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Im Alter von 30 Jahren wanderte Petra nach Ägypten aus, da sie ihre Bestimmung weder in Deutschland noch im Öffentlichen Dienst sah. In Ägypten lernte sie zunächst ihren Traumpartner kennen, den sie jedoch verschmähte. Danach traf sie ihren späteren Ehemann Sayed, mit dem sie über sechs Jahre eine meist sehr harmonische Ehe führte. Das Glück wurde durch die Geburt der gemeinsamen Tochter perfekt, bis Petra herausfand, dass ihr Mann einen Fehler begangen hatte, der für ihrer aller Leben schwerwiegende Folgen bereithielt: Sayed musste seinen "Fehltritt" heiraten und eine Zeit voller Leid, Gewalt und enttäuschter Hoffnungen begann. Diese gipfelte nicht nur in Petras Flucht aus Ägypten, um das Leben ihrer Tochter zu retten. Die Geschichte zeigt auch den oft schmerzhaften Weg der Selbstfindung und Liebe zu sich selbst und dem Leben. Nachdem sich Petra von ihrem Mann scheiden ließ, verstärkten sich die Bedrohungen durch ihn weiter. Zurück in Deutschland folgten sowohl Telefonterror als auch Todesdrohungen gegen Freunde und Familienangehörige der Anwälte - bis heute. Anmerkung vom Verlag: Die Fortsetzung ist unter dem Titel "Wind in ihren Haaren" mit der ISBN 978-3-96050-013-1 erschienen.
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Seitenzahl: 631
Veröffentlichungsjahr: 2015
Petra Liermann
Sand in ihren Schuhen
Biografischer Roman
Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG
Cover: Jacqueline Spieweg
Cover erste Auflage, TomJay Grafikdesign
Bildlizenzen: Panthermedia
Verantwortlich für den Inhalt des Textes
ist die Autorin Petra Liermann
Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag
Druck und Bindung: SDL, Berlin
ISBN 978-3-945509-30-2
3. Auflage
Alle Rechte liegen beim Franzius Verlag
Hermann-Ritter-Str. 114, 28197 Bremen
Copyright © 2017 Franzius Verlag, Bremen
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Inhaltsverzeichnis
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
XXXIV
XXXV
XXXVI
XXXVII
XXXVIII
XXXIX
Danksagung
Weitere Veröffentlichungen der Autorin im Franzius Verlag:
Veröffentlichungen des Franzius Verlages:
Du warst nie allein, bist nicht allein und wirst nie allein sein.
Alles, was du denkst und fühlst, wird gehört. In jeder Phase,
auch in der dunkelsten deines Lebens, wirst du unendlich geliebt.
(Robert Betz)
Auch wenn mein Leben sehr konservativ und geordnet anfing und die zu erwartende Entwicklung offensichtlich wenig aufregend zu sein schien, wurde es doch eine Geschichte, die für jeden etwas dabei hat: Romantik, Spannung und fremde Kulturen. Aber auch in Bezug auf Spiritualität gibt es einige interessante Entwicklungen, die wohl bis zu meinem 25. Lebensjahr niemand von mir erwartet hätte.
Wie erwähnt begann mein Leben in einer gut bürgerlichen, der Mittelschicht angehörenden Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Kind. Meine Eltern sparten fleißig für den jährlichen Urlaub im Schnee und den Sommerurlaub im netten Vier-Sterne-Hotel auf den Kanaren. Nebenbei gab es die Haushaltskasse, ein Sparbuch und alle fünf Jahre ein neues Auto.
Als echte Flüchtlingskinder, die unter den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs gelitten hatten, waren meine Eltern sehr bedacht auf finanzielle Sicherheiten. Aber auch ein angepasstes Benehmen, mit dem man in der Umgebung nicht auffiel, und das Streben nach Zugehörigkeit zur „besseren Gesellschaft“ prägten meine Erziehung. Dementsprechend waren gute Noten in der Schule ein Thema, über das man erst gar nicht diskutieren brauchte. Selbstverständlich war das Kind eine gute Schülerin und konnte sich schon mit sechs Jahren in einem Fünf-Sterne-Hotel im Sauerland benehmen. Während andere Kinder noch mit den Fingern in ihrem Kartoffelbrei herumwühlten, wusste ich, dass man das Besteck von außen nach innen benutzt und fand es wenig komisch, dass für ein Essen drei Gläser und acht Besteckteile ausgelegt wurden.
Meine Mutter fand ich schön, ihre Schuhe probierte ich heimlich an und ihre wöchentlichen Pflegemaßnahmen betrachtete ich mit Interesse. Leider teilte ich ihren Geschmack in Bezug auf Kleidung nicht und so war das Einkaufen ein Gräuel für mich. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Zeit, in der lange Haare und eine Vanilla-Hose oder der Stufenrock total „in“ waren und ich kurzhaarig und tränenüberströmt aus einem Kaufhaus kam, weil ich eine braune Cordhose mit passender Weste und ein braun kariertes Hemd mit einem Schnürsenkel um den Kragen bekommen hatte. Bis heute ist mir die Farbe Braun bei Kleidung verhasst.
Meine Mutter zog mich nach ihren Maßstäben schick und vorteilhaft an. Denn so lange ich mich erinnern kann, hatte ich nie eine Standardgröße. Zum Leidwesen meiner Eltern war der Babyspeck nicht mit zwölf Jahren verschwunden, sondern blieb in Form von drei bis vier Kilogramm Übergewicht an meinen Hüften kleben. Da dies nicht der perfekten Tochter entsprach und das Schönheitsideal weitestgehend erreicht werden sollte, kannte ich in jungen Jahren nicht nur die 600 Kalorien-Abnehm-Kur im Schwarzwald, sondern auch die Brigitte-Diät für zu Hause. Ein Grund, warum ich diese Zeitung bis heute sehr vorsichtig in die Hand nehme.
Leider waren Diätkuren Anfang der 80er Jahre noch nicht sehr weit fortgeschritten, sodass wir in einem netten Hotel in Bad Steben saßen, tolles Essen serviert wurde, bei dem das Fleisch in cremigen Soßen nur so schwamm und mein Teller eben dieses Essen in Miniaturausgabe enthielt. Ich hatte ständig Hunger. Auch Massagen wurden mir für den Rest meines Lebens verdorben. Zwar erzählte man mir, dass ich besonders empfindlich sei und die blauen Flecken nach ein paar Tagen schon weggehen würden, aber glauben konnte ich das nicht wirklich.
Auch wenn diese Maßnahmen zeitweise von Erfolg gekrönt schienen, hatte mein Körper sein natürliches Wohlfühlgewicht scheinbar anderswo. Sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die es nie aufgab, mir vor Augen zu führen, welch hübsches Mädchen ich hätte sein können.
Da ich natürlich früh eingeschult worden war, hatte ich die Rolle des Klassenkükens inne und gelangte so naturgemäß auch später in die Pubertät als meine Mitschüler. Da körperliche Nähe für mich ein Mysterium war, hörte ich meinen Klassenkameradinnen bei den Erzählungen über ihre ersten Erfahrungen mit Jungen sehr interessiert zu. Über mehr als eine Kleinmädchenschwärmerei ging es bei mir jedoch nicht hinaus. Die waren zwar dauerhaft und intensiv, brachten aber nichts. Bis heute kenne ich noch das Autokennzeichen dieses tollen Jungen aus der zwölften Klasse, wegen dem ich Stunden in der Kälte zubrachte, nur um ihn einmal zu sehen.
Während bei unserer ersten Klassenfahrt mit Übernachtung in Südtirol die meisten abends knutschend in der Ecke lagen, sah ich diesem Schauspiel fasziniert zu und wurde so als idealer Kummerkasten sowohl für den weiblichen als auch den männlichen Part einer Beziehung auserkoren. Auch meine Aufklärung erhielt ich auf diesem Weg. Denn solch intime Details wären zu Hause niemals Thema gewesen. So hielt mich meine Angst vor einer Schwangerschaft selbst vom Küssen ab. Denn wer wusste schon, was da alles so passieren konnte.
Während ich mich also Lernen, Diäten, dem Orgelspielen (mein heiß ersehntes Klavier hätte die Nachbarn verärgern können) und freundschaftlichen Treffen mit Schulkolleginnen widmete, tobte das Liebesleben bei den anderen. Doch keiner hatte die Tanzschule einkalkuliert. Dieser Sündenpfuhl brachte mich zum Leidwesen meiner Eltern doch noch vom rechten Weg ab. Denn hier lernte man nicht nur Tanzen. Sicher, wir tanzten Partyfox bis die Sohlen qualmten, aber viel wichtiger war der Klammerblues. Und um hier einen tollen Partner abzubekommen, rasten wir jedes mal vor dem Tanzcafé schnell auf die Damentoilette und packten unser Schminkzeug aus. Kajal, Wimperntusche, Rouge und Lidschatten waren Allgemeingut und hätten meine Eltern mich jemals so gesehen, hätte ich das Haus bestimmt nie wieder verlassen.
