zu meinem Glück war der Baumeister-Geburtstag besser verlaufen als befürchtet und gespuckt hatte der Gute auch kaum.

Zu Hause hatte ich mich nach einer schnellen Dusche im Pyjama an meinen schönen Nussholztisch gesetzt. Ebenda kauerte ich jetzt und betrachtete zum wahrscheinlich tausendsten Mal den Führerschein.

Sie war wieder da.

Jana.

Eine weitere in meinem Kopf eingesperrte Zecke, die sich in mein Gewissen bohrte.

Ich hatte die Meisterleistung vollbracht, gleich mehrmals in meinem Leben einen Unfall vertuschen zu müssen. Gruselig. Derartiges blieb natürlich nicht ungestraft. Wenn einen schon nicht die Polizei erwischte, so doch die Schleifen im Kopf.

»Man sieht sich im Leben wirklich immer zweimal«, murmelte ich leise und musterte das verräterische Stückchen Plastik. Kaum war es mir gelungen, meinen fatalen Georg-Fehler halbwegs aus der Welt zu schaffen, schon legte sich der nächste Schatten aus der Vergangenheit über mein Leben. Und jetzt fielen sie gemeinsam über mich her. Die Bilder schossen mir durch den Kopf.

Jana Jelinek, die hübsche blutjunge Hotelprostituierte aus Prag. Georg, der erfolgreiche Schauspieler, der dort einen Film dreht. Ich, die ihn am Set besucht und sie nackt in seinem Bett vorfindet. Der Zoff, als er abstreitet, sie gebucht zu haben. Der fatale nächste Tag, als Jana mir aus Rache in unserem Hotelzimmer Kokain unterzujubeln versucht. Wobei ich sie ertappe, sie mich angreift und dabei so unglücklich stürzt, dass sie sich am Couchtisch das Genick bricht.

Noch mehr Bilder. Der verrenkte Körper, Georgs Panik vor dem Ende seiner Karriere, sollte alles auffliegen. Und ich, die dafür sorgt, dass ihr Tod zwar wie der Unfall aussieht, der er ist, man sie aber nicht bei uns im Zimmer findet.

Wie um alles in der Welt kam jetzt ihr Führerschein in meine Handtasche? Und wer war sie gewesen, diese puppenhafte Spontanblondine Anfang 20 mit den schlecht operierten Brüsten, dem dürren Körper und der Ausstrahlung eines Teenagers?

Bis auf mein Gewissen hatte mich bis dato nie jemand mit dem Geschehenen konfrontiert. Mit meinen Lügen. Der Vertuschung. Dem Drücken vor jeglicher Verantwortung. Und nun – aus dem Nichts heraus – diese tickende Zeitbombe, der Beweis dafür, dass jemand Bescheid wusste und sich rächen wollte! Subtil. Genussvoll. Und ohne Eile.

Woher um alles in der Welt kam dann dieses Gefühl von … Erleichterung? Dieser Riss in meiner Lethargie? Gestern noch hatte ich gedacht, dass etwas passieren müsste, weil das tiefe Loch, in dem ich steckte, mich zu ersticken drohte. Und jetzt, da es keine Alternative mehr gab außer die, alles zu gestehen, fühlte ich mich besser als je zuvor in den letzten Jahren. Was stimmte bloß nicht mit mir?

Nachdenklich schlenderte ich zur Terrassentür und schaute hinaus in den dunklen Garten. Es ist die Gelegenheit, zumindest ein wenig Buße zu tun, Lilly, dachte ich. Löse dieses Rätsel, wo immer es dich am Ende hinführt. Vielleicht bringst du danach ja sogar den Mut auf, endlich auch jemandem von Georg zu erzählen. Es muss ja nicht gleich die Polizei sein.

Ich ballte die Fäuste. Meine Müdigkeit verschwand.

Wenn ich der Sache auf den Grund gehen wollte, musste ich zunächst mehr über Jana wissen. Die große Frage war also, wer mir dabei helfen konnte.

Zunächst versuchte ich es auf dem naheliegenden Weg. Facebook und Instagram.

Jana Jelineks gab es zuhauf, aber keines der Profile passte, auch keines, das seit Jahren inaktiv war. Es wäre auch zu schön gewesen. Ein paar Klicks, ein Account, einige alte Fotos oder Ähnliches, was mich weiterbringen würde. Doch so: nada.

Google war ebenfalls unergiebig. Jana hatte es zwar damals als Leiche online geschafft, aber die wenigen Berichte, die ich fand, waren alt. Ich hatte einfach nicht genügend Fakten, nach denen ich suchen konnte.

Als Nächstes kam mir in den Sinn, offiziellere Quellen anzuzapfen. Zeitungskollegen etwa. Ich kannte einen Redakteur bei einer der großen überregionalen Tageszeitungen »Lidové Noviny« und jemanden beim Boulevardblatt »Aha!«. Aber ich hatte Angst, schlafende Hunde zu wecken. Da Janas Tod nach wie vor als Unfall eingestuft wurde, hatte es nie offizielle Nachforschungen gegeben, lediglich Spekulationen. Die Kollegen waren damals schnell auf aktuellere Themen übergesprungen – und der Fall Jelinek war in der Versenkung verschwunden.

