Sämtliche Werke - Band 1 - Ernst Jünger - E-Book

Sämtliche Werke - Band 1 E-Book

Ernst Jünger

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Beschreibung

Der erste von insgesamt 22 Bänden der »Sämtlichen Werke« umfasst Schriften Ernst Jüngers aus den Jahren 1920 bis 1934, die allesamt den Ersten Weltkrieg zum Thema haben. Der Eröffnungsband der »Sämtlichen Werke« enthält die Erstfassung seines Debüts »In Stahlgewittern« (1920), »Das Wäldchen 125« (1925), welches Jünger als »Chronik aus den Grabenkämpfen 1918« bezeichnet, der »Ausschnitt aus einer großen Schlacht« mit dem heroisierenden Titel »Feuer und Blut« (ebenfalls aus dem Jahre 1925) und zuletzt eine kurze Skizze, in welcher er sich Jünger zwanzig Jahre später an den »Kriegsausbruch 1914« (1934) erinnert. Trotz einer literarischen Stilisierung bewahren die Schriften dabei die unmittelbare Einfachheit, die auch Jüngers Kriegstagebuch zu eigen ist, während der Autor etwa in seinem Werk »Der Kampf als inneres Erlebnis« (Sämtliche Werke, Band 7) die Fronterlebnisse stärker reflektierend wie systematisch zu erfassen sucht.

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Seitenzahl: 796

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ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE

Tagebücher I-VIII

Band 1 Der Erste Weltkrieg

Band 2 Strahlungen I

Band 3 Strahlungen II

Band 4 Strahlungen III

Band 5 Strahlungen IV

Band 6 Strahlungen V

Band 7 Strahlungen VI, VII

Band 8 Reisetagebücher

Essays I-IX

Band 9 Betrachtungen zur Zeit

Band 10 Der Arbeiter

Band 11 Das Abenteuerliche Herz

Band 12 Subtile Jagden

Band 13 Annäherungen

Band 14 Fassungen I

Band 15 Fassungen II

Band 16 Fassungen III

Band 17 Ad hoc

Erzählende Schriften I-IV

Band 18 Erzählungen

Band 19 Heliopolis

Band 20 Eumeswil

Band 21 Die Zwille

Supplement

Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß

Ernst Jünger

 

Sämtliche Werke 1

Tagebücher I

Der Erste Weltkrieg

Klett-Cotta

Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht der gebundenen Ausgabe.

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Reihengestaltung Ingo Offermanns, Hamburg, unter

Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin

Gesetzt von pagina, Tübingen

Datenkonvertierung: Lumina Datamatics GmbH

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96301-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10901-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

DER ERSTE WELTKRIEG

INHALT

In Stahlgewittern

Das Wäldchen 125

Feuer und Blut

Kriegsausbruch 1914

IN STAHLGEWITTERN

 

DEN GEFALLENEN

ERSTAUSGABE 1920

REVIDIERTE FASSUNGEN 1922, 1924, 1934, 1935 UND 1961

HIER FASSUNG LETZTER HAND VON 1978

 

IN DEN KREIDEGRÄBEN DER CHAMPAGNE

Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir den langsamen Takten des Walzwerks der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner – der eine früher, der andere später?

Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen. Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen, in einer trunkenen Stimmung von Rosen und Blut. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. »Kein schönrer Tod ist auf der Welt …« Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!

»In Gruppenkolonne antreten!« Die erhitzte Phantasie beruhigte sich beim Marsch durch den schweren Lehmboden der Champagne. Tornister, Patronen und Gewehr drückten wie Blei. »Kurztreten! Aufbleiben dahinten!«

Endlich erreichten wir das Dorf Orainville, den Ruheort des Füsilierregiments 73, eins der ärmlichen Nester jener Gegend, gebildet durch fünfzig Häuschen aus Ziegel- oder Kreidestein um einen parkumschlossenen Herrensitz.

Das Treiben auf der Dorfstraße bot den an die Ordnung der Städte gewöhnten Augen einen fremden Anblick dar. Man sah nur wenige, scheue und zerlumpte Zivilisten; überall Soldaten in abgetragenen, zerschlissenen Röcken mit wettergegerbten, meist von großen Bärten umrahmten Gesichtern, die langsamen Schrittes dahinschlenderten oder in kleinen Gruppen vor den Türen der Häuser standen und uns Neulinge mit Scherzrufen empfingen. In einem Torweg glühte eine nach Erbsensuppe duftende Feldküche, von kochgeschirrklappernden Essenholern umringt. Es schien, als triebe das Leben hier ein wenig dumpfer und langsamer. Der Eindruck wurde durch den beginnenden Verfall des Dorfes noch vertieft.

Nachdem wir die erste Nacht in einer gewaltigen Scheune verbracht hatten, wurden wir im Hofe des Schlosses vom Regimentsadjutanten, dem Oberleutnant von Brixen, eingeteilt. Ich kam zur neunten Kompanie.

Unser erster Kriegstag sollte nicht vorübergehen, ohne uns einen entscheidenden Eindruck zu hinterlassen. Wir saßen in der uns zur Unterkunft angewiesenen Schule und frühstückten. Plötzlich dröhnte eine Reihe dumpfer Erschütterungen in der Nähe, während aus allen Häusern Soldaten dem Dorfeingang zustürzten. Wir folgten ihrem Beispiel, ohne recht zu wissen, warum. Wieder ertönte ein eigenartiges, nie gehörtes Flattern und Rauschen über uns und ertrank in polterndem Krachen. Ich wunderte mich, daß die Leute um mich her sich mitten im Lauf wie unter einer furchtbaren Drohung zusammenduckten. Das Ganze erschien mir etwas lächerlich; etwa so, als ob man Menschen Dinge treiben sähe, die man nicht recht versteht.

Gleich darauf erschienen dunkle Gruppen auf der menschenleeren Dorfstraße, in Zeltbahnen oder auf den verschränkten Händen schwarze Bündel schleppend. Mit einem merkwürdig beklommenen Gefühl der Unwirklichkeit starrte ich auf eine blutüberströmte Gestalt mit lose am Körper herabhängendem und seltsam abgeknicktem Bein, die unaufhörlich ein heiseres »Zu Hilfe!« hervorstieß, als ob ihr der jähe Tod noch an der Kehle säße. Sie wurde in ein Haus getragen, von dessen Eingang die Rote-Kreuz-Flagge herabwehte.

Was war das nur? Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dieses geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische Erscheinung im hellen Mittagslicht.

Eine Granate war oben am Portal des Schlosses krepiert und hatte eine Wolke von Steinen und Sprengstücken in den Eingang geschleudert, gerade als die durch die ersten Schüsse aufgeschreckten Insassen aus dem Torweg strömten. Sie erschlug dreizehn Opfer, darunter den Musikmeister Gebhard, eine mir von den hannoverschen Promenadekonzerten her wohlbekannte Gestalt. Ein angebundenes Pferd witterte die Gefahr eher als die Menschen, riß sich wenige Sekunden vorher los und galoppierte, ohne verletzt zu werden, in den Schloßhof hinein.

Obwohl die Beschießung sich in jedem Augenblick wiederholen konnte, zog mich das Gefühl einer zwingenden Neugier an den Unglücksort. Neben der Stelle, die die Granate getroffen hatte, baumelte ein Schildchen, auf das die Hand eines Spaßvogels die Worte »Zur Granatecke« geschrieben hatte. Das Schloß war also wohl schon als gefährlicher Ort bekannt. Die Straße war von großen Blutlachen gerötet; durchlöcherte Helme und Koppel lagen umher. Die schwere Eisentür des Portals war zerfetzt und von Sprengstücken durchsiebt, der Prellstein mit Blut bespritzt. Ich fühlte meine Augen wie durch einen Magneten an diesen Anblick geheftet; gleichzeitig ging eine tiefe Veränderung in mir vor.

Im Gespräch mit meinen Kameraden merkte ich, daß dieser Zwischenfall manchem die Kriegsbegeisterung bereits sehr gedämpft hatte. Daß er auch auf mich stark gewirkt hatte, bewiesen zahlreiche Gehörtäuschungen, die mir das Rollen jedes vorüberfahrenden Wagens in das fatale Flattern der Unglücksgranate verwandelten.

Das sollte uns übrigens durch den ganzen Krieg begleiten, dieses Zusammenfahren bei jedem plötzlichen und unerwarteten Geräusch. Ob ein Zug vorüberrasselte, ein Buch zu Boden fiel, ein nächtlicher Schrei erscholl – immer stockte der Herzschlag für einen Augenblick unter dem Gefühl einer großen und unbekannten Gefahr. Es war ein Zeichen dafür, daß man vier Jahre lang im Schlagschatten des Todes stand. So tief wirkte das Erlebnis in dem dunklen Land, das hinter dem Bewußtsein liegt, daß bei jeder Störung des Gewöhnlichen der Tod als mahnender Pförtner in die Tore sprang wie bei jenen Uhren, über deren Zifferblatt er zu jeder Stunde mit Sandglas und Hippe erscheint.

Am Abend desselben Tages kam der langersehnte Augenblick, in dem wir, schwer bepackt, zur Kampfstellung aufbrachen. Durch die phantastisch aus dem Halbdunkel ragenden Ruinen des Dorfes Betricourt führte unser Weg nach einem einsamen, in Tannenwaldungen versteckten Forsthause, der »Fasanerie«, wo die Regimentsreserve lag, der bis zu dieser Nacht auch die neunte Kompanie zugeteilt war. Ihr Führer war der Leutnant Brahms.

Wir wurden in Empfang genommen, auf die Gruppen verteilt und befanden uns bald im Kreise bärtiger, lehmbekrusteter Gesellen, die uns mit einem gewissen ironischen Wohlwollen begrüßten. Wir wurden gefragt, wie es in Hannover aussähe und ob der Krieg denn noch nicht bald zu Ende gehen sollte. Dann drehte sich das Gespräch, dem wir gierig lauschten, in eintöniger Kürze um Schanzen, Feldküche, Grabenstücke, Granatbeschuß und andere Angelegenheiten des Stellungskrieges.

