Sand - Vince Beiser - E-Book

Sand E-Book

Vince Beiser

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Beschreibung

Unsere Welt ist auf Sand gebaut, denn als Grundstoff von Beton steckt Sand in fast allen Gebäuden und Straßen. Auch für die Produktion von Computerchips, Papier und Zahnpasta ist er notwendig. Sand ermöglicht unseren heutigen Lebensstil, daher ist er in geeigneter Qualität längst Mangelware – und die Redewendung »wie Sand am Meer« irreführend. Der vielfach ausgezeichnete Journalist Vince Beiser nimmt uns mit in das Reich des Sandes, zu seinen Quellen, Einsatzmöglichkeiten und zu den Konflikten um seine Förderung. Er erzählt die fesselnde Geschichte eines Stoffes, ohne den unser modernes Leben nicht möglich wäre – und zeigt auf, was uns droht, wenn er ausgeht.

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Seitenzahl: 414

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Vince Beiser
Sand
Wie uns eine wertvolleRessource durch die Finger rinnt
Aus dem Englischen vonBernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmair undGerlinde Schermer-Rauwolf (Kollektiv Druck-Reif)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Sand – Wie uns eine wertvolle Ressource durch die Finger rinntin der Reihe ›Stoffgeschichten‹
Originalausgabe »The World in a Grain. The Story of Sand and How It Transformed Civilisation«Copyright der Originalausgabe © Vince Beiser, 2018All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.This edition published by arrangement with Riverhead Books, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.
Deutsche Erstausgabe© 2021 oekom verlag, MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Lena Denu, oekom verlagUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagabbildung: © Mariyana M/shutterstockKorrektorat: Maike Specht
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-765-5
Wir danken der Universität Augsburg
für die Förderung dieser Publikation.
Für Kaile, Adara und Isaiah.Ich liebe euch mehr, als es Sandkörnerauf der ganzen weiten Welt gibt.
Stoffgeschichten – Band 13
Eine Buchreihe des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg in Kooperation mit dem oekom e.V.
Herausgegeben von Dr. Jens Soentgen mit Prof. Dr. Armin Reller
Stoffe aller Art werden rund um den Globus aus dem Boden, aus Lebewesen oder aus der Luft gewonnen, in Raffinerien und Fabriken gereinigt, zerlegt, wieder verbunden, durch Pipelines gepumpt, auf Containerschiffen verschickt, transformiert und verbraucht. Aber parallel zu all dem machen sie sich, oft unerkannt, selbst auf den Weg: Öl aus havarierten Ölplattformen breitet sich auf dem Meer aus; Stickstoffdünger und Pestizide diffundieren ins Grundwasser; Smog entsteht und legt sich wie eine Glocke über Städte; Kohlendioxid aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe reichert sich in der Atmosphäre an; Mikroplastik verteilt sich im Meer. Stoffe überschreiten Grenzen: Grenzen von Körpern, Grenzen von Ökosystemen, Grenzen von Staaten, aber auch Grenzwerte der Behörden – und sorgen so für Konflikte. Wie nie zuvor wird in unserer Gesellschaft heute über Substanzen und ihre Nebenwirkungen diskutiert.
Deshalb stellen die Bände der Reihe Stoffgeschichten einzelne Stoffe in den Mittelpunkt. Sie sind die oft widerspenstigen Helden, die eigensinnigen Protagonisten unserer Bücher. Stoffgeschichten erzählen von den Landschaften, von den gesellschaftlichen Szenen, die jene Stoffe, mit denen wir täglich umgehen, durchquert haben. Sie berichten von den globalen Wegen, die viele Stoffe hinter sich haben, und blicken von dort aus in die Zukunft.
»Sand« ist der dreizehnte Band der Reihe. Sand scheint eines der Dinge zu sein, die nie knapp werden können. Und doch ist es eine Tatsache, dass Sand täglich knapper wird. Denn mag er auch mancherorts reichlich vorhanden sein, so wird doch zugleich kein anderer Stoff in so großem Umfang genutzt – sei es beim Bau von Straßen, Häusern, Staudämmen oder bei der Produktion von Hightechprodukten. Dabei sind nur ganz bestimmte Sande technisch verwertbar, gerade nicht die Wüstensande, sondern vor allem die selteneren Flusssande, die zugleich eine wichtige ökologische Funktion haben. Der vielfach ausgezeichnete Journalist Vince Beiser erzählt die packende Geschichte eines Stoffes, ohne den wir nicht leben könnten, berichtet von den Konflikten, die sein Abbau hervorruft, und davon, was uns droht, wenn uns der Sand einmal ausgeht.
Im Januar 2021,Jens Soentgen

Inhalt

Kapitel 1   Die wichtigste feste Substanz auf Erden
TEIL I   Wie Sand die industrialisierte Welt des 20. Jahrhunderts erschuf
Kapitel 2   Das Skelett der Städte
Kapitel 3   Gepflastert mit guten Absichten
Kapitel 4   Die Sache, die uns alles sehen lässt
TEIL II   Wie Sand die globalisierte digitale Welt des 21. Jahrhunderts erschafft
Kapitel 5   Hightech und höchste Reinheit
Kapitel 6   Frackingermöglicher
Kapitel 7   Miami Beach ohne Strand
Kapitel 8   Land aus Menschenhand
Kapitel 9   Wüstenkrieg
Kapitel 10   Beton erobert die Welt
Kapitel 11   Jenseits des Sandes
Danksagung
Anmerkungen
Bibliografie
Über den Autor
Kapitel 1
Die wichtigste feste Substanz auf Erden
Dieses Buch handelt von einem Gegenstand, über den die meisten von uns kaum jemals nachdenken, ohne den wir jedoch nicht leben könnten. Gemeint ist die wichtigste feste Substanz auf Erden, buchstäblich das Fundament der modernen Zivilisation. Die Rede ist von Sand.
Sand? Warum ist dieses schlichteste aller Materialien, etwas, das so banal wie allgegenwärtig zu sein scheint, so bedeutsam? Weil Sand das Hauptmaterial ist, aus dem die modernen Städte erbaut sind. Sand ist für Städte, was Mehl für das Brot ist und was Zellen für den Körper sind: der unsichtbare, aber grundlegende Bestandteil, aus dem der Großteil der von Menschen erschaffenen Umwelt besteht, in der die meisten von uns leben.
Sand ist das Kernstück unseres täglichen Lebens. Sehen Sie sich einmal um. Haben Sie einen Fußboden unter Ihren Füßen, Wände um sich herum, ein Dach über dem Kopf? Die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass all dies zumindest teilweise aus Beton gefertigt ist. Und was ist Beton? Im Wesentlichen einfach Sand und Kies, zusammengehalten von Zement.
