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Durch ein lapidares Instagram-Posting beendet Profi-Fußballspieler Janus Blaubart die toxische Beziehung mit Influencerin Louisa Starenberg. Kurz darauf ist sie tot. Louisas Nachbarin, die Bad Ischler Ärztin Marie Giesinger, glaubt als Einzige nicht an einen Zufall und bittet ihren Ex-Freund, den Linzer LKA-Ermittler Benedikt Achleitner, nachzubohren. Tatsächlich stößt der bald auf Ungereimtheiten. Und eine zweite Tote. Statt Urlaub im Salzkammergut macht Ben nun Jagd auf ein raffiniertes Verbrechen, das offiziell nie eines war.
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Seitenzahl: 285
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Dagmar Hager
Salzkammerwut
Kriminalroman
Tatort Salzkammergut Die Rückkehr in ihren Heimatort Bad Ischl hat sich die junge Ärztin Marie Giesinger einfacher vorgestellt. Nicht nur, dass einer ihrer ersten Patienten ihr Jugendfreund und Ex-Geliebter Ben ist, hat sie es auch gleich mit einem Todesfall zu tun, als ihre Nachbarin Louisa stirbt. Marie machen deren Todesumstände misstrauisch. Zu oft hat sie Louisa mit einem Mann heftig streiten hören, Morddrohungen inklusive. Gemeinsam mit Ben, der inzwischen für das LKA ermittelt, forscht sie nach. Louisa war eine erfolgreiche Influencerin und die Ex-Freundin des Profi-Fußballspielers Janus Blaubart. Als herauskommt, dass eine weitere Ex des Kickers bei einem Unfall starb und Janus inzwischen abgetaucht ist, gerät er zunehmend unter Verdacht. Wurden die Medizingeräte der beiden Frauen manipuliert? Und hatte Janus seine Finger im Spiel? Doch nicht nur der Fall fordert Marie heraus, denn zwischen ihr und Ben gibt es noch einiges zu klären …
Dagmar Hager lebt in Oberösterreich und Kärnten und hat viel Erfahrung als Moderatorin und Redakteurin bei Zeitungen, im Fernsehen und beim Radio. Neben dem Schreiben und bei Event-Moderationen ist sie vor allem als Bloggerin (www.dagmarsbuchwelt.com) und Buch-Podcasterin (»Bücher sind wie Kekse«) aktiv. Sie mag Berge, Bücher, ihre Freunde, ihr Mountainbike, Segeln und gute Gespräche.
Mehr Informationen zur Autorin unter: www.dagmarhager.com
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © shaiith / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7466-8
Für meine Familie & Freunde.Schön, euch zu haben.
Weh toan tuat’s.
Es tut weh.
Da lagen sie. Fein säuberlich drapiert, nahezu feierlich.
Ein blaues Kleid, Unterwäsche und Schuhe, verteilt über die drei Fächer des neuerdings leeren Kastens. Ihres persönlichen Kastens im Schlafzimmer. Eine Ohrfeige für die Augen, ein direkter Tritt in die Seele.
Louisa schwankte.
Mit dieser Provokation markierte diese andere Frau ihr Revier und schleuderte eine zweijährige Beziehung mit eiskalter Berechnung in den Dreck. Die blöde Kuh wusste ganz genau, dass dieses kleine Haus der wichtigste Rückzugsort für Louisa und ihren Ex-Verlobten Janus gewesen war, ihr Seelenzuhause, voller Träume gemeinsam gefunden und eingerichtet, Schauplatz der wesentlichsten Momente ihres Lebens als Paar.
An diesem See hatte Janus Louisa gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Hier hatten sie ihr Kind gezeugt und verloren, wieder Kraft gefunden. Hier hatte Louisas Herz nach einer übergangenen Grippe versagt und Janus es 19 endlose Minuten lang durch Herzdruckmassage am Leben gehalten, bis der Notarzt eingetroffen war. Danach der Herzschrittmacher, mit gerade einmal 23. Klein wie eine Zwei-Euro-Münze und dennoch unbezahlbar für sie.
All das war der Tussiegal. Wahrscheinlich hatte es ihr sogar eine diebische Freude bereitet, die dämlichen sündteuren Markenklamotten zu verteilen und sich dabei vorzustellen, wie Louisa sie finden und jähen, beißenden Schmerz empfinden würde.
Ihr Bauchgefühl hatte sie nicht getrogen. Wie immer. Sie besaß feine Antennen. Vom ersten Augenblick an hatte sie die Frau nicht ausstehen können. Deren scheinheiliges, pseudofreundliches Getue war ihr gehörig auf die Nerven gegangen bei diesem Business-Abendessen, wo sie genau dieses blaue Kleid getragen hatte. Wieder so eine, die sich krallte, was sie wollte. Das ging querdurch, von jung bis alt, sogar eine ihrer vermeintlich besten Freundinnen hatte Janus hinter ihrem Rücken eine Affäre angeboten.
Die im blauen Kleid hatte Mitgefühl geheuchelt für Louisas in aller Öffentlichkeit breitgetretene Beziehungsschwierigkeiten. Sie kannte die depperte Alte bereits von einem Selfie, das ein Fan gepostet hatte, und zwar auf der Terrasse vom Weissen Rössl in St. Wolfgang. »Das war doch alles vollkommen harmlos und rein zufällig, Baby«, hatte Janus behauptet.
Bullshit.
Sie würde die Sachen nicht anrühren, nicht mal mit einer Kneifzange. Die Bilder verdichteten sich. Pure Folter. Janus und diese Schlange, genau hier, in ihrem gemeinsamen Bett, angefertigt bei einem lokalen Tischler, exakt nach Louisas Wünschen. Wie eiskalt musste man sein, es darin ohne Skrupel mit einer anderen zu treiben?