Ohne Vor-Ort-Recherche würde ich also nicht weiterkommen. Doch genau das wollte ich vermeiden. Die Kollegen würden sofort Lunte riechen, wenn eine Wiener Journalistin in der alten Geschichte herumwühlte. Noch dazu eine, die auf dubiose Art und Weise in den Fall verstrickt war. Schlimmstenfalls würde es sogar erneut die Polizei auf den Plan rufen. Mit Schrecken erinnerte ich mich an das Duo, das mich damals in Prag ausgequetscht hatte: eine mit allen Wassern gewaschene Fahnderin und ihr mausartiger Kollege mit scharfem Blick. Geglaubt hatten sie mir nicht, mich aber, aus Mangel an Beweisen, gehen lassen müssen. Die würden doch vor Wollust platzen, wenn ich jetzt Akteneinsicht forderte!

Es über ein Standesamt oder Magistrat zu versuchen, erschien mir ebenfalls nicht ratsam. Tschechien funktionierte in Sachen Datenschutz nicht anders als Österreich. Wer Informationen wollte, musste gute Gründe vorweisen oder einem bestimmten Personenkreis angehören. Im Online-Telefonbuch gab es seitenweise Jelineks, quer über das Land verteilt. Auch das also eine Sackgasse.

Was war mit anderen Suchmaschinen? Für eine Reportage hatte ich einmal herausgefunden, dass Google zwar in 90 Prozent aller Länder weltweit Marktführer war, nicht aber bei unseren nördlichen Nachbarn. Vermutlich wegen der sprachlichen Besonderheiten. So viele seltsame Zeichen oben auf den Buchstaben verlangten Regionalkompetenz. So hatte sich dort ein Portal namens seznam.cz etabliert. Was mir auch nicht half, da ich kein Wort Tschechisch sprach.

Aber ich kannte jemanden, der es im Blut hatte.

3 LILLY Freitag

Ferdinand Houdek.

In seiner Geburtsurkunde stand zwar »Vlastemil«, aber zu seinem Glück besaß er – in Tschechien eigentlich eher unüblich – einen zweiten Vornamen, den er kurzerhand zu seinem ersten umfunktioniert hatte. Auf meine Frage: »Warum hast du denn keinen ›Emil‹ daraus gemacht, das würde doch naheliegen?«, hatte er – in Anspielung auf den Erich Kästner Klassiker – einst gebrummt: »Geh’ in Oasch damit, ich bin doch kein Detektiv!«

Ferdinand also, besser gesagt, Ferdl Houdek, gebürtiger Pilsner, trotzdem leidenschaftlicher Weintrinker, blitzgescheit, liebenswürdig, verlässlich und mein mit Abstand liebster Kameramann. Wie viele Höhen und vor allem Tiefen des Gesellschaftslebens wir schon miteinander durchlitten hatten! Der kurz geschorene, untersetzte Ferdl, der seinen grauen Fünftagebart genauso zelebrierte wie seine ärmellose hellbraune Jacke mit den tausend Taschen und der mich schon zigmal aus den dicksten Fettnäpfchen gerettet hatte. Trotzdem Pilsen in seiner Geburtsurkunde stand, war Ferdl Urwiener. Er war als kleines Kind in die Stadt gekommen und im Arbeiterbezirk Brigittenau aufgewachsen.

Ich fand ihn, wie nach Dienstschluss nicht anders zu erwarten, im Schanigarten seines Lieblingslokals, einer Weinstube in der Josefstadt, vor einem Glas Gelbem Muskateller und einem Schwarzwurzelsalat. Es war für die Innenstadtlage unvermutet grün hier und wie immer überfüllt, doch Ferdl kannte die Besitzer und bekam jedes Mal einen Platz.

»Na, Mädel, wo drückt denn der Schuh?«, kam er unverblümt zur Sache, nachdem ich bei der netten Bedienung ebenfalls Weißwein bestellt hatte.

Auf dem Weg hierher hatte ich mir zwar eine Strategie überlegt, aber diese schnell wieder verworfen. Ferdl kannte mich genau und durchschaute mich meist schon nach drei Sekunden. Daher entschloss ich mich dazu, halbwegs ehrlich zu bleiben.

»Ich möchte mehr über eine bestimmte Person aus Tschechien herausfinden und weiß nicht, wie.«

»Privat?«

Wenn es nicht sein musste, war Ferdl auch kein Freund vieler Worte.

»Hmmm!«

»Na, dann lass hören!«

»Es geht um ein Mädchen. Sie selber ist schon verstorben, und mich würde interessieren, ob sie noch Verwandte hat. Wie soll ich das denn am besten angehen? Über die Suchmaschinen oder die Sozialen Medien habe ich nichts gefunden und bei seznam.cz komme ich mit meinem Tschechisch sowieso nicht weiter.«

Ferdls hellgraue Radaraugen musterten mich durchdringend. »Dein Tschechisch existiert ned, dívka!«

Weil er den Begriff öfters verwendete, kannte ich seine Bedeutung: Mädchen.

»Um wen dreht sich’s denn genau?«

»Ähm …«

»Lilly! Raus mit der G’schicht!«

Eine kleine Atempause hatte ich noch, denn soeben stellte die Bedienung mein Vierterl Grünen Veltliner auf den Tisch. Bedächtig nahm ich einen Schluck, unverwandt beobachtet von meinem Gegenüber.