Schauen Sie aus dem Fenster. Alle anderen Gebäude, die Sie sehen, sind ebenfalls aus Sand hergestellt. Genauso wie das Glas in Ihrem Fensterrahmen. Und die Asphaltstraßen, die diese Gebäude miteinander verbinden. Ebenso die Siliziumchips, die das Gehirn Ihres Laptops oder Smartphones bilden. Falls Sie sich in der Innenstadt von San Francisco, am Seeufer von Chicago oder am internationalen Flughafen von Hongkong befinden, ist der Boden unter Ihren Füßen wahrscheinlich künstlich erschaffen, aus Sand aus dem Meer. Wir Menschen schweißen Billionen Sandkörner zusammen, um hoch aufragende Gebäude zu errichten, und spalten gleichzeitig die Moleküle einzelner Sandkörner auf, um daraus winzige Computerchips zu fertigen.
Einige der größten Vermögen in den USA sind dem Sand zu verdanken. Henry J. Kaiser, einer der reichsten und mächtigsten Industriellen in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts, legte den Grundstein seines Reichtums, indem er Straßenbauprojekte an der Nordwestküste der USA mit Sand und Kies belieferte. Henry Crown, ein Milliardär, dem einst das Empire State Building gehörte, erschuf sein Imperium mit Sand aus dem Michigan-See, den er an die Baufirmen verkaufte, die in Chicago die Wolkenkratzer errichteten. Heute verbraucht die Bauindustrie weltweit jährlich Sand im Wert von rund 130 Milliarden Dollar.1
Sand ist tief in unserem kulturellen Bewusstsein verankert. Er durchzieht unsere Sprache. Wir zeichnen Linien in ihn, bauen Burgen daraus, stecken unseren Kopf hinein. In alten europäischen Sagen (und in einem Kultsong von Metallica) verhilft uns der Sandmann in den Schlaf. In unseren modernen Comicmythologien ist der Sandmann bei DC ein Superheld und bei Marvel ein Superschurke. In den Schöpfungsmythen indigener Kulturen von Westafrika bis Nordamerika wird Sand als das Element verstanden, das das Land gebiert.2 Buddhistische Mönche und Kunsthandwerker der Navajo fertigen seit Jahrhunderten Sandbilder daraus. »Wie Sand, der durch die Sanduhr rinnt, so sind die Tage unseres Lebens«, heißt es im Vorspann einer langjährigen US‐amerikanischen Seifenoper. William Blake ermuntert uns, »eine Welt in einem Sandkorn zu sehen«, Percy Bysshe Shelley erinnert daran, dass selbst der mächtigste aller Könige einst tot und vergessen sein wird und von ihm nichts bleibt als der kahle, endlose Sand, der ihn begräbt. Sand ist sowohl winzig klein als auch unermesslich, ein Mittel zum Messen und eine Substanz jenseits allen Maßes.
Schon seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden ist Sand für uns wichtig. Mindestens seit den alten Ägyptern benutzen ihn die Menschen zum Bauen. Im 15. Jahrhundert fand ein italienischer Handwerker heraus, wie man aus Sand durchsichtiges Glas herstellen kann, was die Entwicklung von Mikroskopen, Ferngläsern und anderen technischen Errungenschaften ermöglichte, die zur wissenschaftlichen Revolution der Renaissance beitrugen.
Aber erst in der modernen industrialisierten Welt, in den Jahrzehnten vor und nach der Wende zum 20. Jahrhundert, begann die Menschheit das Potenzial von Sand wirklich voll auszuschöpfen und ihn in gigantischem Umfang zu verwenden. Aus einem Rohstoff für weitverbreitete, aber vor allem handwerkliche Zwecke wurde ein unverzichtbarer Baustein der Zivilisation, ein entscheidendes Material zur Massenfertigung von Bauwerken und Produkten, nach denen in der rasch wachsenden Bevölkerung rege Nachfrage herrschte.
Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden fast alle großen Bauwerke der Welt – Wohnblocks, Bürogebäude, Kirchen, Paläste, Festungen – aus Stein, Ziegel, Lehm oder Holz errichtet. Selbst die höchsten Gebäude waren keine zehn Stockwerke hoch. Die Straßen pflasterte man hauptsächlich mit Bruchstein oder, noch eher, überhaupt nicht. Glas in Form von Fensterscheiben oder Geschirr war ein relativ seltener und teurer Luxus. Die massenhafte Fertigung und Verfügbarkeit von Beton und Glas veränderte all das und dadurch auch die Art und Weise, wie und wo die Menschen in der industrialisierten Welt lebten.
In den Jahren vor Anbruch des 21. Jahrhunderts steigerte sich die Verwendung von Sand aufgrund schon vorhandener und neu entstandener Bedürfnisse wiederum dramatisch. Beton und Glas dehnten ihre Vorherrschaft von den reichen Ländern des Westens auf die ganze Welt aus. Etwa zur gleichen Zeit begann die Digitaltechnologie, angetrieben durch Siliziumchips und andere komplexe Hardware aus Sand, die Weltwirtschaft grundlegend und dauerhaft umzuformen.
Heute ist Ihr Leben von Sand abhängig. Sie bemerken es vielleicht nicht, aber der Sand ist überall präsent und ermöglicht Ihnen erst das Leben, das Sie führen, in so ziemlich jeder Minute des Tages. Wir leben in ihm, fahren auf ihm, kommunizieren durch ihn, umgeben uns mit ihm.
Wo immer Sie heute Morgen aufgewacht sind, war es ziemlich sicher in einem Gebäude, das zumindest teilweise aus Sand gebaut wurde. Selbst wenn dessen Wände aus Ziegel oder Holz bestehen, ist das Hausfundament vermutlich aus Beton. Vielleicht sind die Räume mit Gipsstuck verziert, ebenfalls ein Produkt hauptsächlich aus Sand. Die Farbe an Ihren Wänden enthält wahrscheinlich Quarzmehl, wodurch sie haltbarer wird, und womöglich weitere Sorten hochreiner Sande, um ihre Leuchtkraft, Ölabsorption und Farbkonsistenz zu steigern.3
Sie haben die Nachttischlampe angeknipst, die eine gläserne Glühbirne aus geschmolzenem Sand besitzt. Sie haben sich im Badezimmer über einem Waschbecken, dessen Porzellan Sand enthält, die Zähne geputzt und dabei Wasser verwendet, das in Ihrem örtlichen Klärwerk mit Sandfiltern gereinigt wurde. Ihre Zahnpasta enthält womöglich hydratisiertes Siliziumdioxid, eine Form von Sand, die als mildes Schmirgelmittel bei der Entfernung von Plaque und Flecken hilft.4
Ihre Unterwäsche bleibt an Ort und Stelle dank eines elastischen, aus Silikon hergestellten Bandes, einer ebenfalls aus Sand gewonnenen synthetischen Verbindung. (Silikon bewirkt auch, dass das Shampoo Ihr Haar mehr glänzen lässt, Hemden weniger zerknittern, und es hat die Sohlen der Stiefel verstärkt, mit denen Neil Armstrong die ersten Schritte auf dem Mond unternahm. Und ja, wie jeder weiß, wird es seit mehr als 50 Jahren zur Vergrößerung von Brüsten benutzt.)