Da ich schon immer einen Hang zu Machotypen ohne vorhandenes Gefühlsleben hatte, versuchte ich mich mit 15 auch beim Tanzen an solchen. Und war verwundert, als ich plötzlich bei einem echt süßen Softie landete, der mir endlich die ersehnte Frage stellte, ob ich vielleicht „mit ihm gehen“ wolle. Da weit und breit und seit geraumer Zeit kein anderer Junge in Reichweite gewesen war, dachte ich mir, dass ich das doch einfach mal versuchen könnte. Christian war wirklich niedlich. Und schüchtern. Was mir mit meinen nur aus Erzählungen vorhandenen Erfahrungen sehr entgegenkam. Meistens hielten wir Händchen, aber das sehr gerne. Und wir trafen uns oft und freuten uns immer mehr darauf.
Während Christian Sohn einer alleinerziehenden Mutter war, die tagsüber arbeiten ging und ihrem Kind alle Freiheiten ließ, traute ich mich bei meinen Eltern nicht wirklich, von meinem neuen Freund zu berichten. Aber irgendwann wollte ich auch stolz sein und die Heimlichkeiten beenden. Das Donnerwetter zu Hause war bestimmt noch in Afrika zu hören. Zu jung, was sollen die Nachbarn denken, vielleicht mal mit 18, der schlechte Umgang in der Schule ist schuld, nie wieder Tanzschule, Hausarrest bis zur Rente und ähnliche Dinge wurden mir um die Ohren gepfeffert.
So lernte ich schnell, dass Verheimlichen und Verschweigen ein guter Weg waren. Fortan trafen wir uns in der Stadt, bei Christian oder in der Tanzschule. Wenigstens konnte so nicht viel passieren. Eigentlich war dieser Junge ein echter Traumfreund. Als ich in den Ferien in ein Kloster nach Meschede fuhr, packte ihn die Sehnsucht und er besuchte mich. Sein gesamtes Taschengeld war für die Zugfahrt draufgegangen, aber es hatte sich gelohnt. Wenn da nicht ein Machotyp gewesen wäre, der im Stall arbeitete. Den wollte ich nämlich viel lieber. Das zwar nur zeitweise, aber der Fehler war passiert.
Im zarten Alter von 16 lernte ich, dass ältere Jungs höhere Ansprüche an Beziehungen in Form von körperlichem Kontakt stellten und dass man eben in den sauren Apfel beißen muss, wenn man so jemanden will. Eigentlich ein System, das ich gut kannte, denn wer gute Noten nach Hause bringt, sich zu benehmen weiß und den Vorgaben entspricht, wird mit Stolz und Liebe belohnt. So schien es auch in Beziehungen zu sein. Also übertrug ich dies auf den Macho. Der nach seinem Erlebnis eigentlich nichts mehr von mir wollte, da er ja eine Freundin hatte. Doch als Idealistin und Optimistin, die ich schon immer war, beendete ich bei meinem Nachhausekommen mal eben die Beziehung zu Christian. Bis heute tut mir das leid. Nicht nur, weil ich eigentlich nur in Christian verschossen war, sondern auch, weil dieser danach in ein wirkliches Loch fiel, seinen Körper mit Piercings und Tattoos versah und mit den gefürchtetsten Jugendlichen unserer Stadt seine Zeit im Park verbrachte.
Nach diesem einschneidenden Erlebnis wurde es ruhig in meinem Liebesleben. Die Jungs, die ich toll fand, guckten mich nicht an, die, die mich toll fanden, fand ich total langweilig. Eigentlich hatte ich Glück, dass es nur bei dem einen dramatischen Erlebnis blieb, das ich mit 17 erlebte, als ich mich in einen 23jährigen verliebte, der so gar nicht meine Kragenweite war. Schon immer sehr offen für Neues, mit einer großen Klappe und einem Naturtalent im Flirten, hatte ich Holger so weit gereizt, bis ich mich auf einmal spät abends in seinem Manta auf einem einsamen Parkplatz wiederfand. Eigentlich wollte ich das nicht, aber meine große Klappe hatte mich dahin gebracht und ein Rückzieher kam für mich ja nun gar nicht in Frage.
Also stand ich mein „erstes Mal“ durch und fragte mich nicht nur, was alle so toll daran fänden, sondern am nächsten Tag auch, wie es mir hatte passieren können, dass ich in der Notfallambulanz im Krankenhaus saß, um die „Pille danach“ zu bekommen. Mit 17 Jahren war das gar nicht so einfach. Nachdem ich einem Arzt mein Dilemma geschildert hatte, holte der den nächsten, der sich alles genauestens schildern ließ, um dann wiederum einen Kollegen dazu zu bitten. Am Ende musste ich noch eine Apotheke mit Notdienst finden, die mir mein ganzes Taschengeld abnahm, nur damit ich am Abend Holger begegnen durfte, der mich nicht mehr ansah.
Eine sehr heilsame Erfahrung, die mich die nächsten drei Jahre vor ähnlichen Begebenheiten schützen sollte. Manchmal war ich zwar frustriert, weil es für meinen Topf irgendwie keinen Deckel gab, aber ich fand meine Erfüllung in meinem Dasein als Kummerkasten und diversen Schwärmereien.
Zu Hause fühlte ich mich aber mehr und mehr fehl am Platz. Schon länger hielt ich es für fragwürdig, ob dies wirklich meine Eltern seien oder ich nicht vielleicht doch vertauscht worden war. Weder war ich konservativ, noch hatte ich das Bedürfnis, Geld zu horten. Ich fand alles Neue interessant, ging gerne ein Risiko ein und sah meine Zukunft nicht in einer Ehe, Kinderkriegen und einen Ehemann umsorgen. Dementsprechend war das Verständnis bei meinen Eltern gleich Null. Schon früh hatte ich aufgegeben, meine Sichtweise verständlich machen zu wollen.
Und mit steigendem Alter wurden diese Probleme immer massiver. Ich probierte heimlich einfach alles aus. Rückblickend muss ich sagen, dass ich vor wirklich gefährlichen Dingen immer genügend Respekt hatte. Drogen und Alkohol waren für mich von jeher ein natürliches Tabu. Trotzdem versuchte ich diverse verbotene Dinge. Das Rauchen ist geblieben, während durchgeknallte Typen schnell wieder verschwanden. Ich jobbte in einer Pennerkneipe, besuchte esoterische Gruppen und verbrachte meine Zeit mit den wirklich schlimmen Jungs. Die Mitarbeit im CVJM war zwar weniger abgefahren, dafür aber mindestens genauso traumatisch.
Einen Höhepunkt erreichte die häusliche Krise, als mein Abitur bevorstand und ich mich an einer Universität einschreiben wollte. Denn da ich nicht gerade mit beruflichem Ehrgeiz und Durchhaltevermögen gesegnet bin, weigerten sich meine Eltern, weitere Jahre der Ausbildung zu finanzieren. BaföG kam aufgrund der Einkommensverhältnisse nicht in Frage.
Meine Eltern stellten sich einen sicheren, angesehenen Beruf vor, insbesondere mein Vater argumentierte, dass er kein Studium finanzieren würde, damit ich hinterher verheiratet hinter einem Herd landen würde. Wie meistens fügte ich mich. Zwar brodelten in meinem Inneren Träume von einer Gesangskarriere, einem Studium der Rechtswissenschaften und ähnliche absurden Dingen, dennoch begann ich eine Ausbildung zur Diplom-Verwaltungswirtin. Das hört sich vielleicht toll an, ist aber eigentlich nichts weiter als eine sichere, angesehene Karriere als gute deutsche Beamtin.
Mit Beginn der Ausbildung durfte ich auch das erste Mal die Freiheit einer eigenen Wohnung in Berlin kennenlernen. Ich genoss mein Leben, das eigenen Geld und die neu gewonnene Freiheit. Und als ich mit 20 dann Elmar kennenlernte, war das Glück meiner Eltern doch noch perfekt. Als Student der Elektrotechnik, einem Krankenhausdirektor zum Vater und mit einem perfekten Benehmen ausgestattet, entsprach dieser genau der Vorstellung meiner Eltern von einem idealen Schwiegersohn. Leider sind perfekt erscheinende Dinge meist ziemlich chaotisch unter der Oberfläche und auch bei Elmar war dies nicht anders. Zwar war er ein richtig netter Kerl und ich war wirklich verliebt in ihn, jedoch verstärkte sich mein Verdacht, dass ein erfülltes Sexualleben genauso realistisch war wie ein lilafarbenes Schwein, das Eier legen kann.
Zeitweise hatte ich den Gedanken, mich bei einem Psychologen behandeln zu lassen, weil ich frigide sein könnte. Aber alles im allem war ich zufrieden, bis neben Elmars steigendem Alkoholkonsum diverse andere Frauen unsere Beziehung störten. Auch seine Begründung, er müsse seine sexuellen Fantasien ausleben und wolle mir dies nicht „antun“, half nicht darüber hinweg, dass ich betrogen worden war. Vielleicht hätte meine Bereitschaft zum Leiden eine andere Frau noch überstanden, drei waren jedoch definitiv zu viel. Auch wenn es eine für Sex an öffentlichen Orten, eine für Sado-Maso Spiele und eine andere für den Quickie zwischendurch war.