Nach einiger Zeit erscholl vor der Tür unserer hüttenartigen Unterkunft der Ruf: »Heraustreten!« Wir traten bei unseren Gruppen an und stießen auf das Kommando: »Laden und Sichern!« mit geheimer Wollust einen Rahmen scharfer Patronen ins Magazin.

Dann ging es schweigend, Mann hinter Mann, querbeet durch die nächtliche, mit dunklen Waldstücken besäte Landschaft nach vorn. Ab und zu verhallte ein einsamer Schuß, oder eine Rakete strahlte zischend auf, um nach kurzer, geisterhafter Beleuchtung eine noch tiefere Dunkelheit zu hinterlassen. Eintöniges Klappern von Gewehr und Schanzzeug, durch den Warnruf: »Achtung, Draht!« unterbrochen.

Dann plötzlich ein klirrender Sturz und ein Fluch: »Verdammt, reiß doch das Maul auf, wenn ein Trichter kommt!« Ein Korporal mischt sich ein: »Ruhe, zum Donnerwetter, Sie glauben wohl, der Franzmann hat Dreck in den Ohren?« Es geht schneller voran. Die Ungewißheit der Nacht, das Flimmern der Leuchtkugeln und das langsame Flackern des Gewehrfeuers rufen eine Erregung hervor, die seltsam wach erhält. Zuweilen singt kühl und dünn ein blindlings abgefeuertes Geschoß vorbei, um sich im Fernen zu verlieren. Wie oft bin ich nach diesem ersten Male in halb melancholischer, halb erregter Stimmung durch ausgestorbene Landschaften zur vorderen Linie geschritten!

Endlich verschwanden wir in einem der Laufgräben, die sich wie weiße Schlangen durch die Nacht zur Stellung wanden. Dort fand ich mich einsam und fröstelnd zwischen zwei Schulterwehren wieder, angestrengt in eine vorm Graben liegende Tannenreihe starrend, in der meine Phantasie mir allerhand Schattengestalten vorgaukelte, während ab und zu eine verirrte Kugel durchs Geäst klatschte und sich trillernd überschlug. Die einzige Abwechslung in dieser schier endlosen Zeit bestand darin, daß ich von einem älteren Kameraden abgeholt wurde und mit ihm durch einen langen, schmalen Gang zu einem vorgeschobenen Postenloch trottete, in dem wir wiederum damit beschäftigt waren, das Vorgelände zu betrachten. Zwei Stunden durfte ich in einem kahlen Kreideloch versuchen, den Schlaf der Erschöpfung zu finden. Als der Morgen graute, war ich bleich und lehmbeschmiert wie die anderen; es war mir, als hätte ich dieses Maulwurfsleben schon monatelang geführt.

Die Stellung des Regiments wand sich durch den Kreideboden der Champagne gegenüber dem Dorfe Le Godat. Sie lehnte sich rechts an ein zerhacktes Waldstück, den Granatwald, lief dann im Zickzack durch riesige Zuckerrübenfelder, aus denen die roten Hosen gefallener Stürmer leuchteten, und endete in einem Bachgrund, über den die Verbindung mit dem Regiment 74 durch nächtliche Streifen aufrechterhalten wurde. Der Bach rauschte über das Wehr einer zerstörten, von finsteren Bäumen umringten Mühle. Seine Wasser bespülten seit Monaten Tote eines französischen Kolonialregiments mit Gesichtern wie aus schwarzem Pergament. Ein unheimlicher Aufenthalt, wenn nachts der Mond durch zerrissene Wolken wechselnde Schatten warf und seltsame Laute in das Murmeln des Wassers und das Rascheln des Schilfes sich zu mischen schienen.

Der Dienst war anstrengend. Das Leben begann mit dem Einbruch der Dämmerung, während der die ganze Besatzung im Graben stehen mußte. Von zehn Uhr abends bis sechs Uhr morgens durften dann je zwei Mann von jeder Gruppe schlafen, so daß man einen Nachtschlaf von zwei Stunden genoß, der jedoch durch früheres Wecken, Strohholen und andere Beschäftigungen meist auf wenige Minuten zusammenschmolz.

Entweder hatte man Wache im Graben, oder man zog in eins der zahlreichen Postenlöcher, die mit der Stellung durch lange, ausgehobene Verbindungswege zusammenhingen; eine Art der Sicherung, die wegen der gefährdeten Lage der Posten im Laufe des Stellungskrieges bald aufgegeben wurde.

Diese endlosen, ermüdenden Nachtwachen waren bei klarem Wetter und selbst bei Frost noch erträglich; sie wurden jedoch qualvoll, wenn es, wie meist im Januar, regnete. Wenn die Feuchtigkeit erst die über den Kopf gezogene Zeltbahn, dann Mantel und Uniform durchdrang und stundenlang am Körper herunterrieselte, geriet man in eine Stimmung, die selbst durch das Rauschen der heranwatenden Ablösung nicht erhellt werden konnte. Die Morgendämmerung beleuchtete erschöpfte, kreidebeschmierte Gestalten, die sich zähneklappernd mit bleichen Gesichtern auf das faule Stroh der tropfenden Unterstände warfen.

Diese Unterstände! Es waren nach dem Graben zu offene, in die Kreide gehauene Löcher, mit einer Lage von Brettern und einigen Schaufeln Erde bedeckt. Hatte es geregnet, so tropften sie noch tagelang nachher; ein gewisser Galgenhumor hatte sie deshalb mit entsprechenden Schildern wie »Tropfsteinhöhle«, »Zum Männerbad« und ähnlichen gekennzeichnet. Wollten mehrere darin der Ruhe pflegen, so waren sie gezwungen, ihre Beine als unfehlbare Fußangeln für jeden Vorübergehenden in den Graben zu legen. Unter diesen Umständen konnte auch tagsüber von Schlaf wenig die Rede sein. Außerdem mußten wir noch zwei Stunden Tagesposten stehen, den Graben reinigen, Essen, Kaffee, Wasser holen und anderes mehr.

Man wird begreifen, daß dieses ungewohnte Leben uns sehr hart ankam, besonders da den meisten von uns wirkliche Arbeit bislang nur dem Namen nach bekannt gewesen war. Dazu kam, daß wir hier draußen keineswegs mit der Freude empfangen wurden, die wir erwartet hatten. Die alten Leute nahmen vielmehr jede Gelegenheit wahr, uns ordentlich »hochzunehmen«, und jeder lästige oder unerwartete Auftrag wurde selbstverständlich den »Kriegsmutwilligen« zugeteilt. Dieser noch aus den Kasernen in den Krieg mitgenommene Brauch, der nicht dazu beitrug, unsere Laune zu verbessern, verlor sich übrigens nach der ersten gemeinsam bestandenen Schlacht, nach der wir uns nun selbst als »alte Männer« betrachteten.

Die Zeit, in der die Kompanie in Reserve lag, war nicht viel gemütlicher. Wir hausten dann bei der Fasanerie oder im Hillerwäldchen in tannenzweiggedeckten Erdhütten, deren mistbepackter Boden wenigstens eine angenehme Gärungswärme ausstrahlte. Manchmal erwachte man in einer zolltiefen Wasserpfütze. Obwohl ich den »Reißmichtüchtig« bislang nur dem Namen nach gekannt hatte, spürte ich schon nach wenigen Tagen dieser dauernden Durchnässung Schmerzen in allen Gelenken. Im Traume hatte ich ein Gefühl, als ob eiserne Kugeln in den Gliedern auf- und abwanderten. Die Nächte dienten auch hier nicht dem Schlaf, sondern wurden dazu benutzt, die zahlreichen Annäherungsgräben zu vertiefen. In der völligen Finsternis mußte man sich, wenn der Franzmann nicht gerade leuchtete, mit nachtwandlerischer Sicherheit an die Fersen des Vordermannes heften, wenn man nicht den Anschluß verlieren und stundenlang im Grabengewirr umherirren wollte. Der Boden war übrigens leicht zu bearbeiten; nur eine dünne Lehm- und Humusdecke verbarg die mächtige Kreideschicht, deren weiches Gefüge die Beilpicke mühelos durchschnitt. Zuweilen sprühten grüne Funken auf, wenn der Stahl auf einen der im Gestein verstreuten faustgroßen Eisenkieskristalle traf. Sie bestanden aus vielen zu einer Kugel zusammengeballten Würfeln und wiesen, aufgeschlagen, einen strahligen Goldglanz auf.

Ein Lichtblick in diesem öden Einerlei war die allabendliche Ankunft der Feldküche an der Ecke des Hillerwäldchens, wo sich bei der Öffnung des Kessels ein köstlicher Duft nach Erbsen mit Speck oder anderen herrlichen Sachen verbreitete. Aber auch hier gab es einen dunklen Punkt: das Dörrgemüse, von enttäuschten Feinschmeckern »Drahtverhau« oder »Flurschaden« geschmäht.

Unter dem 6. Januar finde ich sogar in meinem Tagebuch die erboste Bemerkung: »Abends kam die Feldküche angewackelt und brachte einen Saufraß, wahrscheinlich aus erfrorenen Schweinerüben zusammengekocht.« Dagegen steht unter dem 14. der begeisterte Ausruf: »Köstliche Erbsensuppe, köstliche vier Portionen, Qualen der Sättigung. Wir machten Preisessen und stritten uns darüber, in welcher Lage man am meisten verdrücken könne. Ich war für die stehende.«

Reichlich verteilt wurde ein blaßroter Schnaps, der in Kochgeschirrdeckeln empfangen wurde und stark nach Spiritus schmeckte, doch bei der kalten und feuchten Witterung nicht zu verachten war. Ebenso kam Tabak nur in den kräftigeren Sorten, aber in Mengen zur Ausgabe. Das Bild des Soldaten, wie es aus diesen Tagen im Gedächtnis haftet, ist das des Postens, der mit dem spitzen, graubezogenen Helm, die Fäuste in die Taschen des langen Mantels vergraben, hinter der Schießscharte steht und den Rauch seiner Pfeife über den Gewehrkolben bläst.

