Sämtliche Werke - Band 2 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 2 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Der zweite Band der »Sämtlichen Werke« enthält mit dem ersten Teil der »Strahlungen« Jüngers Tagebuch aus den Jahren 1939 bis 1943: die »Gärten und Straßen«, »Das erste Pariser Tagebuch« sowie die »Kaukasischen Aufzeichnungen«. Charakteristisch ist sicherlich die Verbindung des persönlichen Erlebens mit den geschichtlichen Ereignissen: Lektürenotate verbinden sich mit Beobachtungen, Kriegserlebnisse mit Reflexionen zu einem »Sound«, wobei der Charakter eines Tagebuchs stets erhalten bleibt. Jünger merkt hierzu in seinem Vorwort an: »Der Tagebuchcharakter wird [...] zu einem Kennzeichen der Literatur. Das hat unter mancherlei Gründen auch den [...] der Geschwindigkeit. Die Wahrnehmung, die Mannigfaltigkeit der Töne kann sich in einem Maße steigern, das die Form bedroht und das in unserer Malerei getreulich festgehalten wird. Demgegenüber ist literarisch das Tagebuch das beste Medium. Auch bleibt es im totalen Staat das letzte mögliche Gespräch.«

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Seitenzahl: 677

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 2

Tagebücher II

Strahlungen I

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht der gebundenen Ausgabe.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96302-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10902-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

STRAHLUNGEN I

INHALT

Vorwort

Gärten und Straßen

Das erste Pariser Tagebuch

Kaukasische Aufzeichnungen

»GÄRTEN UND STRASSEN«

ERSTAUSGABE 1942

REVIDIERTE FASSUNG 1950

 

»VORWORT«, »DAS ERSTE PARISER TAGEBUCH« UND

»KAUKASISCHE AUFZEICHNUNGEN«

ERSTAUSGABE 1949

REVIDIERTE FASSUNGEN 1955 UND 1963

VORWORT

 

1

In diesen Blättern wird das Tagebuch der sieben Matrosen erwähnt, die 1633 auf der kleinen Insel des heiligen Mauritius im Nördlichen Eismeer überwinterten. Die holländische Grönlandgesellschaft hatte sie dort mit ihrem Einverständnis ausgesetzt, zum Studium des arktischen Winters und der polaren Astronomie. Im Sommer 1634, als die Walflotte wiederkehrte, fand man das Tagebuch und sieben Leichen vor.

Gleichzeitig mit dieser Episode spielten auf anderen Teilen des Planeten Akte der großen Auseinandersetzung über die Frage der Willensfreiheit, die Luther und Erasmus neu aufgeworfen hatten und die nach der theologischen auch der politisch-räumlichen Abgrenzung zudrängte. 1634 wurde Wallenstein in Eger ermordet, ein retardierendes Moment. Colignys Tod dagegen, 1572, erscheint uns als Vereinfachung, Beschleunigung der Entwicklung zu unserm Bild.

Wir urteilen so, weil wir im Einheitsstaat und seinen ausgeprägten Formen das Ziel erblicken, zu dem der Weltgeist in kunstvollen Zügen strebt. Daher erscheint uns der Triumph von Richelieu und Cromwell sinnvoll, während das Scheitern Wallensteins eine Ära politischer Mächte zweiten und dritten Ranges einleitet.

Wer aber kennt die wahren Größen der Geschichte und die Rückseite der Medaillen, die das Bewußtsein prägt? Wer weiß, was Frankreich in der Bartholomäusnacht verloren hat und was der Unstern Wallensteins verhinderte? Doch das sind Spekulationen, die man an Kaminen ausspinnt oder zum Zeitvertreib während einer Nachtwache. Wir überschätzen die Bedeutung der politischen Figuren und der einzelnen Schachzüge.

Hundert Jahre, ehe die Männer auf Sankt Mauritius, am Skorbut sterbend, ihr Tagebuch führten, entwarf Kopernikus die neue Kosmographie. Mit Recht wird Wert darauf gelegt, daß solche Daten wichtiger als die der Staaten- und Kriegsgeschichte sind. Sie sind auch unvergleichlich gefährlicher. Um 1633 erschien der alte Galilei vor dem Ketzergericht. Das »E pur si muove«, das man ihm zuschreibt, gehört zu unseren Schicksalssprüchen; man sieht, daß die Vernunft das letzte Wort behalten wird.

Inzwischen ist uns der Gedanke vertraut geworden, daß wir auf einer Kugel hausen, die mit Geschossesgeschwindigkeit in Raumestiefen fliegt, kosmischen Wirbeln zu. Bei Rimbaud übersteigt die Fahrt bereits die Vorstellung. Und jeder antikopernikanische Geist wird bei Erwägung der Lage auf den Gedanken stoßen, daß es unendlich leichter ist, die Bewegung zu steigern als umzukehren zu ruhigerer Bahn. Hierauf beruht der Vorteil des Nihilisten gegenüber allen anderen. Hierauf beruht auch das ungemeine Wagnis der theologischen Aktionen, die sich anbahnen. Es gibt einen Grad der Geschwindigkeit, für den alle ruhenden Gegenstände ihrerseits bedrohlich werden und die Form von Geschossen annehmen. Im arabischen Märchen genügt die Nennung Allahs, um die fliegenden Dämonen zu verbrennen wie durch einen Stern.

2

Die sieben Matrosen sind bereits Gestalten der kopernikanischen Welt, zu deren Zügen auch die Sehnsucht nach den Polen zählt. Ihr Tagebuch ist neue Literatur, als deren Merkmal man ganz allgemein die Absetzung des Geistes vom Gegenstand, des Autors von der Welt bezeichnen kann. Das führt zu einer Fülle von Entdeckungen. Zu dieser Welt gehört die immer sorgfältigere Beobachtung, das starke Bewußtsein, die Einsamkeit und endlich auch der Schmerz.

Seit jenem ersten hat man viele solcher Tagebücher bei Toten gefunden und aus dem Nachlaß veröffentlicht. Auch Lebende gewähren Einblick in ihre Aufzeichnungen; es liegt darin seit den dîners chez Magny kein Wagnis mehr. Der Tagebuchcharakter wird vielmehr zu einem Kennzeichen der Literatur. Das hat unter mancherlei Gründen auch den oben erwähnten der Geschwindigkeit. Die Wahrnehmung, die Mannigfaltigkeit der Töne kann sich in einem Maße steigern, das die Form bedroht und das in unserer Malerei getreulich festgehalten wird. Demgegenüber ist literarisch das Tagebuch das beste Medium. Auch bleibt es im totalen Staat das letzte mögliche Gespräch.

Selbst philosophisch kann die Lage in einer Weise bedrohlich werden, die das Opus dem Logbuch annähert und wie sie sich zum ersten Male andeutet im »Willen zur Macht«. Das sind Notizen auf der Fahrt durch Meere, in denen der Sog des Malstroms fühlbar wird und Ungeheuer auftauchen. Wir sehen den Steuermann bei der Betrachtung der Instrumente, die allmählich glühend werden, den Kurs bedenken und sein Ziel. Er untersucht die Wege, die möglich sind, die äußersten Routen, auf denen die praktische Vernunft dann scheitern wird. Die geistige Erfassung der Katastrophe ist fürchterlicher als die realen Schrecken der Feuerwelt. Sie ist das Wagnis nur der kühnsten, lastbarsten Geister, die den Dimensionen, wenngleich nicht den Gewichten, des Vorgangs gewachsen sind. So zu zerbrechen war das Schicksal Nietzsches, den zu steinigen heute zum guten Ton gehört. Nach dem Erdbeben schlägt man auf die Seismographen ein. Man kann jedoch die Barometer nicht für die Taifune büßen lassen, falls man nicht zu den Primitiven zählen will.

Poe, Melville, Hölderlin, Tocqueville, Dostojewski, Burckhardt, Nietzsche, Rimbaud, Conrad wird man auf diesen Seiten häufig beschworen finden als Auguren der Malstromtiefen, in die wir abgesunken sind. Zu diesen Geistern zählen auch Léon Bloy und Kierkegaard. Die Katastrophe wurde in ihren Einzelheiten vorausgeschaut. Doch waren die Texte oft hieroglyphisch – so gibt es Werke, für die wir erst heute als Leser reif geworden sind. Sie gleichen Transparenten, deren Inschrift der Schein der Feuerwelt enthüllt.

Und wieder bewährte sich die Bibel als das Buch der Bücher, prophetisch auch für unsere Zeit; doch nicht nur prophetisch, sondern auch tröstend in höchstem Maße und insofern das Handbuch alles Wissens, das wiederum Unzählige durch die Schreckenswelt begleitete. Bei der Vertiefung wird manchem deutlich geworden sein, daß, wie neue Theologie an sich, so auch die Exegese im Sinne des 20. Jahrhunderts nötig geworden ist. Notizen zu einer solchen ziehen sich durch die Aufzeichnungen hindurch. Sie sind zum eigenen Gebrauch entworfen, doch geben sie vielleicht auch diesem oder jenem einen Hinweis zur Methodik, zum eigenen Eindringen. Methodologische Anregung verdanke ich vor allem Léon Bloy, dessen Schriften gleichfalls häufig erwähnt werden und auf den die jungen Deutschen hinzuweisen ich nicht verfehlen möchte, obwohl ich stärksten Widerspruch voraussehe. Ich hatte den gleichen Widerwillen zu überwinden – man muß indessen heute die Wahrheit nehmen, wo man sie trifft. Sie fällt, dem Lichte gleich, nicht immer auf den angenehmen Ort. Überhaupt zieht sich ein literarischer Faden durch das Labyrinth der Tagebücher, beruhend auf dem Bedürfnis nach geistiger Dankbarkeit, das indessen auch für den Leser fruchtbar werden kann.