Gequält schloss sie die Augen. Noch immer tat es viel zu sehr weh. Trennung per lapidarem Instagram-Posting! Ein paar Klicks, und vorbei. Janus war grausam und Weltmeister darin, die Tatsachen für die Öffentlichkeit zu verdrehen, schamlos zu lügen, wenn es ihm einen Vorteil verschaffte.
Sie schnappte sich die beiden teuren Kaschmirschals, die der Grund gewesen waren, heute hierherzukommen, und die jemand einfach zur Seite geschoben hatte wie Müll. Das Allerschlimmste: Janus hatte wohl beabsichtigt, dass Louisa den Kasten nichtsahnend öffnen würde. Sich das Beil der Erkenntnis glühend heiß in ihr Herz fressen würde: Du bist mir nicht mehr wichtig, egal, ob ich dir mal versprochen habe, immer für dich da zu sein. Ich will dir wehtun. Weil ich es kann.
Schock, bittere Enttäuschung und Wut hielten sich die Waage, als sie tränenblind aus dem Haus stürzte und die Tür zur Garage öffnete. Die automatische Beleuchtung sprang an, ließ die rote Lackierung ihres Teslas aufleuchten. Sie hatte ihn nicht abgesperrt und glitt hinein, froh um den Hauch von Normalität, der sie umschloss. Das war ihr Auto, von ihr selbst finanziert. Ihr Geruch. Ihre Dinge. Hier war nichts von Janus und schon gar nichts von der Frau. Ihre eigene kleine Welt.
Zitternd strich sie sich das lange rote Haar aus der Stirn.
Ob sie Janus anrufen und ihm sagen sollte, was sie von ihm hielt?
Ihre Therapeutin würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Wie war das gewesen? Distanz und Akzeptanz säumen den Weg aus dem schwarzen Loch. Verdammt noch mal, die hatte doch keine Ahnung, wie es war, nach einer Flasche Prosecco am Boden zu kriechen vor Sehnsucht. Alle Selbstachtung über Bord zu werfen, nur um seine Stimme zu hören, so verständnisvoll wie unverbindlich. »Das muss aufhören, Baby«, würde er sagen, »du weißt doch, dass es keinen Sinn mehr hat. Bleiben wir Freunde.« Er diktierte die Regeln. Von Anfang an. Erst recht bei der Trennung. Freunde? Das fieseste Angebot, das man bekommen konnte, wenn man liebte. Hingeworfene Krümel, Futter gegen das schlechte Gewissen.
Plötzlich ging das Licht aus.
Im selben Moment ertönte das leise Klacken, mit dem sich ihr Auto von selbst verriegelte. Erschrocken stöhnte Louisa auf, rüttelte vergeblich an der Fahrertür, dann an der für den Beifahrer. Die Panik kam schnell. Als Kind war sie einmal in einem Schneeloch verschüttet worden, das sie selbst gegraben hatte. Seither litt sie unter Platzangst.
Ruhig jetzt. Tief einatmen. Kurz abwarten.
Doch die Dunkelheit blieb, genauso wie die grauenhafte Stille, nur durchbrochen von ihren gequälten Atemzügen, dann einem verzweifelten Schrei. Sie war gefangen, allein, hilflos eingeschlossen in dieser Scheißkarre, die sich weder öffnen noch starten ließ und schlagartig vom Vertrauten zum Feind geworden war.
Die Sekunden verrannen.
Sie fühlte die Schweißtropfen auf der Stirn, das unkontrollierbare Beben, die grauenhafte Enge in Kehle und Brust, die Klammer, die sich immer weiter zuzog.
Woher bloß kam jetzt dieses neue Gefühl? Ein Rascheln in der linken Brust? Dieses starke Klopfen? Ihre Finger ertasteten die Stelle unter dem Schlüsselbein, an der der Schrittmacher saß, ein seltsam rundes Teil mit Sonden, die bis in ihr Herz reichten und es dort mit schwachen elektronischen Impulsen stimulierten. Perfekte Technik, weltweit jedes Jahr hunderttausend Mal verpflanzt. Louisa war schrittmacherabhängig, eine so genannte Stimulationspause wäre tödlich. Gerade erst war die Software upgedatet worden. Und doch …
Ihr Herz stockte. Schlug unregelmäßig weiter. Stockte erneut. Länger diesmal. Unerträglich lange. Die vollkommene Stille dröhnte in ihren Ohren, während sie um Luft rang. Wertvolle Luft, die sich nicht länger atmen lassen wollte und einem Krampf wich, der ihr die Augen aus den Höhlen drückte.
Röcheln. Würgen. Schnappen.
Vergeblich. Das verzweifelte Hämmern in ihrer Brust wurde zaghafter.
Ein letzter Gedanke vor der gnädigen Ohnmacht schwappte nach oben.
Muss ich jetzt sterben?
Dahoam.
Der Ort, an dem man geboren und aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt.
Was für ein Saustall.
Maries Vorgänger, Dr. Alban Kleindienst, hatte nichts, aber auch gar nichts mehr gemacht seit seinem Entschluss, die Praxis zu übergeben. Sie war ein abgewohnter Albtraum, allerdings in guter Lage, auf der Esplanade, direkt neben dem Museum der Stadt, jenem Haus, in dem sich dereinst Kaiser Franz Josef und seine Sisi verlobt und der Stadt damit auf ewig ihren Stempel aufgedrückt hatten.
Bad Ischl.