Am angenehmsten waren die Ruhetage in Orainville, die mit Ausschlafen, Reinigen der Sachen und Exerzieren verbracht wurden. Die Kompanie hauste in einer gewaltigen Scheune, die nur zwei hühnerleiterartige Treppen als Ein- und Ausgang hatte. Obwohl das Gebäude noch mit Stroh gefüllt war, standen Öfen darin. Eines Nachts rollte ich gegen den einen und erwachte erst infolge der Bemühungen einiger Kameraden, die mich kräftigen Löschversuchen unterzogen. Mit Schrecken gewahrte ich, daß meine Uniform am Rücken arg verkohlt war, so daß ich längere Zeit in einem frackartigen Anzug umherlaufen mußte.

Nach kurzem Aufenthalt beim Regiment hatten wir gründlich die Illusionen verloren, mit denen wir ausgezogen waren. Statt der erhofften Gefahren hatten wir Schmutz, Arbeit und schlaflose Nächte vorgefunden, deren Bezwingung ein uns wenig liegendes Heldentum erforderte. Schlimmer noch war die Langeweile, die für den Soldaten entnervender als die Nähe des Todes ist.

Wir hofften auf einen Angriff; allein wir hatten für unser Erscheinen jene ungünstigste Zeit gewählt, in der jede Bewegung zum Erstarren gekommen war. Auch die kleinen taktischen Unternehmungen waren in demselben Maße eingestellt, in dem der Ausbau der Gräben sich gefestigt und das Feuer des Verteidigers an vernichtender Kraft gewonnen hatte. Einige Wochen vor unserem Eintreffen hatte noch eine einzelne Kompanie nach schwacher Artillerievorbereitung einen dieser Teilangriffe über einen Streifen von wenigen hundert Metern hinweg gewagt. Die Franzosen hatten die Angreifer, von denen nur einzelne bis an ihre Drähte kamen, wie auf einem Schießplatz zur Strecke gebracht; die wenigen Überlebenden erwarteten, in Löchern verborgen, die Nacht, um unter dem Schutze der Dunkelheit in die Ausgangsstellung zurückzukriechen.

Die dauernde Überanstrengung der Mannschaft beruhte auch darauf, daß der Führung der Stellungskrieg, in dem es galt, mit den Kräften in anderer Weise hauszuhalten, noch eine neuartige und unerwartete Erscheinung war. Die ungeheure Postenzahl und die ununterbrochene Schanzarbeit waren zum größten Teil unnötig und sogar schädlich. Nicht auf gewaltige Verschanzungen kommt es an, sondern auf den Mut und die Frische der Männer, die dahinterstehen. Die immer tiefere Führung der Gräben ersparte vielleicht manchen Kopfschuß, bildete aber zugleich jenes Haften an den Verteidigungsanlagen und einen Anspruch auf Sicherheit aus, auf den man später nur ungern verzichtete. Auch wurden die Anstrengungen, die man auf die Erhaltung der Werke zu richten hatte, immer umfassender. Der unangenehmste Fall, der eintreten konnte, bestand im Einsetzen von Tauwetter, das die durch den Frost aufgesprengten Kreidewände der Gräben zu breiartigen Massen zusammensinken ließ.

Wohl hörten wir im Graben Geschosse pfeifen, bekamen auch ab und zu einige Granaten von den Reimser Forts, aber diese kleinen kriegerischen Ereignisse blieben weit hinter unseren Erwartungen zurück. Trotzdem wurden wir manchmal an den blutigen Ernst gemahnt, der hinter diesem scheinbar absichtslosen Geschehen lauerte. So schlug am 8. Januar eine Granate in die Fasanerie und tötete unseren Bataillonsadjutanten, den Leutnant Schmidt. Es hieß übrigens, daß der französische Artilleriekommandeur, der die Beschießung leitete, der Besitzer dieses Jagdhauses sei.

Die Artillerie stand noch dicht hinter den Stellungen; sogar in die vordere Linie war ein Feldgeschütz eingebaut und notdürftig unter Zeltbahnen versteckt. Während einer Unterhaltung, die ich mit den »Pulverköpfen« führte, hörte ich zu meiner Verwunderung, daß das Pfeifen der Gewehrgeschosse sie weit stärker als der Einschlag von Granaten beunruhigte. So ist es überall; die Gefahren des eigenen Berufes kommen uns sinnvoller und weniger schrecklich vor.

Zu Beginn des 27. Januar, um Mitternacht, brachten wir dem Kaiser zu Ehren drei Hurras aus und stimmten auf der langen Front ein »Heil dir im Siegerkranz« an. Die Franzosen antworteten mit Gewehrfeuer.

In diesen Tagen hatte ich ein unangenehmes Erlebnis, das meine militärische Laufbahn fast zu einem vorzeitigen und unrühmlichen Abschluß gebracht hätte. Die Kompanie lag am linken Flügel, und ich mußte gegen Morgen nach durchwachter Nacht mit einem Kameraden in den Bachgrund auf Doppelposten ziehen. Ich hatte der Kälte wegen verbotenerweise meine Decke um den Kopf geschlagen und lehnte an einem Baum, nachdem ich mein Gewehr neben mich in einen Busch gestellt hatte. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, griff nach der Waffe – sie war verschwunden! Der Offizier vom Dienst hatte sich an mich herangeschlichen und sie unbemerkt an sich genommen. Um mich zu bestrafen, schickte er mich, nur mit einer Beilpicke bewaffnet, in der Richtung auf die französischen Postierungen ungefähr hundert Meter weit vor – eine Indianeridee, die mich beinahe ums Leben gebracht hätte. Während meiner merkwürdigen Strafwache schlich nämlich eine Streife von drei Kriegsfreiwilligen durch den breiten Schilfgürtel am Bachrande vor und rauschte dabei so unbekümmert in den hohen Halmen, daß sie sogleich von den Franzosen bemerkt und beschossen wurde. Einer von ihnen, namens Lang, wurde getroffen und nie wieder gesehen. Da ich ganz in der Nähe stand, bekam ich auch mein Teil von den damals so beliebten Gruppensalven ab, so daß mir die Zweige des Weidenbaumes, an dem ich stand, um die Ohren pfiffen. Ich biß die Zähne zusammen und blieb aus Trotz stehen. Bei Beginn der Dämmerung wurde ich zurückgeholt.

Wir waren alle herzlich froh, als wir hörten, daß wir diese Stellung endgültig verlassen sollten, und feierten unseren Abschied von Orainville durch einen kräftigen Bierabend in der großen Scheune. Am 4. Februar 1915 marschierten wir, von einem sächsischen Regiment abgelöst, nach Bazancourt zurück.

VON BAZANCOURT BIS HATTONCHÂTEL

In Bazancourt, einem öden Champagnestädtchen, wurde die Kompanie in der Schule einquartiert, die infolge des erstaunlichen Ordnungssinnes unserer Leute in kurzer Zeit das Aussehen einer Friedenskaserne gewann. Da gab es einen Unteroffizier vom Dienst, der morgens pünktlich weckte, Stubendienst und allabendliche Appelle durch die Korporalschaftsführer. Jeden Morgen rückten die Kompanien aus, um auf den umliegenden Ödfeldern einige Stunden stramm zu exerzieren. Diesem Dienstbetrieb wurde ich nach wenigen Tagen entzogen; mein Regiment entsandte mich zu einem Ausbildungslehrgang nach Recouvrence.

Recouvrence war ein entlegenes, in lieblichen Kreidehügeln verstecktes Dörfchen, in dem sich aus allen Regimentern unserer Division eine Anzahl von jungen Leuten versammelte, um unter Führung ausgesuchter Offiziere und Unteroffiziere in den militärischen Dingen gründlich geschult zu werden. Wir 73er hatten in dieser Beziehung, und nicht nur in ihr, dem Leutnant Hoppe viel zu verdanken.

Das Leben in diesem weltabgeschiedenen Neste setzte sich aus einer merkwürdigen Mischung von Kasernendrill und akademischer Freiheit zusammen, die sich daraus erklärte, daß der überwiegende Teil der Mannschaft noch vor wenigen Monaten die Hörsäle und Institute der deutschen Universitäten bevölkert hatte. Tagsüber wurden die Zöglinge nach allen Regeln der Kunst zu Soldaten geschliffen, abends versammelten sie sich mit ihren Lehrern um riesige, aus der Marketenderei Montcornet herbeigeschaffte Fässer, um in ebenso gründlicher Weise zu zechen. Wenn in den Morgenstunden die verschiedenen Abteilungen aus ihren Kneiplokalen strömten, hatten die kleinen Kreidesteinhäuser den ungewohnten Anblick eines studentischen Walpurgistreibens. Unser Kursusleiter, ein Hauptmann, hatte übrigens die erzieherische Gewohnheit, den Dienst an den darauffolgenden Vormittagen mit doppeltem Eifer zu handhaben.

Einmal blieben wir sogar gleich achtundvierzig Stunden im Gang, und zwar aus folgendem Grunde. Wir hatten die respektvolle Gewohnheit, unserem Hauptmann nach Beendigung der Kneipe ein sicheres Geleit zu seinem Quartier zu stellen. Eines Abends nun wurde ein gottlos versoffener Geselle, der mich an den Magister Laukhard erinnerte, mit dieser wichtigen Aufgabe betraut. Er kam bald wieder und meldete freudestrahlend, daß er den »Alten« statt im Bett im Kuhstall abgeladen habe.