3

»Strahlungen«– das ist der Titel für ein Sextett von Tagebüchern, deren erstes schon während des Krieges und deren letztes lange nach dem Waffenstillstand erschien. Hier sind die Teile nun vereint zum Ganzen, zum Bild der Katastrophe, die wie eine Woge anhebt, brandet und verebbt. Sie traf jeden anders, doch uns alle zugleich.

Strahlungen – darunter sei einmal der Eindruck verstanden, den die Welt und ihre Objekte auf den Autor hervorrufen, das feine Gitter von Licht und Schatten, das durch sie gebildet wird. Die Gegenstände sind mannigfaltig, oft widersprechend, ja selbst polar, wie »Ost und West« und andere große Themen unserer Welt, die sich in unserm Innern abstimmen.

Es gibt helle und dunkle Strahlungen. Ganz dunkel sind die großen Schreckensstätten, die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in unsere Zeit hineinragen und unheilvoll sich ausbreiten. Durch sie wird auch die kleinste Freude abschattiert.

Strahlen empfangen wir auch durch den Menschen, durch unsere Nächsten und die Fernsten, durch Freund und Feind. Wer kennt die Folgen eines Blickes, der uns flüchtig streifte, wer kennt die Wirkung des Gebetes, das ein Unbekannter für uns spricht? Das Horoskop zeigt das Konzert der Strahlen bei der Geburt gleich den Facetten eines Diamanten an. Die erste Lebensregung nach der Befruchtung ist eine feinste Strahlung – die Ouvertüre der Individuation. In jedem Augenblick umflechten uns Büschel von Licht, berühren, umweben, durchschießen uns.

Wer kennt und wer ermißt das Wirken um unseren Körper, unsere Sinne, unseren Geist – die Ordnung, den Ausgleich, zu dem wir unaufhörlich gezwungen sind? Sogar die Schönheit widerspricht sich, wie die Ermüdung lehrt, die einem Gange durch Galerien folgt, in denen Meisterwerke sich vereinigen. So sind wir rastlos bemüht, die Lichterfluten, die Strahlengarben zu richten, zu harmonisieren, zu Bildern zu erhöhen. Leben heißt ja nichts anderes.

Im höchsten Ordnungsgange werden kosmische und irdische Strahlen so verwoben, daß sinnvolle Muster aufleuchten. Das ist ein Zeichen dafür, daß das Leben der Menschen, das Leben der Völker gelungen ist. Die Blumen sind Sinnbilder solcher Muster, daher »cultura« und daher ihre Rolle in den Gleichnissen. Daher auch die tiefe und oft rührende Sehnsucht des Volkes nach Kunstwerken. Sie ist begründet, denn wenn auf nur handbreiter Fläche sinnvolle Muster gelingen, können weite Gebiete anschließen. Bei solchem Stande braucht selbst das Massenhafte des Niederganges nicht zu ängstigen. Im Kunstwerk liegt eine ungeheure Richtungskraft.

4

Strahlungen – der Autor fängt Licht ein, das auf den Leser reflektiert. In diesem Sinne leistet er Vorarbeit. Die Fülle der Bilder ist einmal zu harmonisieren und dann zu werten – das heißt: nach einem geheimen Schlüssel mit dem Licht auszustatten, das ihrem Rang entspricht. Licht heißt hier Klang, heißt Leben, das in den Worten verborgen ist. Das wäre dann ein metaphysischer Lehrgang zwischen Gleichnissen: die Ordnung der sichtbaren Dinge nach ihrem unsichtbaren Rang. Nach diesem Grundsatz sollten jedes Werk und jede Gesellschaft gegliedert sein. Versuchen wir ihn im Wort, im Satz, im Spiel der Bilder, wie sie der Alltag mitbringt, zu verwirklichen, so üben wir uns in höchster Disziplin.

Ein makelloser Satz wirkt ja weit über das Vergnügen, das er an sich gewährt. In solcher Bildung lebt, auch wenn die Sprache altert, eine Verteilung von Licht und Schatten, ein feinstes Gleichgewicht, das auf die anderen Gebiete übergreift. Sie trägt in sich die Kraft, aus der der Baumeister Paläste gliedert, der Richter die letzte Schattierung von Recht und Unrecht abwägt, der Kranke in der Krisis das Tor des Lebens zu finden weiß. So bleibt die Niederschrift ein hohes Wagnis, erfordert stärkere Prüfung und Überlegung als jene, mit der man Regimenter ins Treffen führt. Und wenn es noch Zauberringe geben sollte, dann dort, wo dieser Widerstand vom Willen zur Schöpfung überwunden wird.

Das Amt des Dichters zählt zu den höchsten dieser Welt. Wenn er das Wort verwandelt, umdrängen ihn die Geister; sie wittern, daß Blut gespendet wird. Da wird Zukünftiges nicht nur gesehen; es wird beschworen oder auch gebannt. Die unteren, noch dunklen Ränge der Wortbeherrschung sind magisch; und Goethe wußte, was er mit den Versen sagen wollte:

Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen,

Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen –

sie deuten erlebte Macht und Leiden an.

Wie viele seiner Verse verbirgt auch dieser ein Gebet. Magie wird jedoch immer beim Worte bleiben müssen, wenn es wirken soll. Nur muß sie in die Tiefe, in die Krypta versenkt werden. Auf ihr erhebt sich das Gewölbe der Sprache zu neuer Freiheit, die das Wort zugleich verwandelt und erhält. Dazu muß Liebe beitragen; sie ist das Geheimnis der Meisterschaft.

Die Wirkung solcher Wandlung müßte am Lebenswachstum, an der Anreicherung der Sprache erkennbar sein. Wenn wir beim Bild der Strahlung bleiben wollen, so müßten die Heilsstrahlen zunehmen. Der Teil des Wortes, der die reine Bewegung, sei es des Willens oder der Gefühle, hervorruft, müßte schwinden zugunsten des anderen, der ihren wunderbaren Kern enthüllt.

5

Auf diese sechs Tagebücher beschränkt sich meine Autorschaft im Zweiten Weltkrieg, wenn ich von einem ausgedehnten Briefwechsel und kleineren Schriften absehe. Zu ihnen zählt der Traktat »Der Friede«, dessen Vorgeschichte den Pariser Teil der Aufzeichnungen durchflicht. Die Daten mögen manchen Irrtum berichtigen, wie jenen, daß dieser Aufruf eine Frucht der Niederlage sei. Es ist ja heute immer die billigste Auslegung, mit der man rechnen muß, und oft auch die gehässigste. Doch wie ich in meiner Arbeit stets gegen den Strom schwamm und nie im Soge einer der herrschenden Gewalten, so auch hier. Die Planung der Schrift fällt vielmehr zusammen mit der größten Ausdehnung der deutschen Front. Ihr Zweck war rein persönlich; sie sollte meiner Ausbildung dienen – gewissermaßen als Übung in der Gerechtigkeit.

Das Nahen der Katastrophe brachte mich in Berührung mit jenen Männern, die das fürchterliche Wagnis planten, den Koloß zu fällen, ehe er mit unendlichem Gefolge sein Ziel im Abgrund fand. Ich hatte nicht nur eine andere Beurteilung der Lage, sondern fühlte mich auch von anderer Substanz, wenn ich von musischen Geistern wie Speidel und Stülpnagel absehe. Vor allem war ich der Überzeugung, daß ohne einen Sulla jeder Angriff auf die plebiszitäre Demokratie notwendig zur weiteren Stärkung des Niederen führen mußte, wie es denn auch geschah und weiterhin geschieht.

Doch es gibt Lagen, in denen man auf den Erfolg nicht achten darf; man steht dann freilich außerhalb der Politik. Das gilt auch für diese Männer, und daher gewannen sie moralisch, wo sie historisch scheiterten. Ihr Opfer zählt zu jenen, die nicht der Sieg, wohl aber die Dichtung krönt.

Ich sah es als Ehre an, mit meinen Mitteln beizutragen, und in diesem Zusammenhange nahm die Schrift die Form des Aufrufs an die Jugend Europas an. Auch wirkte sie inzwischen in dem kleinen Kreise, der auf das Stichwort wartete. So las sie Rommel, bevor er sein Ultimatum absandte. Der Treffer, den er am 17. Juli 1944 auf der Straße nach Livaroth erhielt, beraubte den Plan der einzigen Schultern, denen das fürchterliche Doppelgewicht des Krieges und des Bürgerkrieges zuzutrauen war – des einzigen Mannes, der Naivität genug zum Widerpart der fürchterlichen Simplizität der Anzugreifenden besaß. Es war ein eindeutiges Vorzeichen. Ich lernte in jenen Tagen mehr als durch die Lektüre historischer Bibliotheken, ja selbst des Shakespeare, zu dessen »Coriolan« ich häufig Zuflucht nahm. Man wird das in diesen Blättern nur angedeutet finden, denn ihre Aufgabe ist keine politische, sondern eine pädagogische, in höherem Sinne autodidaktische: der Autor läßt den Leser an seiner Entwicklung teilnehmen. Auch darf ich sagen, daß ich damals bereits der politisch-historischen Kaleidoskopik müde war und Besserung von der reinen Umdrehung nicht erwartete. Im Menschen, nicht in den Systemen, muß neue Frucht gedeihen.