Also gut.

»Na ja, es geht um die Prostituierte, die damals in Georgs Hotelzimmer war und danach die Treppen hinuntergestürzt und gestorben ist. Jana hieß sie. Jana Jelinek.«

Genauere Details hatte außer mir nur einer gekannt: Georg. Nach seinem Tod hatte ich nie wieder darüber gesprochen. Was ich Ferdl hier also präsentierte, war die allgemeingültige Version der Ereignisse.

Der seufzte. Und bewies einmal mehr: Wenn er wollte, gab es ihn auch in fast perfektem Hochdeutsch. »Das war alles doch schlimm genug für dich, Mentscherl! Warum zerkaust denn jetzt so ein altes Zuckerl?«

Ich legte die Karten auf den Tisch. »Stell dir vor, ihr Führerschein war in meiner Tasche! Ist doch völlig schräg, oder? Wo ich die nur einmal getroffen habe, ganz kurz, und das ist Jahre her!«

Ferdl schwieg. Wusste, dass ich gleich weitermachen würde.

»Das wirklich Merkwürdige ist aber, dass ich die Tasche erst viel später gekauft habe und damals in Prag noch gar nicht hatte!«

Ich biss mir auf die Unterlippe und ließ meinen Blick über den voll besetzten Gastgarten schweifen, der an einer hässlichen Brandmauer endete. Was allerdings dem Charme des Heurigen keinen Abbruch tat, im Gegenteil. In einem Reiseführer würde dazu wohl stehen: »typisches Wiener Flair«.

Ferdl sagte immer noch nichts, hatte aber inzwischen sein Glas geleert. Unauffällig winkte ich der Bedienung, die sofort verstand und uns zwei bis an den Rand gefüllte neue brachte. Dankbar lächelte ich ihr zu. Für dieses Gespräch brauchte ich den Wein ganz dringend. Oder einen Schnaps. Oder beides.

»Was ich weiß, ist, wann ich sie zuletzt dabeihatte«, fuhr ich fort. »Es war bei dem Event neulich im Rathaus. Irgendjemand muss mir den Führerschein also an diesem Abend untergeschoben haben. Aber das ergibt doch keinen Sinn!«

Es dauerte, bis Ferdl sich zu einer Antwort hinreißen ließ. »Für deinen Irgendjemand schon. Der hat ohne Zweifel einen sehr guten Grund. Und jetzt hast du Zores!«

Oh, ja, Schwierigkeiten hatte ich in der Tat. »Was soll ich denn jetzt tun? Hast du eine Idee?«

Statt mir zu antworten, winkte Ferdl der Kellnerin. »Mirli, bring mir bitte an Bröselfetzen mit Hongkongschotter! Ich hab noch Hunger!«

Trotz der angespannten Lage musste ich lächeln. So stilecht konnte nur er ein Wiener Schnitzel mit Reis bestellen.

Ferdl lächelte. »Ich nicht. Aber du, sonst wärst doch nicht hier!«

Ich gab auf. »Stimmt. Sag mir doch bitte zuerst, was du denkst!«

Mein Lieblingskameramann mochte auf Außenstehende manchmal ein wenig grobschlächtig wirken, aber er war ein hochsensibler Kerl mit feinen Antennen. Und er enttäuschte mich nicht. »Von mir aus«, sagte er. »Also für mich klingt das nicht nach einem Profi.«

Da hatte er den Finger auf einen wichtigen Punkt gelegt. »Du meinst, dass es jemand ist, der Jana kannte und ihr vielleicht nahestand?«

Er nickte. »Schon! Und der nicht recht weiß, was er machen soll, aber auch nicht kuschen will. Jetzt lässt er es drauf ankommen.«

»Worauf ankommen?«

»Na, wie du reagierst. Der glaubt vielleicht, du weißt viel mehr, als du zugibst, und schickt dir eine Botschaft!«

»Meinst du jemanden aus ihrer Familie? Freunde? Ein Lebensgefährte?«

Ferdl verzog die Mundwinkel. »Was weiß ich?« Dann beugte er sich nah zu mir. »Ich lehn’ mich jetzt weit aus dem Fenster, aber, ehrlich g’sagt, ich als Mann würde so eine Aktion nicht schieben!«

Ich hielt kurz den Atem an. Musterte sein liebenswertes breites Gesicht mit der Knollennase. Soeben hatte er meine Vermutung bestätigt. Gab es tatsächlich eine Jana nahestehende Frau, die Bescheid wusste und es mich auf diese Art und Weise wissen ließ?

»Kannst du mir dabei helfen herauszufinden, ob sie noch lebende Verwandte hat? Vielleicht eine Schwester, Mutter oder Tante? Eine Tochter wäre für eine solche Aktion ja wohl noch zu jung.«

Er nickte.

Lächelte.

Hob fröhlich die buschigen Augenbrauen.

Seine Verwandtschaft war zahlreich und notorisch neugierig.

Zufrieden schluckte er den ersten Bissen seines Schnitzels.

Wir waren auf der Jagd.