Die Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Als wir gerade in den Quartieren angekommen waren und uns hinlegen wollten, wurde vor der Ortswache Alarm getrommelt. Fluchend schnallten wir um und rannten zum Alarmplatze. Dort stand schon der Alte in denkbar schlechter Laune und entfaltete eine ungemeine Tätigkeit. Er begrüßte uns mit dem Zuruf: »Feueralarm, die Wache brennt!«

Vor den Augen der erstaunten Ortsbewohner wurde die Feuerspritze aus dem Spritzenhause gerollt, der Schlauch angeschraubt und die Wache mit kunstvollen Strahlenwürfen überschwemmt. Auf einer Steintreppe stand der Alte mit ständig wachsendem Grimm, leitete die Übung und spornte durch Zurufe von oben zu ununterbrochener Tätigkeit an. Zuweilen verdonnerte er irgendeinen Soldaten oder Zivilisten, der seinen Zorn besonders erregte, und gab Befehl, ihn auf der Stelle abzuführen. Die Unglücklichen wurden schleunigst hinter das Haus geschleppt und so seinen Blicken entzogen. Als der Morgen graute, standen wir noch immer mit wankenden Knien hinter den Pumpenarmen. Endlich durften wir wegtreten, um uns zum Exerzieren fertigzumachen.

Als wir den Exerzierplatz erreichten, war der Alte bereits zur Stelle, rasiert, munter und frisch, um sich mit ganz besonderer Inbrunst unserer Ausbildung zu widmen.

Unser Verkehr untereinander war sehr kameradschaftlich. Hier knüpfte ich eine enge Freundschaft, die sich auf vielen Schlachtfeldern befestigen sollte, mit so manchem hervorragenden jungen Menschen an, so mit Clement, der bei Monchy, mit dem Maler Tebbe, der bei Cambrai, mit den Brüdern Steinforth, die an der Somme fallen sollten. Wir wohnten zu dritt oder viert zusammen und führten gemeinsame Wirtschaft. Besonders ist mir noch unser regelmäßiges Abendessen von Rührei und Bratkartoffeln in guter Erinnerung. Sonntags leisteten wir uns landesübliche Kaninchen oder einen Hahn. Da ich den Einkauf für den Abendtisch besorgte, legte mir unsere Wirtin einmal eine Anzahl von Bons vor, die sie von requirierenden Soldaten erhalten hatte; eine Blütenlese des Volkshumors, meist des Inhalts, daß der Füsilier N. N. der Tochter des Hauses Liebenswürdigkeiten erwiesen und zur Stärkung zwölf Eier requiriert habe.

Die Einwohner wunderten sich sehr, daß wir als einfache Soldaten alle mehr oder minder geläufig französisch sprachen. Manchmal ergaben sich daraus ganz witzige Zwischenfälle. So saß ich eines Morgens mit Clement beim Dorfbarbier, als einer von den Wartenden dem Barbier, der Clement gerade unter dem Messer hatte, im dumpfen Dialekt der Champagnebauern zurief: »Eh, coupe la gorge avec!« und sich dabei mit der gestreckten Handkante über den Hals strich.

Zu seinem Entsetzen antwortete Clement gleichmütig: »Quant à moi, j’aimerais mieux la garder«, und bewies so jene Ruhe, die dem Krieger wohl ansteht.

Mitte Februar wurden wir 73er durch die Nachricht der großen Verluste unseres Regiments bei Perthes überrascht und waren betrübt darüber, daß wir diese Tage fern von unseren Kameraden verbracht hatten. Die erbitterte Verteidigung des Regimentsabschnitts im »Hexenkessel« trug uns den Ehrennamen der »Löwen von Perthes« ein, der uns an alle Abschnitte der Westfront begleitete. Außerdem waren wir bekannt als »Les Gibraltars«, wegen der blauen Gibraltarbinde, die wir zur Erinnerung an unser Stammregiment, das Hannoversche Garderegiment, trugen, das diese Festung von 1779 bis 1783 gegen die Franzosen und Spanier verteidigte.

Die Unglücksbotschaft erreichte uns mitten in der Nacht, als wir unter dem Vorsitz des Leutnants Hoppe die übliche Tafel hielten. Einer der Zechgenossen, der lange Behrens, eben jener, der den Alten im Stall abgeliefert hatte, wollte sich nach dem ersten Schrecken, »weil ihm das Bier nicht mehr schmecke«, verabschieden. Hoppe hielt ihn jedoch zurück mit der Bemerkung, daß dies soldatischem Brauche nicht angemessen sei. Hoppe hatte recht; er selbst fiel einige Wochen später bei Les Eparges vor der Schützenlinie seiner Kompanie.

Am 21. März kamen wir nach einem kleinen Examen zum Regiment zurück, das wieder in Bazancourt lag. Es schied in diesen Tagen nach einer großen Parade und einer Abschiedsansprache des Generals von Emmich aus dem Verbande des Zehnten Korps. Wir wurden am 24. März verladen und fuhren bis in die Gegend von Brüssel, wo wir mit den Regimentern 76 und 164 zur 111. Infanterie-Division zusammengestellt wurden, in deren Verbande wir den Krieg bis zum Ende erleben sollten.

Unser Bataillon wurde in dem Städtchen Hérinnes untergebracht, inmitten einer Landschaft von flämischer Behaglichkeit. Am 29. März verlebte ich hier recht glücklich meinen zwanzigsten Geburtstag.

Obwohl die Belgier in ihren Häusern genügend Platz hatten, wurde unsere Kompanie in eine große zugige Scheune gesteckt, durch die während der kalten Märznächte der rauhe Seewind jener Gegend pfiff. Sonst bot uns der Aufenthalt in Hérinnes eine gute Erholung dar; es wurde zwar viel exerziert, doch gab es auch gute Verpflegung, und Lebensmittel für geringes Geld.

Die halb aus Flamen, halb aus Wallonen bestehende Bevölkerung war sehr freundlich zu uns. Ich unterhielt mich oft mit dem Besitzer eines Estaminets, einem eifrigen Sozialisten und Freigeist, von denen es in Belgien eine ganz besondere Sorte gibt. Er lud mich am Ostersonntag zum Festmahl ein und ließ sich nicht einmal bewegen, für seine Getränke Geld anzunehmen. Wir hatten alle bald unsere Bekanntschaften geschlossen und schlenderten an den freien Nachmittagen nach diesem oder jenem der weit in der Landschaft verstreuten Gehöfte, um uns in den blitzblank gescheuerten Küchen um einen der niedrigen Öfen zu setzen, auf deren kreisförmiger Platte der große Kaffeetopf stand. Die gemütliche Unterhaltung wurde auf flämisch und niedersächsisch geführt.

Gegen Ende unseres Aufenthalts wurde das Wetter schön und lud zu Spaziergängen in der lieblichen, wasserreichen Umgebung ein. Die Landschaft, in der sich über Nacht die gelben Sumpfdotterblumen entfaltet hatten, war malerisch verziert durch die vielen entkleideten Kriegsleute, die, ihre Wäsche auf dem Schoß, längs der pappelumsäumten Bachufer eifrig der Läusejagd oblagen. Von dieser Plage bislang ziemlich verschont geblieben, war ich indessen meinem Kriegskameraden Priepke, einem Hamburger Exportkaufmann, behilflich, in seine wollene Weste, die bevölkert war wie weiland das Habit des Abenteuerlichen Simplizissimus, zur gründlichen Abtötung einen schweren Stein zu wickeln und sie in einen Bach zu versenken. Da unser Aufbruch von Hérinnes sehr plötzlich erfolgte, wird sie dort wohl in ungestörter Ruhe vermodert sein.

Am 12. April 1915 wurden wir in Hal verladen und fuhren, um Spione zu täuschen, auf einem weiten Umweg über den Nordflügel der Front in die Gegend des Schlachtfeldes von Mars-la-Tour. Die Kompanie bezog ihr gewohntes Scheunenquartier im Dorfe Tronville, einem der üblichen langweiligen, aus flachdächrigen, fensterlosen Steinkästen zusammengewürfelten lothringischen Drecknester. Der Flieger wegen mußten wir uns meist in dem überfüllten Ort aufhalten; wir besuchten jedoch einige Male die berühmten, ganz in der Nähe liegenden Stätten von Mars-la-Tour und Gravelotte. Wenige hundert Meter vom Dorfe wurde die Straße nach Gravelotte von der Grenze geschnitten, an der der französische Grenzpfahl zerschmettert am Boden lag. Abends machten wir uns oft das wehmütige Vergnügen eines Spazierganges nach Deutschland.

Unsere Scheune war so baufällig, daß man balancieren mußte, um nicht durch die morschen Bretter auf die Tenne zu stürzen. An einem Abend, als unsere Gruppe gerade unter Vorsitz ihres biederen Korporals Kerkhoff beschäftigt war, auf einer Krippe die Portionen zu teilen, löste sich ein ungeheurer Eichklotz aus dem Gebälk und stürzte krachend herunter. Zum Glück klemmte er sich dicht über unseren Köpfen zwischen zwei Lehmwände. Wir kamen mit dem Schrecken davon, nur unsere schöne Fleischportion lag unter dem aufgewirbelten Schutt. Kaum waren wir nach diesem bösen Vorzeichen ins Stroh gekrochen, als an das Tor gedonnert wurde und die alarmierende Stimme des Feldwebels uns vom Lager trieb. Zuerst, wie immer bei solchen Überraschungen, ein Augenblick der Stille, dann wirres Durcheinander und Gepolter: »Mein Helm!« »Wo ist mein Brotbeutel?« »Ich kriege meine Stiefel nicht an!« »Du hast meine Patronen geklaut!« »Hol’t Mul, du August!«

Zuletzt war doch alles fertig, und wir marschierten zum Bahnhof von Chamblay, von wo wir in einigen Minuten mit der Bahn bis Pagny-sur-Moselle fuhren. In den Morgenstunden erklommen wir die Moselhöhen und blieben in Prény, einem zauberhaften, von einer Burgruine überragten Bergdorfe. Diesmal stellte sich unsere Scheune als ein mit duftendem Bergheu gefüllter Steinbau heraus, durch dessen Luken wir auf die weinbepflanzten Moselberge und das im Tal gelegene Städtchen Pagny blicken konnten, das oft mit Granaten und Fliegerbomben belegt wurde. Einige Male schlugen turmhohe Wassersäulen hochschleudernde Geschosse in die Mosel ein.