In diesem Sinne war die Friedensschrift für mich bereits historisch geworden, als in Deutschland der Widerstand erlosch. Ich widmete sie meinem Sohn Ernstel, der inzwischen aus dem Gefängnis entlassen und bei Carrara als Freiwilliger gefallen war. Mit seinem Tode verband sich für mich die gleiche Bitterkeit wie gegenüber meiner Autorschaft. Ich hatte wohl vorausgesehen, daß wir in Schichten sinken würden, in denen kein Verdienst mehr bleibt und nichts Gewicht und Wert behält als nur der Schmerz. Er aber erhöht uns in anderen Regionen, im wahren Vaterland. Es wird uns dort nichts schaden, wenn wir hier in aussichtsloser Lage und auf verlorenem Posten aushielten.

Inzwischen läuft »Der Friede« in Drucken und Abschriften um. Kugeln und Bücher haben ihre Schicksale. Man scheint es für paradox zu halten, daß ein Krieger vom Frieden spricht. Demgegenüber läßt sich sagen, daß seine Unterschrift allein dem Wort Kredit verleiht. Die Alten zogen nicht umsonst zu ihren Friedensverträgen die nationalen Kriegsgötter zu, vertreten durch die Vorsteher ihrer Priesterschaft.

Wie auch das Schicksal des Schriftchens sich wenden möge, ich gab ihm meine Wünsche mit. Die Lage damals war ähnlich wie die der sieben Matrosen im Eismeer, und in solcher Stimmung flüchtet der Mensch leicht in den Haß. Er ist nie meine Domäne gewesen, doch ist es möglich, daß ich den Blick an einen jener Sterne knüpfte, die man im Leben nicht erreicht. Das würde mir die Schrift noch lieber machen, denn Autorschaft ist Vaterschaft, und unsere Neigung gehört vor allem jenen Kindern, denen kein Glück beschieden ist.

6

Das erste der sechs Tagebücher, »Gärten und Straßen«, schildert den deutschen Vormarsch durch Frankreich und wurde bald darauf bekannt. Ich liebte damals, durch Vexierbilder für Menschen oder solche, die es bleiben wollten, die Lage anzudeuten, und zu ihnen gehörte die Erwähnung des 73. Psalms. Es dauerte ein Jahr, bis diese Arabeske sich verbreitete; dann machte der Minister für Volksaufklärung die Neuauflage von ihrer Streichung abhängig. Da ich ablehnte, kamen die »Gärten und Straßen« auf den Index, auf dem sie lange geblieben sind. Die Aufeinanderfolge der Autoritäten im modernen Staat ändert die Argumente, nicht aber die Praxis der Gewalt. Bei einiger Abweichung von der Norm wird man auf alle Fälle gefährdet sein. Die Verfolger lösen sich ab, allerdings nur auf den Treibjagden.

Durch manche Begegnung erfuhr ich, daß dieser erste Abschnitt unter dem Titel »Routes et Jardins« auch in Frankreich bald Freunde fand. Der gute Gedanke der Freundschaft zwischen beiden Ländern hat durch schlechte Kräfte sein Ansehen verloren, doch viel hängt davon ab, ob er es wiedergewinnen wird. Daß seine Verwirklichung im Krieg unmöglich war, gehört zur Tragik von Freunden in beiden Ländern, die ich für ihn fallen sah.

Der einzige Weg, den Krieg, nachdem er einmal begonnen hatte, noch an der Katastrophe vorbeizuführen, lag im alsbaldigen Friedensschluß mit Frankreich, nach jenem Muster, das Bismarck mit Österreich gab. Der Dämon der Massen zog flüchtige Triumphe und Kühlung des Hasses vor. Grundsätzlich gesprochen, war es auch besser, daß die Klärung der Konflikte bis auf die Wurzel ging. Es handelte sich schließlich darum, zu wissen, ob der Nationalstaat im 20. Jahrhundert noch Zukunft hatte oder nicht. Die Frage ist zugunsten der Imperien entschieden, wie vorauszusehen war. In dieser Hinsicht hat Deutschland den Krieg gemeinsam mit allen Nationalstaaten verloren, ganz ähnlich wie es den Ersten Weltkrieg gemeinsam mit den Monarchien verloren hat. Entsprechend hielt ich es damals für sinnvoll, daß wir uns an Rußland anlehnten, während heute ein komplementäres Verhältnis nicht nur zu Frankreich, sondern zu allen europäischen Staaten besteht.

Es ist vorauszusehen, daß bei jeder Verschärfung der Spannung zwischen Ost und West Deutschland der Hauptleidtragende bleibt. Und diese Spannung wird sich nicht vermindern, wenn die beiden ungeheuren Mächte, deren Heraufkunft Tocqueville schon so klar erkannte, sich wachsend stärken und polar die Mächte des Zwischenfeldes an sich ziehen. Diese Entwicklung würde Deutschland spalten in einen atlantischen und einen kontinentalen Teil, wie der Dreißigjährige Krieg es in eine nördliche und eine südliche Hälfte spaltete. Das ist der Grund, aus dem gerade wir zu einer friedlichen Lösung beizutragen verpflichtet sind, und dieser Beitrag kann nach Lage der Dinge nur geistig sein.

7

Strahlungen. Was die Form betrifft, so ist der Autor sowohl Anhänger der Undulations- als auch der Korpuskulartheorie, das heißt, daß sowohl Gedanken als auch Bilder wirken sollen – und zwar in Deckung: in der Sprache verschmelzen die logischen Figuren mit den Ideogrammen des style imagé.

Wir glauben, daß in der Bildung eines neuen Stils die einzige, die sublime Möglichkeit, das Leben erträglich zu machen, sich verbirgt. Ein solcher Stil wird nur im Vorwärtsschreiten zu finden sein. Die letzten wipfeldürren Zweige der Romantik sind von den Flammen aufgezehrt. Desgleichen wurde die trostlose Leere des Klassizismus offenbar. Die museale ist die Vorstufe der Feuerwelt. Der konservative Anspruch, sei es in der Kunst, der Politik, der Religion, stellt Wechsel auf nicht mehr vorhandene Guthaben aus. So Huysmans als Kirchenvater jener Scharen von Gläubigen, die heute die Panik zu den Altären treibt.

Demgegenüber verspricht der Realismus weniger, aber er hält mehr. Er verzichtet auf Spekulationen, die logisch nicht in Ordnung sind, und zahlt nicht mit Wechseln auf unsichtbare Fonds. Das ist in Ordnung – aber haben wir die Geheimnisse des Sichtbaren erschöpft? Der Positivismus und der Naturalismus lieferten doch nur grobe Ausschnitte, nur Oberflächenreliefs. Hier läßt sich ansetzen. Im Sichtbaren sind alle Hinweise auf den unsichtbaren Plan. Und daß ein solcher vorhanden ist, muß an Modellen nachzuweisen sein. Dem gelten die Versuche, die Hieroglyphensprache zu verschmelzen mit der Sprache der Vernunft. In diesem Sinne schafft die Dichtung Bildersäulen, die der Geist vor die noch unsichtbaren Tempel als Opfer stellt.

In solcher Lage richten sich die Blicke auf das Christentum. Doch sieht man dort die Geister noch nicht einmal der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts und ihren Vorstellungen gewachsen, wo es die des unseren zu formen gilt. Das könnte sich ändern, und schon gibt es Treffen, aus deren Verlauf sich schließen läßt, daß den herrschenden Mächten neuartige Gegner heranwachsen.

8

Ein Wort noch zur Abgrenzung der privaten Sphäre und jener der Autorschaft. Es wird hier immer Grenzen geben, die umstritten sind. Aus diesem Grunde sind die Manuskripte stärker als der gedruckte Text. Nicht in den Teilen liegt die Genauigkeit. Auch handelt es sich um Geschmacksfragen. So hält Joyce im »Ulysses« es für wichtig, daß er alle Umstände der Benutzung eines Abtritts registriert.

Von einer Reihe von Stellen weiß ich, da ich die Kritik von heute kenne, daß ihr Stoff zu Angriffen gegeben wird. Das gilt besonders für das Fürchterliche; und die Versuchung, durch Retuschen den Text zu mildern, lag auf der Hand. Doch sah ich davon ab, da ich dem Leser eine Idee des Ganzen vermitteln will. Die Unterhaltung ist heute nur möglich zwischen Menschen, die diese Idee des Ganzen haben; dann freilich können sie an sehr entfernten Punkten stehen.

Die Führung des Tagebuches, das heißt, die Ordnung des Anfalls von Fakten und Gedanken, zählt zum Kursus, zur Aufgabe, die sich der Autor stellt. Darin liegt eine einsame Tröstung, deren er bedarf. In einem Zustand, in dem der Techniker den Staat verwaltet und nach seinen Ideen umformt, sind nicht nur die musischen und die metaphysischen Exkurse, sondern ist auch die reine Lebensfreude von Konfiskation bedroht. Seit langem sind bereits die Zeiten überboten, in denen das Eigentum als Diebstahl galt. Zum Luxus zählt auch die eigene Art, die Heraklit den Dämon des Menschen nennt. Im Kampf um sie, im Willen, sie zu wahren, liegt eines der großen, der tragischen Themen unserer Zeit.