4 LILLY Salzburg, eine Woche später

»Die Salzburger Festspiele, der gesellschaftliche Höhepunkt des Jahres, wurden heute Vormittag mit einem großen Festakt in der Felsenreitschule eröffnet. Beherrschendes Thema neben der Kunst: der Klimaschutz!«

Kunst und Klimaschutz. Die moderne Version von k. und k., dachte ich, während ich dem ZIB-Live-Einstieg meines Kollegen lauschte, der in meiner Nähe stand und wie alle anderen gespannt der großen Premiere entgegenfieberte, die in 15 Minuten beginnen würde. Mein Blick glitt über die versammelte Menge aufgedonnerter Menschen, während meine Gedanken zu ebendiesem Festakt ein paar Stunden zuvor abschweiften.

Ich hatte seitlich im Saal gesessen, hatte während der Reden in die wohlwollend lächelnden, undurchdringlichen oder schläfrigen Gesichter des Publikums geschaut und mich gefragt, wie viele von ihnen wirklich dazu bereit wären, auf ihre fette Karosse zu verzichten und stattdessen freudestrahlend einen Baum zu umarmen.

Wie immer fand ich das ganze Brimborium amüsant, mehr aber auch nicht. Für meinen Geschmack waren hier zu viel imperiale Macht, dicke Bankkonten und Botox versammelt. Das Wetteifern ums Gesehenwerden ergab allerdings immer gute Fernsehbilder, genauso wie all die Bussi-Bussis in ihren teuren Roben, die raffiniert so vieles verbargen: Wohlstandsfett, Anorexie und Gesinnungen aller Art.

Das Durchschnittsalter des Publikums gab auch Anlass zur Sorge. Von der heute viel zitierten Jugend war hier kaum etwas zu sehen. Ihr waren wohl eigener Aktionismus und die Straße als Bühne lieber als zur Schau gestellte Künstlichkeit.

Mein langes rotes Kleid schnürte mich ein und nahm mir die Luft zum Atmen, aber dank meiner bequemen Tanzschuhe war wenigstens an den Füßen Ruhe. Heute würde es noch lange kein Entkommen in bequeme Jeans und Sneakers geben. Denn während mein kunstsinniger Kollege Elias für die kulturellen Belange zuständig war, durfte ich mich um den »gesellschaftlichen« Teil kümmern, sprich diverse Empfänge der Hauptsponsoren abklappern und natürlich von dem Davor und Danach dieser Premiere, einmal mehr eine Mozart-Oper, berichten.

Nach dem vormittäglichen Festakt war ich am Mittag zum Empfang des neuen Hauptsponsors der Festspiele ins direkt an der Salzach gelegene Hotel Sacher Salzburg marschiert, über den mit Tausenden Schlössern verzierten Makartsteg.

Der Hauptsponsor war interessant, aber man hatte mir strikt verboten, über das Tuschelthema derzeit zu sprechen: darüber, dass die Festspiele mit Freuden dessen steuerschonend in der Schweiz geparktes Geld annahmen, ohne sich weiter an seiner Geschichte zu stören: Der Milliardenkonzern hatte in der NS-Zeit jede Menge jüdisches Raubgut transportiert.

Ich schüttelte die finsteren Überlegungen ab und kehrte zu den aufgeregten Premierengästen zurück. Es waren jedes Jahr dieselben Gesichter. Gäbe es nicht die neuen Kleider, könnte ich genauso gut das Material aus dem Vorjahr nehmen. »Stell dir vor«, fragte ich meinen heutigen Kameramann Marco, der gerade sein Zeug zusammenpackte, »Mozart würde heute leben. Was, glaubst du, würde ihm zu all dem einfallen?«

Der grinste. Er war jung und interessierte sich für Gaming-Computer und Deutschrap. Sein Smoking hing an ihm herunter wie ein Zelt. »Na, der würde wahrscheinlich das Geld dieser Säcke nehmen und mit einer Klima-Symphonie auf Welttournee gehen. ›C02 fan tutte‹ oder so, per Schiff natürlich und in lauter ausverkauften Stadien!«

Jetzt grinste auch ich.

Da fiel mein Blick auf einen attraktiven Mann mit grauem Haar. Groß, schlank, gebräunt, perfekt geschnittener Smoking. »Ach, da schau her«, murmelte ich erfreut, »schon wieder du!«

Das jugendlich wirkende Gesicht, das so ansprechend mit den grauen Haaren kontrastierte, gehörte keinem Geringeren als meinem Gin-Tonic-Mann aus dem Wiener Rathaus von letzter Woche! Mit einem Mal wurde der Abend interessant. Das war aber auch ein gestanden schönes Mannsbild! Sein Alter? Schwer zu schätzen. Vielleicht Ende 40? Mr. Grey schien allein da zu sein.

Leider ertönte gerade die Glocke zum Beginn der Premiere, und da sich die Menge daraufhin geschlossen in Bewegung setzte, verlor ich ihn aus den Augen. Mit ein wenig Glück würde ich ihn nachher auf der Premierenfeier wieder treffen und mehr erfahren. Hier kam man schnell unverbindlich ins Gespräch.

Schon lange nicht mehr hatte ich jemanden auf den ersten Blick so attraktiv gefunden.

Allerdings: Auch bei Georg hatte ich nur ein paar Sekunden gebraucht, um ihm zu verfallen.

Mit schauerlichen Folgen.

