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»Der Arbeiter« zählt wohl zu Jüngers umstrittensten Werken – eine Überarbeitung lehnte er indes ebenso ab wie eine politische Beibedeutung. Eng mit ihm verbunden sind die Schriften »An der Zeitmauer« und »Maxima – Minima«. Der vorliegende Band entspricht Band 8 der gebundenen Ausgabe. »Der Arbeiter« war für Jünger selbst im Rückblick das »Denkmal meiner Auseinandersetzungen mit der technischen Welt«. Rund dreißigjährig hatte er versucht, »die Gestalt des Arbeiters sichtbar zu machen jenseits der Theorien«. Dabei scheute er auch nicht davor zurück, militärische Begriffe wie Effizienz auf den Prozess der Arbeit zu übertragen und den Arbeiter in ein ebenso streng hierarchisches Gefüge einzuordnen. Unabhängig von der Bewertung erscheint der zeitdiagnostische Text indes als historisch äußerst interessantes Dokument. Die geschichtsphilosophischen Reflexionen »An der Zeitmauer« entwerfen im Anschluss an den »Arbeiter« eine Endzeitvision, wenngleich die Hoffnung auf eine neue Zeit des Geistes noch durchscheint: »Das Bild des Weltunterganges, der in die Hand des Menschen gelegt ist und von seiner Entscheidung abhängt, ist ein Novum – selbst in dem Fall, daß diese Möglichkeit nur der Vorstellung angehört. Die Welt als brennbares Haus, als große Scheuer, die Menschen als Kinder mit Streichhölzern darin – auch das gehört zum Austritt aus dem historischen Raum, zu seinen Indizien«, so Jünger.
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Seitenzahl: 878
ERNST JÜNGER – SÄMTLICHE WERKE
Tagebücher I-VIII
Band 1 Der Erste Weltkrieg
Band 2 Strahlungen I
Band 3 Strahlungen II
Band 4 Strahlungen III
Band 5 Strahlungen IV
Band 6 Strahlungen V
Band 7 Strahlungen VI, VII
Band 8 Reisetagebücher
Essays I-IX
Band 9 Betrachtungen zur Zeit
Band 10 Der Arbeiter
Band 11 Das Abenteuerliche Herz
Band 12 Subtile Jagden
Band 13 Annäherungen
Band 14 Fassungen I
Band 15 Fassungen II
Band 16 Fassungen III
Band 17 Ad hoc
Erzählende Schriften I-IV
Band 18 Erzählungen
Band 19 Heliopolis
Band 20 Eumeswil
Band 21 Die Zwille
Supplement
Band 22 Verstreutes – Aus dem Nachlaß
Sämtliche Werke 10
Essays II
Der Arbeiter
Klett-Cotta
Die 22 Bände der Sämtlichen Werke, die zwischen 1978 und 2003 bei Klett-Cotta erschienen sind (1–18: 1978–1983; Supplemente 19–22: 1999–2003), enthalten Ernst Jüngers Fassung letzter Hand. Ihr folgt diese Taschenbuchausgabe in Seiten- wie Zeilenumbruch. Offensichtliche Fehler wurden korrigiert, die posthum erschienenen Supplementbände integriert. Der vorliegende Band entspricht Band 8 der gebundenen Ausgabe.
Klett-Cotta
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© 2015 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
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Verwendung von Illustrationen von Niklas Sagebiel, Berlin
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-96310-6
E-Book: ISBN 978-3-608-10910-8
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
INHALT
Der Arbeiter
Herrschaft und Gestalt
Vorwort
Vorwort zur ersten Auflage
Erster Teil
Das Zeitalter des dritten Standes als ein Zeitalterder Scheinherrschaft
Der Arbeiter im Spiegelbilde der bürgerlichen Welt
Die Gestalt als ein Ganzes, das mehr alsdie Summe seiner Teile umfaßt
Der Einbruch elementarer Mächte in denbürgerlichen Raum
Innerhalb der Arbeitswelt tritt der Freiheitsanspruchals Arbeitsanspruch auf
Macht als Repräsentation der Gestalt des Arbeiters
Das Verhältnis der Gestalt zum Mannigfaltigen
Zweiter Teil
Von der Arbeit als Lebensart
Der Untergang der Masse und des Individuums
Die Ablösung des bürgerlichen Individuumsdurch den Typus des Arbeiters
Der Unterschied zwischen den Rangordnungendes Typus und des Individuums
Die Technik als Mobilisierung der Welt durch dieGestalt des Arbeiters
Die Kunst als Gestaltung der Arbeitswelt
Der Übergang von der liberalen Demokratiezum Arbeitsstaat
Die Ablösung der Gesellschaftsverträgedurch den Arbeitsplan
Schluß
Übersicht
Maxima – Minima
Adnoten zum »Arbeiter«
Aus der Korrespondenz zum »Arbeiter«
An der Zeitmauer
Fremde Vögel
Meßbare und Schicksalszeit
Gedanken eines Nichtastrologen zur Astrologie
An der Zeitmauer
Humane Einteilungen
Siderische Einteilungen
Urgrund und Person
ERSTAUSGABE 1932
Das Werk über den Arbeiter erschien im Herbst 1932, zu einer Zeit, in der bereits an der Unhaltbarkeit des Alten und der Heraufkunft neuer Kräfte kein Zweifel mehr bestand. Es stellte und stellt den Versuch dar, einen Punkt zu gewinnen, von dem aus die Ereignisse in ihrer Vielfalt und Gegensätzlichkeit nicht nur zu begreifen, sondern, obwohl gefährlich, auch zu begrüßen sind.
Das Erscheinen des Buches kurz vor einer der großen Wenden ist nicht zufällig; und es fehlte nicht an Stimmen, die ihm einen Einfluß darauf zubilligten. Das war natürlich nicht immer anerkennend gemeint, und leider kann ich dem auch nicht zustimmen – einmal, weil ich den Einfluß von Büchern auf die Aktion nicht überschätze, und sodann, weil dieses zu kurz vor den Ereignissen erschien.
Hätten die großen Akteure sich nach den hier entwickelten Prinzipien gerichtet, so würden sie viel Unnötiges, ja Unsinniges unterlassen und Notwendiges getan haben, vermutlich sogar ohne Waffengewalt. Statt dessen leiteten sie einen Mahlgang ein, dessen Bedeutung sich dort verbarg, wo sie es am wenigsten vermuteten: in der weiteren Auflösung des Nationalstaates und der mit ihm verknüpften Ordnungen. Aus diesem Aspekt heraus erklärt sich, was über den »Bürger« gesagt worden ist.
Was sich auf anderen Teilen des Planeten ereignet und Millionen das Leben gekostet hatte, war nicht zu übersehen, und ebenso wenig, daß die herkömmlichen Mittel nicht ausreichten. Demgegenüber bleibt es eine akademische Frage, ob die Doppelaufgabe sowohl einer rücksichtslosen Gepäckerleichterung unter Wahrung der Kernsubstanz als auch einer Marschbeschleunigung über den Fortschritt hinaus überhaupt noch zu bewältigen oder ob nicht hinsichtlich der Bereitstellung zunächst 1848, sodann 1918 Unwiederbringliches versäumt worden war. Das betrifft den Unterschied der deutschen zur Weltdemokratie und rührt nicht an das Problem.
Daß hier nicht nur nationale, ökonomische, politische, geographische und ethnologische Größen, sondern Vorhuten einer neuen Erdmacht geahnt und abgetastet wurden, konnte inzwischen eingehender belegt werden. Es wurde auch bereits damals von manchem Leser erkannt, obwohl das Episodische und Akzidentielle, der politische und polemische Vordergrund eines Problems, zu allen Zeiten die Aufmerksamkeit stärker fesseln als sein substantieller Kern. Dieser wirkt jedoch auf die Dauer, wenn auch in stets wechselnden Verkleidungen.
So sehen wir, während die historischen Mächte sich erschöpfen, und zwar selbst dort, wo sie Imperien bildeten, zugleich im Weltmaßstab und über ihn hinaus ein Größeres wachsen, von dem wir zunächst nur die dynamische Potenz fassen. Das ist ein Zeichen dafür, daß der Gewinn an anderer Stelle zu Buche schlägt, als innerhalb der Händel vermutet wird. Partielle Blindheit gehört jedoch zum Plan. Unerschütterlich, stets wirksamer aus dem Chaos hervortretend, bleibt allein die Gestalt des Arbeiters.
Seit langem, eigentlich schon seit dem Druck der ersten Auflage, beschäftigen mich Pläne zur Revision des Buches über den Arbeiter. Sie sind mehr oder weniger ausgeführt und variieren von einer »durchgesehenen« und einer »gründlich durchgesehenen« Ausgabe bis zu einer Zweit- oder Neufassung.
Wenn trotzdem der unberührte Text der dritten Auflage (1942) in die Gesamtausgabe übernommen wurde, so vor allem aus Gründen der Dokumentation. Vieles von dem, was damals überraschend oder auch provokatorisch wirkte, ist heute in die alltägliche Erfahrung eingerückt. Zugleich ist vergangen, was zur Replik herausforderte. Eben deshalb läßt sich auch leichter als damals die Ausgangslage und das Episodische an ihr dem unveränderlichen Kern des Buches unterordnen: der Konzeption der Gestalt.
Immerhin sind auch die Ansätze im Lauf der Jahre zu mehr oder minder umfangreichen Betrachtungen gediehen. Einige davon finden sich in den Essaybänden dieser Ausgabe, andere sind hier im Anhang zusammengefaßt.
