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Der große weite Sternenhimmel. Die Unendlichkeit. Das All. Das Nichts. Die Zeit, das Leben und der Tod. Wir wissen nichts! Nichts über den wahren Grund unserer Existenz. Nichts darüber, was dieses verrückte Mysterium des Daseins wirklich ist. Doch alle Menschen rennen und machen und tun als wären sie auf der Flucht vor sich selbst. Säm nicht! Er ist vollauf damit beschäftigt, die Absurdität dieser rasend gewordenen Zivilisation zu ertragen und die existentiellen Fragen des Lebens zu ergründen. Doch wie und wodurch offenbaren sich die Antworten auf die letzten aller Fragen? Nur eines ist sicher: Anders als er erwartet und anders als er denkt! "Säm und das Ende der Fragen" - wie verrückt muss man werden, um den Wahnsinn der Welt zu verstehen!
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Seitenzahl: 166
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Der große weite Sternenhimmel. Die Unendlichkeit. Das All. Das Nichts. Die Zeit, das Leben und der Tod. Wir wissen nichts! Nichts über den wahren Grund unserer Existenz. Nichts darüber, was dieses verrückte Mysterium des Daseins wirklich ist. Doch alle Menschen rennen und machen und tun als wären sie auf der Flucht vor sich selbst. Säm nicht! Er ist vollauf damit beschäftigt, die Absurdität dieser rasend gewordenen Zivilisation zu ertragen und die existentiellen Fragen des Lebens zu ergründen. Doch wie und wodurch offenbaren sich die Antworten auf die letzten aller Fragen? Nur eines ist sicher: Anders als er erwartet und anders als er denkt! „Säm und das Ende der Fragen“ – wie verrückt muss man werden, um den Wahnsinn der Welt zu verstehen!
Reinhold Jordan ist 1961 in Fulda geboren, studierte in den 80er Jahren im damaligen West-Berlin Literatur und Philosophie. Seit Anfang der 90er lebt er mit Unterbrechungen in der Rhön. Er arbeitete über 20 Jahre als freier Werbetexter und Journalist und veröffentlichte bisher zwei Poesiebände, Lichtjahre (2002) und Flussgesänge (2006). „Säm und das Ende der Fragen“ ist sein erster Roman.
„Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind,
das auch der Löwe nicht vermochte?
Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?
Unschuld ist das Kind und Vergessen,
ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad,
eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines
heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist,
seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.“
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Epilog
„Und gesetzt selbst es nähme mich einer plötzlich ans Herz:
ich verginge von seinem stärkeren Dasein.“
Rainer Maria Rilke, Duineser Elegien/ erste Elegie
Nachdem Säm mindestens zum siebenundzwanzigsten Male (Anna hatte mitgezählt) die Stellung seines Kopfes zu seinen Händen, auf die er ihn jetzt stützte, variiert und verändert hatte, endete er nun seinen schon bald zehn Minuten währenden Monolog (Anna hatte auf die Uhr geschaut) über den Geist der Kunst und Kultur im Allgemeinen, den des beginnenden 21. Jahrhunderts im Besonderen, und darüber, welche Konsequenzen zu ziehen wären in diesem Zeitalter des Untergangs und der Verwirrung. Ausführlich erläuterte er das Desaster, in dem er sich zu befinden meinte – „aber nicht nur ich, sondern eine ganze Generation!“ – und die Konsequenzen, die es zu ziehen galt. „Dabei…“, und er legte eine kurze Pause ein, die er mit einer ausladenden, fast großzügigen Geste seiner rechten Hand begleitete, („achtundzwanzig“, zählte Anna), „ …gibt es eigentlich gar nichts zu tun! Das ist ja der Wahnsinn! Verstehst Du?“ Anna verstand nichts. Kein Wort. Sie hatte nicht zugehört. Oder genauer gesagt: Sie hatte weggehört. Schließlich kannte sie all das, kannte es aus ‚zig Vorträgen, die Säm im Laufe ihres Zusammenseins gehalten hatte. Damals, als sie sich kennengelernt hatten, da war sie von seinen leidenschaftlich vorgetragenen Reden immer fasziniert gewesen, doch jetzt, jetzt ertrug sie es kaum noch. Säm sprach wie ein Ertrinkender, der um sich griff und nach Halt suchte. Den Untergang, den er beschwor und besang, würde wahrscheinlich zuallererst ihn selbst ereilen, so sah es Anna. Und wenn das geschah, wollte sie nicht dabei sein. Sie taugte nicht als Rettungsring. Und deshalb hörte sie nicht hin, wenn er sprach und folgte nicht seinen verschachtelten Gedankengängen. Sie versuchte einfach nur die Zeit zu überbrücken, ohne zu sehr in Säms Strudel zu geraten. Dabei beobachtete sie, wie sich sein Körper auf dem Stuhl hin und her wand, scheinbar einem unsichtbaren Sturm ausgeliefert, der ihn zu allen Seiten bog wie einen jungen Baum, wie er seinen Kopf abwechselnd in seine rechte und linke Hand legte, gerade so als wüsste er nicht, wohin mit ihm. Manchmal scheuchte er dabei etwas Unsichtbares aus seinem Gesichtskreis, als würden lästige Fliegen um ihn herumschwirren und ihn piesacken.