Mit 16 hatte sie das »Bad« immer Englisch ausgesprochen und so gegen die vermeintliche Enge und Kleinbürgerlichkeit protestiert. Jetzt, 17 Jahre später, hatte sie ihre Meinung geändert. Nach den aufreibenden Jahren in Salzburg würde sie ab sofort von ihrer kleinen Wohnung in St. Wolfgang aus in die Gegenrichtung pendeln.
Dr. Kleindienst hatte genug davon gehabt, mit fast 70 stets zur Verfügung zu stehen, und sie davon, noch länger auf der stressigen Intensivstation zu bleiben, insbesondere seit Corona.
Zuvor war es ihr leichter gefallen, die vielen Schicksale und den allgegenwärtigen Tod nicht an sich heranzulassen, sie als medizinische Fälle zu betrachten.
Doch dann waren sie gekommen, die endlosen Dienste an der Grenze der körperlichen Leistungsfähigkeit in den höllischen Schutzanzügen, die Hilflosigkeit, die Verzweiflung. Eine 26-jährige Schwangere, die monatelang gekämpft und ihr Baby nie gesehen hatte, ehe sie gestorben war, Patienten, die man zunächst stabilisiert und die dann doch keine Chance mehr gehabt hatten, weil ihre Organe versagt hatten.
Insbesondere zermürbt hatten sie die Anfeindungen. Wie oft sie ihre Erschöpfungstränen hinuntergeschluckt oder im Stillen geweint hatte! Zuletzt auch noch der Faustschlag eines Unbekannten während der Proteste gegen die Impfpflicht.
Danach hatte sie noch ein halbes Jahr durchgehalten. Sechs durchwachsene Monate, die im Entschluss gipfelten, keine Sekunde länger wie betäubt zu funktionieren und der zunehmenden Gleichgültigkeit zuzusehen. Und als sie von der frei werdenden Ordination am Bad Ischler Traunufer erfahren hatte, hatte sie den ersten Anflug von Hoffnung seit Langem gespürt und gewusst, dass es an der Zeit war, einen radikalen Schnitt zu setzen und den Menschen in anderer Form zu helfen.
Womöglich trotzdem etwas überstürzt hatte sie zugesagt. Dr. Kleindienst hatte sich bereit erklärt, noch so lange zu ordinieren, bis ihre Kündigungsfrist abgelaufen war. Die Übergabe war reibungslos verlaufen, und nun stand sie hier, inmitten von wuchtigen Kirschholz-Grausamkeiten, zerfransten Postern menschlichen Innenlebens, einem Plastikskelett und einem Linoleumboden in der Farbe Rotz.
Eine Woche blieb ihr, um hier alles halbwegs zum Funktionieren zu bringen und eine tüchtige Sprechstundenhilfe zu finden, bisher der Job von Dr. Kleindiensts Frau. Was sie bereits besaß, waren erwartungsvolle Patienten und jede Menge Termine mit Handwerkern.
Ihre bisher schönste Entdeckung in der unmittelbaren Umgebung: die Bäckerei ein paar Häuser weiter, ebenfalls direkt an der Esplanade gelegen, die nicht nur herrlichen Kaffee anbot, sondern auch selbst gebackene Brotsorten, Handsemmeln und typische Bad Ischler Süßigkeiten.
Es war noch früh, doch der erste Morgenansturm hatte sich bereits gelegt. Marie saß an einem der kleinen Tische am Fenster, vor sich den zweiten Cappuccino des Tages, ein Grahamweckerlmit Butter und ihr iPad. Die Liste der zu erledigenden Dinge wurde immer länger. Aufseufzend wuschelte sie durch ihre hellbraunen Locken, das kaum zu bändigende und wenig geliebte Familienerbe.
Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie sich die junge Angestellte zu der Frau am Nebentisch setzte. Flüchtig musterte sie die beiden. Die Bäckerin war sehr hübsch, vielleicht Mitte 20 und über und über tätowiert, die Ältere übergewichtig und unscheinbar und steckte in einem unvorteilhaften braunen Dirndl.
Um nicht neugierig zu wirken, wandte sich Marie wieder ihren Überlegungen zu, doch das Gespräch am Nebentisch ließ sich kaum überhören. »Filo, schau, ich bringe dir noch einen Kaffee. Geht aufs Haus. Hast du schon etwas gefunden?«
Die Mittfünfzigerin mit den dicken Brillengläsern schüttelte den Kopf. »Ach wo, ich bin ein bodenloses Schwarzes Loch am Arbeitsmarkt. Zu alt, zu dick, zu weiblich, zu ungebildet. Ein hoffnungsloser Fall. 40 Jahre Erfahrung als Hebamme zählen nicht. Und jetzt Themenwechsel. Wie geht’s dir mit deinem Habschi?«
Die Blondine mit den Dreadlocks begann zu strahlen. »Du weißt ja, dass er sich bisher nie fix auf eine Beziehung eingelassen hat, weil er nicht auf alle anderen Frauen verzichten wollte. Aber gestern hat er gesagt, bei mir sei es anders. Ist das nicht super?«
Ein Schatten glitt über das Gesicht der Älteren.
Erschrocken zupfte die Bäckerin an ihrem Nasenpiercing. »Du kennst mich, seit ich ein Baby war. Sei ehrlich, was denkst du?«
»Kind, schau, vielleicht meint er es wirklich so. Aber offenbar bedeutet es für ihn nicht nur Freude, mit dir zusammen zu sein, sondern auch Verzicht. Was schadet es also, euch Zeit zu geben?«
Die Jüngere verzog das Gesicht. »Wieso kannst du mir nie das sagen, was ich hören will?« Mit diesen Worten stand sie auf und legte die Hand auf die rechte Schulter der Frau. »Danke!«
Als die Frau im Dirndl gegangen war, erhob sich auch Marie. Sie hatte noch einen Termin mit einem Tischler der Attersee-Werkstätten.