Wilflingen, den 16. November 1963
Der Plan dieses Buches besteht darin, die Gestalt des Arbeiters sichtbar zu machen jenseits der Theorien, jenseits der Parteiungen, jenseits der Vorurteile als eine wirkende Größe, die bereits mächtig in die Geschichte eingegriffen hat und die Formen einer veränderten Welt gebieterisch bestimmt. Da es sich hier weniger um neue Gedanken oder ein neues System handelt als um eine neue Wirklichkeit, kommt alles auf die Schärfe der Beschreibung an, die Augen voraussetzt, denen die volle und unbefangene Sehkraft gegeben ist.
Während diese Grundabsicht sich wohl in jedem Satze niedergeschlagen hat, ist das vorgeführte Material so, wie es dem notwendig begrenzten Überblick und der besonderen Erfahrung des Einzelnen entspricht. Wenn es nur gelungen ist, eine Flosse des Leviathans sichtbar zu machen, stößt der Leser um so leichter zu eigenen Entdeckungen vor, als der Gestalt des Arbeiters nicht ein Element der Armut, sondern ein Element der Fülle zugeordnet ist.
Es wird versucht, diese wichtige Mitarbeit durch die Methodik des Vortrages zu unterstützen, die sich bemüht, nach den Regeln des soldatischen Exerzitiums zu verfahren, dem ein mannigfaltiger Stoff als Gelegenheit zur Einübung ein und desselben Zugriffes dient. Nicht auf die Gelegenheiten, sondern auf die instinktive Sicherheit des Zugriffes kommt es an.
Berlin, den 14. Juli 1932
Die Herrschaft des dritten Standes hat in Deutschland nie jenen innersten Kern zu berühren vermocht, der den Reichtum, die Macht und die Fülle eines Lebens bestimmt. Auf über ein Jahrhundert deutscher Geschichte zurückblickend, dürfen wir mit Stolz gestehen, daß wir schlechte Bürger gewesen sind. Nicht auf unsere Figur war das Gewand zugeschnitten, das nunmehr bis auf den letzten Faden abgetragen ist und unter dessen Fetzen bereits eine wildere und unschuldigere Natur erscheint als die, deren empfindsame Töne schon früh den Vorhang erzittern ließen, hinter dem die Zeit das große Schauspiel der Demokratie verbarg.
Nein, der Deutsche war kein guter Bürger, und er war es dort am wenigsten, wo er am stärksten war. Überall, wo am tiefsten und kühnsten gedacht, am lebendigsten gefühlt, am unerbittlichsten geschlagen wurde, ist der Aufruhr gegen die Werte unverkennbar, die die große Unabhängigkeitserklärung der Vernunft auf ihren Schild erhob. Aber nie waren die Träger jener unmittelbaren Verantwortung, die man als den Genius bezeichnet, vereinsamter, nie in ihrem Werk und Wirken gefährdeter als hier, und nie wurde die reine Entfaltung des Helden spärlicher genährt. Tief mußten die Wurzeln durch dürren Boden hinabgetrieben werden, um die Quellen zu erreichen, in die die zauberische Einheit von Blut und Geist gebettet ist, die das Wort unwiderstehlich macht. Ebenso schwierig war es dem Willen, jene andere Einheit von Macht und Recht zu erringen, die die Eigenart dem Fremden gegenüber zum Range des Gesetzes erhebt.
Daher war diese Spanne überreich an großen Herzen, deren letzte Auflehnung darin bestand, daß sie ihrem Schlage Einhalt geboten, überreich an hohen Geistern, denen die Stille der Schattenwelt willkommen schien. Sie war reich an Staatsmännern, denen sich die Quellen der Zeit versagten und die aus der Vergangenheit schöpfen mußten, um für die Zukunft tätig zu sein; reich an Schlachten, in denen das Blut sich in anderen Siegen und Niederlagen erprobte als der Geist.
So kommt es, daß alle Positionen, die der Deutsche in dieser Zeit zu besetzen vermochte, nicht befriedigen, aber daß sie an ihren entscheidenden Punkten an jene Gefechtsflaggen erinnern, deren Sinn in der Ordnung des Aufmarsches noch entfernter Armeen besteht. Dieser Zwiespalt ist im einzelnen überall nachzuweisen; sein Grund liegt darin, daß der Deutsche von jener Freiheit, die ihm mit allen Künsten des Schwertes und der Überredung angeboten wurde und die in der Verkündung der allgemeinen Menschenrechte ihre Setzung erfuhr, gar keinen Gebrauch zu machen wußte: es war diese Freiheit für ihn ein Werkzeug, das zu seinen innersten Organen keine Beziehung besaß.
Wo also in Deutschland man diese Sprache zu sprechen begann, war leicht zu erraten, daß es sich nur um schlechte Übersetzungen handelte, und das Mißtrauen einer Welt, in der die Wiege der bürgerlichen Gesittung stand, war um so berechtigter, als immer wieder eine Ursprache sich Gehör zu schaffen suchte, über deren gefährliche und andersartige Bedeutung kein Zweifel möglich war. Man hegte den Verdacht, daß hier so teure, so kostbare Wertungen nicht ernst genommen wurden, man ahnte hinter ihrer Maske eine unberechenbare und ungebändigte, in einem eigentümlichen Urverhältnis ihre letzte Zuflucht witternde Kraft – und man hat recht geahnt.
Denn in diesem Lande ist ein Begriff der Freiheit unvollziehbar, der sich wie ein feststehendes und in sich selbst inhaltloses Maß auf jede beliebige Größe anwenden läßt, die man ihm unterwirft. Es hat hier vielmehr von jeher dies gegolten: daß das Maß an Freiheit, über das eine Kraft verfügt, genau dem Maße an Bindung entspricht, das ihr zugeteilt ist, und daß sich im Umfange des befreiten Willens der Umfang der Verantwortung offenbart, die diesem Willen seine Berechtigung und Gültigkeit erteilt. Dies bringt sich so zum Ausdruck, daß nichts anderes in unsere Wirklichkeit, also in unsere Geschichte in ihrer höchsten, schicksalsmäßigen Bedeutung, einzugehen vermag, als was das Siegel dieser Verantwortung trägt. Über dieses Siegel braucht nicht gesprochen zu werden, denn da es unmittelbar verliehen wird, so sind auch Zeichen darein geritzt, die ein stets bereiter Gehorsam unmittelbar zu lesen versteht.
So ist es: daß unsere Freiheit überall dort am mächtigsten sich offenbart, wo sie von dem Bewußtsein getragen wird, daß sie ein Lehen ist. Dieses Bewußtsein hat sich in all jenen unvergeßlichen Aussprüchen niedergeschlagen, mit denen der Uradel der Nation den Wappenschild des Volkes bedeckt; es regiert Denken und Gefühl, Tat und Werk, Staatskunst und Religion. Daher wird jedesmal die Welt in ihren Grundfesten erschüttert, wenn der Deutsche erkennt, was Freiheit, das heißt: wenn er erkennt, was das Notwendige ist. Hier läßt sich nichts abdingen, und möge die Welt untergehen, so muß doch das Gebot vollstreckt werden, wenn der Ruf vernommen ist.
Man wird eine Eigenschaft, die man vor allen anderen für das Kennzeichen des Deutschen hält, nämlich die Ordnung, immer zu gering einschätzen, wenn man nicht in ihr das stählerne Spiegelbild der Freiheit zu erkennen vermag. Gehorsam, das ist die Kunst zu hören, und die Ordnung ist die Bereitschaft für das Wort, die Bereitschaft für den Befehl, der wie ein Blitzstrahl vom Gipfel bis in die Wurzeln fährt. Jeder und jedes steht in der Lehensordnung, und der Führer wird daran erkannt, daß er der erste Diener, der erste Soldat, der erste Arbeiter ist. Daher beziehen sich sowohl Freiheit wie Ordnung nicht auf die Gesellschaft, sondern auf den Staat, und das Muster jeder Gliederung ist die Heeresgliederung, nicht aber der Gesellschaftsvertrag. Daher ist der Zustand unserer äußersten Stärke erreicht, wenn über Führung und Gefolgschaft kein Zweifel besteht.
Zu erkennen ist dies: daß Herrschaft und Dienst ein und dasselbe sind. Das Zeitalter des dritten Standes hat die wunderbare Macht dieser Einheit nie erkannt, denn allzu billige und allzu menschliche Genüsse schienen ihm erstrebenswert. Daher wurden alle Punkte, die der Deutsche in diesem Zeitalter zu erreichen vermochte, dennoch erreicht: die Bewegung fand auf allen Gebieten in einem fremden und unnatürlichen Elemente statt. Der wirkliche Grund konnte gleichsam nur unter Taucherhelmen betreten werden; die entscheidende Arbeit vollzog sich im tödlichen Raum. Ehre diesen Gefallenen, die die schauerliche Einsamkeit der Liebe oder der Erkenntnis zerbrach oder die der Stahl auf den glühenden Hügeln des Kampfes zu Boden schlug!
Aber es gibt kein Zurück. Wer heute in Deutschland nach einer neuen Herrschaft begierig ist, der wendet den Blick dorthin, wo er ein neues Bewußtsein von Freiheit und Verantwortung an der Arbeit sieht.
Suchen wir dieses Bewußtsein zunächst dort auf, wo es am heftigsten am Werke ist, aber suchen wir es mit Liebe, mit dem Willen, Bestehendes wohl zu deuten, auf! Wenden wir uns also dem Arbeiter1 zu, der sich schon früh auf einen unerbittlichen Gegensatz zu allen bürgerlichen Wertungen berief und aus dem Gefühl dieses Gegensatzes die Kraft zu seinen Bewegungen zog.