Elmar weinte mir hinterher, während ich mich bei einem Urlaub in Zandvoort mit einem holländischen Croupier namens Fritz tröstete, der zwar die erste Liebe auf dem ersten Blick für mich war, jedoch leider auch verheiratet. Ich ließ mich all den bittenden Menschen in meiner Umgebung zuliebe zwar auf einen weiteren Versuch mit Elmar ein, konnte mich am Ende jedoch nicht so weit selbst erniedrigen, dass ich seine Spielchen weiter mitmachte.
Für meine Eltern brach eine Welt zusammen und die Worte meiner Mutter erstaunen mich bis heute, denn auf die Darlegung der Gründe für die Trennung erwiderte sie nur, dass man in einer Beziehung eben manchmal auch so was ertragen müsse und Elmar ansonsten doch wirklich perfekt sei. Ihren Wunsch, mir meine Entscheidung noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen, ignorierte ich geflissentlich.
Mit 26 konnte ich dann nach einigen Beförderungen auf eine gute Position mit einem netten Gehalt, einen ausreichenden Erfahrungsschatz mit Männern und ein kaum vorhandenes Privatleben blicken. Nach den Maßstäben meiner Eltern befriedigend, nach meinen ziemlich langweilig. Ich beschloss, in einem Urlaub in Ägypten zu entspannen und mir über all dies Gedanken zu machen.
Schon im Flugzeug lernte ich ein Pärchen kennen, das aus meiner Umgebung kam und sehr nett schien. Annette und Gerd passten eindeutig perfekt zueinander, auch wenn ziemlich oft die Fetzen flogen. Allerdings hätte man dies auch auf die im vierten Monat befindliche Schwangerschaft von Annette schieben können, die dafür sorgte, dass sie sich ständig übergeben musste. Der Duft einer Wasserpfeife, der Geruch von Fisch oder einfach nur ein falsches Wort hatten einen Sturm aufs nächstgelegene Klo zur Folge. Trotzdem hatten wir reichlich Spaß.
Wir gingen morgens an den Strand, entspannten bis zum Snack am Mittag, schwammen ein wenig, lästerten über andere Urlauber und warteten ab 18.45 Uhr wie halb verhungerte Geier auf das Öffnen des Restaurants um 19 Uhr. Abends relaxten wir an der Bar, gingen in eine Disco oder fuhren nach Hurghada zum Shoppen. Auch Männer fehlten hier nicht. Mit meinen langen, fast schwarzen Haaren und der fülligen Figur war ich hier scheinbar der Traum aller Einheimischen. Später ging mir auf, dass auch ein deutscher Pass alleine gereicht hätte, mich derartig attraktiv auf das männliche Geschlecht wirken zu lassen. Dennoch: Die Aufmerksamkeit tat mir gut und meine Selbstzweifel bezüglich meiner Figur nahmen deutlich ab.
Allabendlich drängte mich Annette, den Typen an der Rezeption anzusprechen, der mich seit unserer Ankunft anstarrte wie ein Verdurstender ein Glas Wasser. Ich suhlte mich auch in so viel Aufmerksamkeit und füllte meine Selbstbewusstseinsvorräte für harte Zeiten in Deutschland. Weniger schön fand ich allerdings, dass dieses besondere Exemplar mich nicht ansprechen wollte. Und leider sollte der Urlaub am übernächsten Tag schon zu Ende sein.
„Eigentlich sollte man seine Sachen packen und hierhin ziehen.“ Annette sprach das aus, was ich auch dachte. „Das wär´s. Ein bisschen arbeiten und den Rest der Zeit mit Nichtstun am Strand verbringen“, träumte sie weiter.
„Du musst erst mal dein Kind auf die Welt bringen“, lachte ich und schaute auf den schon leicht gerundeten Bauch.
Ich hatte schon lange den Wunsch nach fremden Ländern, ihn jedoch wie alle anderen Wünsche immer begraben. Angepasst und abgesichert entsprach einfach mehr meiner Erziehung.
„Wann treffen wir uns zum Abendessen?“, wollte Annette wissen.
Gerd betrachtete sie ein wenig verzweifelt. Seit Annette schwanger war, verzehrte sie Unmengen an Nahrung und das hatte sich auch während ihres Urlaubs in Ägypten nicht geändert.
„Geht einfach, ich komme später hinterher.“
Irgendwie hatte ich so kurz vor Ende des Urlaubs keine Lust, mich von dem stummen Ägypter frustrieren zu lassen. Jeden Tag verschwand meine Hoffnung mehr, dass er sich irgendwann ein Herz fassen und seine Stimme dazu benutzen würde, mich anzusprechen.
„Im Leben nicht. Meinst du, ich will den Blick von dem Typen an der Rezeption verpassen? Ich habe noch nie jemanden gesehen, der eine Frau derartig mit seinen Blicken verschlungen hat, wie der es bei dir tut.“
Ich konnte nicht mehr als sie nur zweifelnd anzusehen.
„Ja, aber wenn er weiter nur starrt, wird es auch dabei bleiben. Außerdem fahren wir übermorgen ab. Da passiert eh nichts. Und für zwei Tage lohnt es sich auch gar nicht mehr, auf irgendwas zu hoffen.“
„Weil du dich weigerst, einfach mal an die Rezeption zu gehen und ihn anzusprechen“, erwiderte Annette.
„Was soll ich ihm denn sagen? Dass ich bemerkt habe, dass er mich anstarrt? Außerdem sind wir im Land der arabischen Machos. Wenn die es nicht schaffen, eine Frau zu umwerben und anzusprechen, wer dann?“
„’Verliebt anhimmeln’ ist wohl der bessere Ausdruck. Der will definitiv was von dir“, verbesserte Annette.
„Na ja, ein wenig vielleicht. Aber die Schweizerin, die da als Gästebetreuung arbeitet, sagte auch, dass er generell nichts mit Touristinnen anfängt und noch nicht mal mit ihnen ausgeht. Warum soll ich mich also jetzt noch zum Affen machen?“
Klar fühlte ich mich geschmeichelt, andererseits aber auch betrogen, weil es beim Starren blieb. Der Mann sah gut aus, hatte ein tolles Auftreten und redete einfach nicht. Außerdem fehlte jegliche Aussicht auf ein Happy End. Knapp 5000 Kilometer waren genauso viele gute Gründe, es beim Starren zu belassen.
„Aha, du hast dich also nach ihm erkundigt?“, zog Annette mich auf.
„Das kam irgendwie so“, versuchte ich mich rauszureden.
Natürlich wollte ich mehr über den Mann erfahren und die Auskunft, dass er kein wild in der Gegend herumschlafender Ägypter war, der es nur auf ein Visum oder Geld abgesehen hatte, tat meinem Selbstwertgefühl schon enorm gut. Aber das musste ich Annette ja nicht gleich auf die Nase binden.
„Wir haben uns unterhalten, als ich sie nach einem Ausflug gefragt habe und da kam das Gespräch auf Männer und diesen Mann eben auch.“
Ich wollte nun wirklich nicht zugeben, dass ich Wert auf den Kontakt legte. Aber wenn es Annette glücklich machte, mich dabei zu beobachten, dann bitte.
„Okay. Wir treffen uns in einer Stunde vor dem Restaurant, damit du deinen Spaß hast.“
Annette lachte nur.
An diesem Abend gab ich mir besonders viel Mühe mit meinem Aussehen, denn irgendwie musste der Mann doch dazu zu bringen sein, dass er mich ansprach. An Erfolg bei Männern mangelte es mir nun wirklich nicht. An Liebe und Beziehungen schon eher, aber was flirten und Körperkontakte anging, hatte ich eigentlich immer Glück gehabt. Also hatte ich geduscht, mich besonders sorgfältig geschminkt und war dann in mein enges, schwarzes Kleid gestiegen. Mit einer durchsichtigen Bluse sah das nicht zu aufgetakelt, aber doch elegant aus. Und es verbarg die nicht ganz idealen Körpermaße an den richtigen Stellen und betonte die gut gebräunte Haut. Die Haare, die meiner Meinung nach mein absolutes Highlight waren, ließ ich offen.
Auf dem Weg zum Hauptrestaurant war ich dann doch ein wenig nervös. Vielleicht war er ja nicht da? Oder er hatte ein neues Opfer zum Starren gefunden? Vielleicht missverstand ich ihn ja auch komplett und machte mich mit meiner Show zum Narren? Und außerdem brachte der Kerl es irgendwie fertig, mich mit seinen Blicken zu verunsichern. Was ja auch der Grund war, warum ich gar nichts mehr verstand. Denn schüchtern und unsicher wirkte er eigentlich nicht. Ich hatte zwar von einigen Mitarbeitern gehört, dass er sehr religiös war und noch nie auch nur ein privates Gespräch mit einer Touristin geführt hatte, aber trauen konnte ich der ganzen Sache nicht.
„Da bist du ja“, rief Annette. „Er ist da“, flüsterte sie mir grinsend ins Ohr.