»Entschuldigen Sie«, wandte sie sich an die junge Angestellte, »darf ich mich rasch vorstellen? Ich bin Marie Giesinger, die Nachfolgerin von Dr. Kleindienst.«
Ihr Gegenüber lächelte. »Das weiß ich doch schon längst, Frau Doktor. Herzlich willkommen in der Nachbarschaft. Ich bin die Laura Danklmayr. Voll schön, dass Sie jetzt da sind! Der alte Herr Doktor war zwar süß, aber halt schon ein bissl verstaubt.«
Die Buschtrommeln! Wie hatte Marie die bloß vergessen können? Neuigkeiten verbreiteten sich in Ischl wie ein Lauffeuer.
»Laura, wer war denn die Dame, mit der Sie sich eben unterhalten haben?«
Diskretion war Lauras Sache nicht. »Na, die Filo Hemetsberger. Das ist so eine Liebe. Hat früher als Hebamme gearbeitet, aber jetzt … Na ja, sie ist nicht mehr die Fitteste nach dem Schicksalsschlag. Findet keinen Job, dabei ist sie schlau und kennt jeden in Ischl!«
Dermaßen geballte Information in so wenigen Sätzen musste Marie erst einmal sacken lassen. Nachdenklich bedankte sie sich mit einem großzügigen Trinkgeld, ehe sie auf die Straße trat, wo soeben der weiße Kastenwagen des Tischlers einparkte.
Drei Tage später waren die Linoleum-Katastrophe, die grindigen Poster und das Skelett Geschichte, die Möbel beauftragt, die Wände gestrichen und die nötigsten Dinge auf Schiene. Am Nachmittag würde der neue Boden verlegt werden. Danach graute Marie schon vor den Computerleuten. Sie brauchte jemanden, der ihr half, die Datenbank auf den neuesten Stand zu bringen, ein Online-Terminportal einzurichten und sich darauf einzustellen, dass sie wahrscheinlich an die Hälfte der dringend notwendigen Dinge noch gar nicht gedacht hatte. Renovieren ertrug sie ohnehin nur in homöopathischen Dosen – und das hier glich einem Tsunami.
Spontan beschloss sie, das schöne Herbstwetter auszunutzen und mit ihrem E-Bike an der Traun entlang durch den Sisi-Park und Kaltenbach in Richtung Bad Goisern zu radeln. Sport half ihr, Stress abzubauen. Nach ihrem Leben in Salzburg freute sie sich auf mehr Zeit in der Natur und in den Bergen, die ihr seit frühester Kindheit vertraut waren. Eine Skitour bei Vollmond entsprach viel mehr ihrer Vorstellung von Glück als jedes Luxusabendessen.
»Hallo, Frau Dr. Giesinger, sind Sie da?«
Erstaunt lugte Marie zur Eingangstür.
Der Anblick war umwerfend. Die zarte Laura aus der Bäckerei verschwand beinahe hinter der wuchtigen Gestalt, die sie hineinschob und die einen Teller mit kleinen Schokoküchlein und jede Menge Verunsicherung im Gesicht vor sich hertrug.
Ohne zu zögern, legte Laura los. »Höchste Zeit, dass ihr euch kennenlernt. Das ist die Filo. Sie hat unheimlich viel Ahnung vom Backen, von Medizin, vor allem aber von Menschen … und auch von Computern. Das Einzige, was sie nicht kann, ist, sich selbst zu loben und selbstbewusst damit anzugeben. Sie werden keine bessere Sprechstundenhilfe finden. Und keine besseren Ischler Törtchen. Also, was halten Sie davon?«
Perplex huschte Maries Blick zwischen der korpulenten Frau, Laura und den köstlich duftenden Törtchen hin und her. Filos Gesichtsausdruck schwankte zwischen Panik und Hoffnung, Laura strahlte und machte eine auffordernde Geste. Ansonsten herrschte erwartungsvolle Stille.
»Äh«, räusperte sich Marie und pustete die Wangen auf. Das erste Wort, das ihr in den Sinn kam, war: »Computer?«
Filos Miene erhellte sich und ein winziges Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. Man musste sie einfach mögen. »Seit Jahren mache ich beim Arbeitsmarktservice jede Fortbildung, die ich kriegen kann, und Zeit habe ich ja. Datenbankverwaltung hatte ich schon ganz zu Anfang, da werden fähige Leute gesucht, außer sie sind so wie ich.« Sie sagte es ohne Bitterkeit und deutete mit einem kleinen Schulterzucken an sich hinab.
Endlich hatte Marie sich gefangen. »Okay, nehmen wir doch mal ein wenig das Gas raus. Noch funktioniert hier nicht viel, aber Kaffee gibt es!« Neugierig deutete sie auf den Teller, den Filo immer noch wie eine Schutzbarriere vor sich hielt. »Haben Sie die wirklich selbst gemacht?«
Laura sprang in die Bresche. »Verfeinertes Originalrezept vom Zauner, aber der kann sich brausen gehen gegen die von der Filo!«
»Echt? Das will ich probieren!«
Ob es die Törtchen waren, die emotionale Intelligenz, der schnell angeschlossene Computer, ihre Sympathie gegenüber einer gebeutelten Geschlechtsgenossin – oder alles auf einmal. Als der Bodenleger mit seiner Arbeit begann, hatte sie eine neue Angestellte.