Wir stehen weit genug von den Anfängen dieser Bewegungen entfernt, um ihnen gerecht werden zu können. Man kann sich die Lehrbank nicht aussuchen, auf der der Charakter gebildet wird, denn die Schule wird durch die Väter bestimmt, aber es kommt ein Tag, an dem man sich ihr entwachsen fühlt und die eigentliche Berufung erkennt. Dies ist zu bedenken, wenn man die Mittel des Arbeiters auf ihre Schlagkraft hin untersucht, und es ist wohl zu berücksichtigen, daß sie im Kampfe entstanden sind und daß im Kampfe jede Position unter der Einwirkung des Gegners bezogen wird. So wäre es allzu billig, dem Arbeiter vorzuwerfen, daß sein Bestand wie ein Metall, das sich noch nicht in Reinheit ausgeschmolzen hat, von bürgerlichen Wertungen durchwachsen ist und daß seine Sprache, die unzweifelhaft dem 20. Jahrhundert angehört, reich an Begriffen ist, die durch die Fragestellungen des 19. Jahrhunderts gebildet sind. Denn auf den Gebrauch dieser Begriffe war er angewiesen, um sich verständlich zu machen, als er zum ersten Male zu sprechen begann, und die Begrenzung seiner Ansprüche wurde durch die Ansprüche des Gegners bestimmt. So wuchs er langsam und unter Druck gegen die bürgerliche Decke an, um sie endlich zu sprengen, und es ist kein Wunder, daß er die Spuren dieses Wachstums trägt.
Diese Spuren ließ jedoch nicht nur der Widerstand, sondern auch die Ernährung zurück. Wir sahen, daß in Deutschland der dritte Stand aus guten Gründen eine offene und anerkannte Herrschaft zu erringen nicht fähig war. So fiel dem Arbeiter die wunderliche Nebenaufgabe zu, diese Herrschaft nachzuholen, und es ist ein sehr bedeutsamer Akt, daß er zunächst das Fremde, das seinen Bestrebungen beigemischt war, zur Herrschaft bringen mußte, um so zu erfahren, daß es ihm nicht eigentümlich war. Dies, wie gesagt, sind Spuren der Ernährung, und die Ausscheidung des Unzuträglichen wird sie beseitigen. Aber wie konnte es auch anders sein, da die ersten Lehrmeister des Arbeiters bürgerlicher Herkunft waren und die Anlage der Systeme, in die die junge Kraft eingebettet wurde, bürgerlichen Mustern entsprach!
So erklärt es sich, daß die Erinnerung an die blutige Hochzeit des Bürgertums mit der Macht, die Erinnerung an die Französische Revolution, die Quelle war, aus der die ersten Regungen sich speisten und richteten. Aber es gibt ebensowenig Wiederholungen des geschichtlichen Vorganges, wie es Übertragungen seines lebendigen Inhaltes gibt. So kommt es, daß man überall, wo man in Deutschland revolutionäre Arbeit zu leisten meinte, Revolution schauspielerte und daß die eigentlichen Umwälzungen sich unsichtbar vollzogen, sei es in stillen Räumen, sei es verhüllt unter den glühenden Vorhängen der Schlacht.
Aber das wirklich Neue bedarf nicht der Betonung, daß es sich im Aufruhr befindet, und seine höchste Gefährlichkeit begründet sich in der Tatsache, daß es vorhanden ist.
Einer unscharfen Einstellung des Blickes entspringt daher zum ersten die Gleichsetzung des Arbeitertums mit einem vierten Stand.
Nur einem an mechanische Bilder gewöhnten Geiste kann sich der Vorgang der Herrschaftsfolge so darstellen, daß, so wie der Zeiger der Uhr seinen Schatten über die Stunden wirft, ein Stand nach dem anderen den Rahmen der Macht durchgleitet, während unten bereits eine neue Klasse zum Bewußtsein erwacht.
Als Stand in diesem besonderen Sinne hat sich vielmehr nur das Bürgertum empfunden; es hat dieses Wort, das von sehr alter und guter Herkunft ist, aus seinen gewachsenen Zusammenhängen gelöst, seines Sinnes entkleidet und zu nichts anderem als zu einer Maske des Interesses gemacht.
Es ist daher ein bürgerlicher Gesichtswinkel, unter dem das Arbeitertum als ein Stand gedeutet wird, und es liegt dieser Deutung eine unbewußte List zugrunde, die die neuen Ansprüche in einen alten Rahmen einzuspannen sucht, der die Fortsetzung der Unterhaltung ermöglichen soll. Denn wo der Bürger sich unterhalten, wo er verhandeln kann, da ist er in Sicherheit. Der Aufstand des Arbeitertums wird jedoch nicht ein zweiter und farbloserer Aufguß sein, der nach veralteten Rezepten bereitet ist. Nicht in der zeitlichen Folge der Herrschaft, nicht im Gegensatze zwischen Alt und Neu liegt der wesentliche Unterschied, der zwischen dem Bürger und dem Arbeiter besteht. Daß matt gewordene Interessen durch jüngere und brutalere Interessen abgelöst werden, ist zu selbstverständlich, als daß man sich bei der Betrachtung darüber aufhalten darf.
Was vielmehr die höchste Aufmerksamkeit erregt, das ist die Tatsache, daß zwischen dem Bürger und dem Arbeiter nicht nur ein Unterschied im Alter, sondern vor allem ein Unterschied des Ranges besteht. Der Arbeiter nämlich steht in einem Verhältnis zu elementaren Mächten, von deren bloßem Vorhandensein der Bürger nie eine Ahnung besaß. Hiermit hängt es, wie ausgeführt werden wird, zusammen, daß der Arbeiter aus dem Grunde seines Seins einer ganz anderen Freiheit als der bürgerlichen Freiheit fähig ist und daß die Ansprüche, die er in Bereitschaft hält, weit umfassender, weit bedeutsamer, weit fürchterlicher als die eines Standes sind.
Zum zweiten kann jede Front nur als eine vorläufige, nur als eine Front der ersten Vorpostengefechte betrachtet werden, die den Arbeiter in eine Kampfstellung bringt, die sich auf den Angriff gegen die Gesellschaft beschränkt. Denn auch dieses Wort hat im bürgerlichen Zeitalter seinen Wertsturz erlebt; es hat eine besondere Bedeutung erlangt, deren Sinn die Verneinung des Staates als des obersten Machtmittels ist.
Was diesem Bestreben im Innersten zugrunde liegt, das ist das Bedürfnis nach Sicherheit und damit der Versuch, das Gefährliche zu leugnen und den Lebensraum so abzudichten, daß sein Einbruch verhindert wird. Freilich ist das Gefährliche immer vorhanden und triumphiert selbst über die feinsten Listen, mit denen man es umgarnt, ja es fließt unberechenbar in diese Listen ein, um sich mit ihnen zu maskieren, und das verleiht der Gesittung ihr doppeltes Gesicht – die engen Beziehungen, die zwischen Brüderlichkeit und Blutgerüst, zwischen den Menschenrechten und mörderischen Schlachten bestehen, sind allzu bekannt.
Aber es wäre irrig, anzunehmen, daß der Bürger jemals, und sei es in seiner besten Zeit, das Gefährliche aus eigener Kraft heraufbeschworen hätte; alles dies gleicht vielmehr einem schrecklichen Hohnlachen der Natur über ihre Unterstellung unter die Moral, einem wütenden Frohlocken des Blutes über den Geist, wenn das Vorspiel der schönen Reden beendet ist. Daher wird jedes Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Elementaren geleugnet, und zwar mit einem Aufwande an Mitteln, der jedem unverständlich bleiben wird, der hier nicht ein geheimstes Wunschbild als den Vater der Gedanken errät.
Diese Verneinung vollzieht sich so, daß sie das Elementare in das Reich des Irrtums, der Träume oder eines notwendig bösen Willens verweist, ja daß sie es mit dem Unsinn selbst als gleichbedeutend setzt. Der Vorwurf der Dummheit und der Unmoralität ist hier der entscheidende, und da die Gesellschaft sich durch die beiden obersten Begriffe der Vernunft und der Moral bestimmt, so stellt dieser Vorwurf das Mittel dar, durch das man den Gegner aus dem Raume der Gesellschaft, also aus dem Raume der Menschheit und damit aus dem Raume des Gesetzes, verbannt.
Dieser Unterscheidung entspricht ein Vorgang, den man immer wieder mit Erstaunen beobachtet hat: daß nämlich die Gesellschaft gerade während der blutigsten Höhepunkte des Bürgerkrieges wie auf ein Stichwort die Todesstrafe für aufgehoben erklärt und daß sie immer dann, wenn ihre Schlachtfelder sich mit Leichen bedecken, ihre besten Einfälle über die Unsittlichkeit und Unsinnigkeit des Krieges gebiert.
Es hieße jedoch den Bürger überschätzen, wenn man hinter dieser höchst seltsamen Dialektik Absicht vermuten wollte, denn in keiner Zone nimmt er sich ernster als in der vernünftigen und moralischen, ja er ist in seinen bedeutsamsten Erscheinungen die Einheit des Vernünftigen mit dem Moralischen selbst.
Das Elementarische drängt sich ihm vielmehr aus einer ganz anderen Sphäre als aus der seiner eigentlichen Stärke auf, und mit Schrecken erkennt er jenen Punkt, an dem die Verhandlung beendet ist. Ewig würde er sich an seinen schönen Anklagen ergötzen, deren Grundpfeiler Tugend und Gerechtigkeit sind, wenn ihm nicht im rechten Augenblicke der Pöbel das unerwartete Geschenk seiner mächtigeren, aber gestaltlosen Kraft darbringen würde, die ihre Nahrung aus den Urkräften des Sumpfes zieht. Ewig würde er das Gleichgewicht der Mächte in der Schwebe zu halten wissen wie ein Kunstwerk, das um seiner selbst willen besteht, wenn nicht zuweilen über ihn hinweg der Krieger in Erscheinung treten würde, den er widerwillig und in ständiger Bereitschaft zu verhandeln gewähren läßt. Aber die Verantwortung lehnt er ab, da er nicht in Art und Eigenart, sondern im allgemein Moralischen seine Freiheit erkennt. Kein besseres Beispiel ist dafür zu nennen, als daß er den eigentlichen Täter und Attentäter, der ihm die Tore der Herrschaft erst sprengte, vernichtet, sowie dessen Aufgabe beendet ist. Die Einkerkerung der Leidenschaften ist die Bescheinigung, mit der er die Beute der Revolutionen quittiert, und die Erhängung der Henker ist das Satyrspiel, das die Tragödie des Aufstandes beschließt.