Auch dieses Thema will ich berühren, nach manchen Entdeckungsfahrten in die Glut- und Eisgefilde der Arbeitswelt. Der Abstand, den heute der Autor von seinem Werk gewonnen hat, bringt es mit sich, daß er in voneinander weit entfernten Gebieten und Schichten wirken kann, die oft wie Negativ und Positiv der Bilder verschieden sind. Und doch ergeben beide erst Realität. Die Welt, in deren Geburt wir stehen, wird nicht der Abdruck von einheitlich geformten Motiven und Prinzipien sein – sie wird, wie jede Schöpfung, im Widerstreit entstehen. Und zu den großen Abgrenzungen gehört vor allem die von Willensfreiheit und Determination. In unserm Haupt, in unserer Brust sind die Arenen, in denen Freiheit und Schicksal sich begegnen in den Verkleidungen der Zeit.

GÄRTEN UND STRASSEN

 

Kirchhorst, 3. April 1939

Im neuen Haus zum ersten Mal gearbeitet. »Die Schlangenkönigin« – vielleicht fällt mir ein besserer Titel ein, damit man uns nicht für Ophiten hält. Es will mir scheinen, daß ich die Niederschrift, wenn ich sie mir im Geiste vorlese, nicht ganz in ihrer Wirkung aufnehme. Ich schließe das etwa daraus, daß ein kurzer Satz mir unvollendet scheint, während ich doch weiß, daß gerade die knappe Phrase oft einen starken Eindruck erweckt. Der Satz, wie ihn der Autor schreibt, unterscheidet sich von dem Satze, wie ihn der Leser liest. Wenn ich an Aufzeichnungen oder Briefe gerate, von denen ich nicht mehr weiß, daß meine Feder sie schrieb, kommt mir die Prosa besser, kräftiger vor.

Nachmittags im Garten. Seine Erde gräbt sich leicht: ein Heidesand, der dunkle Humusflöze führt. Da ich noch an den zähen Boden des Überlinger Weinberges gewohnt bin, machte es mir Spaß, zu fühlen, wie flüssig sie von der Schaufel fiel.

Kirchhorst, 4. April 1939

Schlecht gearbeitet, was schon an der Art, in der ich geträumt und geschlafen hatte, vorauszusehen war. Obwohl nicht jeder Tag Fangtag, so ist doch ein jeder Jagdtag für mich – das heißt, ich bringe den Vormittag hin, indem ich Sätze bilde und verwerfe, wie ein Töpfer, der sein Geschirr zerschlägt. Ich nehme diesen Zustand sehr bald wahr und könnte eigentlich spazierengehen. Da ich trotzdem bleibe, möchte ich annehmen, daß auch diese Anstrengung eine Bedeutung verbirgt. Man tut wenig umsonst.

Am Nachmittag Beete gegraben, Radieschen und Kerbel gesät. Gelesen: Thornton Wilder, »Die Brücke von San Luis Rey«. Der Autor führt an einer Stelle die Kennzeichen des echten Abenteurers an – darunter die Gabe, mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Das dürfte in der Tat ein Merkmal ersten Ranges sein. Wenn wir unsere Bekannten mustern, werden wir nur wenige finden, deren Bekanntschaft uns nicht durch einen Dritten vermittelt worden ist. Menschen, mit denen wir direkt in Beziehung gerieten, begegneten wir meist schon unter ungewöhnlichen Umständen – auf Reisen, während eines Festes oder bei einem Unglücksfall. Auch im erotischen Bereich regiert die direkte Art, etwa bei der Ansprache oder bei der Aufforderung zum Tanz. Es ist ein abenteuerlicher Zug, wenn ein Mann in einem dunklen Raume, etwa im Theater, nach einer unbekannten Frau die Hand ausstreckt. Übrigens geschieht das öfter, als man gemeinhin denkt. So war Edmond ein Kenner dieser Art, über deren Taktik er mir einmal einen langen Vortrag hielt. Dabei fällt mir ein, daß ich auch mit ihm unmittelbar bekannt wurde; er sprach mich in der Untergrundbahn an. In alle menschlichen Kreise treten wir fast nur durch Einführung, wie es geselligen Wesen entspricht. Der Abenteurer, der ungesellig ist, hilft sich durch eigenes Talent. Auch die Autorschaft läßt sich als geistiges Abenteuer betrachten, womit es zusammenhängt, daß jeder Autor über eine Zahl von Bekannten verfügt, die er durch direkte Ansprache gewann.

Es scheint, daß die unmittelbare Bekanntschaft als eine höhere Art der Anknüpfung betrachtet wird. So empfinden Liebesleute den Zufall, der sie zusammenführte, als außerordentlich. Auch in Romanen wird ein Ereignis, das zwei Fremde zueinanderführt, gern als Einleitung verwandt.

Kirchhorst, 5. April 1939

»Schlangenkönigin«. Was ich heute über die Mauretanier aufzeichnete, befriedigt nicht; dieser Orden lebt in meiner Vorstellung deutlicher als in der Niederschrift. Es ist zu schildern, wie im Niedergange, wo sich viel dumpfe Materie häuft, der Rationalismus das entschiedenste Prinzip vertritt. Sodann: wenn sich um eine Doktrin von amoralischer Technizität Zirkel bilden, werden sich ihnen dank ihrer Bösartigkeit autochthone Kräfte zugesellen, um mit neuem Vorspann die alte Macht wieder zu verwirklichen, nach der die Sehnsucht ja immer auf dem Grunde ihrer Herzen lebt. Auf diese Weise leuchtet in Rußland das alte Zarenreich hindurch. So auch der Oberförster; in solchen Figuren findet der Nihilismus seinen Herrn. Übrigens erscheint im Verhältnis von Pjotr Stepanowitsch zu Stawrogin die Lage umgekehrt: der Techniker versucht, sich mit dem Autochthonen zu verbünden, im Gefühl seines Mangels an legitimer Kraft.

Obwohl man sich bei der Schilderung solcher Pläne am besten ganz auf die produktive Phantasie verläßt, kann es nichts schaden, wenn man sie durchkonstruiert. Zu vermeiden ist jedoch, daß die Erzählung rein allegorischen Charakter gewinnt. Sie muß, ganz ohne zeitliche Beziehung, aus Eigenem leben können, und es ist sogar gut, wenn dunkle Stellen bleiben, die sich der Autor selbst nicht zu erklären vermag. Gerade solche sind, wie ich erfuhr, oft Keime späterer Fruchtbarkeit. So war mir der Charakter des Oberförsters, als ich in einer stürmischen Harznacht von ihm träumte, noch dunkel; dennoch sehe ich heute, daß die Züge, die ich damals notierte, im erweiterten Rahmen sinnvoll sind.

Nachmittags im Moor. Ganz nah, aus einem schmalen Graben, flatterte ein Entenpärchen auf und schlug einen Kreis um mich. Der Erpel im Hochzeitsstaat, mit der Locke am Bürzel, die ihm etwas vom verwegenen Burschen gibt, und dem seidig metallgrün schillernden Hals. Sehr schön die Stellen, an denen diese Farbe in ein üppiges und ganz weiches Schwarz hinüberspielt; dieses Schwarz ist ein Grün in höchster Potenz. Ich stelle es mir als ein Tintenpulver vor, das in der Lösung große Mengen einer herrlich grünen Tinktur ergibt.

Dann im Garten. Erbsen, Salat, Mangold, Zwiebeln, Möhren gesät. Wie die Erbsen in matt graugrünen Reihen aus den dunklen Rillen schimmerten. Als ich bei diesem Anblick daran dachte, daß ich sie gleich mit Erde bedecken würde, leuchtete mir ein, wie seltsam, ja fast zauberisch die Arbeit an den Beeten ist.

Wenn man im Boden wühlt, teilt die Erde den Händen eine Veränderung mit; sie macht sie trockener, ausgezehrter und, wie ich meine, geistiger. Die Hand erfährt im Boden eine Reinigung. Die Finger im mürben, lockeren Grunde zu bewegen, den die Sonne und auch die Gärung wärmten – das ist ein sehr angenehmes Gefühl.

Unter der Post ein Brief von Elisabeth Brock aus Zürich, die mir schreibt, daß sie zu dem Thema »Description exacte d’un objet« von einer ihrer Schülerinnen die Schilderung eines gesottenen Hummers bekommen habe, über die ich entzückt sein würde. Ich muß freilich zugeben, daß schon der Gedanke mir gelungen erscheint; es handelt sich um ein Prunk- und Paradestück.

Kirchhorst, 7. April 1939

Bei der Arbeit fiel mir auf, daß ich im Aussparen des unbetonten E vielleicht zu peinlich bin. Es ist allerdings ein Unterschied für den Satz, ob es in ihm heißt »erfreuen« oder »erfreun«. Indessen glaube ich, daß der Leser, wie ich es auch an mir beobachte, das unbetonte E der Endungen je nach Bedarf liest oder auch unterschlägt. An jeder guten Prosa wirkt der Leser von sich aus mit. Insbesondere scheint mir dort Vorsicht geboten, wo die Aussparung dieses Vokals dem Wort einen ungewöhnlichen oder das Gedicht streifenden Charakter verleiht. Dasselbe gilt für die Umstellung von Wörtern innerhalb des Satzes aus Gründen der Gewichtsverteilung – auch hier steht dem Gedicht eine größere Freiheit als der Prosa zu. Was in der Prosa an rhythmischer Arbeit geleistet wird, darf keine Spur hinterlassen; und die Anstrengung ist um so lohnender, je weniger sie wahrgenommen wird. Das entspricht einem allgemeinen Gesetz, nach dem die ordnende Hand als letztes die sichtbaren Merkmale ihrer Arbeit verwischt.