Angekleidet und bereit für den Tag, sind Sie auf Straßen, die aus Asphalt oder Beton bestehen, zur Arbeit gefahren. In Ihrem Büro sind der Computerbildschirm, die Chips, dank derer er läuft, und die Glasfaserkabel, die ihn mit dem Internet verbinden, aus Sand hergestellt. Das Papier, auf dem Sie Ihre Mails ausdrucken, ist wahrscheinlich mit einem auf Sand basierenden Film beschichtet, durch den die Druckerfarbe besser haftet. Selbst der Klebstoff Ihrer Haftnotizen ist aus Sand gewonnen.
Zum Feierabend haben Sie sich ein Glas Wein genehmigt. Raten Sie mal! Für die Flasche, das Glas und sogar für den Wein wurde Sand verwendet. Dem Wein wird manchmal als »Schönungsmittel« ein Spritzer Kieselsol beigegeben, das die Klarheit, Farbstabilität und Lagerfähigkeit des Getränks verbessern soll.
Sand ist, kurz gesagt, der wesentliche Bestandteil, der das moderne Leben erst ermöglicht. Ohne Sand gäbe es die Zivilisation von heute nicht. Und glauben Sie es oder nicht, aber der Sand geht uns langsam zur Neige.
Auch wenn die Vorräte unerschöpflich scheinen, ist verwendbarer Sand eine begrenzte Ressource wie jede andere. (Wüstensand eignet sich in der Regel nicht als Bausand; die vom Wind geschliffenen Sandkörner sind zu rund, um gut zusammenzuhalten.)5 Wir verbrauchen von diesem natürlichen Rohstoff mehr als von jedem anderen, Luft und Wasser ausgenommen. Die Menschheit verarbeitet jährlich schätzungsweise fast 50 Milliarden Tonnen Sand und Kies.6 Das würde ausreichen, um ganz Kalifornien mit einer Sandschicht zu überziehen. Und es ist zweimal so viel wie noch vor einem Jahrzehnt.
Heute herrscht eine so große Nachfrage nach Sand, dass überall auf der Welt ganze Flussbetten und Strände geplündert, landwirtschaftliche Flächen und Wälder zerstört, Menschen eingesperrt, gefoltert und ermordet werden. Alles nur des Sandes wegen.
Der Hauptgrund für diesen beispiellosen Verbrauch des schlichtesten aller Materialien lautet, dass die Anzahl und Größe unserer Städte ins Unermessliche wächst. Jahr für Jahr nimmt die Weltbevölkerung zu, und immer mehr Menschen, vor allem in den Entwicklungsländern, ziehen in Städte.
Das Ausmaß dieser Migration ist atemberaubend. 1950 lebten an die 746 Millionen Menschen – weniger als ein Drittel der Weltbevölkerung – in urbanen Zentren. Heute beträgt deren Zahl fast vier Milliarden, mehr als die Hälfte aller Erdenbewohner. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass weitere 2,5 Milliarden in den nächsten drei Jahrzehnten hinzukommen werden.7 Die städtische Bevölkerung weltweit nimmt jährlich um etwa 65 Millionen Menschen zu; das ist, als würde man pro Jahr acht Städte der Größe New Yorks bauen.
Für die dafür benötigten Materialien Beton, Asphalt und Glas graben die Menschen in exponentiell steigender Menge Sand aus dem Erdreich. Der weit überwiegende Teil davon geht in die Herstellung von Beton, dem weltweit mit Abstand wichtigsten Baumaterial. In einem durchschnittlichen Jahr verwendet die Welt nach Angaben des Umweltprogramms der Vereinten Nationen so viel Beton, dass man damit rund um den Äquator eine Mauer von 27 Meter Höhe und 27 Meter Breite errichten könnte.8 Allein China verbrauchte zwischen 2011 und 2013 mehr Zement als die Vereinigten Staaten im gesamten 20. Jahrhundert.9
Nach bestimmten Arten von Bausand herrscht eine derart starke Nachfrage, dass zum Beispiel Dubai, das am Rand einer riesigen Wüste auf der Arabischen Halbinsel liegt, aus Australien Sand importiert.10 Ja, Sie lesen richtig: Australische Exporteure verkaufen tatsächlich Sand an die Araber.11
Was ist Sand überhaupt? Das Wort bezeichnet ein ganzes Spektrum an winzigen Objekten vielerlei Form und Größe, bestehend aus unterschiedlichen Substanzen. Nach der Udden-Wentworth-Skala, der am häufigsten verwendeten geologischen Maßeinheit, bezeichnet der Begriff »Sand« lose Körner jedes harten Materials mit einem Durchmesser zwischen 2 und 0,0625 Millimeter. Das heißt, ein durchschnittliches Sandkorn ist eine Spur größer als die Dicke eines menschlichen Haars. Die Körner entstehen entweder dadurch, dass Gletscher Felsen zermahlen, sich im Meer Muschelschalen und Korallen auflösen (viele Strände der Karibik bestehen aus zerborstenen Muscheln),12 oder aus vulkanischer Lava, die sich durch den Kontakt mit Luft und Wasser abkühlt und zerspringt. Auf diese Art sind die hawaiianischen Strände mit ihrem schwarzen Sand entstanden.13
Fast 70 Prozent aller Sandkörner der Erde jedoch bestehen aus Quarz. Diesen gilt unser Hauptinteresse. Quarz ist eine Form von Siliziumdioxid oder SiO2, auch bekannt als Kieselerde. Seine Bestandteile, Silizium und Sauerstoff, sind die häufigsten Elemente in der Erdkruste, deshalb ist nicht verwunderlich, dass Quarz zu den am weitesten verbreiteten Mineralen zählt.14 Er ist überreichlich in Granit und sonstigem Felsgestein der Gebirge und anderen geologischen Formationen zu finden.