Ebenso lehnt er die höchste Begründung des Krieges, den Angriff, ab, weil er wohl fühlt, daß sie ihm nicht angemessen ist, und wo er, sei es auch aus dem offensichtlichsten Eigennutz, den Soldaten zu Hilfe ruft oder sich selbst als Soldat verkleidet, wird er nie auf die Beschwörung verzichten, daß dies zur Verteidigung, ja möglichst zur Verteidigung der Menschheit geschieht. Der Bürger kennt nur den Verteidigungskrieg, das heißt, er kennt den Krieg überhaupt nicht, schon weil er seinem Wesen nach von allen kriegerischen Elementen ausgeschlossen ist. Er ist jedoch auf der anderen Seite unfähig, ihren Einbruch in seine Ordnungen zu verhindern, weil alle Wertungen, die er ihnen entgegenzustellen hat, niederen Ranges sind.
Hier setzt das kunstvolle Spiel seiner Begriffe ein, und seine Politik, ja das Universum selbst ist ihm ein Spiegel, in dem er seine Tugend stets von neuem bestätigt sehen will. Lehrreich wäre es, ihn bei jener unermüdlichen Feilarbeit zu beobachten, die die harte und notwendige Prägung des Wortes so lange abzutragen weiß, bis eine allgemein verbindliche Moralität zum Durchschein kommt – sei es nun, daß er in der Eroberung einer Kolonie deren friedliche Durchdringung, in der Abtrennung einer Provinz das Selbstbestimmungsrecht des Volkes oder in der Plünderung des Besiegten eine Wiedergutmachung zu erkennen weiß. Aber es genügt, die Methode zu kennen, um zu erraten, daß die Konzeption dieses Wörterbuches mit der Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft begonnen hat.
Jeder nun, der dies begriffen hat, wird auch die große Gefahr, die große Beraubung an Ansprüchen begreifen, die sich in der Tatsache versteckt, daß man dem Arbeiter als oberstes Angriffsziel die Gesellschaft zugewiesen hat. Die entscheidenden Angriffsbefehle weisen noch alle Kennzeichen eines Zeitalters auf, in dem es freilich ebenso selbstverständlich war, daß eine erwachende Macht sich als Stand zu erkennen hatte, wie es selbstverständlich war, daß der Vollzug der Machtergreifung sich zu kennzeichnen hatte als eine Veränderung des Gesellschaftsvertrages.
Wohl zu beachten ist nun dies: daß diese Gesellschaft nicht eine Form an sich, sondern nur eine der Grundformen der bürgerlichen Vorstellung ist. Dies erweist sich an der Tatsache, daß es in der bürgerlichen Politik keine Größe gibt, die nicht als Gesellschaft begriffen wird.
Gesellschaft ist die Gesamtbevölkerung des Erdballes, die sich dem Begriffe als das Idealbild einer Menschheit darstellt, deren Spaltung in Staaten, Nationen oder Rassen im Grunde auf nichts anderem als auf einem Denkfehler beruht. Dieser Denkfehler wird jedoch im Laufe der Zeit durch Verträge, durch Aufklärung, durch Gesittung oder einfach durch den Fortschritt der Verkehrsmittel korrigiert.
Gesellschaft ist der Staat, dessen Wesen sich in demselben Grade verwischt, in dem ihn die Gesellschaft ihren Maßen unterwirft. Dieser Angriff findet durch den Begriff der bürgerlichen Freiheit statt, dessen Aufgabe die Umwandlung aller verantwortlichen Bindungen in Vertragsverhältnisse auf Kündigung ist.
Im engsten Verhältnis zur Gesellschaft steht endlich der Einzelne, jene wunderliche und abstrakte Figur des Menschen, die kostbarste Entdeckung der bürgerlichen Empfindsamkeit und zugleich der unerschöpfliche Gegenstand ihrer künstlerischen Bildungskraft. Wie die Menschheit der Kosmos dieser Vorstellung, so ist der Mensch ihr Atom. Praktisch allerdings sieht der Einzelne sich nicht der Menschheit gegenüber, sondern der Masse, seinem genauen Spiegelbilde in dieser höchst sonderbaren, höchst imaginären Welt. Denn die Masse und der Einzelne sind eins, und aus dieser Einheit ergibt sich das verblüffende Doppelbild von buntester, verwirrendster Anarchie und der nüchternen Geschäftsordnung der Demokratie, welches das Schauspiel eines Jahrhunderts war.
Es gehört aber zu den Kennzeichen einer neuen Zeit, daß in ihr die bürgerliche Gesellschaft, gleichviel ob sie ihren Freiheitsbegriff in der Masse oder im Individuum zur Darstellung bringen möge, zum Tode verurteilt ist. Der erste Schritt besteht darin, daß man in diesen Formen nicht mehr denkt und fühlt, der zweite, daß man in ihnen nicht mehr tätig ist.
Dies bedeutet nicht weniger als den Angriff auf alles, was dem Bürger das Leben kostbar macht. Daher ist es eine Lebensfrage für ihn, daß der Arbeiter sich als der künftige Träger der Gesellschaft begreift. Denn gehört nur dies zum dogmatischen Bestand, so wird die Grundform der bürgerlichen Anschauung gerettet und damit die feinste Möglichkeit ihrer Herrschaft gesichert sein.
So kann es denn nicht wunder nehmen, daß in alle Vorschriften, die der bürgerliche Geist von seinen Lehrstühlen und aus seinen Dachkammern herab dem Arbeiter verschrieb, die Gesellschaft, nicht etwa in ihrer Erscheinung, sondern, weit wirksamer, in ihren Prinzipien, eingebettet ist. Die Gesellschaft erneuert sich durch Scheinangriffe auf sich selbst; ihr unbestimmter Charakter oder vielmehr ihre Charakterlosigkeit bringt es mit sich, daß sie auch ihre schärfste Selbstverneinung noch in sich aufzunehmen vermag. Ihre Mittel sind zwiefach: entweder verweist sie die Verneinung an ihren individuell anarchischen Pol und verleibt sie dadurch ihrem Bestande ein, daß sie sie ihrem Freiheitsbegriffe unterstellt; oder sie fängt sie an dem scheinbar entgegengesetzten Pole der Masse in sich ein und verwandelt sie dort durch Zählung, durch Abstimmung, durch Unterhandlung oder Unterhaltung in einen demokratischen Akt.
Ihre weibliche Gesinnung verrät sich darin, daß sie jeden Gegensatz nicht von sich abzusetzen, sondern in sich aufzunehmen sucht. Wo immer ihr ein Anspruch begegnet, der sich als entschieden bezeichnet, besteht ihre feinste Bestechung darin, daß sie ihn als eine Äußerung ihres Freiheitsbegriffes erklärt und ihn dergestalt vor dem Forum ihres Grundgesetzes legitimiert, das heißt: unschädlich macht.
Dies hat dem Worte radikal seinen unausstehlich bürgerlichen Beigeschmack verliehen, und dies macht, nebenbei gesagt, jenen Radikalismus an sich zu einem einträglichen Geschäft, aus dem eine Generation von Politikern, eine Generation von Artisten nach der anderen ihre einzige Nahrung zog. Dies ist die letzte Ausflucht der Dummheit, der Frechheit und der hoffnungslosen Unfähigkeit, daß sie auf den Bauernfang geht, indem sie sich mit den Pfauenfedern einer nichts als radikalen Gesinnung schmückt.
Zu lange, allzu lange schon wohnt der Deutsche diesem nichtswürdigen Schauspiele bei. Seine einzige Entschuldigung ist sein Glaube, daß in jede Form notwendig ein Inhalt eingeschlossen sei, und der einzige Trost, daß dieses Schauspiel sich wohl in Deutschland, keineswegs aber innerhalb der deutschen Wirklichkeit vollzieht. Denn alles dies fällt dem Reiche der Vergessenheit anheim – nicht jener Vergessenheit, die dem Efeu gleicht, der die Ruinen und die Gräber der Gefallenen bedeckt, sondern einer anderen, schrecklichen, die die Lüge und das Niegewesene enthüllt, indem sie sie spurlos und fruchtlos zerstäubt.
Einer besonderen, nachträglichen Untersuchung muß es überlassen bleiben, aufzudecken, in welchem Umfange es dem bürgerlichen Denken gelungen ist, das Bild der Gesellschaft unter der Vorspiegelung ihrer Selbstverneinung in die ersten Anstrengungen des Arbeiters hineinzufälschen. Man wird hier die Freiheit des Arbeiters entdecken als eine neue Durchpausung der bürgerlichen Freiheitsschablone, in der nunmehr ganz offen das Schicksal als ein Vertragsverhältnis auf Kündigung und der höchste Triumph des Lebens als eine Änderung dieses Vertrages gedeutet wird. Man wird hier den Arbeiter erkennen als den unmittelbaren Nachfolger des vernünftig-tugendhaften Einzelnen und als den Gegenstand einer zweiten Empfindsamkeit, die von jener ersten durch nichts als eine größere Dürftigkeit unterschieden ist. Man wird ferner in genauer Entsprechung die Arbeiterschaft als den Abdruck des Idealbildes einer Menschheit entdecken, in deren bloßer Utopie bereits die Verneinung des Staates und seiner Fundamente enthalten ist. Dies und nichts als dies bedeutet der Anspruch, der sich hinter Worten wie »international«, »sozial« und »demokratisch« verbirgt – oder vielmehr verborgen hat, denn für jeden, der sich auf das Erraten versteht, wird nichts als das Erstaunen zurückbleiben darüber, daß man die bürgerliche Welt gerade durch die Forderungen erschüttern zu können glaubte, in denen sie selbst sich am eindeutigsten bestätigte.