Geplättet parkte Marie nach diesem ereignisreichen Nachmittag ihr Auto vor dem kleinen Apartmentkomplex, in dem sie sich schon vor Jahren das Studio im Dachgeschoss gekauft hatte. Vornehmlich deshalb, weil sie sich in den spektakulären Ausblick von der Terrasse verliebt hatte. Im Grunde war ihr St. Wolfgang zu überbezahlt und überlaufen gewesen, aber dann hatte die Aussicht über ihre Skepsis gesiegt – und die Lage etwas außerhalb, in Au, ein paar Hundert Meter vor der Ortseinfahrt. Die fünf anderen Einheiten waren Anlageobjekte, weshalb sie so gut wie immer ihre heilige Ruhe hatte. Zu ihren Füßen erstreckte sich, verbunden durch eine Treppe, der im Sonnenuntergang glitzernde Wolfgangsee, dahinter die Bergkulisse. »Hier steht ziemlich viel hübsche Gegend herum«, hatte ihre Freundin und ehemalige Kollegin Gundi es auf den Punkt gebracht, als sie zum ersten Mal zu Besuch gewesen war.
Ein hoher Kirschlorbeer trennte den Vorgarten vom Nachbarhaus, das erst vor zwei Jahren aufwendig umgebaut worden war. Marie fand es zauberhaft, aber weit jenseits ihrer Preisklasse. Schon ihre 65 Quadratmeter strapazierten ihr Konto bis ans Limit. Die direkte Lage am Wasser war alles andere als ein Schnäppchen – und doch jeden Cent wert.
Verwundert registrierte sie die offen stehende Eingangstür der Nachbarn, vergaß sie dann aber sofort wieder, weil ihr Telefon läutete. Es war Gundi, die haarklein wissen wollte, wie es so sei, »an Land gezogen worden zu sein«.
Eine Stunde später, inzwischen war es dunkel geworden, bemerkte sie, dass bislang niemand nebenan die Tür geschlossen hatte, das Haus selbst aber im Finsteren lag. Kurz entschlossen ging sie nach unten und huschte am schmalen Streifen zwischen Hecke und Seeufer auf das Grundstück, der einzigen Möglichkeit, dorthin zu gelangen, denn das zwei Meter hohe automatische Tor der Zufahrt war fest verschlossen. Zwar gab es eine Alarmanlage, aber da die bisher nicht angeschlagen hatte, war sie wohl deaktiviert. Die Außenbeleuchtung allerdings funktionierte, sprang an und tauchte alles in warmes Licht. Mit einem mehr als mulmigen Gefühl stand Marie auf der Kante der großen Holzterrasse, die ein Stück weit in den See hineingebaut worden war. Im etwa zwei Meter tiefen und um diese Jahreszeit sehr klaren Wasser blitzte kurz etwas auf, aber sie konnte nicht erkennen, was. Vorsichtig ging sie um das Haus herum und lugte in den Eingangsbereich. Nichts rührte sich.
»Hallo, bei Ihnen steht offen. Ist alles in Ordnung?«, rief sie, und kam sich dämlich vor. Aus dem Haus drang ihr aber weiterhin nichts als Stille entgegen.
Noch einmal machte sie sich bemerkbar, mit genauso wenig Erfolg. In der Tat schien niemand da zu sein. Ob die tatsächlich weggefahren waren, ohne ihre Nachlässigkeit zu bemerken? Sie wusste natürlich, wer zeitweise hier wohnte, Kontakt oder gar eine Telefonnummer gab es aber nicht. Die spielten in einer anderen Liga.
Also gut. Sie würde jetzt einfach diese Tür schließen und dann zurück in ihre Wohnung gehen. Damit hatte sie ihre Nachbarspflicht erfüllt. Im Umdrehen stutzte sie. Von dort, wo sie stand, führte ein kurzer Weg zur angebauten Garage, die man durch eine schmale Tür neben einem Rolltor betreten konnte. Direkt davor lag ein roter Schal, teuer, das erkannte Marie sofort, und sie erinnerte sich im selben Moment daran, ihn schon einmal am Hals seiner Besitzerin gesehen zu haben. Aufgefallen war ihr das nicht nur, weil die eine gewisse Berühmtheit war, sondern auch, weil sich die Farbe schlimm mit deren ebenfalls roten Haaren gebissen hatte.
Nachdenklich hob sie das gute Stück auf und griff in weiches Kaschmir. Weil ihr nichts Besseres einfiel, hängte sie es an die Klinke der Tür, die plötzlich nachgab und einen Lichtsensor aktivierte. Schlagartig wurde es hell.
Erschrocken fuhr sie zurück, doch in ihren Augenwinkeln nahm sie reflektierendes Rot wahr. Ihr Herz klopfte wild, als sie sich ein Stück nach vorne beugte und erkannte, worum es sich handelte. Das Auto der Nachbarin. Und die saß regungslos darin! Aufrecht gehalten durch den Gurt, der Kopf war zur Seite gesunken.
Maries Instinkte griffen. Mit wenigen Schritten war sie am Auto und rüttelte am Griff, bis die Fahrertür nachgab. »Verdammt noch mal!«, fluchte sie. Die Ärztin in ihr übernahm, tastete, suchte den Puls, registrierte die halb geöffneten Augen, die gräuliche Haut. Frustriert erkannte sie die Hoffnungslosigkeit ihres Tuns.
Hier war nichts mehr zu machen.
Louisa Starenberg, die Influencerin, war tot.
Friara.
Die Menge aller zeitlich zurückliegenden Ereignisse.
Missmutig musterte Ben Achleitner seine Wanderschuhe, das Klettergeschirr und den gepackten Rucksack.
Das durfte doch nicht wahr sein!