Gleichzeitig vollführten seine Beine unter dem Tisch einen absurden Tanz, als sei der Fußboden – ja die ganze Erde! – für ihn in unerreichbare Ferne gerückt. Nun schob Säm seinen Stuhl nach vorne, rieb sich mit den Händen Gesicht und Augen, als sei er nicht richtig wach (und würde es wohl auch nie werden!) und bestellte ein großes Glas Wasser, Anna einen Milchkaffee mit Sahne. Sie hatten sich in einem kleinen Café in einer Seitenstraße getroffen, abseits vom hektischen Trubel der Stadt. „Lass‘ uns lieber dahin gehen. Du weißt ja, dass ich Menschenaufläufe nicht so gut vertrage!“
Es war ihr egal gewesen, wo sie sich trafen. Sie hatte insgeheim gehofft, dass Säm sich vielleicht verändert hätte. Doch jetzt musste sie einsehen, dass dem nicht so war. Und Säm wusste, dass jetzt vielleicht seine letzte Chance war, sie von irgendetwas zu überzeugen. Davon, dass sie beide ja eigentlich und schicksalsmäßig zusammen gehörten. Anna sagte dazu nichts mehr. Sagte auch nicht, dass sie sich dies manchmal erwünscht und erhofft und, ja, sogar ausgemalt hatte in den letzten Monaten, aber jetzt nicht mehr daran glaubte. Es war vorbei.
Säm rückte seinen Stuhl zur Seite, beugte sich nach vorne, um seine Ellbogen auf den Tisch zu stellen und stützte seinen Kopf auf die Hände. Er fieberte. „Ich fahre nächste Woche nach Japan.“ Anna wollte es jetzt kurz machen, es zum Abschluss bringen. „Nach Japan? Was willst du in Japan?“ Säm wusste, dass Anna immer irgendwo irgendwen kennen lernte, der wiederum irgendwo irgendwen kannte, und dass sie ihre Entscheidungen von Zufälligkeiten und scheinbaren Zeichen abhängig machte.