Nachträglich aber wird diese Untersuchung deshalb genannt, weil die Bestätigung sich bereits in der sichtbaren Welt vollzogen hat. Denn in der Tat ist es dem Bürger gelungen, sich mit Hilfe des Arbeiters einen Grad der Verfügungsgewalt zu sichern, wie er ihm im ganzen 19. Jahrhundert nicht beschieden war.
Und wiederum tut sich, wenn man sich des Augenblickes entsinnt, in dem so in Deutschland die Gesellschaft zur Herrschaft kam, eine Fülle von symbolischen Bildern auf. Ganz abgesehen sei hier von der Tatsache, daß dieser Augenblick mit dem Augenblicke zusammenfiel, in dem sich der Staat in der höchsten, schrecklichsten Gefahr befand und in dem der deutsche Krieger am Feinde stand. Denn der Bürger vermochte nicht einmal jenes geringe Maß an elementarer Kraft aufzubringen, das unter diesen Umständen ein neuer Scheinangriff auf sich selbst, das heißt: auf ein im Kerne längst verbürgerlichtes Regime, erforderte. Nicht von ihm wurden jene wenigen Schüsse abgefeuert, deren es bedurfte, um das Ende eines Abschnittes deutscher Geschichte sichtbar zu machen, und seine Tätigkeit bestand nicht etwa darin, sie anzuerkennen, sondern in ihrer Ausnutzung.
Lange genug hatte er darauf gelauert, die Verhandlungen beginnen zu können, und seine Verhandlungen erreichten, was der äußersten Anstrengung einer ganzen Welt nicht erreichbar gewesen war.
Aber hier muß sich die Sprache Einhalt gebieten und es ablehnen, sich mit den Einzelheiten jener ungeheuerlichen Tragikomödie zu beschäftigen, die mit Arbeiter- und Soldatenräten begann, deren Mitglieder sich dadurch auszeichneten, daß sie weder jemals gearbeitet noch gefochten hatten, in der ferner der bürgerliche Freiheitsbegriff sich enthüllte als der Hunger nach Ruhe und Brot, die sich dann fortsetzte durch den symbolischen Akt der Auslieferung der Waffen und Schiffe, die über eine deutsche Schuld gegenüber dem Idealbilde der Menschheit nicht nur zu debattieren, sondern auch sie anzuerkennen wagte, die mit einer unbegreiflichen Schamlosigkeit die verstaubtesten Begriffe des Liberalismus in den Rang einer deutschen Ordnung zu erheben suchte und in der nunmehr der Triumph der Gesellschaft über den Staat sich ganz eindeutig offenbarte als ein fortgesetzter kombinierter Hoch- und Landesverrat des Gemeinen und Allzugemeinen am deutschen Bestand. Hier hört jede Unterhaltung auf, denn hier ist jenes Schweigen geboten, das eine Vorahnung des tödlichen Schweigens gibt. Hier hat die deutsche Jugend den Bürger in seiner letzten, unverhülltesten Erscheinung geschaut, und hier bekannte sie sich in ihren besten Verkörperungen sowohl des Soldaten wie des Arbeiters sofort zu einem Aufstande, in dem zum Ausdrucke kam, daß es in diesem Raume unendlich erstrebenswerter sei, Verbrecher als Bürger zu sein.
Hieraus ergibt sich, wie wichtig es ist, zu unterscheiden zwischen dem Arbeiter als einer werdenden Macht, auf der das Schicksal des Landes beruht, und den Gewändern, in die der Bürger diese Macht verkleidete, auf daß sie ihm als Marionette diene in seinem künstlichen Spiel. Dieser Unterschied ist ein Unterschied zwischen Aufgang und Untergang. Und dies ist unser Glaube: daß der Aufgang des Arbeiters mit einem neuen Aufgange Deutschlands gleichbedeutend ist.
Indem der Arbeiter sein bürgerliches Erbteil zur Herrschaft brachte, setzte er es zugleich sichtbar von sich ab, einer Puppe gleich, gefüllt mit dürrem Stroh, das seit über einem Jahrhundert ausgedroschen ist. Es kann seinem Blicke nicht mehr entgehen, daß die neue Gesellschaft ein zweiter und billigerer Abklatsch der alten ist.
Ewig würde so ein Abzug nach dem anderen gemacht, ewig der Lauf der Maschine durch die Erfindung neuer Gegensätze gespeist, wenn der Arbeiter nicht begriffe, daß er zu dieser Gesellschaft nicht im Verhältnis des Gegensatzes steht, sondern in dem der Andersartigkeit.
Erst dann wird er sich als der wahre Todfeind der Gesellschaft enthüllen, wenn er es ablehnt, in ihren Formen zu denken, zu fühlen und zu sein. Dies aber geschieht, wenn er erkennt, daß er in seinen Ansprüchen bisher allzu bescheiden gewesen ist und daß der Bürger ihn lehrte, nur das zu begehren, was eben dem Bürger begehrenswert scheint.
Aber das Leben birgt mehr und anderes als das, was der Bürger unter Gütern versteht, und der höchste Anspruch, den der Arbeiter zu stellen vermag, besteht nicht darin, der Träger einer neuen Gesellschaft, sondern der Träger eines neuen Staates zu sein.
Erst in diesem Augenblicke erklärt er den Kampf auf Leben und Tod. Dann wird aus dem Einzelnen, der im Grunde nichts als ein Angestellter ist, ein Kriegsmann, aus der Masse wird das Heer, und die Setzung einer neuen Befehlsordnung tritt an Stelle der Änderung des Gesellschaftsvertrags. Dies entrückt den Arbeiter der Sphäre der Verhandlungen, des Mitleids, der Literatur und erhebt ihn in die der Tat, es verwandelt seine juristischen Bindungen in militärische – das heißt, er wird statt der Anwälte Führer besitzen, und sein Dasein wird Maßstab werden, anstatt der Auslegung bedürftig zu sein.
Denn was sind seine Programme bisher anders als die Kommentare zu einem Urtext, der noch nicht geschrieben ist?
Endlich und drittens bleibt die Legende zu zerstören von der Grundqualität des Arbeiters als einer wirtschaftlichen Qualität.
In allem, was hierüber gedacht und gesagt worden ist, verrät sich der Versuch der Rechenkunst, das Schicksal in eine Größe zu verwandeln, die sich mit rechnerischen Mitteln auflösen läßt. Dieser Versuch ist bis in die Zeiten zu verfolgen, in denen man auf Otaheiti und der Ile de France das Urbild des vernünftig-tugendhaften und damit glücklichen Menschen entdeckte, in denen der Geist sich mit den gefährlichen Geheimnissen des Kornzolles zu beschäftigen begann und in denen die Mathematik zu jenen feinen Spielen gehörte, mit denen die Aristokratie sich am Vorabend ihres Unterganges belustigte.
Hier wurde das Muster geschaffen, das dann seine eindeutig wirtschaftliche Auslegung erfuhr, indem der Freiheitsanspruch des Einzelnen und der Masse sich als ein wirtschaftlicher Anspruch innerhalb einer wirtschaftlichen Welt begründete. Die durch diesen Anspruch hervorgerufene Auseinandersetzung zwischen den materialistischen und den idealistischen Schulen bildet einen der Abschnitte des endlosen bürgerlichen Gespräches; sie ist ein zweiter Aufguß jener ersten Unterhaltung der Enzyklopädisten unter den Dachstühlen von Paris. Wiederum sind die alten Figuren vertreten, und nichts ist geändert als das Schema, das sie gegenüberstellt und das nunmehr zu einem reinen Wirtschaftsschema geworden ist.
Es würde zu weit führen, zu verfolgen, wie sich die Unterhaltung durch die verschiedenartige Verteilung der alten Vorzeichen ernährt und wie sie sich durch ihren Wechsel belebt; wichtig ist nur, daß gesehen wird, wie sie den Streit der Meinungen und seine Träger in einer einheitlichen Ordnung umfaßt.
Das vernünftig-tugendhafte Idealbild der Welt fällt hier zusammen mit einer wirtschaftlichen Utopie der Welt, und wirtschaftliche Ansprüche sind es, auf die jede Fragestellung sich bezieht. Das Unentrinnbare liegt darin, daß innerhalb dieser Welt von Ausbeutern und Ausgebeuteten keine Größe möglich ist, über die nicht von einer höchsten Instanz des Wirtschaftlichen entschieden wird. Es gibt hier zwei Arten des Menschen, zwei Arten der Kunst, zwei Arten der Moral – aber wie wenig Scharfsinn gehört dazu, zu erkennen, daß es ein und dieselbe Quelle ist, die sie speist.
Ein und derselbe Fortschritt ist es auch, auf den die Träger des Wirtschaftskampfes ihre Rechtfertigung beziehen – sie begegnen sich in dem Grundanspruch, die Träger der Prosperität zu sein, und sie glauben, die Stellung des Gegners in ebendemselben Maße erschüttern zu können, in dem ihnen die Widerlegung dieses Anspruches gelingt.
Aber genug – jede Beteiligung an dieser Unterhaltung schließt ihre Fortsetzung in sich ein. Was gesehen werden muß, das ist das Vorhandensein einer Diktatur des wirtschaftlichen Denkens an sich, deren Umkreis jede mögliche Diktatur umfaßt und in ihren Maßnahmen beschränkt. Denn innerhalb dieser Welt ist keine Bewegung vollziehbar, die nicht den trüben Schlamm der Interessen von neuem aufwühlen würde, und es gibt hier keine Position, von der aus der Durchbruch gelingen kann. Denn den Mittelpunkt dieses Kosmos bildet die Wirtschaft an sich, die wirtschaftliche Deutung der Welt, und sie ist es, die jedem ihrer Teile seine Schwerkraft verleiht.