Die meisten der verwendeten Quarzkörner wurden durch Erosion geformt. Wind, Regen, Frost-Tau-Zyklen, Mikroorganismen und andere Kräfte wirken auf das Felsgestein ein und lösen Körner aus dessen exponierter Oberfläche. Dann wäscht der Regen die Körner in die Flüsse, die zahllose Tonnen davon mit sich tragen. Dieser vom Wasser transportierte Sand sammelt sich in den Flussbetten, an Ufern und auf den Stränden, wo die Flüsse auf das Meer treffen. Im Laufe der Jahrhunderte treten die Flüsse in Abständen über die Ufer oder verändern ihren Lauf und lassen auf dem trockenen Land riesige Ablagerungen von Sand zurück.15 Quarz ist ungeheuer hart, deshalb überleben Quarzkörner diese lange, zermalmende Reise intakt, während sich Körner anderer Minerale dabei auflösen.
Über Jahrmillionen hinweg werden die Sande oft unter jüngeren Sedimentschichten begraben, bei einer Gebirgsbildung nach oben befördert, erodieren erneut und werden abermals forttransportiert. »Sandkörner haben keine Seele, aber sie werden ›wiedergeboren‹«, schreibt der Geologe Raymond Siever in seinem Buch Sand.16 »Jeder Zyklus von Ablagerung, Einbettung, Hebung und Abtragung ›erneuert‹ die Sandkörner und macht jedes Korn ein klein wenig runder.« Durchschnittlich dauert ein solcher Zyklus 200 Millionen Jahre. Wenn Sie also das nächste Mal Sand aus Ihren Schuhen klopfen, zollen Sie diesen Körnern ein wenig Respekt: Sie könnten älter als die Dinosaurier sein.
In freier Natur ist Quarz stets mit Teilen anderer Materialien vermischt: Eisen, Feldspat oder anderen Mineralen, die in der jeweiligen örtlichen Geologie vorherrschen. (Reiner Quarz ist durchsichtig, die Quarzkörner zeigen aber aufgrund von Oxidation oft Flecken. Diese Einfärbung und die Beimengung anderer Körnerarten bewirken, dass die meisten Strände und Sandablagerungen diverse Gelb- oder Braunschattierungen aufweisen.) Diese anderen Substanzen müssen bis zu einem gewissen Grad herausgefiltert werden, bevor der Sand zu Beton, Glas oder anderen Produkten verarbeitet werden kann.
Man kann sich Sand als eine Art riesengroße Armee vorstellen oder als eine Gruppe verbündeter Armeen, bestehend aus Trillionen winziger Soldaten. Nur sind diese Soldaten nicht dafür ausersehen zu töten, sondern zu erschaffen. Sie zerstören nicht, sondern formen Bauwerke und Alltagsgegenstände und leisten uns Dienste.
Auf den ersten Blick sehen Sandkörner, ähnlich wie uniformierte Soldaten, alle ziemlich gleich aus. Aber in Wirklichkeit gibt es davon viele verschiedene Typen mit charakteristischen Merkmalen, Stärken und Schwächen, die wiederum darüber bestimmen, für welche Zwecke man sie verwenden kann. Manche bestechen durch ihre Härte, andere durch ihre Biegsamkeit; manche durch ihre Rundung, andere durch ihre Kantigkeit; manche durch ihre Farbe, andere durch ihre Reinheit. Manche Sande sind sozusagen Spezialeinsatzkommandos und werden einem komplexen physikalischen oder chemischen Prozess unterzogen, damit sie besondere Fähigkeiten erlangen, oder mit anderen Materialien kombiniert für Zwecke, die sie in ihrem Originalzustand nicht erfüllen könnten.
Bausand – aus den harten, kantigen Körnern, die hauptsächlich für Beton verwendet werden – ist gleichsam die Infanterie der Armee. Diese Sandart ist reichlich vorhanden, leicht zu finden und nicht besonders rein. Seine Körner bestehen größtenteils aus Quarz, enthalten aber auch andere Minerale, je nach dem Ort, an dem der Sand abgebaut wird. Praktisch jedes Land verfügt über Bausand, oft vermischt mit seinem unverzichtbaren Partner, dem Kies. In der Bauindustrie wird das Gemenge aus Sand und Kies auch als »Zuschlagstoff« bezeichnet; der Unterschied zwischen Sand und Kies besteht hauptsächlich in der Größe. Beide Materialien werden in Flussbetten, auf Stränden oder in Kiesgruben abgebaut. Für die Herstellung von Beton benötigt man Sand und Kies im Verbund, während Sand allein für andere Baustoffe wie Mörtel, Putz und Bedachungskomponenten verwendet wird.
Marine Sande – die Seestreitkräfte der Armee auf dem Meeresboden – sind von ähnlicher Zusammensetzung, wodurch sie sich für Landgewinnung eignen, wie dies zum Beispiel bei den berühmten, in Palmenform gestalteten künstlichen Inseln von Dubai der Fall war. Will man die Sande aus dem Meer zu Beton verarbeiten, müssen sie zuerst vom Salz befreit werden – ein kostspieliges Unterfangen, das die meisten Baufirmen lieber vermeiden.
Quarzsande sind reiner – sie bestehen aus mindestens 95 Prozent Siliziumdioxid – und seltener als Bau- oder mariner Sand.17 Sie werden auch als »Industriesande« bezeichnet und sind die Spezialeinheiten der Sandarmee, einsetzbar für anspruchsvollere Aufgaben als der durchschnittliche Fußsoldat. Diese Sande werden für die Herstellung von Glas benötigt. Hochreine Sande sind besonders gefragt: Die Sande aus der Region Fontainebleau in Frankreich enthalten beispielsweise 98 Prozent und mehr reines Siliziumdioxid. Die besten Glasmacher Europas greifen seit Jahrhunderten auf diese Sande zurück. Neben vielen weiteren Zwecken werden Quarzsande bei der Herstellung von Gussformen für Metallgießereien verwendet, sie verleihen Farben einen Glanzton und dienen zur Filterung des Wassers in Swimmingpools.18 Aufgrund ihrer einzigartigen Eigenschaften eignen sich Industriesande für ganz spezielle Aufgaben. Die Quarzsande aus dem Westen Wisconsins zum Beispiel haben eine besondere Form und Struktur, welche sie beim Öl- und Gasfracking zu einem idealen Hilfsmittel machen.
Dann gibt es noch das SEAL Team Six der Siliziumwelt: relativ geringe Mengen von extrem hochreinem Quarz, eine winzige Elitetruppe, ausgestattet mit seltenen Charakteristiken, die sie zu außerordentlichen Leistungen befähigen. Diese Teilchen werden für Hightechgeräte zur Herstellung von Computerchips benötigt. Manche werden auch für die glitzernden Bunker auf exklusiven Golfplätzen verwendet oder für die Begrenzungslinien bei Pferderennen am Persischen Golf – wie Elitesoldaten, die als Bodyguards für reiche Leute arbeiten.