Ferner glaube ich, daß ich den allzu häufigen Gebrauch des Wörtchens jenes vermeiden muß. »Seine Augen glänzten in jenem Schimmer, den der Gebrauch der Belladonna verleiht.« Die eigenartige Wirkung dieses Pronomens liegt darin, daß es das Einverständnis oder die Kennerschaft des Lesers in Anspruch nimmt. Das kann gerade bei einer ungewöhnlichen Feststellung oder einem raren Fakt von starker Wirkung sein. Es gilt hier aber, wie bei jeder Schmeichelei, der Grundsatz der Sparsamkeit.

Am Vormittag in der kleinen Kirche, deren Friedhof an meinen Garten grenzt. Sie ist sehr schön. Karfreitagspredigt über Christus und die beiden Schächer am Kreuz. Der sakrale Ton liegt auf der Predigt wie eine dünne, abgeblätterte Folie. Bei den Protestanten ist das noch hörbarer als im Süden, wo man ja auch »allein auf den Glauben« nicht angewiesen ist. In Norwegen hatte ich den Eindruck von Darbietungen, bei denen man sich an imaginären Seilen in die Höhe zog.

Nachmittags Besuch beim neuen Nachbarn; Kaffee und Kuchen, Rundgang durch Hof und Haus. Dann mit Perpetua und Louise die Bibliothek geordnet; leider hat der Umzug den Büchern übel mitgespielt. Über alle Jahrhunderte hinweg halten sich doch nur die guten alten Einbände von Pergament.

Kirchhorst, 8. April 1939

Weiter in der Bibliothek. Auch oben Handbücher aufgestellt. Im Garten gegraben, an einer Stelle, an der die Erde hell rotbraun fällt und wo sie im Stich wie Kupfer glänzt.

Attagenus, sonst mein erster Frühlingsbote, fand sich diesmal spät im Jahre ein und hielt in meinen Papieren Revision. Der kleine Bursche ist wie ein Reiskorn groß, trägt zierlich gekeulte Fühlerchen und zwei kreideweiße Makeln im schwarzen Rückenschild. Auch sonst sind hin und wieder weiße Spritzer in sein dunkles Röckchen eingesprengt. Er gedeiht in Fensterritzen und Dielenfurchen, und die Zimmerwärme bringt ihn, wie im Treibhaus, zeitiger hervor. Es ist doch immer ein Wiedersehen, wenn das Tierchen in den Lichtkreis der Lampe fliegt und dann ein Manuskriptblatt wie ein Ackerfeld durchquert. Auch kommt mir, wenn ich es betrachte, das Zimmer belebter und größer vor.

Kirchhorst, 9. April 1939

In den Feldern, auf deren Fläche hin und wieder ein dunkles Wäldchen steht. An den Wegen sind die Birken noch unbelaubt. Längs der Gräben blühende Kätzchen, von Bienen und gelben Fliegen bestäubt. Große Klumpen von Froschlaich, die in die Wasserkräuter wie Sagopudding eingebettet sind, mit schon stark entwickeltem schwarzem Kern. Überall auch, aus der Tiefe läutend, der gläserne Unkenruf. Der Frühling hat auch eine amphibische Seite, einen kühlen und zärtlichen Zauber, mit Liebesspielen im tauenden Eis.

Gerade bei den Fröschen, etwa wenn sie im Wasser auf den gestreckten Hinterbeinen zu stehen scheinen, berührte mich von je das Menschenähnliche, das doch bei sehr viel höher ausgeformten Zweigen der Wirbeltiere wieder eingeschmolzen wird. Das mutet wie ein erster Vorstoß der Natur zum Menschenwesen an, der sich dann immer zwingender erneut. Damit hängt es wohl auch zusammen, daß der Frosch, ganz ähnlich wie der Affe, von uns als komisch angesprochen wird. Auch bei der Begattung ergreift das Männchen das Weibchen mit den Armen nach Menschenart.

Entsprechend weist der Mensch Amphibienzüge auf. Ich empfinde das besonders, wenn er bei stark zurückgeneigtem Kopfe die Kinn- und Kehlpartie den Blicken darbietet. So bleiben immer Stellen, an denen die Natur die tierischen Gewänder für uns zu flüchtig zugeschnitten hat.

Ich entsinne mich, daß ich als Kind beim Anblick der Frösche große Lust empfand. Eines Mittags, aus der Vorschule kommend, sah ich große, grün und schwarz gescheckte Wasserfrösche hinter den Scheiben eines Aquariengeschäftes ausgestellt. Daß man so herrliche Geschöpfe kaufen konnte, erstaunte mich, und ich ging hinein, etwas verlegen, doch zugleich mit starker Gier, solch einen Burschen zu erstehen. Leider kam dann der Großvater und zog mich hinaus. Damals muß ich etwas von dem Gefühl gekostet haben, das darin lag, einen Sklaven zu besitzen – ich meine, von dem ganz alten, vorrömischen, ja voralexandrischen Genuß. »Dieser Mensch gehört mir, er ist mein Eigentum, mein vollkommener und sicherer Besitz; ich spiele so gern mit ihm.« Ich möchte meinen, daß sich darin eine der tiefsten Beziehungen verbirgt, die möglich sind. Aber auch auf der anderen Seite: »Ich bin dein Sklave« – kann man sich das nicht in einem Tone gesprochen vorstellen, den noch keiner unserer Historiker getroffen hat? Dergleichen gehört zur Kindheit unseres Geschlechts, in unser dunkel-prächtiges Märchenland, wie Herodot es noch mit eigenen Augen sah. Das gibt seinen Büchern den unvergleichlichen Rang.

Indem ich diese Eintragungen überlese, bemerke ich, daß mir oben im dritten Satz das »blühende Kätzchen« mißfällt. Ohne Zweifel zu Recht, da sich ein Pleonasmus darin verbirgt, der zur Warnung belassen sei. Löblich dagegen die Art, in der er sichtbar wurde – durch ein ästhetisches Mißbehagen a priori, das sich sodann auch logisch zu rechtfertigen vermag.

Kirchhorst, 10. April 1939

»Schlangenkönigin«. Bei der Schilderung der Marmorklippen Vorsicht, damit kein Prachtgemälde, etwa im Stil der Isola Bella im »Titan«, entsteht. Der Autor sucht den Eindruck des Schönen zu vermitteln, indem er den Leser mit Worten trunken macht. Die höchste Wirkung des Schönen liegt indessen nicht in der Verzückung; es fesselt uns durch Zauberbann. So kann es tiefere Lust in uns erwecken als den Rausch, der letzten Endes ins Leere drängt und den Gestalten nicht standzuhalten vermag. Im Zauberbann dagegen, der uns die Augen weitet, statt sie zu schließen, gewinnen wir den tiefsten Eindruck, der dem Bewußtsein möglich ist. Im Angesicht der Schönheit soll die Beobachtung sich steigern; es gibt einen Zustand, in dem die Zeit langsamer zu laufen beginnt und die Farben stärker leuchten, wie im luftleeren Raum. Die Schilderung des Schönen setzt Maß, Entfernung und scharfen Blick voraus; mit bloßem Stammeln ist nichts getan. Daher gehören Worte wie »unbeschreiblich« nicht in die Schilderung. Desgleichen ist das Schwelgen in Steigerungen ein Zeichen der Impotenz. Natürlich gibt es immer Grade, in denen die Form der Fülle oder auch der Glut nicht standzuhalten vermag und zerspringt. Dort handelt es sich um Regionen, die außerhalb des Wortes gelegen sind; es ändern sich dann auch die Mittel ab. So stoßen die reinen Melodien noch weiter vor und tragen noch leichteres Gewicht.

Ich finde, daß in dem berühmten Bild vom »Liebeszauber« das Wesen des Zauberbannes gut getroffen ist – besonders, weil es auch den Eindruck des Erschreckens vermittelt, der uns vor der Enthüllung überfällt.

Modelle zu den Marmorklippen: der Felsenhang beim Leuchtturm von Mondello, an dem ich mit dem Magister kletterte. Sodann der Gang von Korfu nach Kanoni, das Rodinotal auf Rhodos, der Blick vom Kloster Suttomonte hinüber nach Korcula, der Feldweg von der Gletschermühle nach Sipplingen am Bodensee. Die Falken- und Eulennester in den steilen Wänden des Durchstichs von Korinth. Die Akropolis; die Art, in der in Rio die Felsen aus dem Boden schießen, so daß man an Orchideen und Schlangen denkt. Der Autor ist verpflichtet, viel zu reisen, um zu erfahren, was die Erde zu bieten hat. Dann aber müssen die Bilder sich mischen und verflüssigen wie Honig, der aus vielen Blüten eingetragen ist. Nur aus den Elementen der Erinnerung fließt dem Geist die Nahrung zu.

Nachmittags bei guter Sonne im Moor und dort im Wassermoos nach kleinen Hydrophilusarten gejagt. Bei dieser Arbeit glitt eine große Wasserspinne aus den Binsen auf den dunklen Spiegel des Torfstichs vor, an dem ich kauerte – tief sammetbraun mit filzig weiß gesäumtem Leib. In diesen Frühlingstagen flimmern die Birkenreiser und die Stengel des Heidekrautes rundum im harten Licht, so daß der Eindruck des Frischgewaschenseins entsteht. Das Ungewöhnliche beruht wohl auf dem Gegensatz der noch winterlichen Vegetation zum schon fast sommerlichen Licht.