5 MARLENA Prag, zur selben Zeit

Schon am zweiten Abend hatte sie das System durchschaut, weil es im Grunde genommen weder verdeckt ablief noch jemanden sonderlich interessierte.

Außer sie, natürlich.

Marlena schlug ihre kurzen Beine übereinander, die in für sie ungewohnten schwarzen Hosen steckten. Normalerweise waren sie nur Jeans oder Cargos gewohnt und flache Schuhe an den Füßen. Doch dort quälte sie jetzt ihr einziges Paar High Heels. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie heute mit Blasen an den Fersen und gefühlsarm gequetschten Zehen nach Hause gehen.

Wenigstens passte ihr das Zeug noch, zugenommen hatte sie also nicht. Auch das ebenfalls schwarze ärmellose Oberteil mit dem enganliegenden Kragen hütete sich davor, unbequem zu sein, und streckte ihre eher stämmige Figur.

Sie nahm einen Schluck von ihrem Wasser, wobei der Lippenstift unschöne Flecken am Glas hinterließ, kratzte sich am Ohr und dachte sehnsüchtig an ihre bequeme Zweitgarderobe in der eleganten Ledertasche zu ihren Füßen. Und dass sie angemalte Lippen hasste.

Ihr Cousin Jani schien nicht zu bemerken, wie unwohl Marlena sich fühlte. Er lungerte in seiner lässigen Freizeitkluft im Polstersessel neben ihr und war ganz in sein Smartphone vertieft. Wieder einmal Fortnite, mutmaßte Marlena. Seit ein paar 17-Jährige die WM gewonnen und Millionen von Dollars kassiert hatten, arbeitete er Tag und Nacht daran, deren Nachfolger zu werden.

Seine ersten paar Kronen würde er sich jedenfalls heute Abend verdienen. Nicht mit Fortnite natürlich. Es gab keine bessere Tarnung als einen desinteressierten, schlampig angezogenen 14-Jährigen, deshalb hatte sie ihn gerne für seine Anwesenheit bezahlt. »Echt jetzt?«, hatte Jani erfreut gemeint. »Es gibt bar Kralle fürs Herumlungern und Gamen? Cool! Kann ich daraus ein Businessmodell machen?«

Sie hatte ihn am Schlafittchen gepackt. »Nein. Und kein Wort zu irgendjemandem, sonst ist die Kohle futsch, verstanden?«

Und da saßen sie nun.

Gestern war sie nur hier gewesen, um das Terrain zu erkunden, aber das hatten ein paar Typen falsch verstanden und sie angequatscht. Weil sie weder Lust auf eine Wiederholung hatte noch auffallen wollte, hockte jetzt Jani neben ihr und machte sie quasi unsichtbar.

Unauffällig ließ sie den Blick schweifen.

Das war in der Tat ein nobler Schuppen. Hypermodern, mit viel grauem Glas und Holz. Der Luftraum über der Lobby zog sich bis unter die Glaskuppel in mindestens 20 Metern Höhe. Wenn sie den Kopf in den Nacken legte, konnte sie den Abendhimmel sehen.

Die Sessel, in denen Jani und sie Platz genommen hatten, waren aus dunkelgrünem Leder und standen auf einem farblich passenden dezent gemusterten Teppich. Das Ambiente gab sich kühl, aber dennoch ansprechend. Auch viele andere Gäste schienen so zu empfinden und hatten sich – versorgt mit Bier, Wein und anderen Flüssigkeiten – ebenfalls hier niedergelassen. Ein trotz Sommertemperaturen flackernder fünf Meter breiter Kamin mit Gasflammen tat ein Übriges.

Marlenas Blick fiel auf die junge Frau, die ihr schon gestern aufgefallen war. Sie saß sehr aufrecht etwas abseits in einem Stuhl, trug ein enges schwarzes Kleid, das knapp über dem Knie endete, und hohe silberne Schuhe. Das schwarze Haar war aufgesteckt, das Make-up dick, aber unaufdringlich. Seit gut 20 Minuten hatte sie ihr Telefon nicht aus der Hand gelegt und fest umklammert gehalten, während ihr Blick sich im Nichts verlor.

Jetzt ging ein Ruck durch ihren üppigen Körper. Offensichtlich war eine Nachricht eingegangen. Kurz musterte sie das Display, dann stand sie auf und schlenderte zu den Aufzügen.

Dort wartete Marlena schon, lächelte sie unverbindlich an und stieg in den Lift, der innen mit grauem Glas versehen worden war, in dem sich ihre beiden Silhouetten schmeichelhaft spiegelten.

»Wohin?«, fragte die Frau mit leiser Stimme.

»23, bitte«, sagte Marlena und nannte das oberste Stockwerk mit der Rooftop-Bar. Die Frau würde damit jedenfalls früher aussteigen.

Sie drückte auf den Knopf mit der 17.

Ein leises Ping zeigte das richtige Stockwerk an.

Die Frau straffte sich erneut, trat aus dem Lift und wandte sich suchend nach links. Marlena folgte ihr mit etwas Abstand. Auch hier war alles in Grau und Grün gehalten, dazu Holztüren mit dezent angebrachten Nummern. Eine davon wurde eben geöffnet.