Wüstensand hingegen wird zumeist nicht für Bauzwecke herangezogen, weil seine Körner zu rund sind. Das liegt daran, dass Wind die Körner unsanfter behandelt als Wasser. In einem Fluss mildert das Wasser das Aneinanderprallen der einzelnen Körner ab. In einer Wüste jedoch stoßen sie mit voller Wucht gegeneinander und runden dabei ihre Ecken und Kanten ab.19 Und runde Objekte verbinden sich nicht so gut miteinander wie kantige und eckige. Es ist ein ähnlicher Unterschied, als würde man versuchen, mal Murmeln, mal Bauklötze aufeinanderzustapeln.
Wir rekrutieren diese winzigen Soldaten auf vielerlei Weise und an den unterschiedlichsten Orten. Multinationale Konzerne baggern mancherorts mit riesigen Maschinen Sand aus Flussbetten oder graben ihn aus Hügeln. Anderswo schaufeln ihn die Einheimischen einfach auf und transportieren ihn mit Pick-ups fort.
Allgemein gesagt, ist die Sandförderung ein technisch relativ einfaches Gewerbe. Die dafür verwendete Gerätschaft hat sich seit den 1920er-Jahren nicht sehr geändert. Sand aus Flüssen und Seen wird entweder mit Saugpumpen oder mit Klappschaufeln auf schwimmenden Plattformen oder mit Schiffen herausgeholt, die mit Förderbandbaggern ausgerüstet sind. Sande im Wasser sind leichter zu fördern, da keine ihn bedeckenden Erdschichten (Überlagerungen) abzutragen sind. Auch sind sie weitgehend frei von staubgroßen Partikeln. An Land wird Sand zumeist aus offenen Gruben gefördert. Manchmal muss dabei mit Sprengstoff und Brechwerkzeugen der Sandstein entfernt werden, ein aus Sand gebildetes Gestein, das sich im Lauf von Jahrtausenden durch natürlich vorkommenden Zement gebildet hat. Aber egal, woher der Sand stammt, er muss gewaschen, gesiebt und seiner Korngröße nach sortiert werden.
Da Sand fast überall vorhanden ist, werden in nahezu jedem Land der Welt entsprechende Gruben betrieben. Es gibt keine Hauptlagerstätte, kein Saudi-Arabien des Sandes. Der Großteil der Sandförderung entfällt auf relativ kleine regionale Firmen. In den Vereinigten Staaten bauen rund 4.100 Unternehmen und staatliche Einrichtungen Baustoffe an circa 6.300 Standorten ab, verteilt auf sämtliche 50 Bundesstaaten.20 In Westeuropa verhält es sich ähnlich.21
Auch wenn die Sandgewinnung oft in kleinem und scheinbar unbedeutendem Rahmen stattfindet, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sie ein Abbau ist, eine Entnahme, die unweigerlich in die Natur eingreift. All jene Tausende kleiner Sandgruben haben, summiert mit den vielen größeren, enorme Auswirkungen. Die Sandförderung vernichtet den Lebensraum von Wildtieren, verseucht Flüsse und zerstört landwirtschaftliche Flächen. Schadensbegrenzung ist jedoch möglich. Manche Unternehmen operieren umweltbewusster als andere, manche Abbaumethoden sind der Natur abträglicher als andere, manche Regierungen achten mehr auf die Einhaltung der Regeln als andere. Doch in jedem Fall verursacht die Entnahme von Sand aus der Erde bestenfalls einen nur kleinen Schaden und schlimmstenfalls eine Katastrophe.
Der vielleicht einzige Ort, an dem fast alle Menschen den Sand wirklich zu schätzen wissen – oder ihn überhaupt zur Kenntnis nehmen –, ist der Strand. Doch die Strände, jene heiß geliebten, sonnenverwöhnten Küstenstreifen, bilden die Frontlinie des globalen Kampfes um Sand, und sie stehen unter schwerem Beschuss.
Der Strand nahe der Kleinstadt Marina in Kalifornien, wenige Stunden südlich von San Francisco, ist ein breiter, kilometerlanger Streifen aus naturbelassenem Sand, der sich sanft in die Gischt des Pazifiks schmiegt. Ein Großteil seiner Fläche steht unter Naturschutz. Versteckt hinter hohen, von grünen und orangefarbenen Sukkulenten bewachsenen Dünen, ist dieser Strand von einer Schönheit wie aus dem Bilderbuch. Und er verschwindet nach und nach.
»Das hier ist die am schnellsten erodierende Küstenlinie in ganz Kalifornien«, erklärte Ed Thornton, pensionierter Küsteningenieur und ehemaliger Professor an der Naval Postgraduate School im nahe gelegenen Monterey, einer Gruppe von Demonstranten, die sich Anfang 2017 auf dem Strand versammelt hatte. »Wir verlieren jährlich drei Hektar unberührtes Ufer, das zu den schönsten der Welt gehört. Und zwar durch den Sandabbau.«
Die Demonstration fand unweit eines massigen Schwimmbaggers der Firma Cemex statt, eines weltweit operierenden mexikanischen Bauunternehmens. Pro Jahr saugte diese Maschine geschätzte 270.000 Kubikmeter Sand aus einer Gezeitenlagune. Cemex verkaufte das Material an Firmen im ganzen Land, die es zum Sandstrahlen und zum Zementieren von Bohrlöchern bei der Öl- und Gasförderung verwendeten.22
Fast das ganze 20. Jahrhundert über gab es viele solche Abbaustätten für Sand entlang der kalifornischen Küste. Doch Ende der 1980er-Jahre verfügte die Regierung ihre Schließung, nachdem sich herausgestellt hatte, dass der Sandverlust die berühmten kalifornischen Strände bedenklich schwinden ließ. Cemex jedoch konnte seinen Betrieb dank eines juristischen Schlupflochs weiterführen: Da die Abbauzone offenbar über der durchschnittlichen Flutgrenze lag, hatten die Bundesgesetze für sie keine Geltung. Doch Aktivisten und örtliche Abgeordnete kämpften weiterhin jahrelang für die endgültige Einstellung der Sandförderung. Einige Monate nach der besagten Demonstration am Strand hatten sie schließlich Erfolg: Cemex verkündete, dass der Sandabbau Ende 2020 eingestellt wird.
Somit ist mindestens noch eine Förderstätte in Betrieb, die Kaliforniens Küstenzone schädigt. Umweltschützer kämpfen vor Gericht gegen die Sandentnahme aus der Bucht von San Francisco, die einen nahe gelegenen Strand erodieren lässt und ein Vogelhabitat gefährdet.23
In anderen Teilen der Welt wird der Sand von den Stränden einfach gestohlen. 2008 machten sich in Jamaika Diebe mit dem weißen Sand eines 400 Meter langen Streifens von einem der schönsten Strände der Insel davon. In kleinerem Ausmaß findet der Diebstahl von Sandstrand auch in Marokko, Algerien, Russland und an zahlreichen anderen Orten weltweit statt. Wie wir in Kapitel 7 sehen werden, schrumpfen auch in Florida, Südfrankreich und vielen weiteren begehrten Tourismuszielen die Strände, dort jedoch aufgrund anderer menschlicher Eingriffe.