Ich drehte mich um in Richtung Rezeption und sah direkt in die dunkelbraunen Augen, die mich anlächelten. Mir wurde heiß und das Blut schoss mir ins Gesicht. Ertappt. Schnell sah ich weg.
„Lass uns essen gehen“, sagte ich zu Annette und Gerd.
Besser zu flüchten und einen effektvollen Gang ins Restaurant hinzulegen, als hier zu sitzen und die Blicke zu spüren. Also stand ich lieber schnell auf und zog Annette mit. Unauffällig schielte ich noch einmal zu dem Hotelangestellten an der Rezeption. Es waren schon sehr eindeutige Blick, aber ich war zu unsicher, ob es nicht vielleicht nur ein Missverständnis wäre. Also drehte ich mich lieber um und ging Richtung Restaurant. Wir gingen direkt ans Buffet, das mal wieder mit den verschiedensten orientalischen Spezialitäten bestückt war.
„Hmmmm … Ich glaube, ich nehme alles“, lachte Annette.
Sie nahm sich von den gegrillten Lammkoteletts und dem leckeren Reis und platzierte ihren Teller auf einem freien Tisch, um die Hände für einen weiteren frei zu haben. Kopfschüttelnd setzen Gerd und ich uns und warteten auf Annettes Rückkehr vom Buffet.
Nachdem wir ausgiebig gegessen hatten und beim Nachtisch angekommen waren, führte Annette ihre Verkupplungsversuche fort.
„Ich will mal gleich fragen, wie wir heute Abend am besten noch nach Hurghada reinfahren können“, sagte Annette, während sie genüsslich ihren Kuchen verzehrte.
„Geh raus und nimm dir ein Taxi“, sagte Gerd, der den Heißhunger seiner schwangeren Frau bestaunte.
Annette stieß ihn in die Seite.
„Halt den Mund“, grinste sie verschwörerisch.
„Okay, verstanden. Wenn du Wert darauf legst, fragen wir“, erwiderte Gerd grinsend.
Ich konnte nur von einem zum anderen sehen und das Kribbeln in meinem Bauch ignorieren. Anstarren war ja aus der Entfernung ganz schön, aber mehr …? Ich konnte doch unmöglich an die Rezeption gehen, wenn der Typ da war. Hinterher entpuppte sich das alles als großes Missverständnis und mehr als berufliche Höflichkeit war da nicht. Dann lieber mit der Vorstellung, der Traum eines ägyptischen Rezeptionisten zu sein, nach Hause fahren.
„Macht ihr nur“, sagte ich deshalb.
Ich wollte Annettes Kuppelmanövern aus dem Weg gehen.
„Und du kommst mit“, bestimmte Annette nun, wie ich meinen Abend weiter zu verbringen hätte.
Nach einigem Hin und Her, gab ich dann endlich nach.
„Ja, ja, ich tue dir den Gefallen“, erwiderte ich in der Hoffnung, dass Annette vielleicht nicht an den Torten würde vorbeigehen können und darüber ihr Vorhaben vergäße.
Doch diese hatte ihren Plan nicht geändert und schleifte ihren Mann und mich nach dem Essen direkt zur Rezeption. Die leise Hoffnung, dass der Mann inzwischen seine Arbeitszeit beendet hatte, wurde enttäuscht. Schon von weitem wurden wir beobachtet. Ich stellte mich bewusst etwas abseits von Annette und Gerd in zweiter Reihe zur Theke auf. Aber auch als Annette ihre Frage stellte, ließ der Rezeptionist, auf dessen Namensschild „Ashraf“ stand, mich nicht aus den Augen. Als es nichts mehr zu fragen gab, wandten sich Annette und Gerd zum Gehen. Annette war sichtbar enttäuscht, aber dann breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, als sie das erste an mich gerichtete Wort vernahm.
„Könnte ich dir eine Frage stellen?“, vernahm ich auf Englisch.
Ich erstarrte und guckte Ashraf an. „Pech gehabt“, dachte ich nur. Ich hatte plötzlich Angst, ihm eine Abfuhr erteilen zu müssen, aber mindestens genauso fürchtete ich mich vor der Möglichkeit, dass ich diesen Ashraf toll finden könnte oder er mir sagen würde, dass ich eine schiefe Nase hätte und er mich nur deshalb anstarren würde.
„Sicher.“
Ich ging einen Schritt auf ihn zu, gespannt, ängstlich und verunsichert, was jetzt folgen würde.
„Ich weiß, wir haben uns nie unterhalten und ich mache das auch eigentlich nicht. Aber ich weiß, dass du nur noch morgen hier bist und du musst wissen, bevor du fährst, dass du die schönste Frau bist, die ich je gesehen habe. Und du musst wissen, dass ich mich noch nie zu einer Frau so hingezogen gefühlt habe wie zu dir. Ich weiß, du wirst wahrscheinlich hunderte solcher Sätze hören, aber ich habe dies noch nie gesagt. Und ich wollte dich fragen, ob du vielleicht später fünf Minuten mit mir spazierengehen würdest, damit ich dir sagen kann, wer ich bin.“
Ich konnte in diesem Moment einfach nur stumm starren. Noch nie hatte jemand auch nur etwas ansatzweise ähnlich Tolles zu mir gesagt. Und noch nie hatte jemand mich so angesehen. Aus Mangel an Erfahrung wusste ich nicht, was ich sagen sollte. War das irgendwie gefährlich? War das irgendein Trick? Oder meinte er das vielleicht? Ich war komplett verwirrt. Hatte er vielleicht Hintergedanken? Oder ein Problem mit den Augen? Das mangelnde Selbstbewusstsein brach durch. Trotzdem nickte ich und gab meinem tiefen Wunsch nach, dass es wirklich jemanden gäbe, der mich so sehen könnte. Ashraf sah mich zufrieden an. Nicht glücklich, nein, zufrieden.
„Gut“, sagte er. „Ich warte auf dich, bis du wieder hier bist.“
„Wow, hast du das gehört?“, fragte Annette, als sie das Taxi nach Hurghada bestiegen, um die letzten Geschenke für Freunde zu kaufen. „Gerd hat mir lediglich gesagt, dass ich ganz nett bin, und mein Bier bezahlt“, lachte sie.
„Du hast mir ja noch nicht mal die Chance gelassen, dich zuerst anzusprechen“, beschwerte sich dieser.
„Mensch, jetzt guck doch mal ein wenig glücklicher. Nicht jeder bekommt so eine Liebeserklärung.“
Aber ich war mit meinen Gedanken immer noch bei den Worten von Ashraf und schwebte einerseits auf Wolke sieben, andererseits nagten Zweifel an mir.
„Ach, Annette, das ist ein Ägypter. Ich meine, ich kenne ihn nicht, ich fahre in 30 Stunden nach Hause und ich habe nicht vor, nach Ägypten zu ziehen. Und wahrscheinlich ist das alles nur ägyptisches Blabla, das er jeder zweiten Touristin erzählt.“
„Das glaube ich kaum. Erinnerst du dich, was unser Kellner erzählt hat, als ich ihn gefragt habe, wer das denn sei? Dass dieser Ashraf noch nie mit einer Touristin weg war und auch gar keine will? So, wie der dich anguckt, meint er das auch.“
Annettes Worte taten mir gut, aber ich wollte nicht zu optimistisch sein.
„Ich weiß nicht.“
Und vor allen Dingen und was noch viel schlimmer wäre: Was sollte ich denn machen, wenn das alles stimmte und ich ihn auch noch mochte?
„Jetzt mach bloß keinen Rückzieher und trau dich.“
Eigentlich hatte Annette recht. Seit wann ging ich auf Nummer sicher und plante alles haarklein? Ich mochte diese Blicke und wenn ich ehrlich war, war Ashraf anziehend und hatte genau meinen schwachen Punkt getroffen. Während die Geschäfte von Annette bestürmt wurden und sie im Kopf überschlug, wie viel Geld sie heute noch ausgeben konnte, war ich ungewöhnlich ruhig und ungeduldig. Hurghada, die Geschäfte und das bunte Treiben auf der Straße interessierten mich nicht mehr die Bohne, weil meine Gedanken nur noch bei dem Treffen waren.
Als wir schwer bepackt wieder ins Hotel kamen, stand Ashraf immer noch da, wo ich ihn verlassen hatte. Wo auch sonst, er arbeitet ja an der Rezeption. Aber er hatte seine Uniform gegen eine Leinenhose und ein weißes Hemd ausgetauscht. Mein Herzschlag beschleunigte sich sofort. Er sah wirklich gut aus. Und er hatte etwas Männliches, Selbstsicheres, das mich anzog. Gleichzeitig war ich aber auch von Angst gepeinigt. Was würde während des Spaziergangs passieren? Was erwartete er von mir? Und war es nicht besser, vielleicht Kopfschmerzen vorzutäuschen und einfach aufs Zimmer zu gehen? Ich war hin und hergerissen. Ich wollte keine Enttäuschung, ich wollte nicht bedrängt werden und ihn abweisen müssen, ich wollte nicht, dass meine romantischen Gedanken ein jähes Ende fanden. Aber mein Verstand sagte mir, dass es Liebe auf den ersten Blick und die Cinderella-Geschichte in Wirklichkeit nicht geben konnte. Aber ich hatte nun mal zugestimmt, also musste ich auch da durch.