Welcher dieser Teile sich auch in den Besitz der Verfügungsgewalt setzen möge, immer wird er von der Wirtschaft als von einer höchsten Verfügungsgewalt abhängig sein.
Das Geheimnis, das sich hier verbirgt, ist einfacher Natur: Es besteht darin, daß einmal die Wirtschaft keine Macht ist, die Freiheit zu vergeben hat, und daß zum anderen ein wirtschaftlicher Sinn zu den Elementen der Freiheit nicht vorzudringen vermag – und doch bedarf es der Augen eines neuen Geschlechtes, damit dieses Geheimnis erraten werden kann.
Hier wird vielleicht eine Anmerkung nötig, durch die die Möglichkeit einer Verwechslung unterbunden werden soll: die Verneinung der wirtschaftlichen Welt als einer das Leben bestimmenden, also als einer Schicksalsmacht, ist eine Bestreitung des Ranges, nicht aber der Existenz. Denn nicht darauf kommt es an, daß die Schar jener Prediger in der Wüste vermehrt werde, denen ein anderer Raum nur durch die Hintertüren erreichbar scheint. Für die wirkliche Macht gibt es keinen Zugang, der nicht in Frage kommt.
Idealismus oder Materialismus – das ist eine Gegenüberstellung unsauberer Geister, deren Vorstellungskraft weder der Idee noch der Materie gewachsen ist. Die Härte der Welt wird nur durch Härte gemeistert, nicht aber durch Taschenspielerei.
Verstehen wir uns recht: nicht auf wirtschaftliche Neutralität kommt es an, nicht darauf, daß der Geist von allen wirtschaftlichen Kämpfen abgewendet wird, sondern im Gegenteil darauf, daß diesen Kämpfen die höchste Schärfe verliehen wird. Dies aber geschieht nicht, indem die Wirtschaft die Kampfregeln bestimmt, sondern indem ein höheres Gesetz des Kampfes auch über die Wirtschaft verfügt.
Aus diesem Grunde ist es für den Arbeiter so wichtig, daß er jede Erklärung ablehnt, die seine Erscheinung als eine wirtschaftliche Erscheinung, ja selbst als ein Erzeugnis wirtschaftlicher Vorgänge, also im Grunde als eine Art von Industrieprodukt, zu deuten sucht und daß er die bürgerliche Herkunft dieser Erklärungen durchschaut. Diese verhängnisvollen Bindungen kann keine Maßnahme wirkungsvoller durchschneiden als die Unabhängigkeitserklärung des Arbeiters von der wirtschaftlichen Welt. Dies bedeutet nicht etwa den Verzicht auf diese Welt, sondern ihre Unterordnung unter einen Herrschaftsanspruch von umfassenderer Art. Es bedeutet, daß nicht die wirtschaftliche Freiheit und nicht die wirtschaftliche Macht der Angelpunkt des Aufstandes ist, sondern die Macht überhaupt.
Indem der Bürger seine eigenen Ziele in die des Arbeiters hineinspiegelte, beschränkte er zugleich das Angriffsziel auf ein bürgerliches Angriffsziel. Heute aber ahnen wir die Möglichkeit einer reicheren, tieferen und fruchtbareren Welt. Sie zu verwirklichen, genügt nicht ein Freiheitskampf, dessen Bewußtsein sich aus der Tatsache der Ausbeutung ernährt. Alles hängt vielmehr davon ab, daß der Arbeiter seine Überlegenheit erkennt und sich aus ihr die eigenen Maßstäbe seiner künftigen Herrschaft schafft. Dies wird die Wucht seiner Mittel verstärken – aus dem Versuche, den Gegner durch Kündigung mattzusetzen, wird seine Unterwerfung durch Eroberung.
Dies sind nicht mehr die Mittel des Angestellten, dessen höchstes Glück darin besteht, daß er seinen Anstellungsvertrag diktieren darf, und der sich dennoch über die innerste Logik dieses Vertrages nie zu erheben vermag, nicht mehr die Mittel des Betrogenen und Enterbten, der sich bei jeder Stufe, die er erringt, einer neuen Perspektive des Betruges gegenüber sieht. Es sind dies nicht die Mittel der Erniedrigten und Beleidigten, sondern vielmehr die Mittel des eigentlichen Herrn dieser Welt, die Mittel des Kriegers, der über die Reichtümer von Provinzen und großen Städten gebietet und der um so sicherer über sie gebietet, je mehr er sie zu verachten weiß.
Blicken wir zurück: Es ist das 19. Jahrhundert, das den Arbeiter als den Vertreter eines neuen Standes, als den Träger einer neuen Gesellschaft und als ein Organ der Wirtschaft gedeutet hat.
Diese Deutung weist dem Arbeiter eine Scheinstellung an, innerhalb derer die bürgerliche Ordnung in ihren entscheidenden Grundsätzen gesichert ist. Jeder Angriff aus dieser Stellung kann infolgedessen nur ein Scheinangriff sein, der zu einer schärferen Ausprägung der bürgerlichen Wertungen führt. Jede Bewegung vollzieht sich theoretisch im Rahmen einer veralteten Gesellschafts- und Menschheitsutopie, praktisch bringt sie immer wieder die Figur des geschickten Geschäftsträgers zur Herrschaft, dessen Kunst im Verhandeln und Vermitteln besteht. Dies ist leicht festzustellen, wenn man die Ergebnisse der Arbeiterbewegungen prüft. Was darüber hinaus an machtpolitischer Veränderung bereits sichtbar wird, ist im Tiefsten ungewollt, es entzieht sich der bürgerlichen Deutungskunst und widerspricht durchaus allen Voraussagen im Sinne der humanitären Gesellschaftsutopie.
Die Vorstellungen, unter deren Bann man den Arbeiter zu bringen suchte, reichen jedoch zur Lösung der großen Aufgaben eines neuen Zeitalters nicht aus. Wie fein auch die Rechnungen aufgestellt sind, deren Ergebnis nichts anderes als das Glück sein sollte, so bleibt doch immer ein Rest, der sich jeder Auflösung entzieht und der sich im menschlichen Bestande als Verzicht oder als wachsende Verzweiflung bemerkbar macht.
Will man einen neuen Vorstoß wagen, so kann das nur in der Richtung auf neue Ziele geschehen. Dies setzt eine andere Front, es setzt Bundesgenossen anderer Art voraus. Es setzt voraus, daß der Arbeiter sich in einer anderen Form begreift und daß in seinen Bewegungen nicht mehr eine Widerspiegelung des bürgerlichen Bewußtseins, sondern ein eigentümliches Selbstbewußtsein zum Ausdruck kommt.
Es erhebt sich also die Frage, ob sich in der Gestalt des Arbeiters nicht mehr verbirgt, als man bisher zu erraten verstand.
Der Beantwortung der eben gestellten Frage ist vorauszusetzen, was als Gestalt begriffen werden soll. Diese Erläuterung gehört keineswegs zu den Randbemerkungen, wie wenig Raum ihr auch hier gewidmet werden kann.
Wenn im Folgenden zunächst von Gestalten als von einer Mehrzahl gesprochen wird, so geschieht das aus einem vorläufigen Mangel an Rangordnung, der im Verlaufe der Untersuchung behoben wird. Über die Rangordnung im Reiche der Gestalt entscheidet nicht das Gesetz von Ursache und Wirkung, sondern ein andersartiges Gesetz von Stempel und Prägung; und wir werden sehen, daß in der Epoche, in die wir eintreten, die Prägung des Raumes, der Zeit und des Menschen auf eine einzige Gestalt, nämlich auf die des Arbeiters, zurückzuführen ist.
Vorläufig seien, unabhängig von dieser Ordnung, als Gestalt die Größen angesprochen, wie sie sich einem Auge darbieten, das begreift, daß die Welt sich nach einem entschiedeneren Gesetz als nach dem von Ursache und Wirkung zusammenfaßt, ohne jedoch die Einheit zu sehen, unter der diese Zusammenfassung sich vollzieht.
In der Gestalt ruht das Ganze, das mehr als die Summe seiner Teile umfaßt und das einem anatomischen Zeitalter unerreichbar war. Es ist das Kennzeichen einer heraufziehenden Zeit, daß man in ihr wieder unter dem Banne von Gestalten sehen, fühlen und handeln wird. Über den Rang eines Geistes, den Wert eines Auges entscheidet der Grad, in dem ihnen der Einfluß von Gestalten sichtbar wird. Schon liegen die ersten, bedeutsamen Bemühungen vor; sie sind weder in der Kunst noch in der Wissenschaft noch im Glauben zu übersehen. Auch in der Politik hängt alles davon ab, daß man Gestalten und nicht etwa Begriffe, Ideen oder bloße Erscheinungen zum Kampfe bringt.
Von dem Augenblick, in dem man in Gestalten erlebt, wird alles Gestalt. Die Gestalt ist also keine neue Größe, die zu den bereits bekannten hinzu zu entdecken wäre, sondern von einem neuen Aufschlag des Auges an erscheint die Welt als ein Schauplatz der Gestalten und ihrer Beziehungen. Es stellt sich dies, um einen für die Übergangszeit bezeichnenden Irrtum anzudeuten, nicht so dar, als ob etwa der Einzelne verschwände und nur von Körperschaften, Gemeinschaften oder Ideen als von übergeordneten Einheiten seinen Sinn entgegenzunehmen hätte. Auch im Einzelnen repräsentiert sich die Gestalt, jeder Fingernagel, jedes Atom an ihm ist Gestalt. Und hat übrigens die Wissenschaft unserer Zeit nicht schon begonnen, die Atome nicht mehr als kleinste Teile, sondern als Gestalten zu sehn?