Der Raubbau an den Stränden ist aber nur ein Aspekt und nicht einmal der gefährlichste der Schäden, die durch die Sandförderung weltweit verursacht werden.
Sandfirmen haben seit 2005 mindestens zwei Dutzend indonesische Inseln vollständig verschwinden lassen. Schiffsladung für Schiffsladung wurde das Sediment, aus dem die Inseln bestanden, hauptsächlich nach Singapur verfrachtet, wo gigantische Mengen Sand für die Fortsetzung des dortigen Programms zur künstlichen Landgewinnung benötigt werden. In den letzten 40 Jahren hat der Stadtstaat bereits 130 Quadratkilometer Neuland aufgeschüttet, und er will dieses Projekt noch weiterführen. Dadurch ist Singapur zu dem mit Abstand größten Sandimporteur weltweit geworden. Aufgrund der immensen Nachfrage sind in den Nachbarländern Strände und Flussbetten in einem derartigen Ausmaß geschrumpft, dass Indonesien, Malaysia, Vietnam und Kambodscha inzwischen den Export von Sand nach Singapur beschränkt oder komplett verboten haben.
Aber auch der Sand im Wasser ist nicht sicher.24 Die Sandfirmen wenden sich verstärkt dem Meeresboden zu und saugen von dort Millionen Tonnen Sand mit Schwimmbaggern der Größe von Flugzeugträgern nach oben. Ein Drittel des Materials, das in London und Südengland für Bauzwecke verwendet wird, stammt aus den Gewässern rund um Großbritannien.25 Japan verwendet sogar noch mehr marinen Sand und fördert jährlich rund 40 Millionen Kubikmeter aus dem Ozean.26 Mit dieser Menge könnte man den Astrodome in Houston dreiunddreißig Mal füllen.
Durch die Entnahme von Sand aus dem Meer wird das Habitat der auf dem Grund siedelnden Lebewesen und Organismen zerstört. Die aufgewirbelten Sedimente trüben das Wasser ein, ersticken die Fische und halten das für die Unterwasservegetation lebenswichtige Sonnenlicht ab.27 Die Förderschiffe kippen allen Sand, dessen Korngröße sich nicht eignet, zurück ins Meer, wodurch sich das Wasser zusätzlich eintrübt und das Wasserleben noch weit von der Abbaustätte entfernt beeinträchtigt wird.28
Zudem hat der Abbau von Sand aus dem Meer in Florida und an vielen anderen Orten Korallenriffe zerstört.29 Er bedroht wichtige Mangrovenwälder, Seegraswiesen und gefährdete Arten wie die Flussdelfine und die Schildkrötenart Batagur affinis.30 Eine einzige Sandentnahme hinterlässt vielleicht keine nennenswerten Schäden, eine dauerhafte kann dies aber durchaus. Die Sandgewinnung aus dem Meer ist eine noch relativ neue Technologie, sodass es dazu bisher kaum Forschungen gibt. Das heißt, niemand kann mit Sicherheit sagen, wie diesbezüglich die langfristigen Folgen für die Umwelt aussehen werden. Doch angesichts der raschen Ausbreitung dieser Praxis wird es hierzu in den kommenden Jahren bestimmt Ergebnisse geben.
Auch abseits der Küsten wirkt sich die Sandförderung schädlich auf Grund und Boden sowie den Lebensraum von Menschen aus. Der Frackingboom in den USA hat eine regelrechte Gier nach dem sogenannten Frac-Sand ausgelöst. Fracking ist die höchst umstrittene Methode, Öl und Gas aus Schiefergesteinsschichten zu fördern, indem man das unterirdische Gestein aufbricht. Dazu verwendet man ein unter Hochdruck in das Gestein eingeführtes Gemisch aus Wasser, Chemikalien und einer bestimmten Art von hartem, rundkörnigem Sand. Wie sich herausstellte, gibt es in Minnesota und Wisconsin riesige Lagerstätten von genau diesem Sand. So bewirkte der Frackingboom in North Dakota eine lebhafte Nachfrage nach Frac-Sand im Mittleren Nordwesten. Tausende Hektar landwirtschaftliche Nutzflächen und Wälder mussten für die Förderung des raren Sandes weichen.
Aus Flussbetten und -niederungen werden gigantische Mengen des gewöhnlichen Bausands gebaggert. In Zentralkalifornien hat die Sandgewinnung aus Niederungen dazu geführt, dass die Gewässer ausgangslose Nebenzweige oder tiefe Gruben ausgebildet haben, die für Lachse zu einer tödlichen Falle werden.31 Im Norden Australiens werden durch den Sandabbau Flussniederungen zerstört, die Heimat der weltweit größten Gemeinschaft seltener fleischfressender Pflanzen sind.32
Die Sandförderung in Flussbetten ebenso wie auf dem Meeresboden kann Habitate zerstören und das Wasser derart verschlammen, dass alles Leben darin bedroht ist. 2013 ließen die kenianischen Behörden sämtliche Abbaustätten in Flüssen in einer westlichen Provinz aufgrund der durch sie verursachten Umweltschäden schließen. In Sri Lanka wurden durch den Sandabbau einige Flussbetten so sehr vertieft, dass Meerwasser eindrang und dadurch die Versorgung mit Trinkwasser gefährdet wurde.33 Das Oberste Gericht Indiens stellte 2011 fest, »der alarmierende Umfang der unkontrollierten Sandförderung« beeinträchtige die Ökosysteme von Flussufern im ganzen Land, was für die Fische und andere Wasserlebewesen fatale Folgen habe und für viele Vogelarten eine »Katastrophe« darstelle.34
Forscher der World Wildlife Federation sind der Überzeugung, dass die Sandförderung im Mekong einer der Hauptgründe für das allmähliche Verschwinden des 40.000 Quadratkilometer großen Mekong-Deltas sei – eines Gebiets, in dem Millionen Menschen leben und aus dem die Hälfte aller Nahrungsmittel Vietnams sowie zum großen Teil auch der Reis stammt, von dem sich das übrige Südostasien ernährt. Das Meer verschlingt in dieser äußerst wichtigen Region jedes Jahr eine Fläche der Größe von eineinhalb Fußballfeldern. Tausende Hektar Reisfelder sind bereits verlorengegangen, mindestens 1.200 Familien mussten aus ihren küstennahen Wohnstätten umgesiedelt werden. Der Grund hierfür ist einerseits der durch den Klimawandel verursachte Anstieg des Meeresspiegels, andererseits der direkte Eingriff des Menschen. Jahrhundertelang hat sich das Delta mit Sedimenten aufgefüllt, die der Mekong aus den Bergen Zentralasiens herantrug. Doch in den vergangenen Jahren wurde in allen Staaten, die der Mekong passiert, damit begonnen, aus seinem Bett riesige Mengen Sand für den Bau der aufstrebenden Städte Südostasiens zu entnehmen. Jährlich werden fast 50 Millionen Tonnen Sand gefördert – damit könnte man ganz Denver mit einer fünf Zentimeter dicken Schicht bedecken. »Der Sedimentfluss hat sich halbiert«, erklärte Marc Goichot, Forscher am Greater Mekong Programme des World Wildlife Fund. Das heißt, die natürliche Erosion des Deltas vollzieht sich weiterhin, die natürliche Wiederauffüllung jedoch nicht. Bei diesem Tempo wird nahezu die Hälfte des Deltas bis Ende dieses Jahrhunderts verschwunden sein.