Das warme Frühlingswetter wirkte belebend auf uns und reizte in den Freistunden zu langen Spaziergängen in das prächtige Hügelland. Wir waren so übermütig, daß wir abends noch einige Zeit unsere Späße trieben, bevor alles zur Ruhe kam. Unter anderem war es ein beliebter Scherz, Schnarchern aus einer Feldflasche Wasser oder Kaffee in den Mund zu gießen.

Am Abend des 22. April marschierten wir von Prény ab, legten über dreißig Kilometer bis zum Dorfe Hattonchâtel zurück, ohne trotz dem schweren Gepäck einen Marschkranken zu haben, und schlugen rechts von der berühmten Grande Tranchée mitten im Walde Zelte auf. Aus allen Anzeichen war zu ersehen, daß wir am nächsten Tag ins Gefecht kommen würden. Wir empfingen Verbandpäckchen, zweite Fleischbüchsen und Signalflaggen für die Artillerie.

Am Abend saß ich noch lange in jener ahnungsvollen Stimmung, von der die Krieger aller Zeiten zu erzählen wissen, auf einem von blauen Anemonen umwucherten Baumstumpf, ehe ich über die Reihen der Kameraden an meinen Zeltplatz kroch, und in der Nacht träumte ich ein wirres Zeug zusammen, in dem ein Totenkopf die Hauptrolle spielte.

Priepke, dem ich am Morgen davon erzählte, hoffte, daß es ein Franzosenschädel gewesen sei.

LES EPARGES

Das junge Grün des Waldes schimmerte im Morgen. Wir wanden uns durch versteckte Wege nach einer engen Schlucht hinter der vorderen Linie. Es war bekanntgegeben, daß das Regiment 76 nach einer Feuervorbereitung von nur zwanzig Minuten stürmen werde und wir als Reserve bereitstehen sollten. Punkt zwölf Uhr eröffnete unsere Artillerie eine heftige Kanonade, die vielfach in den Waldschluchten widerhallte. Zum ersten Mal vernahmen wir hier das schwere Wort »Trommelfeuer«. Wir saßen auf den Tornistern, untätig und erregt. Ein Gefechtsläufer stürzte zum Kompanieführer. Hastige Worte. »Die drei ersten Gräben sind in unserer Hand, sechs Geschütze erbeutet!« Ein Hurra flammte auf. Draufgängerstimmung erwachte.

Endlich kam der ersehnte Befehl. Wir zogen in langer Reihe nach vorn, von wo verschwommenes Gewehrfeuer prasselte. Es wurde Ernst. Zur Seite des Waldpfades dröhnten in einem Tannendickicht dumpfe Stöße, Zweige und Erde rauschten nieder. Ein Ängstlicher warf sich unter erzwungenem Gelächter der Kameraden zu Boden. Dann glitt der Mahnruf des Todes durch die Reihen: »Sanitäter nach vorn!«

Bald kamen wir an der Stelle vorbei, wo es eingeschlagen hatte. Die Getroffenen waren schon fortgeschafft. Blutige Zeug- und Fleischfetzen hingen rings um den Einschlag an den Gebüschen – ein sonderbarer, beklemmender Anblick, der mich an den rotrückigen Würger denken ließ, der seine Beute auf Dornensträucher spießt.

Auf der Grande Tranchée hasteten Truppen vor. Um Wasser flehende Verwundete kauerten am Straßenrand, bahrentragende Gefangene keuchten zurück, Protzen rasselten im Galopp durchs Feuer. Rechts und links stampften Granaten den weichen Boden, schweres Geäst brach nieder. Mitten im Weg lag ein totes Pferd mit riesigen Wunden, daneben dampfende Eingeweide. Zwischen den großen und blutigen Bildern herrschte eine wilde, ungeahnte Heiterkeit. An einem Baume lehnte ein bärtiger Landwehrmann: »Jungens, jetzt feste ran, der Franzmann ist im Laufen!«

Wir gelangten in das kampfzerwühlte Reich der Infanterie. Der Umkreis der Sturmausgangsstellung war von Geschossen kahlgeholzt. Im zerrissenen Zwischenfelde lagen die Opfer des Sturmes, den Kopf feindwärts; die grauen Rökke hoben sich kaum vom Boden ab. Eine Riesengestalt mit rotem, blutbesudeltem Vollbart starrte zum Himmel, die Hände in die lockere Erde gekrallt. Ein junger Mensch wälzte sich in einem Trichter, die gelbliche Vorfarbe des Todes auf den Zügen. Unsere Blicke schienen ihm unangenehm; mit einer gleichgültigen Bewegung zog er sich den Mantel über den Kopf und wurde still.

Wir lösten uns aus der Marschkolonne. Fortwährend zischte es in langem, scharfem Bogen heran, Blitze wirbelten den Boden der Lichtung hoch. Das schrille Flöten der Feldgranaten hatte ich schon vor Orainville nicht selten gehört; es kam mir auch hier nicht sonderlich gefährlich vor. Die Ordnung, in der unsere Kompanie sich nun mit ihren entfalteten Zügen über das beschossene Gelände bewegte, hatte im Gegenteil etwas Beruhigendes; ich dachte bei mir, daß eine solche Feuertaufe sich harmloser anließe, als ich erwartet hatte. In einer seltsamen Verkennung der Tatsachen sah ich mich aufmerksam nach den Zielen um, denen die Granaten wohl gelten könnten, ohne zu erraten, daß wir selbst es waren, auf die man bereits aus Leibeskräften schoß.

»Sanitäter!« Wir hatten den ersten Toten. Dem Füsilier Stölter hatte eine Schrapnellkugel die Halsschlagader zerrissen. Drei Verbandpäckchen waren im Nu vollgesogen. Er verblutete in Sekunden. Neben uns protzten zwei Geschütze ab, noch stärkeres Feuer anziehend. Ein Artillerieleutnant, der im Vorgelände nach Verwundeten suchte, wurde durch eine vor ihm hochfahrende Dampfsäule niedergeschleudert. Er erhob sich langsam und kam mit betonter Ruhe zurück. Unsere Augen glänzten ihn an.

Es dunkelte, als wir Befehl zu weiterem Vorrücken erhielten. Unser Weg führte durch dichtes, geschoßdurchklatschtes Unterholz in einen endlosen Laufgraben, den fliehende Franzosen mit Gepäck bestreut hatten. In der Nähe des Dorfes Les Eparges mußten wir, ohne Truppen vor uns zu haben, eine Stellung in festes Gestein hauen. Zuletzt sank ich in einen Busch und schlief ein. Manchmal sah ich im Halbschlummer hoch über mir die Granaten irgendeiner Artillerie mit funkenden Zündern ihre Bogen ziehen.

»Mensch, aufstehen, wir rücken ab!« Ich erwachte im taufeuchten Gras. Durch die sausende Garbe eines Maschinengewehrs stürzten wir in unseren Laufgraben zurück und besetzten eine verlassene französische Stellung am Waldsaume. Ein süßlicher Geruch und ein im Drahtverhau hängendes Bündel weckten meine Aufmerksamkeit. Ich sprang im Morgennebel aus dem Graben und stand vor einer zusammengeschrumpften französischen Leiche. Fischartiges, verwestes Fleisch leuchtete grünlichweiß aus der zerfetzten Uniform. Mich umwendend, prallte ich entsetzt zurück: neben mir kauerte eine Gestalt an einem Baum. Sie trug das glänzende französische Lederzeug und auf dem Rücken noch den hochgepackten Tornister, von einem runden Kochgeschirr gekrönt. Leere Augenhöhlen und wenige Büschel Haar auf dem schwarzbraunen Schädel verrieten, daß ich es mit keinem Lebenden zu tun hatte. Ein anderer saß, den Oberkörper nach vorn über die Beine geklappt, als ob er eben zusammengebrochen wäre. Ringsumher lagen noch Dutzende von Leichen, verwest, verkalkt, zu Mumien gedörrt, in unheimlichem Totentanz erstarrt. Die Franzosen mußten monatelang neben den gefallenen Kameraden ausgehalten haben, ohne sie zu bestatten.

In den Vormittagsstunden durchbrach die Sonne den Nebel und entsandte eine behagliche Wärme. Nachdem ich etwas auf der Grabensohle geschlafen hatte, trieb mich die Neugier, den vereinsamten, am Vortag erstürmten Graben zu besehen. Sein Boden war mit Bergen von Proviant, Munition, Ausrüstungsstücken, Waffen, Briefen und Zeitungen bedeckt. Die Unterstände glichen geplünderten Trödelläden. Dazwischen lagen die Leichen tapferer Verteidiger, deren Gewehre noch in den Schießscharten steckten. Aus zerschossenem Gebälk ragte ein eingeklemmter Rumpf. Kopf und Hals waren abgeschlagen, weiße Knorpel glänzten aus rötlich-schwarzem Fleisch. Es wurde mir schwer zu verstehen. Daneben lag ein ganz junger Mensch auf dem Rücken, die glasigen Augen und die Fäuste im Zielen erstarrt. Ein seltsames Gefühl, in solche toten, fragenden Augen zu blikken – ein Schaudern, das ich im Kriege nie ganz verlor. Seine Taschen waren nach außen gedreht, und neben ihm lag seine ausgeplünderte Börse.