Doch ob sie nach Japan flog, nach Kiel fuhr oder nach Mesopotamien, das war jetzt völlig unerheblich. Sie würde weg sein. Für Säm nicht mehr erreichbar und nur darum ging es! Es war vorbei! „Außerdem habe ich wenig Zeit!“, sagte sie. Säm würde sich kurzfassen müssen, jetzt ein für alle Mal die Karten auf den Tisch legen. Er fühlte, dass er am Ende war. „Und wenn ich dir sage, dass ich dich liebe...!“ - „Dann, dann sage ich dir, das fällt dir einfach zu spät ein!“, antwortete Anna. Aber eigentlich war es gar nicht mehr wichtig, was sie sagte. „Außerdem: Ich denke, Liebe ist nur eine Illusion!“, schossen die Worte dann doch aus ihr heraus. Es war vorbei! Säm wollte und konnte es nicht wahrhaben. Das war alles. Er schluckte. Am liebsten wäre er verschwunden und hätte sich in Luft aufgelöst. Alles, was er diesem Wunsch entgegenhalten konnte, war sein Bedürfnis etwas klarzustellen. Und wieder begann er zu sprechen. Und sprach und sprach. Und sprach und sprach und sprach. Sprach, als ginge es um sein Leben. Griff hastig zu dem Glas Wasser, das der Kellner gerade gebracht hatte und trank schnell einen kleinen Schluck – bloß keine Unterbrechungen, keine Pausen. Doch Anna hörte nicht hin, schaute nur zu, und wenn nicht ihm, dann den weißen Wolken, die wie eine Herde Walrösser vorbeizogen und bald den Himmel verhängen würden oder dem kleinen Mädchen am Nachbartisch, das gerade ihren Kopf hin und her schüttelte, offensichtlich nur, um sich an ihren langen Zöpfen, die mit vielen bunten Haarbändern verziert waren, zu erfreuen.
Um die Zeit zu überbrücken, pickte sich Anna manchmal sogar einen einzelnen Begriff heraus, den Säm besonders eindringlich betonte – „kosmische Ungewissheit“ zum Beispiel – und brachte diesen Begriff dann in Verbindung mit dem, was sie sah, in diesem Falle, dem von Sahne fast überquellenden Eisbecher, den der Kellner gerade dem kleinen Mädchen am Nachbartisch servierte. Anna konnte oder wollte all das nicht mehr ernst nehmen. Vielleicht wollte sie sich auch schützen. „Die kosmische Ungewissheit und der Eisbecher.“ Man musste nicht alles verstehen! „Du hast dich da in irgend etwas hinein gesteigert!“, entgegnete sie dann doch. „Außerdem habe ich wenig Zeit!“ „Ja, ja, immer hast du wenig Zeit!“, antwortete Säm gereizt. Er hatte sich über ihre Geschäftigkeiten immer lustig gemacht. „Als ob es etwas zu verpassen gäbe, außer sich selbst!