Kirchhorst, 11. April 1939

Lauch, Spinat, Mairettich gesät. Auch sah ich die Erbsen keimen – zu meiner Erleichterung, denn es ist fast eine fixe Idee von mir, daß nichts aufgehen wird. Zu meiner Entlastung muß ich sagen, daß alles, was wir heute treiben, solchem Zuwachs widerspricht, der über Nacht und ohne unser Zutun vor sich geht. Uns fehlt vor allem eine Tugend, die man die Kunst des Sich-beschenken-Lassens nennen kann. Hierin muß man kindlich bleiben, dann kommt das Glück von selbst. Ich glaube sogar beobachtet zu haben, daß das Geld – ich meine nicht das abstrakte, sondern das konkrete Geld, etwa der Erbschaften, Geschenke und Gewinne – sich ganz bestimmten Empfängern zuwendet. Das ist nicht so seltsam, wie es scheint, denn jeder Schenkende wird den bevorzugen, der auch Geschenke zu empfangen weiß. Daher teilen wir doch alle den Kindern aus.

Dieses Verhältnis spielt in die Aufteilung des Erbes ein und bildet den verborgenen Grund der Streitigkeiten, die daraus entstehn. Die Eltern möchten gern, daß ihre Kinder tüchtig werden, und dennoch gilt ihre Liebe immer denen, die am meisten Kinder sind. Daher sind sie auch leicht geneigt, den Jüngsten besser zu versorgen, und legen so den Keim zum Bruderzwist. Auf diese Weise wird der Tüchtige, wie einst Kain, gekränkt.

Kirchhorst, 12. April 1939

Traum. Ich hörte im Chronikstil erzählen oder hatte das Gefühl, daß vor mir das Titelblatt einer alten Chronik aufgeschlagen würde: »Schwedentrunk«. Die Frau trägt den schwer Geschädigten aus der Menge, die um den Vorgang versammelt ist, auf dem Rücken hinweg. Leider ergibt sich noch ein geringfügiger Wortwechsel mit einem der Trabanten, und der Trunk wird, diesmal tödlich, wiederholt. Die kalte Mechanik der Gewalt, in die der Mensch wie in ein Maschinenwerk gerät, davonkommt, wieder ergriffen wird und untergeht. Die Szene spielte auf einem Marktplatz; alle Häuser, Gewänder und auch Gesichter genau im Zeitstil, nur der Trunk wurde aus einem modernen Hydranten erteilt, wie sie mit kupfernem Mundstück in unseren Straßen stehn.

Bedeutend auch das Erwachen. Ich kam aus der Tiefe des Schlafes wie durch einen Strudel herauf und hörte, lange bevor ich auftauchte, an der Oberfläche das Heulen eines Autos, das draußen auf der großen Straße vorüberfuhr. Diesen Ton erkannte und ordnete ich bereits in der Tiefe ein, wenngleich von außerhalb, wie jemand, der in anderen Welten lebt, doch ohne dieser fremd zu sein. Im Augenblick, in dem ich oben ankam, schnappte das Bewußtsein gleich einer Feder ein, und die Kausalität war wiederhergestellt.

Kirchhorst, 13. April 1939

Fahrt nach Burgdorf, einem der alten Niedersachsennester, die wie durch lange Räucherungen ausgetrocknet sind. Beim Gärtner Fliegende Herzen, die ich sehr liebe, eingekauft. Um mir klarzumachen, daß sie fest anzugießen seien, sagte er, sie müßten »geschwemmt« werden. Die Handwerker hört man fast immer besser sprechen als die Gebildeten, die allzu leicht mit Worten wie mit Rechenpfennigen umgehen. So erhielt ich neulich von einem Unbekannten ein Gedicht, in dem die »Töne der Taucherglocke in der Tiefe« gepriesen wurden – ein gutes Beispiel für ein Bild, das aus der Leere des Begriffs geboren ist.

Am Weg eine junge Hagedisse mit rotem Haar. Es gibt von ihnen eine helle und eine dunkle Rasse – auffallend, wie in beiden der Feuergeist lebendig ist. Man könnte meinen, daß ein innerer Zug, vielleicht von horoskopischer Natur, sie auch von sich aus dem Scheiterhaufen näherte. Auch die Viehbehexung hat sich modernisiert; so las ich neulich, daß man eine Alte verurteilt hat, die Stroh, das sie mit Klauenseuchevirus bestrichen hatte, in fremde Ställe warf.

Kirchhorst, 14. April 1939

Zum ersten Male in der neuen Wohnung am Mikroskop. Als ich im Garten einen großen, von starken Löchern durchsiebten Buchenast zerhieb, blieb auf dem Klotz ein schwarzes, metallgrün angehauchtes und lang behaartes Tierchen liegen: Xestobium plumbeum. In der Sammlung fand ich nur seine Spielart mit rotbraunen Flügeldecken, die mir im Harliwald von Kräutern, die unter alten Buchen wuchsen, im Streifnetz blieb. Der Fang der Tiere, die im Holze leben, bildet eine Kunst für sich.

Kirchhorst, 16. April 1939

»Schlangenkönigin«. Ich gedenke, dem Capriccio einen neuen Titel, und zwar »Auf den Marmorklippen«, zu verleihen. Darin drückt sich die Einheit von Schönheit, Hoheit und Gefahr, wie ich sie meine, vielleicht noch besser aus.

Bei dieser Arbeit aus dem Fenster blickend, sah ich auf der Straße Geschütze auf Geschütze nach Osten eilen, fast wie im Kriege vor einer großen Schlacht. In diesen Wochen rückten die Deutschen in Böhmen, Mähren, Memel und die Italiener in Albanien ein. Alle Zeichen deuten auf Krieg in kurzer Zeit; ich tue daher gut, damit zu rechnen, daß ich die Arbeit niederlegen muß. Dies an einem Punkte, an dem ich fühle, daß es ein wenig lichter wird, und an dem der Wert der Zeit für mich sehr stark gewachsen ist. Auf alle Fälle hat dann die Feder ganz zu ruhen, bis auf das Tagebuch. Die Arbeit muß den Augen übertragen werden, denn an Schauspiel wird kein Mangel sein.

Kirchhorst, 18. April 1939

Im Garten Wege vertieft. Die Würmer, die der Spaten beim Schürfen in Stücke schneidet, die sich tänzelnd krümmen – der Schmerz rührt uns in solchen Bildern kurz, wie mit dem Ätzstift, an. Es leuchtet ein, daß man im Wurme den Schmerz symbolisiert und daß der Mensch, sofern er schutzlos leidet, mit ihm verglichen wird. Einmal ist da die Lage, ganz am Boden, in der das Niedere sich verkörpert, ohne wie bei der Schlange sich des schnellen Laufes, der Schuppen und der Waffe zu erfreuen. Sodann die nackte, unbehaarte, gänzlich ungeschützte Haut, die Blindheit und vor allem die Krümmung, durch die der ganze Körper zum Spiegel der Empfindung wird.

Immer, wenn man den Wurm sich krümmen sieht, mischt sich auch Widerwille in das Mitgefühl, ganz ähnlich wie beim Schwein, mit dem er in der Art des Schmerzes Verwandtschaft hat. Ich nehme an, daß sich auf diese Weise die sorgenlose Existenz quittiert – so lebt der Wurm in fetter Erde wie im Schlaraffenlande, und das Schwein hat sich zum feisten Fresser entwürdigen lassen, zu welcher Wendung, wenn nicht Zustimmung, so doch Eignung vorauszusetzen ist. Demgegenüber gibt es Tiere, die man sehr vornehm leiden sieht.

Bei anderen Würmern, die vom Raube leben, wie bei den Errantien und insbesondere bei den Sagitten, gibt es Arten von hoher Schönheit, wie ich sie oft am Meer bewunderte. Hier sieht man, wie die Lebensweise, und nicht die Blutsverwandtschaft, nobilitiert. Der Stamm der Würmer ist geheimnisvoll und müßte von Augen gedeutet werden, die Bilderschrift zu lesen wissen – so ruht dort vieles, was an uns geschlechtlich ist.

Zum Niederen des Schmerzes noch folgendes: Ob nicht auch unter Menschen die rohen Qualen ganz bestimmten zugemessen sind? Etwa derart, daß sich die Greueltaten leicht auf Typen richten, die zum groben und körperlichen Stoff des Leidens in besonderer Beziehung stehn? Ganz ähnlich wie es Weiber gibt, die offen zur Wollust reizen, besteht ein Habitus, der den rüden Täter zur Gewalttat provoziert. Die Art von Angst und Schmerz wird man oft bei Personen finden, die ganz vom Trachten auf ein feistes, üppiges Behagen besessen sind. Zum Beispiel sind jene sehr gefährdet, die man im Volke Blutsauger nennt, und die Freudenmädchen ziehen die Schlächter an. Immer lockt auch die nackte Furcht das Schreckliche herbei. So reizt, wer flieht, schon zur Verfolgung an; und so belauert ein Mensch, der Böses plant, sein Opfer – die letzte Schranke wird fallen, wenn er Zeichen der Angst an ihm erkennt. Daher ist es sehr wichtig, daß man bei verdächtigen Renkontres, etwa wenn man im Walde angesprochen wird, die Sicherheit bewahrt. In unserer Eigenschaft als Menschen verfügen wir über Hoheitssiegel, die schwer zu brechen sind, wenn wir sie nicht selbst beschädigen, und deren Bann auch von den Tieren empfunden wird. Man muß nur wissen, wie Marius, daß man unverletzlich ist.