„Hi“, Ashraf lächelte mich an.
„Hi.“
Was sollte ich auch anderes sagen? Von weitem hatte ich genug Selbstbewusstsein gehabt, aber jetzt? Weg, alles weg.
„Wollen wir gehen?“, fragte Ashraf und stellte meine Einkaufstüten hinter die Rezeptionstheke.
Ich sah hilfesuchend zu Annette und Gerd und hoffte, die beiden würden mich irgendwie davon abbringen wollen, mit dem Ägypter das Hotel zu verlassen. Da keine Reaktion, sondern nur ein zufriedenes Lächeln auf Annettes Gesicht erschien, nickte ich nur und ließ alles mit mir geschehen, während mein Verstand sich mögliche Reaktionen auf alle verschiedenen Situationen ausdachte.
Eigentlich war ich ja nicht schüchtern. Flirten machte mir viel Spaß und ich gehörte eher zu dem Typ Frau, der offen und herzlich auf alle zuging. Aber es hatte ja auch noch nie jemand zu mir gesagt, dass ich die schönste Frau der Welt sei. Wie ging man damit um? Eigentlich war ich immer auf Männer zugegangen und konnte nun gar nicht darauf reagieren, da es umgekehrt war.
Wir verließen Seite an Seite das Hotel. Die Straße war nicht wirklich einladend. Eine Schnellstraße, wenig beleuchtet, mitten in der Wüste und nur ein Haus in der Nähe. Wieder fing mein Kopfkino an, diverse Filme abzuspielen. Ich beachtete kaum die wenigen Menschen auf der Straße, den sternenklaren Himmel und die Palmen vor dem Hotel.
„Ich wollte nicht im Hotel mit dir reden. Aber ich musste die Gelegenheit ergreifen, als du vor mir standest. Entschuldige.“
Ashraf war wirklich selbstsicher. Ihm war keinerlei Nervosität anzumerken.
„Ist schon okay, ich bin nur etwas erstaunt.“
Ich sah ihn prüfend an. War das nun ein guter Anfang oder ein schlechter? Deutete es auf irgendwas Komisches hin?
„Worüber? Dass ein Mann sich auf den ersten Blick in dich verliebt?“
Jetzt sah ich ihn noch einen Tick erstaunter an. Verliebt? Ging das? Ein paar Tage, wenige Minuten am Abend anstarren und man war verliebt?
„Ja, ich weiß auch nicht, warum und wie es passiert ist. Aber ich meinte, was ich vorhin zu dir gesagt habe. Ich habe noch nie für eine Frau das empfunden, was nur ein Lachen von dir bei mir auslöst. Und ich will, dass du weißt, wer ich bin.“
Das fehlende Interesse anderer Männer, die ich attraktiv fand, hatte mich immer verletzt und mich in meiner Vorstellung von der wenig hübschen, mit viel zu viel Figur ausgestatteten Petra nur noch bestärkt. Ich hatte mir in meinen Träumen ausgemalt, dass einmal ein toller Mann sich Hals über Kopf in mich verlieben würde. Romantik pur, nichts als Liebe und Glück. Aber die Erfüllung dieses Traums machte mir einfach Angst und ich konnte ihm nicht wirklich glauben.
Er führte mich die Straße entlang und ich fragte mich, ob er ein Ziel hatte oder wirklich nur mit mir ein wenig gehen wollte. Mein Kopf wollte einfach nicht mit dem Aussortieren aller Möglichkeiten aufhören.
„Ich bin 26 Jahre alt, ich bin Moslem und stolz darauf, ich komme aus einer guten Familie in Monoufia. Meine Brüder und Schwestern sind alle jünger als ich und mein Vater ist krank, sodass ich die Familie ernähren muss. Aber ich bin ehrgeizig und bekomme in der Regel, was ich mir in den Kopf setze. Und ich will eine Karriere, eine gute Ehefrau, Kinder und ein gutes Leben. Ich bin ehrlich, stolz auf mich selbst und intelligent, auch wenn meine Schulbildung nicht die beste war. Und seit ich dich gesehen habe, empfinde ich sehr stark für dich und ich will dich heiraten.“
Jetzt blieb ich stehen und starrte Ashraf an. Ich meinte, dass jemand seine Qualitäten aufzählte, war ja eine Sache, dass er sich verliebte und jemanden kennenlernen wollte, auch, aber heiraten? Entweder hatte der Mann zu viel Wasserpfeife geraucht oder er war noch im Mittelalter zu Hause.
„Du kennst mich nicht, du weißt nicht, wer ich bin, wir beide haben wenig gemeinsam. Wie kannst du all das sagen?“
Jetzt brachen doch die Zweifel durch und ich wurde eher ärgerlich. Das Gefühl, einfach nur veräppelt zu werden, wuchs stetig.
„Ich muss dich nicht länger kennen, ich kenne dich schon. Und ich weiß genau, wer du bist. Du bist mein Traum. Das reicht.“
Irgendwie war mir das dann doch zu viel. Liebe auf den ersten Blick hin oder her: Abgesehen von sprachlichen, religiösen, kulturellen und lokalen Unterschieden lief das Leben so einfach nicht ab.
„Ashraf, du bist ein netter Mann, aber ich fahre übermorgen nach Deutschland und ich komme so schnell nicht wieder hier hin.“
Ich konnte nicht glauben, dass er wirklich meinte, was er sagte. Ich wusste nicht genau, warum er das alles sagte, aber es war einfach unmöglich, dass jemand so nach einigen Tagen Blickkontakt empfand.
„Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass wir morgen heiraten. Ich wollte nur, dass du weißt, was ich denke und fühle und wer ich bin. Das ist alles.“
Kein bisschen Unsicherheit, keine sichtbaren Zweifel: Dieser Mann hatte einfach ein Selbstbewusstsein, das kein Ende kannte.
„Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr sagen kann, aber ich kenne dich nicht. Und ...“, setzte ich an, um ihm eine Abfuhr zu erteilen. Mein Verstand sagte mir einfach, dass das ein viel zu unrealistisches Szenario war.
Ashraf unterbrach mich: „Ich weiß, und ich erwarte nicht mehr als das. Ich will, dass du meine Telefonnummer hast für den Fall, dass du mich irgendwann einmal erreichen willst.“
Ich nahm den Zettel mit der Nummer und starrte auf das Papier. Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf. Ich wollte ihm den Zettel schon zurückgeben und ihm sagen, dass er es bei einer anderen dummen Touristin mit der Masche versuchen sollte, aber dann hielt mich etwas zurück. Vielleicht ein kleiner Funken Hoffnung, dass es doch stimmen könnte. Ich musste dringend auf mein Zimmer und nachdenken.
Der Weg zurück verlief schweigend. Er hatte wirklich kein Ziel gehabt und wollte nur seinen Text loswerden. Ab und an sah Ashraf mich an.
„Ich werde dich morgen nicht sehen. Ich habe Urlaub und fahre heute Nacht noch nach Hause. Wann immer du mich anrufen willst, tu es bitte.“
Das war ja nun wirklich der Hammer. Er fuhr weg? Ein kleiner Schmerz in der Herzgegend durchzuckte mich, bevor mein Kopf wieder anfing, diese neue Information zu verarbeiten. Ich hatte gehofft, noch einen Tag die Bewunderung genießen zu können. Trotzdem nickte ich nur und blickte ihn an. Bis zur Eingangshalle erwartete ich, dass er noch irgendetwas sagen würde wie: „Ich brauche übrigens einen neuen Computer.“ Oder dass er versuchen würde mich zu küssen und zu einer gemeinsamen Nacht zu überreden. Aber nichts passierte. Und ein wenig war ich sogar darüber enttäuscht. „Gute Nacht“ und ein Handschlag war alles, was es dabei gab.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich wie gerädert. Die Nacht war ein wenig schlaflos verlaufen. Immer wieder durchlief ich den Abend und rief mir die Sachen ins Gedächtnis, die Ashraf gesagt hatte. Das Ganze war so surreal, dass ich zeitweise überprüfte, ob ich wach war. Danach wog ich die Wahrscheinlichkeiten ab. War es möglich, dass so etwas passierte? Wie hoch waren die Erfolgschancen einer solchen Beziehung? Was könnte Ashraf noch beabsichtigt haben?
Komischerweise glaubte ich ihm, was er sagte. Das machte das Ganze schwierig. Und ich musste verhindern, dass ich zu viel darüber nachdachte. Deutschland war weit entfernt, ein Leben hier mit einem Moslem etwas, das absolut unmöglich war. Meine Eltern würden mich enterben, steinigen, aus ihrem Leben streichen. Und meine Freunde würden mich für total abgedreht halten. Außerdem war dies kein Land für emanzipierte Frauen. Ich wollte Gleichberechtigung, Unabhängigkeit, einen Mann, der mich als gleichwertigen Partner respektierte und schon gar kein Leben in einem Dorf im Hinterland.