Die Sandförderung aus Flüssen verursacht weltweit Infrastrukturschäden in Höhe von zig Millionen Dollar. Die aufgewirbelten Sedimente verstopfen Wasserversorgungsanlagen, und durch die Abtragung großer Erdmengen an Flussufern werden die Fundamente von Brücken freigelegt und instabil. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1998 kam zu dem Ergebnis, dass jede Tonne Baumaterial, das aus dem Fluss San Benito an der kalifornischen Zentralküste entnommen wurde, elf Millionen Dollar an Infrastrukturkosten verursachte – Kosten, die der Steuerzahler zu tragen hat.35 In vielen Ländern wurde durch den Sandabbau so viel Erde entfernt, dass die Fundamente von Brücken und Gebäuden an Hängen geschädigt wurden und die Bauwerke einzustürzen drohten.
Dieses Risiko ist kein rein theoretisches. Im Jahr 2000 krachte in Taiwan infolge der Sandförderung eine Brücke in sich zusammen. Im Jahr darauf geschah in Portugal das Gleiche, als gerade ein Bus über eine Brücke fuhr; 70 Menschen verloren dadurch ihr Leben.36 Eine weitere, vermutlich durch Sandabbau instabil gewordene Brücke stürzte 2016 in Indien ein und begrub 26 Personen unter sich.
Der Sandabbau kann auch unmittelbar Menschen und ihre Lebensgemeinschaften in Gefahr bringen. Unzureichend geschützte Arbeiter sind beim Einsturz von Sandgruben gestorben. Fischerfamilien von Kambodscha bis Sierra Leone verlieren ihre Lebensgrundlage, wenn durch Sandförderung die Fischbestände und Populationen anderer Wasserlebewesen dezimiert werden, von denen ihr Einkommen abhängig ist. Mancherorts sind durch die Sandentnahme Uferbänke weggebrochen, haben dabei Ackerland mit sich gerissen und Überflutungen verursacht, durch die zahlreiche Familien vertrieben wurden. In Vietnam rutschte 2017 so viel Erdreich in stark ausgebaggerte Flüsse und riss dabei die Ernte und die Häuser Hunderter Familien mit sich, dass die Regierung die Sandentnahme in zwei Provinzen vollständig verbot. Und Regierungsvertretern zufolge hat der Sandabbau im Fluss San Jacinto – der zum großen Teil illegal stattfand – die 2017 von Hurrikan Harvey verursachten Schäden durch Überflutung im texanischen Houston erheblich erhöht. Offenbar war durch die Sandförderung derart viel Vegetation entlang des Ufers verloren gegangen, dass riesige Mengen Schlamm freilagen, die durch den Regen, den Harvey mit sich brachte, in den Fluss gespült wurden. Der Schlamm sammelte sich sodann an Engstellen im Fluss und am Grund des Houston-Sees, der wichtigsten Trinkwasserquelle von Houston, und führte zu Überschwemmungen in den angrenzenden Siedlungen.
Der Sand in Flussbetten spielt auch eine wichtige Rolle für die örtliche Wasserversorgung. Er wirkt wie ein Schwamm, nimmt das vorbeifließende Wasser auf und lässt es in die darunterliegenden Aquifere sickern. Wenn jedoch dieser Sand fehlt, fließt das Wasser einfach weiter bis ins Meer, anstatt in tiefere Bodenschichten zu dringen. Dadurch schrumpfen die Aquifere. In Teilen Italiens und Südindiens hat der Sandabbau aus Flüssen dazu geführt, dass die örtlichen Trinkwasservorräte drastisch gesunken sind.37 Andernorts gehen infolge des Wassermangels ganze Ernten verloren. Forscher befürchten, dass die Sandförderung im Chaobai-Fluss, der einen der Haupttrinkwasserspeicher Pekings speist, nicht nur das Ökosystem des Flusses zerstört, sondern auch die Wasserqualität der Hauptstadt beeinträchtigt.38
Auch nach dem Ende der Sandförderung kann die dadurch zerstörte Landschaft erschreckende Gefahren bergen. In den Vereinigten Staaten und auch anderswo sind die Sandfirmen gemeinhin verpflichtet, nach Beendigung der Arbeiten das Land in gewissem Maße zu sanieren. Aber in weniger gut organisierten Ländern hinterlassen die Firmen oft tiefe offene Gruben, die sich mit Regenwasser und Abfall füllen und zu sumpfigen Brutstätten für Krankheiten übertragende Insekten verkommen. In den vergangenen Jahren sind Berichten zufolge etliche Kinder in solchen Gruben ertrunken. In Sri Lanka und Indien hat die Sandförderung den Lebensraum von Krokodilen zerstört, worauf die Tiere näher an die Flussufer wanderten, wo sie in den letzten zehn Jahren mindestens ein halbes Dutzend Menschen getötet haben.39
Als Reaktion auf all diese Zerstörungen und Gefahren haben Regierungen in aller Welt mehr oder weniger erfolgreich versucht, die Sandförderung zu regulieren sowie die Abbaustätten und die Art der Förderung zu begrenzen. Dies wiederum hat weltweit einen boomenden Schwarzmarkt für Sand befeuert.
Illegale Sandförderung findet in einem breiten Spektrum statt. Zum einen Ende des Spektrums zählen Firmen, die sich nicht an ihre Genehmigungen halten. Im Jahr 2003 zum Beispiel erhob Kalifornien vor Gericht Klage gegen Hanson Aggregates, ein weltweit operierendes Baustoffunternehmen, wegen unerlaubter Sandförderung aus der Bucht von San Francisco.40 »Diese Sandpiraten haben sich bereichert, indem sie den Staat bestahlen und die Steuerzahler betrogen«, erklärte der kalifornische Justizminister. Hanson gab sich schließlich geschlagen und zahlte an Kalifornien 42 Millionen Dollar.