Seit Wochen hatte er sich auf die Dachstein-Überquerung gefreut, die Hütten reserviert, war alle Aspekte der Route durchgegangen und hatte noch vorgestern begeistert den Wetterbericht studiert. Er war perfekt vorbereitet, bis auf die Tatsache, dass ihn seit gestern ein hartnäckiger Husten quälte. In der Nacht hatten sich auch noch eine verstopfte Nase und Kopfweh dazugesellt. In Summe ergab das ein Prachtexemplar von Grippe. Ausgerechnet jetzt, wo er sich zwei Wochen Urlaub genommen und vorgehabt hatte, einige lang geplante Wanderungen und Klettersteige zu machen.
Der Oktober zeigte sich von seiner besten Seite, seine Gesundheit nicht.
Obwohl er ein wenig zur Unvernunft neigte und sich nicht gleich ins Bett legte, wenn etwas zwickte, war ihm klar, dass mit diesen Viren besser nicht zu spaßen war. Wollte er nicht die ganzen 14 Tage im Bett verbringen, war Handeln angesagt. Samstagnachmittag. Alle Apotheken hatten schon geschlossen, und wegen einer Grippe fuhr man nicht ins Krankenhaus. Der Ärztenotdienst verwies ihn an einen Dr. Kleindienst. Dunkel erinnerte er sich an den Namen des Arztes, der schon seit einer gefühlten Ewigkeit in Ischl ordinierte.
Erst beim dritten Läuten wurde abgehoben. »Ja, bitte?«, ertönte es resolut aus dem Hörer. Ben legte einen Hauch Drama in seine Stimme und hustete ein paarmal gekünstelt, als er der Frau sein Anliegen schilderte.
Die Stille am anderen Ende der Leitung verhieß nichts Gutes. »Guter Mann, lassen Sie Ihre Schauspielkünste stecken. Wenn es dringend ist, kommen Sie vorbei. Dann werden wir ja sehen, was Ihnen wirklich fehlt!«
Aufgelegt.
Charme ging anders, aber immerhin hatte er einen Termin.
Es roch nach Farbe und Kleber, als er die Treppen zur Ordination hochstieg. Mittlerweile fiel ihm das Atmen schwer, und er hatte wohl auch leichtes Fieber. Erlöst betrat er durch die nur angelehnte Tür die Ordination, in der offensichtlich gerade umgebaut wurde.
Hinter einem Empfangspult aus Holz thronte eine füllige Frau in einem voluminösen weißen Kittel. Als sie ihn erblickte, erstarrte ihr Gesicht für einen winzigen Augenblick, dann lächelte sie unverbindlich und winkte ihn zu sich. »Sie sind der Herr Achleitner, nicht wahr? So grün, wie Sie sind, haben Sie tatsächlich nicht nur einen Männerschnupfen.«
Etwas an der Frau irritierte ihn. Wahrscheinlich kannte er sie von früher, ohne sich wirklich an sie zu erinnern, war sie doch ohne Zweifel Mitte 50 und offenbar schon eine erfahrene Ärztin.
»Krieg ich jetzt Extrapunkte?«
»Vor allem kriegen Sie jetzt Hilfe.«
Ben nickte dankbar und stützte sich ab. Diese Dr. Kleindienst war ihm sympathisch, aber in seiner Situation hätte er jeden genommen.
»Filo, weißt du zufällig, wo die …?«
Die Frau, die soeben um die Ecke geschossen kam, riss die Augen auf. »Was machst du denn hier?«
Die Blicke der drei flogen kreuz und quer.
Als Erste fand Filo die Sprache wieder. »Ihr kennt euch?«
Als Nächster war Ben an der Reihe. »Du bist die Ärztin, Marie? Bist du jetzt verheiratet und heißt Kleindienst?«
»Nein, Benediktus Achleitner. Dr. Kleindienst ist in Pension. Ist offenbar noch nicht überall angekommen.«
Rechtfertigte sie sich etwa? »Hätte mich auch gewundert.«
Das hätte er besser nicht gesagt, denn Maries Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. Nur zu gut erinnerte sich Ben daran, was üblicherweise folgte. Doch es kam nicht. Stattdessen hörte er ein leises »Sehen wir lieber mal, was dir fehlt.«
Maries Beherrschtheit nahm der Situation die Spitze.
Filo, die interessiert von einem zum anderen geschaut hatte, übernahm. »Na, dann wollen wir mal, Chris, hier lang!«
»Chris?«
»Nicht wegen der Optik, aber wegen der Schauspielkünste, Mr. Hemsworth!«
Ben gab auf. Besser, er verhielt sich brav. Gegen diese geballte Frauenpower war er machtlos. Und immerhin hatte diese Filo ihn nicht mit dem Grinch verglichen, auch wenn seine momentane Gesichtsfarbe gepasst hätte.
20 Minuten später war er wieder weg, versorgt mit Medikamenten aus Maries Beständen und der Weisung, ein paar Tage zu ruhen, um zumindest die zweite Urlaubswoche zu retten. Beide Frauen sahen ihm nach, keine sprach. Stattdessen wandte sich jede wieder ihren Aufgaben zu.
Nachdenklich legte Filo Ben in der Patientenkartei an.
Arbeitgeber: Landeskriminalamt Oberösterreich.
Wohnort: Linz.
Geburtsort: Bad Ischl.
Derselbe Jahrgang wie Marie.
Ledig.
Und fesch, dachte sie bei sich, gute Muskeln, wenn auch zu blond. Der Vergleich mit dem australischen Schauspieler, der ihr insbesondere als Thor in den Marvel-Filmen gefiel, war gar nicht einmal so abwegig gewesen, insofern man beide Augen zudrückte, zehn Zentimeter Körpergröße abzog und den Höcker auf der Nase übersah.