Kirchhorst, 21. April 1939

Das Wäldchen hinter unserem Hause heißt die »Fillekuhle« und diente früher wohl als Ort, an dem man das gefallene Vieh verscharrte, da fillen ein verschollenes Verbum für »häuten«, »das Fell abziehen«, ist. Das Wort läßt sich vielleicht verwenden, wo in den »Marmorklippen« die Schinderhütte zu schildern ist. Übrigens webt auch hier, obwohl seit langem nichts mehr vergraben wird, ein Hauch von üblem Ort. Zum Haus, zum Bild der Menschensiedlung, gehört fast immer ein solcher Platz, zumeist am Rande der Sicht.

Beendet: die Briefe des Erasmus, ein Geschenk vom Astrologen Lindemann. Viele, besonders von den Jugendstücken, sind getränkt von ciceronischer Essenz, die mich in Briefen immer stört. Das Rhetorenfeuer will nicht wärmen, und die eitle Lust der Rede zerstört das mitteilsame Element, das stets den Kern des Briefes bilden muß. Es bleibt für den Empfänger immer unerfreulich, zu merken, daß sich der Autor an ihm in Fechterstückchen übt. Doch treten dann sehr schöne Schilderungen auf, wie die des Thomas Morus, an dessen Haushalt er eine Art von schicksalhaftem Glücke preist, durch das ein jeder, der dort lebte, gefördert worden sei. In der Begegnung mit Luther tritt der Unterschied hervor, der zwischen Geistern waltet, die innerhalb der Ordnung leben, und den außerordentlichen. Erasmus selbst hat das an einer Stelle, in einem Briefe an Cäsarius, gut gefaßt. »Ich bin bis zum Äußersten gegangen, gleichsam bis an den Rand des Meeres; werde ich mir untreu, wenn ich nicht in die Fluten steigen will?« So ist der Eintritt in die Elemente ihm versagt. Der Unterschied ist auch der von zwei Geistern, deren einer im letzten kritisch und deren anderer im letzten unbedenklich ist. Beim Anblick dieser beiden Fechter erkennt man auch die Stelle, an welcher Nietzsche bedauert, daß es nicht zur Sublimierung der Kirche aus sich heraus gekommen sei, als verfehlt. Auch das historische System geht hin und wieder, um zu bestehen, gleich dem Kosmos in Feuer auf. Ganz ähnlich wünschte ich mir zuweilen die Reihe der französischen Könige bis heute fortgesetzt; wir lebten dann in einem sehr subtilen Rokoko und hätten statt der Technik eine ausgeformte Chinoiserie. Doch der Weltgeist duldet die Filigranarbeit nur dort, wo er ein wenig zaudert – wie wir überhaupt die feinsten Dinge Augenblicken danken, in denen er vergeßlich war.

Die guten Lehren, die Erasmus an Luther richtet, sind derart, daß der Täter sie verachten muß. Wenn man jedoch in den Papieren lebt, hat man auch Fuchsgeist nötig, um in solchen Läuften zu bestehn. Das tritt in der Zeichnung von Dürer gut hervor, doch treffender noch in der Medaille von Metsys, auf der man sieht, wie dieser Fuchsgeist sich mit Stärke paart. Ganz unverkennbar sind die Züge hoher Geistesmacht. In diesem Lichte war Europa kleiner, und seine Kapitalen lagen einander näher als heute, wo man es in Stunden überfliegt.

Kirchhorst, 22. April 1939

Unter der Post ein Brief von einem Herrn Reynier aus Paris. »Donner tout Stendhal pour une seule poésie de Hölderlin. Donneriez-vous une bouteille de Chambertin pour un civet de lièvre? On a besoin de Stendhal comme on a besoin de Hölderlin. Dans l’ordre des nourritures il n’y a pas plus d’hiérarchie que dans une vue que le regard découvre d’une montagne.«

Diese Stelle des Briefes steht unter anderen Notizen über das »Abenteuerliche Herz«, von dem er, wie ich sehe, die Erste Fassung gelesen hat. Sie bezieht sich auf den wertenden Vergleich zwischen Stendhal und Hölderlin, der dort zu finden ist, und macht den Abweg deutlich, der in einem solchen Unterfangen liegt. Solange freilich der Wille in uns lebendig ist, sind wir geneigt, die Größen auf diese Weise gegeneinander auszuspielen; auch liegt in diesem Urteil ein wenig von der Stimmung, wie ein verlorener Krieg sie im Gefolge hat. Ich nahm es daher in die Zweite Fassung, die etwa vor Jahresfrist erschienen ist, auch nicht mehr auf.

Dieser Passus gehörte damals zu denen, die vor allem an dem Buch gefielen; er galt für einen guten Fechterstoß. So gibt es immer Geister, die uns in dem bestärken, was in uns am schwächsten ist, wenn wir nur in der Polemik mit ihnen einig sind; und leider sind sie viel häufiger als jene, denen ein gutes Urteil, das auf die Sache geht, gelingt.

Kirchhorst, 25. April 1939

Bei der Post mein Wehrpaß, den das Bezirkskommando Celle sendet und aus dem ich ersehe, daß der Staat mich in dem Range eines Leutnants z. V. in seinen Listen führt. Die Politik in diesen Wochen erinnert an die Zeit dicht vor dem Weltkriege. Neuartig ist jedoch die hohe Empfindsamkeit der Massen, die im wachsenden Kontrast zur fürchterlichen Steigerung der Mittel steht. Ich nehme indessen an, daß beides ein und demselben Grund entwachsen ist und daß hier viel Schein regiert. Schrecklich ist und bleibt zu allen Zeiten nur eine Größe – der Mensch, von dem die Waffen nur angesetzte Glieder und geformte Gesinnung sind.

Ferner eine Karte von Friedrich Georg, der Ende der Woche aus Leisnig kommen wird.

Am Morgen, an dem zum ersten Male seit vielen Tagen das Wetter freundlich war, sann ich im Garten bald über die Arbeit an den »Marmorklippen«, bald über die Wühlrattenplage nach. Mit den Gärten ist es bestellt wie mit dem Leben überhaupt, in dem uns für jeden Vorteil auch ein Übel zugemessen wird. Wenn der Boden schön locker ist, dann trocknet er auch leichter aus; wer in den Tropen zehnfache Ernte zieht, bekommt neun Plagen mit in Kauf. Wir sind nun einmal auf kärglichen Gewinn gestellt und müssen damit zufrieden sein.

Kirchhorst, 26. April 1939

Im Garten gegraben, damit er vor dem Bruder bestehen kann. Wieder Erbsen, die den schönen Namen Englische Säbel führen, gesät und vor den Spatzen durch Bespannung mit alten Gardinen geschützt. Noch einmal auf Hydrophilenjagd im Moore, da ich einige Arten zum Studium der Unterseite auf Cellon fixieren will. Die Stellen, an denen die Heidekrume mit dem Spaten geglättet ist. Auf ihrem fetten Torfe wie auf einer schwarzen Tenne die Glockenheide und der Sonnentau, dann blühende Gräser und junge Birkensaat. An den Rändern, mit noch geschlossenen rosa Blüten, ein hohes heideartiges Kraut, wohl die aus Kanada eingeschleppte Kalmia. Auf der belebten Fläche jagend der Feldsandläufer, bald schimmernd seidengrün, bald etwas matter, moosiger. Ein Stück, das ich, mehr zum Ergötzen, ergriff, erwies sich gleich als eine Spielart, die den Namen Connata führt – auf ihrem Rückenschild sind die beiden hellen Makeln in der Mitte zur Bindenform vereint.

»Marmorklippen«. Es fiel mir noch kein rechter Name für die Gestalt des Bruders ein, den ich zunächst Profundus nannte, welcher Dreiklang indessen zu schwer im Satze wiegt. Deshalb setze ich vorläufig Felix für ihn ein, was reichlich farblos wirkt. Vielleicht entschließe ich mich zu Otto oder Otho, was rein vokalisch sich in jede Wendung einfügen läßt.

Kirchhorst, 28. April 1939

Lebhafte Nacht. Zunächst erschien mir Kniébolo, den ich schwächlich und melancholisch und des Anschlusses bedürftig fand. Er reichte mir herrlich vergoldetes Konfekt; man hatte ihm davon, wie er sagte, Unmengen zu seinem Namenstag geschenkt. Sodann sah ich ein Bild der Lebensbahn, die wie ein Sprunggarten gebildet war. Es gab da Labyrinthe, spiegelbildliche Abteilungen und viele Schranken, die nur nach einer Richtung zu durchschreiten waren; auch Pforten, die ins Freie mündeten.

Dann leuchtete eine neue Fluoreszenz mir ein – aus Gold und Blau. Ich schüttelte in einer Schale Kristalle und Kügelchen, die bald in reinem Gold, bald leuchtend blau erglänzten, und während dieses Schwenkens stieg ein leichter Donner aus dem Gefäße auf.

In einem Kreis illustrer Handwerksleute stellte ich mich als Silbenstecher vor.

