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Heinz Ludwig Arnold führt den Leser durch das Werk Jüngers: Vom Ausreißerbuch »Afrikanische Spiele« in die Welt des »Abenteuerlichen Herzens« und auf den einsamen »Waldgang«. Jünger erzählt von seiner Jugend, berichtet von zahlreichen Reisen und streift durch die Welt von Drogen und Rausch. Er erzählt vom grauenhaften »Köppelsbleek« in der berühmten Erzählung »Auf den Marmorklippen« und von Ortners wunderlichem Erlebnis in dem Zukunftsroman »Heliopolis«. Die Auswahl geht von der ersten bis zur letzten Fassung der »Stahlgewitter« über die Kriegstagebücher des Zweiten Weltkriegs bis zur Friedensschrift von 1945 und wird eingeführt von persönlichen Erinnerungen des Herausgebers.
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Seitenzahl: 669
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Klett-Cotta © 2011 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg Datenkonvertierung E-Book: Tropen Studios, Leipzig Printausgabe: ISBN 978-3-608-93846-3 E-Book: ISBN 978-3-608-10173-7
Heinz Ludwig Arnold
WILFLINGER ERINNERUNGEN
I. Lektüren
»Berger, Sie schlafen, Berger, Sie träumen, Berger, Sie sind nicht bei der Sache, war da der ewige Reim. Auch meine Eltern, die auf dem Lande wohnten, hatten bereits einige der bekannten Briefe erhalten, deren unangenehmer Inhalt mit den Worten Ihr Sohn Herbert… begann.« Diese Sätze auf der ersten Seite von Ernst Jüngers Erzählung »Afrikanische Spiele«, die ich in einer »Einmaligen Ausgabe der Deutschen Hausbücherei« aus dem Jahre1936 im Bücherschrank meines Vaters fand, waren die ersten Sätze von Ernst Jünger, die ich 1957 las, und sie nahmen mich sofort für diesen Schriftsteller ein. Meine Eltern wohnten zwar nicht auf dem Lande, sondern in Karlsruhe, und sie bekamen auch keine blauen Briefe der Schule ins Haus– aber auch ich suchte damals, 1956/1957, Sehnsuchtsorte jenseits der Schule, in der ich mich nicht wohl fühlte. Und da auch das strenge Elternhaus diesen Freiheitsraum nicht bot, den ich ersehnte, suchte ich zwar nicht, wie Ernst Jünger, den »verlorenen Garten irgendwo im oberen Stromgeflecht des Niles oder des Kongo«, auch brach ich nicht, wie er, tatsächlich aus und auf ins warme Afrika, wo er sich abenteuerlustig und wohl auch etwas kampfesdurstig anwerben ließ für die Fremdenlegion (aus der ihn sein Vater freilich nach sechs Wochen wieder auslöste)– nein, ich brach bloß auf in die imaginierten Welten von Büchern, nicht nur in die der nordamerikanischen Savannen und orientalischen Wüsten Karl Mays und von Coopers Huronensee, sondern ich begab mich auch auf Hermann Hesses »Morgenlandfahrt« und eben, durch seine »Afrikanischen Spiele«, in die literarische Welt des Jüngerschen Werks.
Diese Welt sollte mich für Jahre gefangenhalten, und durch meine Wanderungen in ihr, meinen Umgang mit ihr sollte ich schließlich ganz in das Universum der Literatur geraten, das dann mein Lebensraum für immer wurde.