Aber das Lächeln stimmte.
Wenn die sich mal nicht aus der Schule kannten. Dass zwischen ihnen etwas vorgefallen war, lag auf der Hand.
Unguats Gfüh.
Eine böse Vorahnung.
Nachdenklich putzte Marie seit Minuten über die schon längst blitzblanke Stelle. Welch seltsamer Zufall ihr gestern ausgerechnet Ben Achleitner in die Praxis gespült hatte! Seit Jahren war der Kontakt eingeschlafen, doch hin und wieder stolperte sie über ihn, wenn Kriminalfälle in den Schlagzeilen landeten. Nicht, dass sein Name aufgetaucht wäre, aber sie wusste, dass er der Mordgruppe in Linz angehörte.
Mit einem unwilligen Laut warf sie den Schwamm in die Spüle und wandte sich dem anderen Thema zu, das sich nun schon seit einiger Zeit hartnäckig in ihrem Unterbewusstsein festbiss. Dem, was aus ihrer Sicht an der Sache mit Louisa Starenberg nicht stimmte. Der Gedanke ließ sie nicht los, aber sie hatte im Grunde keinen Nerv dafür und den Kopf zu voll mit dringlicheren Dingen rund um die Reorganisation der Ordination.
Über ihre Verbindungen kannte sie den Obduktionsbefund: Natürlicher Tod, das Herz hatte, trotz Schrittmacher, versagt. Diese Geräte hingen, das hatte sie nachgelesen, an ausgeklügelter Software, funktionierten autark. Und doch war Louisa gestorben. Der eigentliche Auslöser für Maries Unbehagen war aber ein anderer. Vielleicht bot sich ihr nun unerwartet eine Lösung. Kurz entschlossen legte sie sich ihre Patientendatenbank auf den Schirm und wählte eine Telefonnummer.
»Was für eine Überraschung, Marie. Mit dir hätte ich nicht gerechnet. Ein Krankenbesuch bei deinem Lieblingspatienten?« Der kleinen Neckerei folgte ein erbärmliches Niesen.
»Gesundheit!«, sagte die Ärztin trocken und reichte ihm ein Nasenspray. »Zumindest deine Nase wird sich freuen, mich zu sehen!«
Ben ergab sich. »Verzeih. Danke, dass du gekommen bist. Herein mit dir. Ich hoffe, dein Immunsystem ist stabil?«
Erneutes Niesen.
»Ich werde es einfach riskieren.«
Mit diesen Worten schlüpfte Marie an ihm vorbei in das kleine Haus.
»Willkommen in dieser unvergesslichen Naturkulisse am Fuße der Ewigen Wand, im einst schönsten Dorf der Monarchie!«, zitierte Ben offensichtlich einen Tourismusfolder. »Wie am Beispiel dieses Bauwerkes ersichtlich konnte sich Bad Goisern seinen ursprünglichen Charme bis in unsere Zeit bewahren.«
Marie sah sich in den vielleicht 30 Quadratmetern schlichter Holzhütte um. »Was sagt Kaiser Franz Josef zu deinem Palast?«
»Hab ihn heute noch nicht gesehen!«
Kurz trafen sich ihre Blicke. Etwas Vergangenes kochte hoch. Schnell floh Ben in Unverbindliches. »Setz dich. Magst du Tee?«
Erleichtert nahm Marie an. Insgeheim zweifelte sie gerade an ihrem gesunden Menschenverstand. Hatte der besinnungslos in einer Ecke gelegen, als sie vorhin angerufen hatte? Für Reue war es allerdings zu spät, im Grunde schon seit vielen Jahren.
Während Ben an der winzigen Küchenzeile werkelte, ließ sie ihren Blick durch den einzigen Raum schweifen. Eckbank, großer Jogltisch aus Fichte, Bettnische und ein wunderschöner alter Kachelofen mit Sichtfenster. Sie liebte die gemütliche Einfachheit solcher Hütten, selbst wenn es bedeutete, gewisse Bedürfnisse in einem Plumpsklo im Freien zu verrichten, und sich die Dusche auf das eiskalte Wasser des Brunnens vor der Tür beschränkte.
Um herzukommen, hatte sie in Bad Goisern die Panoramastraße in Richtung »Rathlucken Hütte« genommen. Bens Behausung lag nahe dem urigen Gasthaus, an das Marie sich insbesondere wegen der göttlichen Rehlaibchen mit Kartoffelpüree erinnerte.
Als sich das Schweigen ausdehnte, setzte sie sich an den Tisch und fragte neugierig. »Hast du dieses Häuschen gemietet?«
Beladen mit zwei dampfenden Tassen setzte Ben sich zu ihr. »Es gehörte dem Hubsi Ladreiter, erinnerst du dich noch an den? Der mit dem Backenbart, der so ausg’schaut hat wie der selige Kaiser!«
Marie prustete los. »Was, echt? Der mit der riesigen Mütze aus grünen Federn, von denen er immer niesen musste?«
Beide versanken in Erinnerungen. Die Kaisertage rund um den 18. August waren von jeher ein Riesenspektakel in Ischl. Viele warfen sich in alte Kostüme, aber der Hubsi Ladreiter in seiner Galauniform mit der blauen Joppe war eine Legende.