Marlena beeilte sich. Im Vorbeigehen fiel ihr Blick auf einen dünnen Mann in Anzughose und offenem Hemd, der der Schwarzhaarigen ein Glas Sekt anbot und sie gierig anlächelte. Dann fiel die Tür ins Schloss.

Bestätigt fuhr Marlena zurück in die Lobby und setzte sich wieder zu Jani, der ihre kurze Abwesenheit kaum bemerkt zu haben schien. »Okay, Bro, das war’s für dich!«, sagte sie leise. »Dein Geld hast du ja schon bekommen, jetzt zisch ab!«

»Das war’s schon?«, wunderte sich ihr Cousin, trollte sich aber ohne Widerstand.

Eine Stunde später war die junge Frau wieder da. Mittlerweile zeigte die Uhr fast Mitternacht. Ohne nach links oder rechts zu schauen, ging sie zum Empfang, wo mittlerweile die Nachtschicht übernommen hatte – in Form eines dicklichen Mittvierzigers mit schütterem Haar. Ungerührt nahm er das Kuvert, das sie ihm zuschob, und ließ es verschwinden. Die ganze Aktion hatte nur ein paar Sekunden gedauert. Danach wandte sich die Frau ab und machte sich auf den Weg nach draußen.

Marlena folgte ihr unauffällig. Ihre hohen Schuhe hatte sie vorhin gegen Sneakers eingetauscht und dazu George Michaels »Freedom« gesummt. Nach ein paar Metern tat die Schwarzhaarige es ihr gleich, schlüpfte in flache Gesundheitstreter. Mit dem Schuhwechsel sackte sie in sich zusammen, zog frierend eine schwarze Strickjacke über die Schultern und näherte sich einer Haltestelle. Als der Bus kam, stieg Marlena hinten ein, die Frau ganz vorne.

Zehn Minuten später verließ sie ihn wieder, mitten im ehemaligen Arbeiterbezirk Zizkov, der sich in den letzten Jahren immer mehr zum Künstlerviertel gemausert hatte und – aus der Ferne betrachtet – fast ein wenig so aussah wie Paris.

Langsam ging die junge Frau die Slavíkova-Straße entlang. Vor einer Bar stand ein Pulk junger Menschen mit Getränken. Durch die großen vergitterten Fenster fiel buntes Licht, Musik wummerte. Das »Big Lebowski« war eines von Marlenas Lieblingslokalen, wenn sie in der Stadt war.

Die Schwarzhaarige drängelte sich wortlos vorbei und bog kurz darauf in eine schmale Seitengasse ein. Mit einem Mal war die Schickeria verschwunden und hatte einem dunklen Durchgang Platz gemacht, in dem es nach Urin und Erbrochenem stank. Nach ein paar Metern begann die junge Frau in ihrer Handtasche zu kramen und blieb schließlich vor einer abgeschabten Eingangstür stehen.

»Entschuldigen Sie bitte!«, rief Marlena leise, um sie nicht zu erschrecken.

Die Frau fuhr herum, ein Klappmesser in der Hand. Hastig wich Marlena zurück.

»Hau ab, aber schnell!«, sagte die Verfolgte böse. »Lass mich in Ruhe, šlapka!«

Na, die Nutte bist ja wohl eher du, dachte Marlena, ohne beleidigt zu sein.

»Bitte, ich will Ihnen nichts tun, nur ein paar Fragen stellen! Es wird nicht lange dauern, versprochen!«

Die Augen der jungen Frau blieben misstrauisch. »Dir helfen? Wozu?«

Marlena kam näher. »Ich suche jemanden und habe schon alles probiert. Sie sind meine letzte Hoffnung!«, übertrieb sie.

»Warum ich?« Ihre Neugierde schien geweckt zu sein.

»Bitte, darf ich Sie zu einem Getränk ins ›Big Lebowski‹ einladen? Dann erzähle ich Ihnen alles!«

Die junge Frau verzog das Gesicht. »Ich bin müde. Verzieh dich!« Sie wandte sich ab, machte Anstalten, die verkratzte Tür aufzusperren.

»Ich bin gerne bereit, für Ihre Informationen zu bezahlen!« Marlena hatte mit Widerstand gerechnet und war vorbereitet. Schlagartig hatte sie die Aufmerksamkeit der Schwarzhaarigen wieder.

»Bezahlen? Wie viel?«

»500 Kronen und das Getränk!«

Jetzt kam das Verhandlungsgeschick der jungen Frau durch.

»1500!«

»Tausend. Keine Krone mehr!«

Die dunklen Augen der Frau blitzten auf. Ein netter Extrahappen nach dem langen Tag. »Also gut, gehen wir, aber nur kurz.«

15 Minuten später stand Marlena wieder auf der Straße und ließ das Gespräch Revue passieren.

Sie hatten sich an einen Ecktisch gequetscht. Tereza, so der Name der Prostituierten, hatte Marlena sofort wiedererkannt, aber nur die Schultern gezuckt und müde an ihrem Bier genippt, woraufhin Marlena mit der Tür ins Haus gefallen war. »Dir sagt doch der Name Jana Jelinek etwas, oder?«

»Jana? Aber die ist doch schon seit Jahren tot! Bist du von der Polizei?«

»Blödsinn, ich arbeite privat! Aber ihr wart sozusagen Kolleginnen im selben Hotel, und ich hoffe, du weißt, ob sie Verwandte hatte. Es geht um ein Erbe.«

Tereza hatte mit einem Schnauben reagiert. »Ich kannte sie wirklich nicht sehr gut. Sie hat, so wie ich, allein angeschafft. Keine Zuhälter. Wir bestechen die Leute am Empfang und sie lassen die Bullen außen vor. Ist sicherer als auf der Straße und die Kunden sind besser. Mittlerweile habe ich viele, die immer wiederkommen.«

Es gab unter Garantie genügend Geschäftsreisende und Touristen, die auf diesen Typ standen: klein, jung, üppig, professionell, mit großem Busen, gefärbten Haaren, aufgeklebten Fingernägeln und dichten Wimpern.