Das zweite Buch Ernst Jüngers, das im Bücherschrank meines Vaters hinter Glas ungelesen aufbewahrt wurde, war, diesmal in einer Ausgabe des Europäischen Buchklubs, der utopische Roman »Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt«. Hier konnte man sich nicht in warme afrikanische Abenteuerorte imaginieren, sondern in die kühlen Räume der Zukunft. Heute mag man zwar lächeln über das spärliche Science-fiction-Equipment dieser kalt gleißenden Sonnenstadt– der »Phonophor« aus diesem Roman, eine literarische Erfindung Jüngers, hat es immerhin in die Internetenzyklopädie Wikipedia geschafft: Danach ist dieser »Allsprecher« ein »fiktives technisches Gerät in den Zunkunftsromanen von Ernst Jünger«, »einem heutigen Mobiltelefon ähnlich« und mit Internet-Eigenschaften begabt. »Bei Ernst Jünger treten die Phonophore auch an Stelle der Personalausweise und Pässe. (…) Außerdem kann man am Phonophor den gesellschaftlichen Rang seines Trägers erkennen. Die Phonophore dienen auch als Wahlmaschinen, mit ihnen werden bei Abstimmungen die Stimmen abgegeben. (Die Fragen stellen allerdings in »Heliopolis« die Behörden bzw. die Mächtigen.) Schließlich stellt der Phonophor auch ein GPS-System dar und ermöglicht Bankgeschäfte durchzuführen, ist unter anderem also auch Kreditkarte. Eine Kehrseite des Phonophors ist, ähnlich wie bei heutigen Mobiltelefonen, dass sie im Vergleich zu herkömmlichen Telefonen leichter abgehört werden können und der Polizei die Ortung der sprechenden Personen ermöglichen.«
Ich denke, es hätte Ernst Jünger gefallen, wenn er sich in Wikipedia als so weitsichtig und der Zukunft so umfassend voraus wiedergefunden hätte.
Mich faszinierte in »Heliopolis« aber weniger dieses technische Zukunftsinstrument– solcherlei war in Hans Dominiks Zukunftsromanen, die ich damals auch gelesen habe, viel spannender beschrieben– als vor allem das Kapitel »Ortners Erzählung«, in dem die Geschichte eines auf den Hund gekommenen Mannes geschildert wird, dem nach der Begegnung mit einem geheimnisvollen Unbekannten durch eine Augenoperation im wahrsten Sinne die Augen geöffnet werden für alles verborgene Wirken in der Welt: So entgeht er gleich nach dem Eingriff einem Unfall, den er vorausahnt, und wird im Verlauf der Geschichte zum reichsten Unternehmer der Welt, weil er alle finanziellen Transaktionen durchschauen und bestimmen kann– aber er wird mit dieser Begabung nicht glücklich, sein Leben wird langweilig, ohne Risiko, ohne Geheimnis: »Wer mag noch Rätsel raten, wenn er die Lösung kennt.« Diese Erzählung schien mir aus dem Geiste des von mir noch heute favorisierten Grafen von Monte Christo.
Der nächste Jünger, den ich las, war ein Reclambändchen: »Capriccios«, eine kleine Sammlung von Texten aus der zweiten Fassung von »Das Abenteuerliche Herz«, 1956 herausgegeben von Armin Mohler (die erste Fassung von 1929 mit den noch viel persönlicheren Notaten Jüngers auch zur eigenen Geschichte habe ich erst viele Jahre später antiquarisch erstanden). Das Reclambändchen hatte mir mein Deutschlehrer Rudolf Immig empfohlen, ein begeisterter Leser von Jünger, den ich nach der Bedeutung der »Schleife« in Jüngers Werk gefragt hatte– und der mir dann vorschlug, doch meine Deutsch-Jahresarbeit über Jünger zu schreiben. Das Capriccio »Die Schleife« beginnt mit dem Satz: »…und in die Methodik führte mich Nigromontanus ein, ein vortrefflicher Lehrer (…)«, und erläutert ein paar Absätze weiter: »Unter der Schleife verstand er (Nigromontanus) eine höhere Art, sich den empirischen Verhältnissen zu entziehen.«
Dieses für Jüngers Haltung typische Dictum, aus dessen Geist schließlich auch die Figur des »Anarchen« im zweiten utopischen Roman »Eumeswil« von 1977 geboren ist, brachte ich mit der »Schleifen«-Variante aus »Heliopolis« nicht zusammen, und so fasste sich der 18-jährige Unterprimaner, der glaubte, dass das Symbol der Schleife grundlegend für Ernst Jüngers Werk (und also auch für seine Jahresarbeit) sei, ein Herz und schrieb am 20.Dezember 1958 keck einen Brief an Jünger und bat ihn in aller Naivität um Auskunft darüber, »was Sie unter dieser Schleife verstehen. Es könnte mir bei der Lektüre Ihrer Werke um sehr Vieles weiterhelfen«. Ernst Jünger antwortete auf einer Postkarte: Was »Schleifen« seien, werde in »Das Abenteuerliche Herz«, 2.Fassung, ausgeführt– in ebendem Stückchen, das ich in dem Reclambändchen gelesen hatte und das mir so rätselhaft erschienen war. Ich war so schlau als wie zuvor, trug aber die Postkarte bei mir wie eine Reliquie.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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