Ich schlenderte, ohne von Feuer behelligt zu werden, den verwüsteten Graben entlang. Es war die kurze Zeit der Vormittagsruhe, die mir noch oft auf den Schlachtfeldern als einzige Atempause zugute kam. Ich benutzte sie dazu, mir alles recht sorglos und gemütlich anzusehen. Die fremde Bewaffnung, das Dunkel der Unterstände, der bunte Inhalt der Tornister, alles war neu und rätselhaft. Ich steckte französische Munition in die Tasche, schnallte eine seidenweiche Zeltbahn ab und erbeutete eine mit blauem Tuch umwickelte Feldflasche, um alles nach drei Schritten wieder fortzuwerfen. Ein schönes gestreiftes Hemd, das neben einem auseinandergerissenen Offiziersgepäck lag, verführte mich dazu, mir rasch die Uniform vom Leib zu streifen und mich von Kopf bis Fuß mit neuer Wäsche zu versehen. Ich freute mich über das angenehme Kitzeln des frischen Leinens auf der Haut.

So ausstaffiert, suchte ich mir einen sonnigen Fleck im Graben aus, setzte mich auf einen Balken und öffnete mit dem Seitengewehr eine runde Fleischbüchse, um zu frühstükken. Dann steckte ich mir eine Pfeife an und durchblätterte die zahlreich verstreuten französischen Zeitschriften, die, wie ich aus dem Datum ersah, zum Teil erst am Vortage von Verdun in die Gräben geschickt waren.

Nicht ohne einen gewissen Schauder erinnere ich mich, daß ich während dieser Frühstückspause einen seltsamen kleinen Apparat auseinanderzuschrauben suchte, der vor mir auf der Grabensohle lag und in dem ich aus unerfindlichen Gründen eine »Sturmlaterne« zu erkennen glaubte. Erst viel später ging mir auf, daß das Ding, mit dem ich da herumgespielt hatte, eine ungesicherte Handgranate gewesen war.

Bei zunehmender Klarheit begann eine deutsche Batterie, aus einem dicht hinter dem Graben liegenden Waldstück zu feuern. Es dauerte nicht lange, bis der Feind die Antwort gab. Plötzlich wurde ich durch einen mächtigen Krach hinter mir aufgeschreckt und sah einen steilen Rauchkegel hochsteigen. Mit den Geräuschen des Krieges noch unvertraut, war ich nicht imstande, das Pfeifen und Zischen, das Knallen der eigenen Geschütze und das reißende Krachen der in immer kürzeren Pausen einschlagenden feindlichen Granaten zu entwirren und mir aus all dem ein Bild zu machen. Vor allem konnte ich mir nicht erklären, warum es denn von allen Seiten heranfuhr, so daß sich die sausenden Bahnen der Geschosse scheinbar planlos über dem Gewirr kleiner Grabenstücke kreuzten, in dem wir zerstreut lagen. Diese Wirkung, von der ich nicht die Ursache sah, beunruhigte mich und gab mir zu denken. Ich stand dem Mechanismus des Gefechtes noch als Unerfahrener, als Rekrut gegenüber – die Äußerungen des Kampfwillens erschienen mir seltsam und unzusammenhängend wie Vorgänge auf einem anderen Gestirn. Dabei hatte ich eigentlich keine Angst; im Gefühl, nicht gesehen zu werden, konnte ich auch nicht glauben, daß man auf mich zielte und daß ich getroffen werden könnte. So beobachtete ich, zu meiner Gruppe zurückgekehrt, mit großer Gleichgültigkeit das Vorgelände. Es war der Mut der Unerfahrenheit. Ich trug, wie ich das auch später an solchen Tagen zu tun pflegte, in mein Taschenbuch die Zeiten ein, zu denen die Beschießung abflaute oder sich steigerte.

Gegen Mittag schwoll das Artilleriefeuer zu wüstem Tanze an. Ununterbrochen flammte es um uns auf. Weißes, schwarzes und gelbes Gewölk mischte sich. Besonders die Granaten mit schwarzer Rauchentwicklung, von den alten Kriegern »amerikanische« oder »Kohlenkästen« genannt, zerrissen mit unheimlicher Brisanz. Dazwischen zwitscherten zu Dutzenden die Zünder mit eigenartigem, an Kanarienvögel erinnerndem Gesang. Mit ihren Ausschnitten, in denen die Luft sich mit trillerndem Flöten verfing, zogen sie wie kupferne Spieluhren oder wie eine Art von mechanischen Insekten über die lange Brandung der Einschläge dahin. Sonderbar war, daß die kleinen Waldvögel sich gar nicht um diesen hundertfältigen Lärm zu kümmern schienen; sie saßen friedlich über den Rauchschwaden im zerschlagenen Geäst. In den Pausen hörte man ihre werbenden Rufe und ihr unbekümmertes Jubilieren, ja es schien, als ob sie noch angeregt würden durch die Flut von Geräuschen, die sie umbrandete.

In den Augenblicken, in denen der Beschuß sich verdichtete, spornte sich die Besatzung durch kurze gegenseitige Zurufe zur Wachsamkeit an. In dem Grabenstück, das ich übersah und aus dessen Wänden bereits hier und da große Lehmklötze heruntergebrochen waren, herrschte völlige Bereitschaft. Die Gewehre lagen entsichert in den Schießscharten, und die Schützen prüften das rauchende Vorgelände mit Aufmerksamkeit. Zuweilen blickten sie nach rechts und links, um zu beobachten, ob der Anschluß noch vorhanden wäre, und lächelten, wenn ihr Blick einen Bekannten traf.

Ich saß mit einem Kameraden auf einer in den Lehm der Grabenwand gestochenen Bank. Einmal knallte das Brett der Schießscharte, durch die wir beobachteten, und ein Infanteriegeschoß schlug zwischen unseren Köpfen in den Lehm.

Allmählich gab es Verwundete. Die Vorgänge im Grabengewirr waren zwar nicht zu überblicken, doch der immer häufiger erschallende Ruf »Sanitäter« zeigte an, daß die Beschießung zu wirken begann. Zuweilen tauchte eine eilige Gestalt mit frischem, weithin schimmerndem Verband an Kopf, Hals oder Hand auf, um nach hinten zu verschwinden. Es galt, den Salon- oder Kavalierschuß in Sicherheit zu bringen, dem Kriegsaberglauben zufolge, nach dem der leichte Treffer oft nur der Vorbote eines schweren ist.

Mein Kamerad, der Kriegsfreiwillige Kohl, bewahrte jene norddeutsche Kaltblütigkeit, die eigens für solche Lagen geschaffen scheint. Er kaute und drückte an einer Zigarre herum, die durchaus nicht brennen wollte, und machte im übrigen ein etwas verschlafenes Gesicht. Er ließ sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als plötzlich in unserem Rücken ein Geprassel wie von tausend Gewehren erscholl. Es stellte sich heraus, daß der Wald in Brand geschossen war. Große Flammen kletterten knatternd an den Bäumen empor.

Während dieser Ereignisse wurde ich durch seltsame Sorgen geplagt. Ich beneidete nämlich die alten »Löwen von Perthes« um ihre Erlebnisse im »Hexenkessel«, denen mich der Aufenthalt in Recouvrence entzogen hatte. Wenn daher die Kohlenkästen besonders scharf in unsere Ecke fuhren, fragte ich zuweilen Kohl, der daran teilgenommen hatte:

»Du, ist es jetzt wie bei Perthes?«

Zu meiner Enttäuschung antwortete er jedesmal mit einer lässigen Handbewegung:

»Noch lange nicht!«

Als nun der Beschuß sich so verdichtete, daß unsere Lehmbank unter dem Bersten der schwarzen Ungetüme zu schaukeln begann, brüllte ich ihm wieder ins Ohr:

»Du, ist es jetzt wie bei Perthes?«

Kohl war ein sehr gewissenhafter Soldat. Er stand zunächst auf, sah sich prüfend im Kreise um und brüllte dann zu meiner Befriedigung zurück:

»Jetzt kanns bald hinkommen!«

Diese Antwort erfüllte mich mit einer närrischen Freude, bestätigte sie mir doch mein erstes wirkliches Gefecht.

In diesem Augenblick tauchte ein Mann an der Ecke unseres Grabenstückes auf: »Nach links folgen!« Wir gaben den Befehl weiter und schritten die rauchdurchschwelte Stellung entlang. Gerade waren die Essenholer zurückgekommen, und Hunderte von verlassenen Kochgeschirren dampften auf der Brustwehr. Wer mochte jetzt essen? Eine Menge Verwundeter mit blutdurchtränkten Verbänden preßte sich an uns vorüber, die Aufregung des Kampfes auf den bleichen Gesichtern. Oben wurde am Grabenrand entlang hastig Bahre auf Bahre nach hinten geschleppt. Die Ahnung einer schweren Stunde türmte sich vor uns auf. »Vorsicht, Kameraden, mein Arm, mein Arm!« »Los, los, Mensch, halt Anschluß!«

Ich erkannte den Leutnant Sandvoß, der geistesabwesend und mit aufgerissenen Augen neben dem Graben entlanghastete. Ein langer weißer Verband um den Hals teilte ihm eine seltsam unbeholfene Haltung mit, und so kam es wohl, daß er mich in diesem Augenblick an eine Ente erinnerte. Ich sah das wie in einem jener Träume, in denen das Beängstigende in der Maske des Lächerlichen erscheint. Gleich darauf eilten wir an Oberst von Oppen vorbei, der eine Hand in der Rocktasche hielt und seinem Adjutanten Anweisungen gab. »Aha, die Sache hat doch wohl Sinn und Verstand«, schoß es mir durch den Kopf.

Der Graben endete in einem Waldstück. Unentschlossen standen wir unter gewaltigen Buchen. Aus dichtem Unterholz tauchte unser Zugführer, ein Leutnant, auf und rief dem ältesten Unteroffizier zu: »Lassen Sie ausschwärmen in Richtung auf die untergehende Sonne und Stellung nehmen. Meldungen erreichen mich im Unterstand an der Lichtung.« Fluchend übernahm jener das Kommando.