Sentimental geworden fuhr Ben fort. »Der Kaisergeburtstag war der Höhepunkt seines Jahres. Sonst war er eher ein Einsiedler. Immer wenn ich in der Gegend war, hab ich auf einen Zirbenenbei ihm vorbeigeschaut. Ich war vollkommen überrascht, als er mir die Hütte vererbt hat, aber mich freut’s. Ich bin viel hier.«
Marie nahm einen Schluck vom Bergkräutertee und verzog das Gesicht. »Jugendfrei ist der aber nicht!«
Ben zuckte mit den Schultern. »Du bist ein großes Mädchen. Also, raus damit, was kann ich für dich tun?«
»Hast du das von der Louisa Starenberg mitbekommen? Der Influencerin mit den vielen Followern auf Instagram und Co?«, platzte sie heraus.
»Du meinst die Ex vom Janus Blaubart? Ist die nicht vor Kurzem gestorben? Herzversagen oder so?«
Warum bloß betrachteten so viele Louisa nicht als eigenständige Persönlichkeit mit einer Karriere, sondern nur als die Ex irgendeines Linksverteidigers, der eher den Ball beherrschte als sich selbst?
»Genau. Trotzdem sie einen Schrittmacher implantiert hatte.«
»Schrittmacher? In ihrem Alter? Wie kann das sein?«
»Damit, mein lieber Benediktus, bringst du die Sache schon sehr gut auf den Punkt«, konstatierte Marie, »genau das frage ich mich nämlich auch. Ich habe mich ein wenig schlaugemacht.«
Auffordernd zog er die Augenbrauen hoch.
»Schrittmacher sind heutzutage sehr ausgeklügelt. Vereinfacht gesagt werden sie zumeist unters Schlüsselbein oder unter den Brustmuskel eingepflanzt. Drähte mit Elektroden stimulieren dann das Herz.«
»Aber die war doch, was weiß ich, 23? Warum hat sie denn überhaupt einen gebraucht?«
Marie stützte die Unterarme auf die abgewetzte Tischplatte. »Sie hat wohl denselben Fehler begangen wie du und eine Grippe verschleppt. Die noch nicht abgetöteten Viren in ihrem Körper haben daraufhin ihren Herzmuskel entzündet. Anstatt es ruhig anzugehen und sich auszukurieren, hat sie trainiert und ist prompt im Fitnessraum zusammengeklappt. Zwar hat Blaubart sie gleich gefunden und alles richtig gemacht, aber leider war ihr Herz da bereits irreversibel geschädigt.«
An Bens konzentrierten Blick beim Nachdenken erinnerte sie sich noch.
»Und was daran scheint dir jetzt verdächtig? Sogar so sehr, dass du dich in die Höhle des Löwen wagst?«
Du hast recht, dachte Marie still bei sich, bis vor ein paar Tagen hätte ich lieber eine Darmspiegelung gemacht, als dich zu treffen.
Laut aber sagte sie: »Offenbar kann auch ein Schrittmacher keine Wunder vollbringen, wenn das Herz nicht mehr will. Dass das Gerät selbst eine Störung hat, kommt kaum noch vor.«
»Klingt für mich alles ganz normal, und es gab ja auch keine weiterführende Untersuchung. Der Fall ist abgeschlossen, also scheint es keine Zweifel daran zu geben, dass an ihrem Tod etwas nicht stimmt!«
Maries Vernunft deckte sich mit dieser Aussage, nicht aber ihr Bauchgefühl. Eindringlich sah sie ihn an. »Irgendetwas stört mich maßlos an der ganzen Geschichte.«
»Kann es sein, dass Louisa wegen all dem Stress ihre Untersuchungstermine nicht wahrnahm oder ihr der Druck zusetzte? Immerhin gab es eine sehr öffentliche Trennung, die sogar ich mitbekommen habe, und ein paar bitterböse Interviews, bei denen sie nicht gut wegkam.«
Da schau her, auch ein Ben Achleitner war also nicht gefeit vor Klatsch und Tratsch. Blaubart hatte in der Tat vor den Augen aller schmutzige Wäsche gewaschen, und auch Louisa hatte sich nicht mit Zurückhaltung bekleckert. Im Gegensatz zu ihm war sie aber durch einen Shitstorm von der breiten Öffentlichkeit genüsslich seziert worden.
»Gut möglich, dass die Aufregung zu viel für ihr Herz war. Zumindest haben die Medien das vermutet. Dass der Stress den High-Tech-Schrittmacher beeinflusst hat, kann ich mir nicht vorstellen. Aber …«
Sie hielt inne, was Ben aufblicken ließ. Er schien zu ahnen, dass sie jetzt zum eigentlichen Grund ihres Überraschungsbesuches kommen würde. Und es musste ein sehr guter sein.
»Aber etwas anderes passt nicht. Ich habe die beiden heftig streiten gehört.«
Ben schnaubte. »Das hat die halbe Welt.«
»Die beiden waren meine Nachbarn in St. Wolfgang, Ben«, sagte Marie bedrückt, »ich habe Louisa gefunden und ihr leider nicht mehr helfen können. Du hast mich noch nicht gefragt, warum mich das alles überhaupt so interessiert. Jetzt kennst du den Grund.«
In seinem Blick erkannte sie Mitgefühl. »Die Sache verfolgt mich, mir gelingt keine professionelle Distanz.« Sie schluckte, aber nun waren die Schleusen geöffnet. »Von meiner Dachterrasse aus sehe ich direkt in ihren Garten. Oft waren sie nicht da, aber wenn, dann sind meistens die Fetzen geflogen. Einmal hat er sie sogar ins Wasser gestoßen und dabei gebrüllt, dass er sie umbringen würde, wenn sie das tun würde.«
»Wenn sie was tun würde?«
»Ich weiß es nicht, Ben, nur, dass sie ausgesprochen verängstigt wirkte, nahezu panisch. Wäre ich an ihrer Stelle auch gewesen. Der Typ schien gefährlich.«