Ich hatte mich hochgearbeitet, ein gutes Gehalt und Freunde. Meine Wohnung war schön eingerichtet, ich hatte mein Traumauto - einen kleinen, netten Zweisitzer - und mein Leben mit Männern. Zwar alles andere als perfekt, aber auch nicht zu langweilig. Unabhängig und zufriedenstellend. Nichts Aufregendes und nicht die große Liebe, aber vollkommen zufriedenstellend. Gefühle, wie Ashraf sie beschrieben hatte, reizten und schreckten mich zugleich ab. Und ich wollte auch nicht mehr darüber nachdenken. Denn wäre das alles möglich und real, bestünde das Risiko, dass es mich irgendwann verletzen würde. Und dass ich alles dafür stehen- und liegenlassen würde. Die Chancen dafür standen ziemlich gut.
Annette bestürmte mich beim Frühstück sofort und bereitwillig erzählte ich ihr, was Ashraf gesagt hatte. Reden hatte schon immer geholfen und beim Erklären klärten sich auch meist die Gedanken und ein Entschluss reifte. Nur heute schien das anders zu sein.
„Ein harter Brocken. Selbstbewusst, sieht gut aus, zielstrebig und auch noch nett. Vielleicht solltest du darüber nachdenken.“
„Ja Annette, was soll ich denn da nachdenken? Da gibt es nichts zu denken. Es ist nicht nur unmöglich, es ist auch total unlogisch, ungesund und unvernünftig.“
Ich wollte nun wirklich niemanden, der mir auch noch gut zuredete, etwas absolut Verrücktes zu tun.
„Unvernünftig, unvernünftig ... Die gute deutsche Beamtin braucht System“, lachte Annette und biss herzhaft in ihr Brötchen mit Marmelade.
Das Frühstück verlief ziemlich ruhig, denn meine Gedanken waren überall, nur nicht beim Essen.
Den Rest des Tages verbrachte ich für mich sehr untypisch still neben meinen neuen Freunden am Strand. An diesem Morgen hatte kein Ashraf an der Rezeption gestanden und der Gedanke, dass ich ihn nicht mehr sehen würde, machte mir zu schaffen. Die Möglichkeit, dass hier der erste Mann war, der mich so wollte, wie ich war, ließ mich trauern. Zwar bestand mein Kopf weiterhin darauf, dass ich froh sein sollte, endlich wieder in den gewohnten Trott mit normalen Männer und bekannten Verhaltensweisen zurückzukehren, aber mein Herz, das ich versuchte, zum Schweigen zu verdonnern, begehrte auf.
Meine Katzen begrüßten mich kalt bis eiskalt. Was meine Stimmung nicht wirklich steigerte. Regen, Wolken und Temperaturen unter 20 Grad machten mich depressiv. Da half es auch nichts, dass ich wieder in meinem MG fahren, die Einsamkeit meiner schönen Wohnung genießen und meine Freunde wiedersehen konnte. Der erste Arbeitstag zog sich in die Länge, die liegengebliebene Arbeit lenkte mich nur wenig von meinen trostlosen Gedanken ab und die Kollegen waren wie immer: Gute deutsche Beamte, die meine Mentalität nicht wirklich verstehen konnten.
„Wie war es denn im Urlaub? Toll? Hast du nette Männer kennengelernt?“
Wenn ich ihnen jetzt auch noch von meinem Erlebnis erzählen würde, wäre ich unwiderruflich als Sonderling abgestempelt.
„Ja, alles super, tolles Hotel, geniales Wetter und einfach viel Spaß“, war meine Standardantwort.
Eigentlich hätte mich die Arbeit genug ablenken sollen. Denn vor meinem Urlaub hatte sie zumindest dafür gesorgt, dass ich meine Freunde kaum noch sah, geschweige denn etwas mit ihnen unternahm. Sieben Uhr arbeiten, 18 Uhr nach Hause, essen, gestresst auf dem Sofa fernsehen und dann schlafen. Am Wochenende ein paar Marketingveranstaltungen und vielleicht ein Kommunikationstraining geben und sich in einem abgelegenen Kaff von sturen Beamten erklären lassen, dass sie ja nicht verbeamtet worden seien, um nett zu einfachen Bürgern zu sein. Mein Leben bestand mehr oder weniger nur aus Arbeit.
Eine Zeit lang hatte ich meine musikalischen Fähigkeiten genutzt und Gesangsunterricht in der Hoffnung genommen, dass aus mir doch noch eine begnadete und berühmte Sängerin werden würden. Aber da es zu meiner Zeit kein DSDS oder Supertalent gab, gelangte ich lediglich bis zum Background eines bekannten Musicals und hinterher auf kleinere Bühnen mit einer Galaband. Meine sichere und gut bezahlte Position bei der Krankenkasse gab ich nie auf. Die langjährige Arbeit meiner Eltern, aus mir eine Standard-Mittelstandsfrau zu machen, hatte also wirklich Früchte getragen. Vielleicht fehlte mir aber auch einfach die Kraft, mich allen zu widersetzen und einfach meiner inneren Stimme und meinen Wünschen zu folgen. Und ähnlich war es jetzt auch wieder. Denn ich saß vor dem Fernseher und bekam eigentlich nichts von dem mit, was gezeigt wurde.
Ich dachte daran, was wäre, wenn ich frei wäre und mich trauen würde, nach Ägypten zu fahren und zu sehen, was aus Ashraf und mir werden könnte. Der Zettel mit der Telefonnummer lag auf meinem Schreibtisch. Jeden Tag nahm ich mir vor, entweder anzurufen oder ihn wegzuwerfen. Bis ich auf einmal die Lösung hatte: hinfliegen. Doch was würde mein Chef sagen? Und meine Eltern? Denen könnte ich nun wirklich nicht erzählen, dass ich noch mal nach Ägypten fliegen wollte. Da ich aber in einer ihrer beiden Eigentumswohnungen wohnte und sie direkt unter mir, konnte ich auch schlecht eine glaubhafte Geschichte erfinden. Trotzdem ließ mich der Gedanke nicht los. Und als Annette und Gerd mich besuchten, ließ ich ganz nebenbei einen Satz einfließen, der ihre Reaktion testen sollte.
„Ich bekomme hier noch schwerwiegende Depressionen bei dem Wetter. Und dann die Arbeit ... Ich habe so viele Überstunden, dass ich eigentlich glatt noch mal eine Woche nach Hurghada fliegen könnte.“
Annettes Augen sprangen mich förmlich an.
„Wow, der muss ja Eindruck in den fünf Minuten gemacht haben“, grinste sie.
Eine Widder-Frau verstand die andere eben einfach sofort. Gerd guckte nur erstaunt.
„Meinst du nicht, dass das ein wenig zu viel des Guten wäre?“, meinte er.
„Ja, wahrscheinlich hast du recht. Aber hier ist es wirklich im Moment unerträglich.“
„Das ist es doch immer in den ersten Tagen nach einem Urlaub.“
„Nun lass sie doch. Vielleicht redest du ihr gerade ihre ganz große Liebe aus. Ich finde die Idee toll.“ Auf Annette war wirklich immer Verlass. „Was sagst du deinem Chef und deinen Eltern?“
„Keine Ahnung, ich habe ja auch noch nichts wirklich beschlossen“, schränkte ich ihre Begeisterung ein.
„Vielleicht rufst du ihn mal an?“ Gerds Ideen waren typisch kopfgesteuerter Mann, der von der Spontaneität einer gefühlsgesteuerten Frau keine Ahnung hat.
„Nein, das wäre ja zu einfach. Dann kann er sich drauf vorbereiten. Wenn, dann solltest du es schnell machen!“ Annette lieferte mir genau den Zuspruch, den ich brauchte.
„Und meine Eltern? Mein Chef ist kein Problem, aber wenn die das mitbekommen ...!“
„Du fährst mit uns ... .hmmm, jaaaaaaaaa, du fährst mit mir zu meiner Mutter, weil Gerd keine Zeit hat und ich unbedingt vor der Geburt noch mal hin will.“
„Aber du verabscheust deine Mutter.“
Annette und ich sahen Gerd verzweifelt an. Männer!
„Ja, aber das müssen Petras Eltern doch nicht wissen, oder?“
Annette war sichtbar der Meinung, dass Gerd sich besser heraushalten sollte.
„Gut, das ist gut. Dann also nur noch ein Flug“, dachte ich die ganze Aktion weiter.
„Und ein Hotel“, meinte Annette.
„Nö, kein Hotel. Dafür habe ich wirklich kein Geld mehr. Da wird sich schon was finden und bestimmt ist es billiger, wenn man direkt in einem Hotel bucht.“ Wenn schon spontan, dann richtig.
Gerd wurde immer verzweifelter.