Wir schwärmten aus und legten uns erwartungsvoll in eine Reihe flacher Mulden, die irgendwelche Vorgänger in den Boden gescharrt hatten. Mitten in scherzende Zurufe schnitt ein markerschütterndes Geheul. Zwanzig Meter hinter uns wirbelten Erdklumpen aus einer weißen Wolke und klatschten hoch ins Geäst. Vielfach rollte der Schall durch den Wald. Beklommene Augen starrten sich an, die Körper schmiegten sich im niederdrückenden Gefühl völliger Ohnmacht an den Boden. Schuß folgte auf Schuß. Stickige Gase schwammen im Unterholz, Qualm verhüllte die Wipfel, Bäume und Zweige stürzten rauschend zu Boden, Schreie wurden laut. Wir sprangen hoch und rannten blindlings, von Blitzen und betäubendem Luftdruck gehetzt, von Baum zu Baum, Deckung suchend und wie gejagtes Wild riesige Stämme umkreisend. Ein Unterstand, in den viele liefen und auf den auch ich zusteuerte, erhielt einen Treffer, der den Balkenbelag hochriß, so daß die schweren Klötze in der Luft umherwirbelten.

Ich sprang mit dem Unteroffizier keuchend um eine mächtige Buche wie ein Eichhörnchen, das man mit Steinen wirft. Automatisch und von immer neuen Einschlägen in Schwung gehalten, lief ich hinter meinem Vorgesetzten her, der sich zuweilen umwandte, mich mit wilden Augen anstierte und schrie: »Ja, was sind denn das für Dinger? Was sind denn das für Dinger?« Plötzlich blitzte es in dem weit ausgreifenden Wurzelwerk, und ein Schlag gegen den linken Oberschenkel warf mich zu Boden. Ich glaubte von einem Erdklumpen getroffen zu sein, doch belehrte mich die Wärme des reichlich strömenden Blutes bald, daß ich verwundet war. Es zeigte sich später, daß mir ein haarscharfer Splitter eine Fleischwunde geschlagen hatte, nachdem seine Wucht durch meine Geldbörse abgeschwächt war. Der feine Schnitt, der, ehe er den Muskel verletzte, nicht weniger als neun Blätter aus derbem Leder gespalten hatte, war wie mit einer Rasierklinge geführt.

Ich warf meinen Tornister fort und rannte dem Graben zu, aus dem wir gekommen waren. Von allen Seiten strebten Verwundete aus dem beschossenen Gehölz strahlenförmig darauf zu. Der Durchgang war entsetzlich, von Schwerverwundeten und Sterbenden versperrt. Eine bis zum Gürtel entblößte Gestalt mit aufgerissenem Rücken lehnte an der Grabenwand. Ein anderer, dem ein dreieckiger Lappen vom Hinterschädel herabhing, stieß fortwährend schrille, erschütternde Schreie aus. Hier herrschte der große Schmerz, und zum ersten Male blickte ich wie durch einen dämonischen Spalt in die Tiefe seines Bereichs. Und immer neue Einschläge.

Meine Besinnung ließ mich völlig im Stich. Rücksichtslos rannte ich alles über den Haufen und kletterte endlich, in der Hast einige Male zurückstürzend, aus dem höllischen Gewühl des Grabens heraus, um freie Bahn zu bekommen. Ich raste wie ein durchgehendes Pferd durch dichtes Unterholz, über Wege und Lichtungen, bis ich in einem Waldstück nahe der Grande Tranchée zusammenbrach.

Es dunkelte bereits, als zwei Krankenträger, die das Gelände absuchten, vorbeikamen. Sie luden mich auf ihre Bahre und trugen mich in einen mit Stämmen gedeckten Sanitätsunterstand, in dem ich die Nacht verbrachte, eng zusammengedrängt mit vielen Verwundeten. Ein abgespannter Arzt stand im Gewühl stöhnender Menschen, verband, machte Einspritzungen und gab mit ruhiger Stimme Anweisungen. Ich zog mir den Mantel eines Gefallenen über den Leib und fiel in einen Schlaf, den das beginnende Fieber mit sonderbaren Träumen durchschoß. Einmal mitten in der Nacht wachte ich auf und sah den Arzt immer noch beim Schein einer Laterne an der Arbeit. Ein Franzose stieß alle Augenblicke ein gellendes Geschrei aus, und neben mir brummte jemand verdrießlich: »So’n Franzose. Na ja, wenn die nicht schreien können, sind sie nicht zufrieden.« Dann schlief ich wieder ein.

Als ich am nächsten Morgen fortgetragen wurde, durchbohrte ein Splitter das Segeltuch der Tragbahre zwischen meinen Knien.

Mit anderen Verwundeten wurde ich in einen der Krankenwagen geladen, die zwischen dem Gefechtsfeld und dem Hauptverbandplatz pendelten. Im Galopp ging es über die noch immer unter schwerem Feuer liegende Grande Tranchée. Hinter den grauen Zeltwänden fuhren wir blind durch die Gefahr, die uns mit stampfenden Riesenschritten begleitete.

Auf einer der Bahren, auf denen man uns in das Fahrzeug geschoben hatte wie Brote in den Backofen, lag auch ein Kamerad mit einem Bauchschuß, der ihm große Qualen bereitete. Er bat jeden Einzelnen von uns, ihm mit der Pistole des Sanitäters, die im Wagen hing, ein Ende zu machen. Niemand antwortete. Ich sollte das Gefühl noch kennenlernen, das man empfindet, wenn jede Erschütterung der Fahrt wie ein Hammerschlag auf eine schwere Wunde fällt.

Der Hauptverbandplatz war auf einer Waldlichtung angelegt. Man hatte lange Zeilen von Stroh ausgebreitet und mit Laubhütten abgedeckt. Aus dem Zustrom von Verwundeten war leicht zu ersehen, daß ein bedeutendes Gefecht im Gange war. Beim Anblick eines Generalarztes, der inmitten des blutigen Trubels den Dienstbetrieb prüfte, hatte ich wieder jenen schwer zu beschreibenden Eindruck, den man empfängt, wenn man den Menschen, von den Schrecknissen und Erregungen der elementaren Zone umgeben, mit ameisenhafter Kaltblütigkeit am Ausbau seiner Ordnungen beschäftigt sieht.

Mit Speisen und Getränken gelabt und eine Zigarette rauchend, lag ich inmitten einer langen Reihe von Verwundeten auf meiner Strohschütte, von jener leichten Stimmung ergriffen, die sich einstellt, wenn man ein Examen zwar nicht ganz einwandfrei, aber doch immerhin bestanden hat. Ein kurzes Gespräch, das ich neben mir erlauschte, machte mich nachdenklich.

»Was fehlt denn dir, Kamerad?«

»Ich hab einen Blasenschuß.«

»Tuts sehr weh?«

»Ach, das macht nichts. Aber daß man so gar nicht mehr mitmachen kann –––.«

Noch am Vormittag wurden wir nach der großen Krankensammelstelle in der Kirche des Dorfes Saint-Maurice geschafft. Dort stand bereits ein Lazarettzug unter Dampf, der uns in zwei Tagen nach Deutschland beförderte. Vom Bett aus erblickte ich im Fahren die Felder, von denen der Frühling Besitz ergriff. Wir wurden von einem stillen Mann, einem Privatdozenten der Philosophie, gewissenhaft betreut. Der erste Dienst, den er mir leistete, bestand darin, daß er mir mit einem Federmesser den Stiefel vom Fuße schnitt. Es gibt Menschen, denen zur Pflege ein besonderes Verhältnis gegeben ist; so empfand ich es bereits als wohltuend, wenn ich ihn bei seiner Nachtlampe in einem Buche lesen sah.

Der Zug brachte uns nach Heidelberg.

Beim Anblick der von blühenden Kirschbäumen bekränzten Neckarberge empfand ich ein starkes Heimatgefühl. Wie schön war doch das Land, wohl wert, dafür zu bluten und zu sterben. So hatte ich seinen Zauber noch niemals gespürt. Gute und ernste Gedanken kamen mir in den Sinn, und ich ahnte zum ersten Male, daß dieser Krieg mehr als ein großes Abenteuer bedeutete.

Die Schlacht von Les Eparges war meine erste. Sie war ganz anders, als ich gedacht. Ich hatte an einer großen Kampfhandlung teilgenommen, ohne einen Gegner zu Gesicht bekommen zu haben. Erst viel später erlebte ich den Zusammenprall, den Gipfelpunkt des Kampfes im Erscheinen der Sturmwellen auf freiem Felde, das für entscheidende, mörderische Augenblicke die chaotische Leere des Schlachtfeldes unterbricht.

DOUCHY UND MONCHY

Die Wunde war in vierzehn Tagen geheilt. Ich wurde zum Ersatzbataillon nach Hannover entlassen und nahm von dort, um mich wieder ans Gehen zu gewöhnen, einen kurzen Heimaturlaub.

»Melde dich doch als Fahnenjunker«, schlug mein Vater mir vor, als wir an einem der ersten Vormittage durch den Obstgarten gingen, um zu sehen, wie die Bäume angesetzt hatten; und ich entsprach seinem Wunsche, obwohl es mir zu Beginn des Krieges viel lockender erschienen war, mich als einfacher Schütze und nur für mich allein verantwortlich zu beteiligen.

Ich wurde also vom Regiment nach Döberitz geschickt, um an einem Ausbildungskurs teilzunehmen, den ich nach sechs Wochen als Fähnrich verließ. Den Hunderten von jungen Leuten, die hier aus allen deutschen Stämmen zusammenströmten, war anzusehen, daß das Land an guter kriegerischer Mannschaft noch keinen Mangel besaß. Während ich in Recouvrence die Einzelausbildung kennengelernt hatte, wurden wir hier auch in den verschiedenen Arten geübt, auf die man kleine Verbände im Gelände bewegt.