“ Anna nervte wiederum seine „Herumhängerei“, die er zu einer großartigen Lebensphilosophie stilisiert hatte. Dabei - Anna konnte es einfach nicht anders sehen - steckte dahinter doch nur eine großartige Lebensunfähigkeit und eine himmelhoch schreiende Faulheit. Säm sah das anders. „Ich beschäftige mich, ich konfrontiere mich mit den wirklich wichtigen Fragen der Existenz!“ Auch an diesem Punkt waren sie nie weiter gekommen. „Schau dich um!“, sagte sie. „Es ist ein schöner Frühlingsnachmittag und irgendwann, das steht fest, sind wir alle tot. Und jetzt, im Augenblick, ist alles okay, verstehst du?“ Anna sah nicht ein, wozu es gut sein sollte, sich an einem Tag wie heute tiefschürfend in all die Sinnlosigkeiten und Probleme dieser Welt zu stürzen. Es war alles viel einfacher, ganz sicher war es viel einfacher. „Ja, ja, alles okay!“, wiederholte Säm geistesabwesend, gerade so, als ob er Zusammenhang und Sinn der Worte nicht verstehen könne. Was war schon okay? Schließlich schaute er auf und blickte in Annas Augen, die auf ihm ruhten, irgendwie funkelten und etwas zu sehen schienen, was ihm verborgen blieb. Abrupt wendete er sich von ihr wieder ab in der sicheren Gewissheit, dass auch er Dinge sah, die ihr ganz gewiss verborgen bleiben würden. Wieder rückte er mit dem Stuhl nach hinten, lehnte sich zurück und sagte, diesmal spöttisch und mit spitzen Lippen: „Ja, ja - alles okay!“ Und dann etwas lauter, sich beziehend auf alte Vertraulichkeiten, mit flehendem Blick: „Mensch, Anna!“
Es wird doch etwas länger dauern, dachte Anna und schaute auf die Uhr. Dann verschwand sie im Café. Sie brauchte eine Pause. „Alles okay“, dachte Säm. „Alles okay?“ Säm schaute sich um. Ja, vielleicht... vielleicht, wenn man nur seine Perspektive (oder gar sein Leben?) wechseln könnte, vielleicht würde dann alles okay sein, zumindest in der Vorstellung. Säm versuchte sich und Anna durch die Augen der anderen zu betrachten, sich vorzustellen, was wohl dieser oder jener Passant, die um ihn herum Sitzenden oder der Kellner, der gerade den Milchkaffee brachte, über sie dachten oder denken könnten: Ein junges Paar bei einem Rendezvous, ein junges Paar bei einem klärenden Gespräch nach ersten unbedeutenden Missverständnissen, ein junges Paar, das sich auf der Terrasse eines Cafés getroffen hatte, um die ersten Sonnenstrahlen des Frühlings zu genießen… ja, alles könnte okay sein, wenn es anders wäre, als es wirklich war. Säm verlor sich in einer Vielzahl möglicher Betrachtungsweisen und ganz so als würden die Gedanken seinen Körper hin und her zerren, rückte er den Stuhl zur Seite, reckte den Hals nach rechts und links, trank hastig von seinem Wasser, tropfte dabei auf das Hemd und rieb wieder seine Augen – nein, wach war er nicht!