Ein Teil freilich ist ebensowenig Gestalt, wie eine Summe von Teilen eine Gestalt ergeben kann. Dies ist zu berücksichtigen, wenn man etwa das Wort »Mensch« in einem Sinne verwenden will, der sich jenseits der Redensarten bewegt. Der Mensch besitzt Gestalt, insofern er als der konkrete, der faßbare Einzelne begriffen wird. Dies gilt aber nicht vom Menschen schlechthin, der lediglich eine der Schablonen des Verstandes ist und der nichts oder alles, auf keinen Fall aber etwas Bestimmtes bedeuten kann.
Dasselbe gilt von den umfassenderen Gestalten, denen der Einzelne angehört. Diese Zugehörigkeit ist weder durch Multiplikation noch durch Division zu errechnen – viele Menschen ergeben noch keine Gestalt, und keine Teilung der Gestalt führt auf den Einzelnen zurück. Denn die Gestalt ist das Ganze, das mehr als die Summe seiner Teile enthält. Ein Mensch ist mehr als die Summe der Atome, der Glieder, Organe und Säfte, aus denen er besteht, eine Ehe ist mehr als Mann und Frau, eine Familie mehr als Mann, Frau und Kind. Eine Freundschaft ist mehr als zwei Männer und ein Volk mehr, als durch das Ergebnis einer Volkszählung oder durch eine Summe von politischen Abstimmungen zum Ausdruck gebracht werden kann.
Man hat sich im 19. Jahrhundert angewöhnt, jeden Geist, der sich auf dieses Mehr, auf diese Totalität2 zu berufen suchte, in das Reich der Träume zu verweisen, wie sie in einer schöneren Welt, nicht aber in der Wirklichkeit am Platze sind.
Es kann aber kein Zweifel sein darüber, daß gerade die umgekehrte Wertung die gegebene ist und daß auch im Politischen jeder Geist minderen Ranges ist, dem für dieses Mehr das Auge fehlt. Er mag in der Geistesgeschichte, in der Wirtschaftsgeschichte, in der Ideengeschichte eine Rolle spielen – aber Geschichte ist mehr; sie ist Gestalt ebensosehr, wie sie das Schicksal von Gestalten zum Inhalt hat.
Freilich – und diese Einschaltung möge schärfer andeuten, was unter Gestalt begriffen werden soll – freilich bewegte sich auch die Mehrzahl der Gegenspieler der Logiker und Mathematiker des Lebens auf einer Ebene, die zu der, die sie bekämpften, in keinem Rangunterschiede stand. Denn es ist kein Unterschied, ob man sich auf eine losgelöste Seele oder eine losgelöste Idee anstatt auf einen losgelösten Menschen beruft. Die Seele und die Idee in diesem Sinne sind weder Gestalt, noch besteht zwischen ihnen und dem Körper oder der Materie ein überzeugender Gegensatz.
Dem scheint die Erfahrung des Todes zu widersprechen, bei dem für die hergebrachte Vorstellung die Seele das Gehäuse des Körpers und also der unvergängliche Teil des Menschen den vergänglichen verläßt. Es ist jedoch ein Irrtum, eine fremde Lehre, daß der sterbende Mensch seinen Körper verläßt – seine Gestalt tritt vielmehr in eine neue Ordnung ein, der gegenüber jeder räumliche, zeitliche oder ursächliche Vergleich unzulässig ist. Diesem Wissen entsprang die Anschauung unserer Vorväter, nach der der Krieger im Augenblicke des Todes nach Walhalla geleitet wurde – nicht als Seele wurde er dort aufgenommen, sondern in strahlender Leibhaftigkeit, von welcher der Leib des Helden in der Schlacht ein hohes Gleichnis war.
Es ist sehr wichtig, daß wir wieder zu einem vollkommenen Bewußtsein der Tatsache vordringen, daß der Leichnam nicht etwa der entseelte Körper ist. Zwischen dem Körper in der Sekunde des Todes und dem Leichnam in der darauf folgenden besteht nicht die mindeste Beziehung; dies deutet sich darin an, daß der Körper mehr als die Summe seiner Glieder umfaßt, während der Leichnam gleich der Summe seiner anatomischen Teile ist. Es ist ein Irrtum, daß die Seele wie eine Flamme Staub und Asche hinter sich läßt. Von höchstem Belange aber ist die Tatsache, daß die Gestalt den Elementen des Feuers und der Erde nicht unterworfen ist und daß daher der Mensch als Gestalt der Ewigkeit angehört. In seiner Gestalt, ganz unabhängig von jeder nur moralischen Wertung, jeder Erlösung und jedem »strebenden Bemühn«, ruht sein angeborenes, unveränderliches und unvergängliches Verdienst, seine höchste Existenz und seine tiefste Bestätigung. Je mehr wir uns der Bewegung widmen, desto inniger müssen wir davon überzeugt sein, daß ein ruhendes Sein sich unter ihr verbirgt und daß jede Steigerung der Geschwindigkeit nur die Übersetzung einer unvergänglichen Ursprache ist.
Aus diesem Bewußtsein ergibt sich ein neues Verhältnis zum Menschen, eine heißere Liebe und eine schrecklichere Unbarmherzigkeit. Es ergibt sich die Möglichkeit einer heiteren Anarchie, die zugleich mit einer strengsten Ordnung zusammenfällt – ein Schauspiel, wie es bereits in den großen Schlachten und den riesigen Städten angedeutet ist, deren Bild am Beginn unseres Jahrhunderts steht. In diesem Sinne ist der Motor nicht der Herrscher, sondern das Symbol unserer Zeit, das Sinnbild einer Macht, der Explosion und Präzision keine Gegensätze sind. Er ist das kühne Spielzeug eines Menschenschlages, der sich mit Lust in die Luft zu sprengen vermag und der in diesem Akte noch eine Bestätigung der Ordnung erblickt. Aus dieser Haltung, die weder dem Idealismus noch dem Materialismus vollziehbar ist, sondern die als ein Heroischer Realismus angesprochen werden muß, ergibt sich jenes äußerste Maß an Angriffskraft, dessen wir bedürftig sind. Ihre Träger sind vom Schlage jener Freiwilligen, die den großen Krieg mit Jubel begrüßten und die alles begrüßen, was ihm folgte und folgen wird.
Gestalt besitzt, wie gesagt, auch der Einzelne, und das erhabenste und unverlierbare Lebensrecht, das er mit Steinen, Pflanzen, Tieren und Sternen teilt, ist sein Recht auf Gestalt. Als Gestalt umfaßt der Einzelne mehr als die Summe seiner Kräfte und Fähigkeiten; er ist tiefer, als er es in seinen tiefsten Gedanken zu erraten vermag, und mächtiger, als er es in seiner mächtigsten Tat zum Ausdruck bringen kann.
So trägt er den Maßstab in sich, und die höchste Lebenskunst, insofern er als Einzelner lebt, besteht darin, daß er sich selbst zum Maßstab nimmt. Dies macht den Stolz und die Trauer eines Lebens aus. Alle großen Augenblicke des Lebens, die glühenden Träume der Jugend, der Rausch der Liebe, das Feuer der Schlacht, fallen zusammen mit einem tieferen Bewußtsein der Gestalt, und die Erinnerung ist die zauberhafte Rückkehr der Gestalt, die das Herz berührt und es von der Unvergänglichkeit dieser Augenblicke überzeugt. Die bitterste Verzweiflung eines Lebens beruht darin, sich nicht erfüllt zu haben, sich selbst nicht gewachsen gewesen zu sein. Hier gleicht der Einzelne dem Verlorenen Sohn, der sein Erbteil, wie groß oder wie gering es immer gewesen sei, müßig und in der Fremde vergeudet hat – und dennoch kann über seine Wiederaufnahme im Vaterlande kein Zweifel sein. Denn das unverlierbare Erbteil des Einzelnen ist es, daß er der Ewigkeit angehört, und in seinen höchsten und unzweifelhaften Augenblicken ist er sich dessen völlig bewußt. Es ist seine Aufgabe, daß er dies in der Zeit zum Ausdruck bringt. In diesem Sinne wird sein Leben zu einem Gleichnis der Gestalt.
Darüber hinaus aber ist der Einzelne einer großen Rangordnung von Gestalten eingefügt – Mächten, die man sich gar nicht wirklich, leibhaftig und notwendig genug vorstellen kann. Ihnen gegenüber wird der Einzelne selbst zum Gleichnis, zum Vertreter, und die Wucht, der Reichtum, der Sinn seines Lebens hängt von dem Maße ab, in dem er an der Ordnung und am Streit der Gestalten beteiligt ist.
Echte Gestalten werden daran erkannt, daß ihnen die Summe aller Kräfte gewidmet, die höchste Verehrung zugewandt, der äußerste Haß entgegen gebracht werden kann. Da sie das Ganze in sich bergen, fordern sie das Ganze ein. So kommt es, daß der Mensch mit der Gestalt zugleich seine Bestimmung, sein Schicksal entdeckt, und diese Entdeckung ist es, die ihn des Opfers fähig macht, das im Blutopfer seinen bedeutendsten Ausdruck gewinnt.
Den Arbeiter in einer durch die Gestalt bestimmten Rangordnung zu sehen, hat das bürgerliche Zeitalter nicht vermocht, weil ihm ein echtes Verhältnis zur Welt der Gestalten nicht gegeben war. Hier schmolz alles zu Ideen, Begriffen oder bloßen Erscheinungen ein, und die beiden Pole dieses flüssigen Raumes waren die Vernunft und die Empfindsamkeit. In der letzten Verdünnung ist Europa, ist die Welt noch heute von dieser Flüssigkeit, von dieser blassen Tünche eines selbstherrlich gewordenen Geistes überschwemmt.