Im September 1915 fuhr ich zum Regiment zurück. Ich verließ den Zug im Dorf Saint-Léger, dem Sitz des Divisionsstabes, und marschierte als Führer einer kleinen Ersatzabteilung nach Douchy, dem Ruheort des Regiments. Vor uns war die französische Herbstoffensive in vollem Gang. Die Front zeichnete sich als eine lange, wallende Wolke im weiten Gelände ab. Über uns knatterten die Maschinengewehre von Luftgeschwadern. Zuweilen, wenn eins der französischen Flugzeuge, deren bunte Kokarden den Boden wie große Schmetterlingsaugen abzusuchen schienen, uns niedrig überflog, nahm ich mit meiner kleinen Truppe unter den Straßenbäumen Deckung gegen Sicht. Die Abwehrkanonen zogen lange Schnüre von weißen Bäuschen in die Luft, und hier und dort schlugen herabpfeifende Splitter in den Ackerboden ein.

Dieser kleine Marsch sollte mir gleich Gelegenheit geben, meine neuen Kenntnisse anzuwenden. Wahrscheinlich hatte man uns aus einem der zahlreichen Fesselballons, deren gelbe Hüllen im Westen leuchteten, erspäht, denn gerade, als wir in das Dorf Douchy einbiegen wollten, sprang der schwarze Kegel einer Granate vor uns auf. Das Geschoß traf den Eingang des kleinen Ortsfriedhofes, der hart an der Straße lag. Ich lernte hier zum ersten Male jene Sekunde kennen, in der man ein unerwartetes Ereignis durch einen Entschluß beantworten muß.

»Nach links heraus – schwärmen, marsch, marsch!«

Die Kolonne verteilte sich im Eilschritt über die Felder; ich ließ nach links wieder sammeln und führte sie in einem weiten Bogen in das Dorf.

Douchy, der Ruheort des Füsilierregiments 73, war ein Dorf von mittlerer Größe und hatte durch den Krieg noch wenig gelitten. Dieser im wellenförmigen Gelände des Artois gelegene Platz wurde dem Regiment während seines anderthalbjährigen Stellungskampfes in jener Gegend zur zweiten Garnison, zu einer Stätte der Erholung und Festigung nach schweren Tagen des Kampfes und der Arbeit in vorderer Linie. Wie oft atmeten wir auf, wenn uns durch dunkle Regennächte ein einsames Licht vom Dorfeingang entgegenschimmerte! Man hatte doch wieder ein Dach über dem Kopf und sein einfaches, ungestörtes Lager im trockenen Raum. Man konnte schlafen, ohne jedesmal nach vier Stunden wieder in die Nacht hinaus zu müssen und ohne von der ständigen Erwartung eines Überfalls bis in den Traum hinein verfolgt zu werden. Wie neugeboren war man am ersten Ruhetag, wenn man gebadet und die Montur vom Schmutz des Grabens gereinigt hatte. Auf den Wiesengründen wurde exerziert und geturnt, um die eingerosteten Knochen gelenkig zu machen und den Gemeingeist der in langen Nachtwachen vereinsamten Leute wieder zu erwecken. Das gab Spannkraft für neue lastenreiche Tage. In der ersten Zeit marschierten die Kompanien abwechselnd in die vordere Linie zu nächtlicher Schanzarbeit. Diese anstrengende Doppelbeschäftigung unterblieb später auf Anordnung unseres einsichtigen Obersten von Oppen. Die Sicherheit einer Stellung beruht auf der Frische und dem unerschöpften Mut ihrer Verteidiger, nicht auf dem verschlungenen Bau ihrer Annäherungswege und der Tiefe der Kampfgräben.

In den freien Stunden bot Douchy seinen grauen Bewohnern manche Quelle der Erholung dar. Zahlreiche Kantinen waren noch reichlich versehen mit Eß- und Trinkbarem; es gab ein Lesezimmer, eine Kaffeestube und später sogar, kunstvoll in eine große Scheune eingebaut, einen Lichtspielraum. Die Offiziere hatten ein vorzüglich eingerichtetes Kasino und eine Kegelbahn im Garten des Pfarrhauses. Oft wurden Kompaniefeste gefeiert, bei denen Führer und Mannschaft auf gut altdeutsch im Trinken wetteiferten. Nicht vergessen möchte ich auch die Schlachtfeste, bei denen die Kompanieschweine, die durch die Abfälle der Feldküchen in trefflicher Mast gehalten wurden, das Leben lassen mußten.

Da die Bevölkerung noch im Dorf wohnte, wurde der Raum in jeder Weise ausgenutzt. In den Gärten waren zum Teil Baracken und Wohnunterstände erbaut; ein großer Obstgarten in der Mitte des Dorfes war zum Kirchplatz, ein anderer, der sogenannte Emmichplatz, zum Lustgarten umgewandelt. Dort lagen in zwei mit Baumstämmen bedeckten Unterständen die Rasierstube und die Zahnstation. Eine große Wiese neben der Kirche diente als Begräbnisplatz, zu dem fast täglich eine Kompanie marschierte, um einem oder vielen Kameraden unter den Klängen eines Chorals das letzte Geleit zu geben.

So war in einem Jahr aus dem zerfallenden Bauerndörfchen eine Militärstadt wie ein gewaltiger Parasit emporgewachsen. Kaum erkannte man darunter das alte friedliche Bild. Im Dorfteich schwemmten Dragoner ihre Pferde, in den Gärten exerzierte Infanterie, auf den Wiesen lagen Soldaten und sonnten sich. Alle Einrichtungen zerfielen, nur was zum Kampf gehörte, war in Schuß. So hatte man Zäune und Hekken niedergebrochen oder zur besseren Verbindung weggerissen, dagegen blinkten an allen Ecken die großen Schilder mit den Fahrtrichtungen. Während die Dächer einstürzten und der Hausrat langsam verheizt wurde, entstanden Fernsprechanlagen und elektrische Leitungen. Von den Kellern aus wurden Stollenschächte in die Erde getrieben, um den Hausbewohnern bei Beschießungen sichere Unterkunft zu bieten; die ausgeschachtete Erde wurde achtlos auf die Gärten gehäuft. Im ganzen Dorf gab es keine Grenze und keinen persönlichen Besitz.

Die französische Bevölkerung war am Ausgang nach Monchy kaserniert. Kinder spielten vor den Schwellen der baufälligen Häuser, und Greise schlichen gebeugt durch das neue Getriebe, das ihnen rücksichtslos die Stätten entfremdete, an denen sie ihr Leben verbracht hatten. Die jungen Leute mußten jeden Morgen antreten und wurden vom Ortskommandanten, dem Oberleutnant Oberländer, zur Bewirtschaftung der Dorfgemarkung eingeteilt. Wir kamen mit den Einheimischen nur zusammen, wenn wir ihnen unsere Wäsche zum Reinigen brachten oder Butter und Eier einkauften.

Zu den merkwürdigen Bildern dieser Soldatenstadt gehörte der Anschluß zweier verwaister kleiner Franzosen an die Truppe. Die beiden Jungen, von denen der eine acht, der andere zwölf Jahre alt sein mochte, waren ganz in Feldgrau gekleidet und sprachen fließend deutsch. Von ihren Landsleuten redeten sie, wie sie es von den Soldaten gehört hatten, nur als »Schangels«. Ihr größter Wunsch war, einmal mit »ihrer« Kompanie in Stellung gehen zu dürfen. Sie konnten tadellos exerzieren, grüßten die Vorgesetzten, traten bei Appellen an den linken Flügel und baten um Urlaub, wenn sie den Kantinengehilfen zum Einkauf nach Cambrai begleiten wollten. Als das zweite Bataillon für einige Wochen zur Ausbildung nach Quéant kam, sollte der eine, namens Louis, auf Befehl des Obersten von Oppen in Douchy zurückbleiben; er wurde auch während des Marsches nicht mehr gesehen, sprang aber bei der Ankunft des Bataillons vergnügt aus dem Packwagen, in dem er sich versteckt hatte. Der Ältere soll später nach Deutschland auf eine Unteroffiziersschule geschickt worden sein.

Kaum eine Stunde Weges von Douchy entfernt lag Monchy-au-bois, das Dorf, in dem die beiden Reservekompanien des Regiments untergebracht waren. Es hatte im Herbst 1914 das Ziel erbitterter Kämpfe gebildet; zuletzt war es in deutscher Hand geblieben und der Kampf im engen Halbkreis um die Trümmer des ehemals reichen Ortes langsam erstarrt.

Nun waren die Häuser ausgebrannt und zusammengeschossen, die verwilderten Gärten von Granaten durchfurcht und die Obstbäume geknickt. Das Steingewirr war durch Gräben, Stacheldraht, Barrikaden und betonierte Stützpunkte zur Verteidigung ausgebaut. Die Straßen konnten von einem im Mittelpunkt liegenden Betonklotz, der »Feste Torgau«, unter Maschinengewehrfeuer genommen werden. Ein anderer Stützpunkt war die »Feste Altenburg«, ein Feldwerk rechts vom Dorfe, das einen Zug der Reservekompanie beherbergte. Wichtig für die Verteidigung war auch ein Bergwerk, dem in Friedenszeiten der Kreidestein zum Bau der Häuser entnommen worden war und das wir nur durch Zufall entdeckt hatten. Ein Kompaniekoch, dem der Wassereimer in einen Brunnen gefallen war, hatte sich hinuntergelassen und dabei ein sich höhlenartig erweiterndes Loch bemerkt. Man untersuchte den Ort, und nachdem noch ein zweiter Eingang gebrochen war, bot die Anlage einer großen Zahl von Kämpfern bombensichere Unterkunft.

Auf der einsamen Höhe am Weg nach Ransart lag eine Ruine, ein ehemaliges Estaminet, wegen der weiten Aussicht auf die Front »Bellevue« genannt –