„Du kannst doch nicht spontan in ein arabisches Land als Frau fliegen, ohne zu wissen, wo du schlafen wirst. Und dann noch zu einem Mann, mit dem du nur fünf Minuten geredet hast. Also, das ist doch wirklich etwas zu spontan für meine Begriffe.“
„Gerd, ich bin gute deutsche Beamtin. Lass mir doch einmal eine Woche als Abenteurer und dann bin ich auch wieder ganz brav und angepasst, versprochen.“
Ich wollte einfach alles auf mich zukommen lassen. Und diesem arroganten Mistkerl, der mich angeblich heiraten wollte, zeigen, dass er so mit einer Frau wie mir nicht umgehen konnte. Wenn ich es mir recht überlegte, wollte ich mehr aus Wut denn aus Sehnsucht zu ihm. Denn inzwischen war ich mehr als sauer, dass er mir noch nicht mal die Gelegenheit einer Reaktion gegeben hatte. Dem würde ich es zeigen. Und wenn er mich plötzlich nicht mehr wollte, wäre das auch okay. Dann würde ich eben eine Woche entspannt am Strand verbringen und ohne die Frage „Was wäre wenn ...?“ einen nicht geplanten Urlaub genießen. Die Sache war geklärt.
„Ich rufe euch jeden Tag an, damit ihr euch keine Sorgen machen müsst. Morgen buche ich. Kann ich die Nacht vor dem Flug bei euch schlafen?“
Annette und Gerd wohnten fast neben dem Flughafen und für meine Geschichte wäre es zudem praktisch.
„Klar, gerne, dann können wir noch alles genau planen“, freute sich Annette.
Ich war glücklich. Mit dem Ausblick auf das Treffen mit Ashraf waren auch die nächsten Tage bei der Arbeit auszuhalten. Mein Chef war zwar nicht wirklich begeistert gewesen, hatte aber einsehen müssen, dass die Zahl meiner Überstunden auch einen dreiwöchigen Zusatzurlaub gerechtfertigt hätte. Und da alle anderen da waren, konnte er nicht wirklich einen guten Grund finden, mich dazubehalten. Und auch der Flug war schnell gefunden und vom Preis her mehr als akzeptabel.
Eigentlich lief dann auch alles gut. Bis auf einige wenige Ausnahmen. Aber da ich schon immer recht flexibel gewesen bin und unbekannte Gegebenheiten mich mehr reizen als abschrecken, empfand ich alles als großes Abenteuer. Das erste kleine Problem trat auf, als im Flugzeug die Einreisepapiere für Ägypten ausgefüllt werden mussten. Während alle ihr Hotel eintrugen, hatte ich keinen blassen Schimmer, wo ich übernachten würde. Ich trug einfach unser altes Hotel ein in der Hoffnung, dass das schon reichen würde.
An der Passkontrolle in Hurghada schickte mich der wenig freundliche Mitarbeiter zurück zu einer Art Bankschalter, an dem ich eine Briefmarke käuflich erwerben sollte, die mein Visum war. Ohne Reiseleiter passierten solche Fehler eben. Und während alle anderen in die bereitstehenden Busse stiegen, suchte ich mir ein Taxi. Ich hatte keine Ahnung, wo das Hotel lag und konnte mich noch dunkel an die Innenstadt und die lange Straße vom Hotel dorthin erinnern. Dafür wusste es der Taxifahrer, der angesichts des horrenden Preises, den er verlangte, glücklich lächelte und sich bestimmt schon den Rest seiner freien Woche ausmalte, die er dank meines Geldes haben würde. Aber ich machte mir keine weiteren Gedanken über solche Nichtigkeiten, denn gleich wäre ich bei Ashraf. Ich hatte mir vorgenommen, ihm gründlich die Meinung zu sagen. Er sollte erst gar nicht glauben, dass ich wegen seiner Worte dahingeschmolzen wäre und nun angekrochen käme, um von ihm meinen Ehering in Empfang zu nehmen.
Aber erstmal musste ich den Guten finden. Denn im Hotel war er nicht. Vorsichtig sagte man mir, dass er erst wieder am nächsten Morgen arbeiten würde. Ägypter decken einander wirklich optimal und da keiner wusste, wer die komische Deutsche mit dem wenigen Gepäck war, die noch nicht mal ein Zimmer im Hotel hatte, gaben sie so wenig Informationen wie möglich heraus.
Die Unterkunft der Angestellten war über die Straße in einem wenig komfortabel aussehenden Kasten. Während meines Urlaubs hatte ich die Angestellten nach ihren Schichten immer dahin gehen sehen. Mit einem ein wenig gedämpften Optimismus machte ich mich auf den Weg dorthin. Hier wurde ich allerdings noch komischer angesehen, vor allen Dingen, als ich nach Ashraf fragte. Bei knapp 200 Angestellten war der Name Ashraf nicht so selten. Als ich die Rezeption erwähnte, war dieses Problem zumindest gelöst. Wenn ich mir gedachte hatte, dass hier jeder sein nettes, kleines Zimmer hätte und ich einfach durchgehen könnte, war ich jedoch falsch gewickelt. Man sagte Ashraf Bescheid, dass da unten eine Deutsche mit Gepäck stehen würde. Zwei Minuten später stand er in Jogginghose und T-Shirt vor mir und grinste über beide Ohren. Da das nicht die erhoffte Reaktion war, wurde ich wirklich sauer.
„Also nicht dass du jetzt meinst, dass ich gekommen bin, um dich zu heiraten. Eigentlich wollte ich dir nur mal sagen, was ich von dir halte. Denn das ist ja wohl das arroganteste Verhalten überhaupt, mir einfach so aus dem Nichts solche Dinge an den ...“
Weiter kam ich nicht, denn ich bekam den aufregendsten Kuss meines Lebens. Und davon hatte ich schon ein paar gehabt. Er stand da einfach, hielt mich im Arm und küsste mich, als ob es kein Morgen gäbe. Ich schmolz dahin. Vergessen war die schöne Rede, die ich mir zurechtgelegt hatte. Ich genoss die Umarmung, den Kuss und den Mann. Die Zwischenrufe meines Verstands, der mir sagte, dass ich doch nicht einfach so mitten auf einem von allen Seiten einsehbaren Platz einen mir komplett fremden Mann küssen könnte, brachte ich zum Schweigen. Und als der Kuss endete, konnte ich ihn einfach nur anlächeln. „Was soll´s“, dachte ich. „Eine Woche ist einfach zu kurz, um sie mit gestellten Szenen zu verschwenden.“
„Du bist da“, lächelte Ashraf strahlend
„Ja, scheint so“, grinste ich zurück.
„Wo wohnst du und wie lange bleibst du?“, fragte er voller Hoffnung.
„Tja, das ist so eine Sache. Ich bleibe eine Woche, aber wo, das kann ich dir nicht sagen. Ich dachte mir ...“
Schon wieder wurde ich unterbrochen.
„Du bist einfach gekommen und hast kein Hotel und nichts? Was machen wir denn jetzt mit dir?“
Ashraf schien ein wenig ratlos. Und ich fragte mich, ob er sich das mit der Hochzeit angesichts meiner Verrücktheiten vielleicht doch noch mal überlegen würde.
„Also, ich habe den Rest des Tages frei. Ich muss dann erst mal eine Wohnung für dich auftreiben. Warte hier.“ Sagte es und verschwand im Staffhouse.
Nur wenige Minuten später stand er ausgehfertig wieder vor mir und dirigierte mich zur Straße.
„Hast du Hunger? Hast du was gegessen? Brauchst du etwas zu trinken?“
Ich liebte seine Besorgnis. Echte Gentlemen waren in Deutschland rar gesät.
„Nein, danke. Nur eine Dusche wäre wirklich nicht schlecht.“
„Wir sehen uns jetzt mal eine Wohnung an, die ein Freund von mir mal gemietet hat. Die ist bezahlbar, zentral und soll sehr schön sein.“
Ashraf war sichtbar besorgt um mein Wohlergehen und mochte ebenso offensichtlich die Tatsache nicht, dass ich nicht in einem Hotel gebucht hatte.
„Ich komme mit allem klar, mach dir keine Gedanken.“
„Das glaube ich dir. Aber wenn das geklärt ist, musst du mir alles erzählen. Wie du hier hingekommen bist und warum und ... Ich freue mich so, dich zu sehen.“
Er guckte mich mit dem Blick an, den ich während meines gesamten Urlaubs abends bekommen hatte und der mir so gefallen hatte. Sprachlos lächelte ich einfach zurück und fragte mich, in was ich da wohl reingeraten war.
Die Wohnung war wirklich zentral. Und bezahlbar. Und nachdem Ashraf sie sich angesehen hatte (ich musste dabei in einem Coffeeshop warten), sagte er mir, dass sie auch wirklich gut aussehen würde. Ich solle mich nur vorher bitte von europäischen Standards verabschieden.
In dem Glauben, dass mich nichts umhauen könnte und ich nun wirklich nicht verwöhnt und zickig wäre, ging ich frohen Mutes mit ihm zu dem Gebäude. Es gab nur sandige Wege, die Straßen abseits der Einkaufsstraße waren voller Müll und Frauen waren weit und breit nicht zu sehen. Das Haus selbst sah nett, aber irgendwie unfertig aus. Ägypter hatten nun mal die komische Angewohnheit, immer nur so weit zu bauen, wie das Geld reichte. Was manchmal zur Folge hatte, dass der Hausflur noch keine Fliesen und kein Geländer hatte.