Anna kam zurück, und noch während sie sich setzte, sagte sie: „Wie du hier hin und her zappelst, wenn ich dich nicht kennen würde, da würde ich denken, du bist gerade einer Nervenheilanstalt entlaufen!“ - „Ha!“, rief Säm emphatisch, was soviel heißen sollte wie: Was verstehst du schon? Unsichtbare Anstrengungen standen in seinem Gesicht geschrieben. Behutsam neigte Anna nun ihren Kopf nach vorne, bis ihr Mund den Rand der Tasse erreicht hatte und schlürfte die mit Schokoladenstreusel verzierte Sahne vom Milchkaffee. Auch Säm griff nach seinem Glas, in einer langsamen vorsichtigen Bewegung, als ginge es um einen Akt höchster Präzision. Hierzu hatte er den Arm unnötig weit ausgeholt. Als am Nachbartisch ein Gast, der mit dem Rücken zu ihm saß, gerade im Begriff war aufzustehen, stieß er mit dem Stuhl aus Versehen an Säms Ellbogen. Das Wasser ergoss sich über den Tisch und sein Hosenbein. Ärgerlich schrie Säm auf, während er gleichzeitig aufsprang, um das Wasser von seiner Hose zu schütteln. Anna lachte. „Er wird heute Abend wieder eingeliefert“, sagte sie zu dem erschrocken dreinschauenden Gast, und zu Säm: „Du sollst doch aufpassen, hab ich dir gesagt.“ Nickend nahm Säm die Entschuldigung des Gastes entgegen und starrte verständnislos auf Annas lachenden Mund. „Was ist bloß los mit dir, mein lieber Säm?“, fragte Anna und schüttelte amüsiert den Kopf. Säm wusste noch immer nicht recht, wie ihm geschehen war, fühlte sich zu unrecht attackiert und sagte vieldeutig: „Wenn du wüsstest, Anna, wenn du wüsstest...!“- „Ja, ja, das große verkannte Genie“, antwortete sie mit gespielter Wichtigkeit und ironischem Unterton. „Na, endlich hast du es erkannt“, sprach Säm, indem er nicht vorhandenes Haar von der Stirn strich und den imaginären Scheitel in den Nacken warf. „Weißt du, was das Schlimme ist?“, sprach Anna nun ernsthaft, „dass du das wirklich glaubst!“ „Weißt du, was noch viel schlimmer ist?“, antwortete Säm, „Dass es wirklich so ist!“
„Aber“, sprach Säm versöhnlich und einlenkend, erneut die Chance witternd dieses scheinbare Missverständnis, das zwischen ihnen stand, aufzuklären: „Darum geht es doch gar nicht!“ Und wieder schien der Nährboden für einen ganz außerordentlichen Redebeitrag bereitet, in Säms Kopf formierten sich die gedanklichen Bruchstücke zum Thema „Genie und Wahnsinn“/ „Wahnsinn und Wahrheit“, als mitten hinein in diese neu erleuchtete Szenerie der Kellner einbrach. Bewaffnet mit einem roten Tuch und einem schamlosen Lächeln unterbrach er Säms ausgezeichneten Gedankengang, zu dem er gerade die passenden einleitenden Worte gefunden hatte, und wischte mit routinierten Handbewegungen die restlichen kleinen Wasserpfützen auf, die sich auf dem Tisch gebildet hatten und mit denen Anna begonnen hatte zu spielen. Mit ihrem Zeigefinger hatte sie zwischen den einzelnen „kleinen Seen“ Querverbindungen geschaffen, so dass eine „kleine Seenplatte“ entstanden war, die, bevor das Tuch des Kellners sie aufnehmen konnte, mit schnell kreisenden Fingern von Anna wieder zerstört wurde. Mit seinen südländischen Augen warf der Kellner einen feurigen Blick auf Anna, den sie ohne Umschweife erwiderte, und einen abschätzenden auf Säm, den er wiederum mit kühler Verachtung quittierte. „Möchte der Herr noch etwas bestellen?“, fragte er lächelnd und schielte dabei provokativ auf Säms Hosenbein, das unübersehbar von einem faustgroßen Flecken verziert war. Säm ließ sich nicht irrtieren und bestellte ein großes Bier, während er sein Blick von dessen pomadisierten Scheitel bis hinunter zu den etwas verstaubten Lackschuhen wanderte. Wieder lächelte Anna, während Säm dem Kellner ärgerlich hinterherschaute. „Oh, Säm“, sagte sie in einem neuen, überraschend herzlichen Ton. Annas Lächeln, es hatte ihn immer entwaffnet und verzaubert, doch jetzt kam es ihm vollkommen deplaziert vor (wie er sich selbst). Er spürte, wie etwas an seinen Mundwinkeln spannte, seine Augenlider zu zucken begannen und es sich in ihm anfühlte, wie so oft in der letzten Zeit: einfach zum Heulen. Aber eigentlich hatte er doch etwas erklären wollen... Was war es noch? Genie und Wahnsinn... Wahnsinn und Wahrheit.... doch die mühevoll zusammengefügten Gedankensplitter waren in alle Winde zerstreut wie die Blätter im Herbst. Es war vorbei. „Oh, Säm“, wiederholte Anna fast zärtlich, „was ist nur mit dir los?“ Säm verkrampfte sich. Wie merkwürdig, aber damit hatte er gar nicht gerechnet, damit, dass Anna plötzlich so ganz liebevoll mit ihm sprach. Er verhakte sich in seinem Stuhl, seine Hände griffen nach den Armlehnen, krallten sich fest, so, als säße er auf einem fliegenden Gefährt und als könne ihn jeden Augenblick etwas hinaus katapultieren, hinweg schleudern oder in die Tiefe stürzen. In der ersten Unsicherheit reagierte Säm mit sexuellen Fantasien, die aber, wie er zugleich merkte, genauso wenig am Platz zu sein schienen wie er selbst. Kurz sammelte sich das Blut in seinen Lenden, stockte, fand keine Möglichkeit zur Ausbreitung und stieg nun peu à peu in Richtung Kopf.