Aber wir wissen, daß dieses Europa, daß diese Welt in Deutschland nur den Rang einer Provinz besitzen, deren Verwaltung die Aufgabe nicht der besten Herzen, ja nicht einmal der besten Köpfe gewesen ist. Schon früh in diesem Jahrhundert sah man den Deutschen im Aufstande gegen diese Welt, und zwar vertreten durch den deutschen Frontsoldaten als den Träger einer echten Gestalt. Dies war zugleich der Beginn der deutschen Revolution, die bereits im 19. Jahrhundert durch hohe Geister angekündigt wurde und die nur als eine Revolution der Gestalt begriffen werden kann. Wenn dieser Aufstand dennoch nur ein Vorspiel gewesen ist, so liegt der Grund darin, daß er in seinem vollen Umfange noch der Gestalt entbehrte, von der jeder Soldat, der einsam und unbekannt bei Tag und Nacht an allen Grenzen des Reiches fiel, bereits ein Gleichnis gewesen ist.
Denn zum ersten war die Führung viel zu gesättigt, viel zu überzeugt von den Werten einer Welt, die einmütig in Deutschland ihren gefährlichsten Widersacher erkannte; und so entsprach es der Gerechtigkeit, daß diese Führung besiegt und ausgestrichen wurde, während der deutsche Frontsoldat sich nicht nur als unbesiegbar, sondern auch als unsterblich erwies. Jeder dieser Gefallenen ist heute lebendiger als je, und das kommt daher, daß er als Gestalt der Ewigkeit angehört. Der Bürger aber gehört nicht den Gestalten an, daher frißt ihn die Zeit, auch wenn er sich mit der Krone des Fürsten oder mit dem Purpur des Feldherrn schmückt.
Zum andern aber sahen wir, daß der Aufstand des Arbeiters in der Schule des bürgerlichen Denkens vorbereitet war. So konnte er nicht mit dem deutschen Aufstand zusammenfallen, und dies deutet sich darin an, daß die Kapitulation vor Europa, die Kapitulation vor der Welt einerseits durch eine bürgerliche Oberschicht alten Stiles, andererseits durch die ebenso bürgerlichen Sprecher einer sogenannten Revolution, also im Grunde durch die Vertreter ein und desselben Menschenschlages, sich vollzog.
In Deutschland aber kann kein Aufstand den Rang einer Neuordnung besitzen, der gegen Deutschland gerichtet ist. Er ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil er gegen eine Gesetzmäßigkeit verstößt, der sich kein Deutscher entziehen kann, ohne daß er sich selbst der geheimsten Wurzeln seiner Kraft beraubt.
Daher können bei uns nur solche Mächte für die Freiheit kämpfen, die zugleich die Träger der deutschen Verantwortung sind. Wie aber konnte der Bürger diese Verantwortung auf den Arbeiter übertragen, da er selbst ihrer nicht teilhaftig war? Ebenso wie er, insofern er regierte, unfähig war, die elementare Kraft des Volkes zum unwiderstehlichen Einsatze zu bringen, war er, insofern er die Regierung anstrebte, nicht imstande, diese Elementarkraft revolutionär in Bewegung zu setzen. Daher versuchte er, sie an seinem Verrate gegen das Schicksal zu beteiligen.
Dieser Verrat ist belanglos in seiner Eigenschaft als Hochverrat, in der er als ein Selbstvernichtungsprozeß der bürgerlichen Ordnung erkannt werden muß. Er ist aber zugleich Landesverrat, insofern der Bürger versuchte, die Gestalt des Reiches in seine Selbstvernichtung einzubeziehen. Da ihm die Kunst des Sterbens nicht gegeben ist, versuchte er, den Zeitpunkt seines Todes, koste es, was es wolle, hinauszuziehen. Die Kriegsschuld des Bürgers beruht darin, daß er weder fähig war, den Krieg wirklich, das heißt: im Sinne einer Totalen Mobilmachung, zu führen, noch ihn zu verlieren – also seine höchste Freiheit im Untergange zu sehn. Dies unterscheidet den Bürger vom Frontsoldaten, daß der Bürger auch im Kriege jede Gelegenheit zur Verhandlung zu erspähen suchte, während er für den Soldaten einen Raum bedeutete, in dem es zu sterben galt, das heißt: so zu leben, daß die Gestalt des Reiches bestätigt wurde – jenes Reiches, das uns, auch wenn sie den Leib nehmen, doch bleiben muß.
Es sind zwei Menschenschläge, von denen man den einen um jeden Preis verhandlungsbereit, den anderen um jeden Preis kampfbereit erkennt. Die Erziehungskunst des Bürgers am Arbeiter bestand darin, daß er ihn zu einem Verhandlungspartner erzog. Der Sinn, der sich dahinter versteckt und der in dem Wunsche besteht, die Lebensdauer der bürgerlichen Gesellschaft um jeden Preis zu verlängern, konnte so lange verborgen bleiben, wie diese Gesellschaft im Gleichgewicht der Mächte ein außenpolitisches Ebenbild besaß. Seine gegen den Staat gerichtete Tendenz mußte sich in demselben Augenblick enthüllen, in dem zwischen diesen Mächten ein anderes Verhältnis als das der Verhandlung in Erscheinung trat. Dennoch verhalf der letzte Sieg Europas dem Bürger dazu, noch einmal einen jener künstlichen Räume zu ermöglichen, von denen aus gesehen Gestalt und Schicksal dem Unsinnigen gleichbedeutend sind. Es ist das Geheimnis der deutschen Niederlage, daß der Fortbestand eines solchen Raumes, der Fortbestand Europas, das verschwiegenste Wunschbild des Bürgers war.
Hier enthüllte sich nunmehr auch ganz klar die unwürdige Rolle, die er dem Arbeiter zugedacht hatte, indem er ihm in der inneren Politik mit großem Geschick das Bewußtsein einer Herrschaft zuzuspielen wußte, deren Ansprüche sich einem außenpolitischen Schuldverhältnisse gegenüber immer wieder als ungedeckte Wechsel herausstellen mußten. Die Protestspanne ist zugleich die letzte Lebensspanne der bürgerlichen Gesellschaft, und auch hierin kommt ihr Scheindasein zum Ausdruck, das sich auf die längst verbrauchten Kapitalien des 19. Jahrhunderts zu stützen sucht.
Dies aber ist der Raum, den der Arbeiter nicht etwa zu bekämpfen hat, denn er wird in ihm ja immer auf nichts anderes als auf Verhandlungen und Zugeständnisse stoßen, sondern den er nur mit Verachtung von sich abzuschütteln braucht. Es ist der Raum, dessen äußere Grenzen der Ohnmacht und dessen innere Ordnungen dem Verrate entsprungen sind. Damit wurde Deutschland eine Kolonie Europas, eine Kolonie der Welt.
Der Akt aber, durch den der Arbeiter diesen Raum abzuschütteln vermag, besteht eben darin, daß er sich als Gestalt und innerhalb einer Rangordnung von Gestalten erkennt. Hierauf begründet sich die tiefste Rechtfertigung zum Kampf um den Staat, die sich nunmehr nicht auf eine neue Vertragsauslegung, sondern auf einen unmittelbaren Auftrag, auf ein Schicksal zu berufen hat.
Das Sehen von Gestalten ist insofern ein revolutionärer Akt, als es ein Sein in der ganzen und einheitlichen Fülle seines Lebens erkennt.
Es ist die große Überlegenheit dieses Vorganges, daß er sich jenseits sowohl der moralischen und ästhetischen als auch der wissenschaftlichen Wertungen vollzieht. Es kommt in diesem Bereiche zunächst nicht darauf an, ob etwas gut oder böse, schön oder häßlich, falsch oder richtig ist, sondern darauf, welcher Gestalt es zugehört. Hiermit dehnt sich der Umkreis der Verantwortung in einer Weise aus, die mit allem, was das 19. Jahrhundert unter Gerechtigkeit verstand, ganz unvereinbar ist: es ist die Legitimation oder die Schuld des Einzelnen, daß er dieser oder jener Gestalt zugehört.
In dem gleichen Augenblick, in dem dies erkannt und anerkannt wird, bricht die ungeheuer komplizierte Apparatur zusammen, die ein sehr künstlich gewordenes Leben zu seinem Schutze errichtete, weil jene Haltung, die wir zu Beginn unserer Untersuchung als eine wildere Unschuld bezeichneten, ihrer nicht mehr bedarf. Dies ist die Revision des Lebens durch das Sein, und wer neue, größere Möglichkeiten des Lebens erkennt, begrüßt diese Revision im Maß und Übermaße ihrer Unerbittlichkeit.
Eins der Mittel zur Vorbereitung eines neuen und kühneren Lebens besteht in der Vernichtung der Wertungen des losgelösten und selbstherrlich gewordenen Geistes, in der Zerstörung der Erziehungsarbeit, die das bürgerliche Zeitalter am Menschen geleistet hat. Damit dies von Grund auf, und nicht etwa in der Art einer Reaktion, die die Welt um hundertfünfzig Jahre zurückstellen will, geschehe, ist es nötig, daß man durch diese Schule hindurchgegangen ist. Es kommt nun auf die Erziehung eines Menschenschlages an, der die verzweifelte Gewißheit besitzt, daß die Ansprüche der abstrakten Gerechtigkeit, der freien Forschung, des künstlerischen Gewissens sich auszuweisen haben vor einer höheren Instanz, als sie innerhalb einer Welt der bürgerlichen Freiheit überhaupt wahrgenommen werden kann.
Wenn dies zunächst im Denken geschieht, so deshalb, weil der Gegner auf dem Felde seiner Stärke aufzusuchen ist. Die beste Antwort auf den Hochverrat des Geistes gegen das Leben ist der Hochverrat des Geistes gegen den »Geist«; und es gehört zu den hohen und grausamen Genüssen unserer Zeit, an dieser Sprengarbeit beteiligt zu sein.