»Hattest du Zweifel, dass es ein Unfall war?«

»Nein, gar nicht. Unfall mit Todesfolge, hieß es.«

»Weißt du denn jetzt, ob Jana Familie hatte?«

»Ja, eine Schwester, ganz sicher«, war genau die Antwort gekommen, auf die Marlena gehofft hatte. »Jelena hieß sie, glaube ich. Die stammten alle aus der Gegend um Krumau. Von dort ist Jana aber weg. Keine Ahnung, wo sie hier in Prag gelebt hat und ob die Schwester noch dort ist. Du wirst wohl hinfahren müssen. Ach ja, ich glaube, sie ist Krankenschwester, wenn dir das hilft!«

Danach war Tereza aufgesprungen. »Genug jetzt, ich verschwinde. Die Nachbarin kann nicht länger auf meine kleine Tochter aufpassen und ich muss für meinen Schulabschluss lernen, damit es bald besser wird!« Die Hoffnung hinter diesen Sätzen war nicht zu überhören gewesen.

Seufzend hatte Marlena ihr das Geld in die Hand gedrückt und die Rechnung bezahlt.

Krumau, das tschechische Česky Krumlov, lag etwa 25 Kilometer nördlich der österreichischen Grenze in Südböhmen an einer Flussschleife. Wegen seiner Lage trug es den Beinamen »Venedig an der Moldau«. Die malerische Altstadt beherbergte viele Lokale und Galerien und über allem prangte das mächtige Schloss, das angeblich genau 365 Räume besaß und UNESCO Weltkulturerbe war.

Marlena kam am späten Vormittag an. Seltsamerweise war sie in ihrem Leben schon in Australien, Bolivien oder Kambodscha gewesen, aber noch nie hier. Sofort war sie bezaubert vom Charme der alten Häuser und Gassen. Sie ließ ihr Auto auf einem der großen Parkplätze stehen, denn sie wollte die Gelegenheit nutzen, die Stadt zu Fuß zu erkunden.

Soeben war sie auf den Hauptplatz, den Námestí Svornosti, eingebogen und hielt erstaunt inne. Sie stand vor einer Flut grellbunter Yogamatten, auf denen sich Dutzende Menschen verrenkten. Japanische Touristen fotografierten in hellem Entzücken jede Pose, während einige rotwangige Schirmkäppi-Träger in kurzen Hosen mit Bier auf die Show anstießen. Der Anblick war so bizarr, dass ihr ein »Das gibt’s doch nicht!« entfuhr.

»Diese Vollidioten!«, lamentierte ein verbraucht wirkender Tscheche, der vor einem Laden mit alten Blechschildern stand und fassungslos den Kopf schüttelte. »Wir verkommen immer mehr zu einem Irrenhaus. Die UNESCO schützt die Gebäude, aber wer schützt uns?«

Marlena sah sich um und musterte die bunte Ansammlung von Souvenirläden, Bierlokalen und Menschenmassen. Sie hatte sich auf der Fahrt schlaugemacht und ungläubig gelesen, dass fast zwei Millionen Touristen aus aller Welt jährlich über die knapp 13.000 Einwohner herfielen, was pro Kopf mehr war, als zum Beispiel Venedig ertragen musste.

Auf einer pinken Yogamatte streckte gerade eine grauhaarige Mittsechzigerin wenig elegant ihren Popo in die Höhe. Der Mann im Hauseingang verzog angewidert das Gesicht und wetterte weiter. »Das sind doch keine Touristen, das sind Terroristen! Wir sind noch mehr am Arsch als diese blöde Kuh da!«

Marlena hoffte grinsend, dass die Dame kein Tschechisch verstand.

Die Lust auf Sightseeing war ihr gründlich vergangen. Rasch öffnete sie eine App und suchte sich den Weg zum Krankenhaus.

Die Poliklinik lag nahe dem Stadtzentrum, ein mehrgeschossiger Zweckbau in Grau, Grün und Gelb. »Du wirst wohl nie Kulturerbe«, murmelte Marlena bei dessen Anblick und betrat das Foyer. Zu ihrem Glück war das Spital nicht besonders groß.

Sie schob einen riesigen Blumenstrauß vor sich her, den sie auf dem Weg billig an einer Tankstelle erstanden hatte, und wandte sich zur Information. Dahinter thronte ein glatzköpfiger Portier mit Schnauzbart und sah ihr freundlich entgegen.