Um zwölf Uhr mittags in Perpetuas Zimmer am Radio. Perpetua, Louise und die dicke Hanne saßen auf Stühlen, während ich auf dem Sofa lag, fast wie in Mauretanien. Dann Kartoffeln gesteckt, wobei man hierzulande eine Hacke mit breiten Blättern und einen weiten Rechen zum Furchenlegen benutzt. Dieses Werkzeug wird Tog, sprich Toch, genannt, was wohl mit Ziehen zusammenhängt. Stockrosen umgepflanzt. Unterhaltung mit dem Glaser, bei dessen Anblick ich mir, übrigens zum ersten Mal im Leben, dachte: »So möchtest du später auch aussehen«, denn er verband die Alterszeichen mit einer angenehmen Art von Kindlichkeit. Der kleine Alexander, der jeden »Onkel« nennt: die Kinder wissen noch, daß alle Menschen Brüder sind.

Der starke Balken am Scheunentor wird hier der Dössel genannt.

Kirchhorst, 29. April 1939

Vorm Einschlafen dachte ich lange über die blaue Farbe nach, die ich gestern in der Schale erblickt hatte. Ich wollte ihr einen Namen geben, und erst an der Schwierigkeit, auch nur annähernd einen Vergleich zu finden, erkannte ich die Art des Einblickes. Ich hatte jenseits der Farbenwelt geweilt.

Im Traume hörte ich einem Gespräch von Bauern über die Landschaft zu. Einer sagte: »Im Sommer schall dat Moor gegrüelt weren« – das heißt gegreuelt, worunter er, wie ich sogleich begriff, das Aufreißen mit einer scharfen Pflugschar bis zum Grunde verstand.

Um vier erwachte ich und hörte bis um halb sechs die Schläge der Kirchenuhr. Indem wir so zu wachen glauben, ist es doch meist ein heller Schlummer, in dem wir liegen – wir scheren dann den Schlaf.

Aus Paris, von Hercule gesandt, die letzte Nummer des »Crapouillot«: »Les Bas-Fonds de Paris« mit Bildern und Schilderungen aus den Lupanaren und einem kurzen Wörterbuch des Argot. In diesem finde ich für »weinen«: chialer, was eigentlich besagen will: »chier des yeux«. Ich notiere das als Beispiel dafür, bis zu welchem Grade sich die Sprache mit Kot anfüllen kann. Ein Wort hat oft so viele Synonyma, wie es Stufen der Gesellschaft gibt.

Abends Friedrich Georg vom Autobus geholt.

Kirchhorst, 30. April 1939

Die Dome als Fossilien, die in unsere Städte wie in späte Sedimente eingeschlossen sind. Doch liegt es uns sehr fern, von diesen Maßen auf die Lebensmacht zu schließen, die ihnen zugeordnet war und die sie bildete. Was in den bunten Schalen lebte und was sie schuf, das liegt uns ferner als die Ammoniten der Kreidezeit; und leichter stellen wir aus einem Saurierknochen, den wir in einer Schiefergrube finden, das Bild des Tieres, das dazu gehörte, wieder her. Man kann auch sagen, daß die Menschen von heute diese Werke sehen, wie ein Tauber die Formen von Geigen und Trompeten sieht.

Nachmittags bei schwülem Wetter mit dem Bruder im Moor. Gespräche über die Unterscheidung von Nihilismus und Anarchie. Friedrich Georg sieht diese Differenz auch darin, daß der Nihilismus sich ausgedehnte Ordnungsformen zu eigen machen kann. Man könnte vielleicht ganz allgemein den Satz aufstellen, daß sichtbare Ordnungen im gleichen Maße wachsen müssen, in dem die innere Harmonie verloren geht. So wächst die Zahl der Ärzte im Verhältnis, in dem die Heilkraft sich verliert.

Spät ein Gewitter, das mit Hagel vom Moor her kam.

Kirchhorst, 1. Mai 1939

Der Hagel hat den Pflanzen recht geschadet; so hat er von unserem Mandelbäumchen die Blüte abgestreift, die wie ein rosa Hemdchen unter ihm am Boden liegt.

Den ersten Monat am neuen Ort. Besonders gefällt mir an der Wohnung der Mangel an Komfort, wie er mir in den kleinen Neubauvillen zuwider geworden ist. Das Haus ist wie ein Niedersachsenhof gebaut; an seinen Wohnraum stößt die große Scheune mit den Ställen, die ich im Lauf der Zeit mit Tieren bevölkern will.

Kirchhorst, 3. Mai 1939

Fahrt nach Burgdorf, zusammen mit Friedrich Georg. Am Wege die leuchtendgelben Blüten des Löwenzahns, Leontodon. Der Name dieser Pflanze ist gut gewählt; sie ist, wie auch der Löwe, solarischer Natur. In den Dörfern die starken Eichen, wie die letzten Bäume des Donar anzusehen. Oft fällt es mir wie Schuppen von den Augen; die Höfe liegen dann ganz unverhohlen im alten Heidenglanze da. Ich blicke ins Innerste und Unverletzliche der alten Heimat und glaube, daß wir so im Tode die Flügel des Vaterhauses weit offen sehen und die Tenne glänzen im feierlichen Licht.

In Burgdorf kehrten wir, da am Rade von Friedrich Georg die Sattelfeder gebrochen war, bei einem jungen Schmiede ein. Die kleine Werkstatt, die nach Eisen roch, war überfüllt mit Dingen, die bedeutungslos geworden waren, vor allem mit abgeschraubten Rädern, die in den Ecken verstaubten und verrosteten. Andere hingen an den Wänden wie Opfergaben im Tempel des Vulkan. Wenn man, wie ich es tat, ganz unbeteiligt einen solchen Platz betrachtet, gewinnt die Menschenarbeit oft einen wunderlichen Sinn.

Kirchhorst, 4. Mai 1939

Da mir das Arbeitszimmer zu sehr im Inneren des Hauses liegt, richtete ich mit Hilfe von Perpetua und Louise auf dem Boden eine Eremitenklause ein. Von jeher hatte ich für verstaubte Böden eine Neigung; man webt in ihnen wie im Reiche der Vergessenheit.

Es scheint mir, daß in unbewohnten Räumen ein Stoff sich häuft, ein Geisteshumus, aus dem die Bildkraft reiche Nahrung zieht. So flossen mir, als ich in Überlingen im Keller schlief, in Fülle Träume zu. Ganz ungeheuerlich war dieser Einfluß, als ich im Krieg in Douchy einen leeren Unterstand bezog, der in den Gärten lag. Ich verließ ihn nach der ersten Nacht. Hierher gehören wohl auch die Geschichten von Gästen, die in verstaubten Kammern alter Schlösser übernachten und dort spukhafte Dinge sehn. In Räumen, die wir lange Zeit bewohnten, verbraucht sich diese fremde Kraft; sie gleichen altbebautem Grund. Auch leuchtet ein, daß man im Volke der ersten Nacht in einem neuen Haus und ihren Träumen mantische Bedeutung gibt.

Kirchhorst, 6. Mai 1939

»Über den Schmerz«. Wenn ich diese Arbeit revidiere, wäre hinzuzufügen ein Abschnitt über die Bitterkeit. Die Bitterkeit des Alterns, insbesondere bei Frauen, die Bitterkeit der Enttäuschungen, über Ungerechtigkeiten und irreparable Fehlschläge, endlich die Bitterkeit des Todes, dem niemand entflieht. Die Bitterkeit stellt sich erst in der zweiten Hälfte des Lebens ein, wenn mit den Falten im Gesicht auch die Linien des Schicksals in ihrem unabwendbaren Charakter hervortreten. Auch sie zeigt eine Art verlorener Unschuld an.

Kirchhorst, 9. Mai 1939

Bei immer noch kühlem und feuchtem Wetter Kohl und Sellerie gepflanzt.

Die Feuchtigkeit als Lebenselement. Andrang der Säfte beim gesteigerten Genuß: das Wasser, das uns vor guten Bissen im Mund zusammenläuft, die Wallung des Blutes und die Sekrete beim Liebesspiel. Wir stehen im Saft. Auch Schweiß und Tränen bedeuten, daß das Leben in tieferen Regionen der Gesundheit tätig ist. Schlimm stehts um den, der nicht mehr schwitzen und nicht mehr weinen kann. Dann das Humide im Geistigen, etwa das Saftige, das Moosige und Wälderfrische im Gedicht. Vor allem das Quellende, der Überfluß an Worten und Bildern, in den die festen Partikel schwimmend eingebettet sind.

Die Feuchtigkeit bei Rubens, besonders an den Stellen, an denen das Fleisch sich rosig färbt. Unübertrefflich ist dort alles, was Lust am Leben ist. Bei den Romanen ist das feuchte Element verborgener, oft wie in Muscheln eingeklappt. Damit hängt auch zusammen der Hunger oder vielmehr der Durst nach nördlicherem Blut.

Dagegen die Qualität des Trockenen. Süße, Arom. Nietzsches Wendung zum Trockenen, zur Wüste, zu den goldschwürigen Datteln, von Wagner zu Bizet. Das intensive Leben, das durch Aufgüsse entsteht. Oasen. Zisternen. Harems. Intarsia.

Kirchhorst, 10. Mai 1939

Rote Rüben, Radieschen, Buschbohnen in die Beete, Krauskohl und Steckrüben in Schulen ausgesät. Vom Krauskohl außer der gewöhnlichen auch eine dunkelrote, fast ins Schwarze schillernde Art –