Gespannt betrat ich die Wohnung und musste erst mal nach Luft schnappen. Europäischer Standard hin oder her, wenn das eine schöne Wohnung war, wie lebten dann die normalen Menschen? Ich stand in einem Wohnzimmer, das kein Fenster besaß, dafür aber ein Sofa, wie man es bei Ikea in der Basisversion findet. Leider sah es so aus, als sei es die bereits benutzte Ikea-Version, die sich nun auf dem Sperrmüll befand. Der Fernseher, wichtigstes Utensil eines jeden ägyptischen Haushalts, wäre in Deutschland nur noch in einem Antiquitätengeschäft zu finden gewesen. Ich sah mich um und wartete, dass Ashraf hereinkäme. Doch der stand wie festzementiert vor der Wohnungstür.
„Was ist, willst du nicht reinkommen und die Tür zumachen?“, fragte ich ihn.
Er guckte mich nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Bestimmt nicht. Erst wenn wir verheiratet sind, werde ich alleine mit dir in einer Wohnung sein.“
„Du veräppelst mich, oder? Was ist denn so schlimm daran, wenn du im Wohnzimmer wartest, während ich mich dusche?“
„Dein Ruf. Die Leute würden reden und es gehört sich wirklich nicht, wenn ein Mann und eine Frau alleine in einer Wohnung sind, wenn sie nicht verheiratet sind.“
Wo war ich hier bloß gelandet? Allerdings war unter diesen Gesichtspunkten die Wohnung wirklich nicht so wichtig, denn wenn ich ihn sehen wollte, würden wir sowieso draußen sein müssen.
„Gut, mach, was du willst. Ich gehe duschen und mich umziehen und dann komme ich zu dir.“
Sollte er doch seine komischen Regeln einhalten. Ich musste dringend aus diesen Klamotten raus. Ich machte Licht in der Küche, um zu sehen, ob vielleicht irgendetwas Trinkbares im Kühlschrank war. Und machte es schnell wieder aus und die Tür zu. Ich hatte noch nie eine lebende Kakerlake gesehen. Die, die gerade unter den Schrank gerannt war, hätte ich mir auch lieber erspart. Die Küche war also tabu. Ich ging ins Schlafzimmer in der Überzeugung, dass man hier ja nun wirklich nicht viel falsch machen könnte und starrte benommen auf ein kreisrundes und faustgroßes Loch in der Scheibe, das einen wunderschönen Blick auf eine Baugrube freilegte, die mit Müll angehäuft war. Vielleicht nicht ganz vergleichbar mit dem Meerblick im Hotel, dafür günstig. Auch das Bett war wenig vertrauenerweckend und die Laken wirkten ein wenig fadenscheinig. Aber nun gut, wer braucht bei dem Wetter schon eine Decke? Die fehlende Klimaanlage wurde ausgeglichen durch einen perfekt funktionierenden Deckenventilator. Gott sei es gedankt. Auch kleine Dinge können glücklich machen.
Ich ging vorsichtig und auf alles gefasst ins Bad. Zu meinem Erstaunen sah dieser Raum am besten aus. Aber wie so oft waren es die versteckten Kleinigkeiten, die dazu führten, dass man seinen ersten Eindruck revidieren musste. Denn als ich voller Hoffnung unter die Dusche ging (wohlgemerkt: Eine Duschwanne oder einen Vorhang gab es nicht, dafür aber ein Loch im Boden, durch das das Wasser abfloss) und den Wasserhahn aufdrehte, kam der nächste Schock. Das Wasser war sehr warm und ließ sich auch nicht kälter drehen. Und meine Haare fühlten sich trotz langem Spülen irgendwie sandig an. Ich erklärte mir, dass das alles ein großes Abenteuer war und machte mich so gut es ging fertig.
Geduldig hatte Ashraf die letzten 30 Minuten vor der Haustür gewartet und sah mich jetzt fragend an.
„Und, alles okay?“
„Nun ja, soweit schon. Nur irgendwie ist das Wasser ziemlich warm und sandig und das Schlafzimmerfenster hat ein Loch. Aber kein Problem“
Ashraf lachte.
„Die Häuser hier sind leider keine Hotels mit kaltem Wasser und Filtern. Die Wassertanks sind auf dem Dach und bei der momentanen Hitze läuft das Wasser eben so zu dir, wie es auf dem Dach ist. Und der Wind treibt den Sand rein. Du gewöhnst dich schnell dran.“
Aufmunternd sah er mich an.
„Klar, mach dir keine Gedanken. Ich bin ziemlich anpassungsfähig.“
Er drückte meine Hand. „Ich hatte nichts anderes erwartet“, neckte er mich.
Wir gingen Richtung Hauptstraße, um etwas zu essen zu kaufen. Ich wollte seine Hand nehmen, aber er schüttelte nur bedauernd mit dem Kopf.
„Hier können wir uns nicht anfassen. Wenn ein Polizist vorbeikommt, kann ich viel Ärger bekommen. Es ist verboten, in der Öffentlichkeit eine Frau zu berühren, mit der man nicht verheiratet ist.“
„Du machst Scherze.“
Ich war wirklich entrüstet. Was war das denn? Das war doch wohl mir überlassen, mit wem ich was in der Öffentlichkeit machte.
„Nein, aber das ist auch zur Sicherheit der Touristinnen so geregelt. Wir finden schon Orte, wo man nicht so genau hinsieht, aber hier geht das leider nicht. Komm, wir gehen was essen, du hast bestimmt Hunger.“
Ich nickte nur und lief neben ihm her. „Komisches Land“, dachte ich immer wieder. Aber trotzdem irgendwie faszinierend. Bevor ich mir aber weitere Gedanken machen konnte, wollte ich etwas essen. Denn der kleine Imbiss im Flugzeug war schon seit Stunden aus meinem Magen verschwunden. Ashraf steuerte auf ein Gebäude zu, vor dem eine Kühltruhe und ein Grill standen. In der Kühltruhe, der leider die Verbindung zum Stromnetz fehlte, lagen in der prallen Sonne diverse Fleischstücke. Lammkoteletts, Lammspieße, Hähnchenspieße und diverse Innereien, von denen ich nicht alle kannte.
„Was ist das? Eine Metzgerei oder so?“
„Nein, das ist ein Restaurant.“
„Und warum liegt das rohe Fleisch dann da rum?“ Irgendwie durchblickte ich das System noch nicht ganz.
„Du suchst dir aus, was du essen willst, sie grillen es für dich und servieren es dir dann drinnen.“
„Ahhh, oooookaaaaaaayyy.“
Ich wusste noch nicht so genau, ob ich das wirklich ausprobieren wollte. Andererseits sahen im Restaurant noch alle sehr gesund aus und ich konnte auch nicht glauben, dass so viele Menschen in einem Restaurant essen würden, in dem sie sich eine Fleischvergiftung holen könnten. „Man muss alles mal ausprobieren“, dachte ich mir und ging beherzt hinter Ashraf her.
Mit einem arabischen Wortschwall, von dem ich aber auch rein gar nichts verstand, diskutierte er fünf Minuten mit einem Mann, der der Kellner zu sein schien. Danach setzten wir uns an einen Tisch, auf dem eine Metalltasse mit Wasser stand. Ashraf trank, während ich ihn fasziniert ansah.
„Gibt es hier auch Cola?“, fragte ich ihn und er lachte.
„Nachher kaufe ich dir eine Cola, hier gibt es nur das Wasser.
„Ahhhh“, sagte ich nur.
„Aber das solltest du wohl nicht trinken, denn es ist normales Leitungswasser. Ich hole dir eben eine Flasche aus dem Supermarkt.“
Eine Minute später war er wieder da und hatte eine Flasche Wasser in der Hand. Erleichtert und dankbar nahm ich sie ihm ab.
„Ich danke dir. Du hast mich gerettet. Ich war fast am Verdursten.“
„Hattest du denn nichts in der Wohnung?“, fragte er erstaunt.
„Naja, ich weiß nicht. Diese riesige Kakerlake war da und ...“
Er lachte nur.
„Okay, du musst dich noch an vieles gewöhnen. Kakerlaken sind in den saubersten Wohnungen. Und sie haben enorm viel Angst vor dir“, lachte er.
„Ich weiß, aber ich würde sie trotzdem lieber nur aus der Ferne sehen. Wenn überhaupt.“
Es schüttelte mich schon wieder bei der Erinnerung an dieses Tier in meiner Küche.
Der Kellner kam und stellte diverse Teller und Schüsseln auf den Tisch. Ich begutachtete interessiert das unbekannte Essen und wartete, während Ashraf sich ans Ende einer Reihe von Männern begab, die sich die Hände an einem Waschbecken an der Wand wuschen. Komische Sitten, aber nun gut. Als Ashraf wiederkam, wartete ich noch immer.
„Fang an“, sagte Ashraf.