»Guten Tag! Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Schwester Jelena finde. Ich meine Jelena Jelinek. Ich muss mich unbedingt bei ihr bedanken!«

Ein unergründlicher Blick aus wachen Augen traf sie. »Und wie kann ich Ihnen bei diesem zweifelsohne löblichen Vorhaben helfen?«

Marlena zögerte, unsicher, wie sie den Mann einschätzen sollte. Dann fuhr sie gespielt schüchtern fort. »Wissen Sie, meine Oma ist kürzlich verstorben. Aber sie war oft hier in Behandlung und hat mir immer von Schwester Jelena erzählt, wie dankbar sie ihrem ›Engel in Schwesterntracht‹ sei.«

Der Portier musterte die vielen Blumen und die traurig wirkende junge Blondine im schwarzen Kleid, sagte aber kein Wort.

»Und jetzt bin ich hier und … nun ja … Könnten Sie mir bitte sagen, auf welcher Station sie arbeitet?«

Wieder ein langer Blick, dann zog er langsam das Telefonverzeichnis zu sich her. »Dann sehen wir mal nach.« Bedächtig grub er sich durch die Zeilen. »Tut mir leid. Ich finde hier keine Krankenschwester dieses Namens.« Etwas an seinem Ton irritierte Marlena. Wollte er ihr etwas mitteilen, ohne zu viel zu sagen?

Sie gab sich naiv und machte große Augen. »Aber sie muss hier sein! Ich habe doch etwas für sie!«

Der Pförtner sah sie mitleidig an und blickte dann kurz nach links und rechts. »Hören Sie, Mädchen, ich darf das eigentlich nicht, aber … eine Schwester Jelena hat mal hier gearbeitet, allerdings tut sie das seit einigen Monaten nicht mehr. Tut mir leid!« In dem kleinen Krankenhaus schien der Mann über alles und jeden Bescheid zu wissen.

»Aber was mache ich denn jetzt?«

Mit hochgezogenen Augenbrauen blätterte der Mann durch das abgenützte Telefonverzeichnis ganz nach hinten, schob es zu ihr hin, tippte mit dem Zeigefinger auf einige Zahlen und wandte sich ab. »Ich muss schnell etwas von dort hinten holen. Wenn Sie mich entschuldigen?« Schnell prägte sich Marlena eine der mit der Hand gekritzelten Nummern ein und schenkte ihm einen dankbaren Blick, den er mit einem winzigen Zucken der Mundwinkel quittierte.

Samt ihren Blumen machte sie sich auf den Weg. Kein Wunder, dass Jelena bislang unauffindbar gewesen war! Doch nun war Marlena auf der richtigen Spur, die allerdings weiter wegführte als gedacht.

6 LILLY Salzburg

Wer Salzburg besuchte, kam schon rein optisch nicht an der Festung Hohensalzburg und dem Mönchsberg vorbei. Direkt an dessen steil abfallender Klippe prangte das Museum der Moderne, ein verglaster Marmorblock, in dessen Fassade ein Computerprogramm Noten aus Mozarts Don Giovanni eingestanzt hatte. Vor dem Museum – mit spektakulärem Blick über die Stadt – gab es einen beliebten Szenetreff, das M32.

Ich setzte mich an einen der luftigen Tische und genoss die Aussicht.

Noch hatte ich nichts von Ferdl gehört. Nur zu gern hätte ich gewusst, ob seine tschechischen Quellen bereits Erfolg gehabt hatten. Er selbst war in Wien geblieben und machte andere Jobs, während ich hier in Salzburg fröhlich das Mikro schwang. Vielleicht würde ich ihn nachher anrufen. Zugegeben, ich war ungeduldig – und immer noch reichlich beunruhigt.

Doch jetzt gab es anderes zu tun. Gleich würde ich die heurige Buhlschaft treffen, die die Rolle das erste Mal gab und von den Kollegen aus der Kultur dafür hymnisch gelobt wurde. Ich war ein wenig zu früh, also googelte ich den gestrigen Abend, die ersten Kritiken und die bereits online gestellten Fotos.

Und da war er wieder! Der Fotograf eines Szeneportals hatte Mr. Grey abgelichtet. Er lächelte freundlich in die Kamera. Erstmals kam ich in den ungehinderten Genuss seiner strahlend grauen Augen, die perfekt zum akkurat geschnittenen grauen Haar und dem Dreitagebart passten. Ob er bei all der Pracht nachgeholfen hatte? Sie schien mir einfach zu makellos. Seine schlanke Gestalt steckte in einem sichtlich teuren Smoking. Wer bist du bloß, fragte ich mich einmal mehr.

Ich blickte hoch. Und auf geschätzt zwei Meter Distanz in genau dieselben grauen Augen wie auf dem Foto. Für einen Moment war ich völlig neben der Spur.

»Matej! Da bist du ja!«, hörte ich eine rauchige Stimme, ehe die Frau dazu erschien. Nein, eher ein Vamp, wie ich irgendwo gelesen hatte.

Der Mann, der mich soeben desinteressiert gemustert hatte, fuhr herum und bekam einen Kuss auf die Wange. Dann wandte sich dieser weibliche Tornado mir zu. »Sie sind Frau Speltz, nicht wahr? Ich kenne Sie noch von Georg, Gott hab ihn selig. Was für eine Tragödie! Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen!«