Annas Lächeln schien schier endlos und selbst sein Haltegriff auf dem Stuhl nützte nichts mehr, er war zum Schleudersitz geworden. „Was lächelst du denn so blöde?“, brach Säm hervor, kleinlaut und wütend zugleich. Ihm war nicht beizukommen. „Du bist doch total durcheinander!“ sagte sie. „Kann sein!“ Aber: War nicht die ganze Welt durcheinander, alles drum herum? Wie sollte man da selbst klar sein können? Ihm war es zu einfach sein persönliches Durcheinander nur auf sein persönliches Schicksal zu beschränken. „Alles ist durcheinander“, sagte er. „Aber du ganz besonders!“, antwortete Anna. „Wir stehen auf einer Welt ohne Grund“, sagte Säm. „Du!“, sagte Anna. „Nein, alle Menschen! Nur die meisten haben Angst, sich das bewusst zu machen!“ Anna wurde jetzt ungeduldig. „Hör‘ auf, bitte hör‘ auf! Ich kann das alles wirklich nicht mehr hören!“ Säm wurde sofort still. Es war vorbei. Das war alles. Säm erstarrte, kauerte auf dem Stuhl und traute sich nicht Anna anzuschauen. Stattdessen blickte er angestrengt vor sich auf den Boden und dann, den Kopf etwas anhebend, in die Leere, die altbekannte, ein Punkt irgendwo zwischen den von Licht umspielten Haaren Annas und einem entfernten, gerade zu blühen beginnenden Kastanienbaum. All seine Gedanken, das wusste Anna jetzt, waren Seile und Stricke, die ihn nicht halten würden, im Gegenteil, er hatte sich ganz und gar in ihnen verfangen, wie in einem Labyrinth, dessen Ausweg niemand kannte. Säm suchte Halt. Das war alles. Säm, der Weltverlorene, Säm der Wortgewordene. Er suchte Halt, den sie ihm nicht geben konnte. Sie suchte selbst Halt, jeder suchte Halt. Und schließlich sah es in den meisten Fällen ja auch nur so aus, als ob dies gelang. „Du, ich muss jetzt los!“, sagte Anna. Sie fuhr weder nach Japan noch nach Mesopotamien, sie wollte einfach nicht mehr erreichbar sein für Säm. Das war alles.
Kennen gelernt hatten sie sich in einer Bar bei Säm um die Ecke – nicht gerade in der glorreichsten Phase seines Lebens. Wieder einmal war er dabei über jene lateinische Lebensweisheit zu sinnieren, die sich die Welt der Geschäftigkeiten, der er so skeptisch gegenüberstand, in schnödester Form zu eigen gemacht hatte: „Carpe diem.“ Nicht nur, dass in seinem Leben daraus mehr und mehr ein „Carpe noctem“ geworden war, er musste sich auch eingestehen, ganz egal ob Tag oder Nacht, dass sich ihm die Nützlichkeit seines Lebens und der ganzen Existenz immer noch nicht erschlossen hatte. Und um welchen Nutzen es wohl ginge dabei und was der alte römische Gelehrte wohl damals wirklich gemeint hatte, fragte er sich. Und schließlich, ob es überhaupt nützlich war sich darüber auf diese Weise Gedanken zu machen. Durchaus zog er in Erwägung, dass er sein Leben möglicherweise ändern müsste, doch hatte er zum einen noch keine durchschlagende Idee, wie oder in welche Richtung, und zum anderen war dies auch nicht wirklich sicher. Sicher war nur, dass diese Phasen des Selbstzweifels, die in ihrer Intensität und Dauer sehr unterschiedlich sein konnten, fester Bestandteil seines Lebens waren und immer wiederkehrten. Doch trotz dieses lästigen Phänomens hielt er eines weiterhin für möglich, ja, sogar für wahrscheinlich, dass er, statt sich oder sein Leben zu verändern, einfach nur den richtigen Blickwinkel finden musste, um sein Leben neu zu betrachten und dann – ja, daran glaubte er! – würde sich alles von alleine erschließen und alle Bedenken würden sich auflösen.
Bis er diesen Blickwinkel jedoch gefunden hatte, galt es mit der Last des Selbstzweifels einen listigen Umgang zu finden. Wohl geübt darin, die Vorboten dieser unangenehmen Zustände zu erkennen, hatte er sich an diesem Tag vorbeugend das vorgenommen, was immerhin Aussicht auf eine gewisse innere Beruhigung gab: Er wollte sich betrinken. Mit dieser Absicht saß er nun am Tresen dieser Bar, die er zu diesem Zweck immer mal wieder in unregelmäßigen Abständen besuchte. Doch es sollte anders kommen. Gerade wollte er einen ersten Schluck vom Frischgezapften nehmen, als plötzlich ein etwa gleichaltriger, sich in den besten Jahren seines Lebens befindender Mann, die Räumlichkeiten betrat. Dynamisch, sportlich und leichtfüßigen Schrittes schnellte er herein, und Säm stellte zu seinem Entsetzen fest, dass es ein alter