Am anderen Ende des Spektrums stehen regelrechte Kriminelle, von kleinen Dieben bis hin zu gut organisierten Gangs, die auch über Leichen gehen, wenn dies für ihr Geschäft mit dem Sand nötig ist. 2015 verhängten die Behörden des Bundesstaats New York eine Strafe von 700.000 Dollar gegen eine Baufirma aus Long Island, die illegal Tausende Tonnen Sand aus einer Parzelle von 1,8 Hektar nahe der Stadt Holtsville entnommen und anschließend die Grube mit giftigen Abfällen zugeschüttet hatte. Nach Aussage des Ministeriums für Umweltschutz im Bundesstaat New York ist diese Vorgehensweise – »baggern und füllen« – inzwischen allgemein verbreitet, da die legalen Abbaustätten für Sand in dieser Region immer mehr zur Neige gehen.41
In anderen Ländern nimmt der Schwarzmarkt noch dramatischere Formen an. Einer der berüchtigtsten Gangster Israels, ein Mann, der vermutlich hinter einer ganzen Serie von Anschlägen mit Autobomben steckt, begann seine kriminelle Karriere mit dem Diebstahl von Sand an öffentlichen Stränden. In Marokko schätzt man, dass etwa die Hälfte des für Bauarbeiten verwendeten Sandes illegal gefördert wird; in dem Land verschwinden ganze Strände.42 Aus Kenia wird berichtet, dass Sanddiebe Kinder anheuern, für sie zu arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen. In Südafrika wurde eigens eine Polizeieinheit namens Green Scorpions für den Kampf gegen den illegalen Sandabbau aufgestellt. Manchmal findet der kriminelle Sandhandel auch über Grenzen hinweg statt. 2010 wurden Dutzende malaysische Beamte angeklagt, gegen Bestechungsgelder und sexuelle Gefälligkeiten zugelassen zu haben, dass illegal geförderter Sand nach Singapur geschmuggelt wurde.
Wie auf jedem Schwarzmarkt, bei dem viel Geld im Spiel ist, kommt es auch beim Sanddiebstahl zu Gewalt. Überall auf der Welt werden deswegen Menschen erschossen, erstochen, zu Tode geprügelt, gefoltert und eingesperrt – manche, weil sie versucht haben, die Umweltschäden zu verhindern, manche beim Kampf um die Kontrolle über die Abbaustätten, manche mitten im Kreuzfeuer. In Kambodscha inhaftierte die Polizei Umweltaktivisten, die Bagger besetzt hatten, um damit gegen illegalen Sandabbau an Flüssen zu demonstrieren. In Ghana eröffneten Sicherheitskräfte das Feuer auf randalierende Demonstranten, die gegen örtliche Sandräuber protestierten. In China wanderten 2015 Dutzende Mitglieder einer Sandgang ins Gefängnis, nachdem sie sich vor einem Polizeirevier mit Messern eine Schlacht geliefert hatten. 2016 prügelten in Indonesien Sanddiebe einen Aktivisten ins Koma und folterten und erstachen einen weiteren, weil diese versucht hatten, den Abbau zu stoppen. In Kenia wurden in den letzten Jahren bei Auseinandersetzungen zwischen Farmern und Sandschürfern mindestens neun Menschen getötet, darunter ein Polizist, den man mit Macheten regelrecht zerhackte.
Um zu verstehen, wie die Nachfrage nach Sand derartige Auswüchse annehmen und solches Unheil anrichten kann, begann ich 2015, mich mit dem illegalen Sandhandel in Indien zu beschäftigen. Indien ist das Paradebeispiel der globalen Sandkrise, das Land mit dem schwärzesten aller Schwarzmärkte für dieses Material. Die Times of India schätzt, dass der illegale Sandhandel in dem Land ein Volumen von rund 2,3 Milliarden Dollar umfasst.43 Bei den Kämpfen zwischen den »Sandmafias« und gegen sie kamen in den letzten Jahren Berichten zufolge Hunderte Menschen ums Leben – darunter Polizeibeamte, Regierungsvertreter und ganz gewöhnliche Leute, die zufällig in die Schusslinie gerieten. Ich hatte vor nicht allzu langer Zeit eine unerwartete und einigermaßen aufreibende Begegnung mit einigen dieser Mafiosi, als ich über einen Mordfall recherchierte, der so dreist war, dass man ihn kaum für möglich hielt.
Am 31. Juli 2013, kurz nach elf Uhr, brannte die Sonne auf die niedrigen, einfachen Wohnhäuser herunter, die eine Nebenstraße in dem indischen Bauerndorf Raipur Khadar südöstlich von Neu-Delhi säumten. Ein leichter Geruch nach Küchengewürzen, Staub und Abwasser hing in der Luft.44
Im hinteren Zimmer eines zweistöckigen Ziegelhauses machte Paleram Chauhan, ein 52-jähriger Gemüsebauer, nach einem frühen Mittagessen ein Nickerchen. Im Zimmer nebenan räumten seine Frau und seine Schwiegertochter auf, während Palerams Sohn Ravindra mit seinem dreijährigen Neffen spielte.
Plötzlich donnerten Schüsse durchs Haus. Preeti Chauhan, Palerams Schwiegertochter, lief in Palerams Zimmer, Ravindra direkt hinter ihr. Durch die offene Hintertür sahen sie zwei Männer, die sich über die untere Gesichtshälfte weiße Tücher gebunden hatten. Einer hielt eine Pistole in der Hand. Die beiden zwängten sich auf ein Motorrad, das ein Dritter fuhr, und rasten röhrend davon.
Paleram lag auf seinem Bett, Blut sprudelte ihm aus Bauch, Hals und Kopf. Er starrte Preeti an, versuchte zu sprechen, aber kein Laut kam aus seinem Mund. Ravindra lieh sich das Auto eines Nachbarn und fuhr eilig seinen Vater ins Krankenhaus, aber es war zu spät. Als sie eintrafen, war Paleram tot.
Obwohl die Täter vermummt gewesen waren, hatte die Familie keinen Zweifel, wer hinter diesem Mord stand. Zehn Jahre lang hatte sich Paleram bemüht, die örtlichen Behörden dazu zu bringen, gegen eine mächtige Kriminellengang vorzugehen, die in Raipur Khadar ihren Hauptsitz hatte. Die »Mafia«, wie die Bewohner sie nannten, raubte dem Dorf seit Jahren eine ihrer kostbarsten Ressourcen: Sand.
Das Gebiet rund um Raipur Khadar war von jeher landwirtschaftlich geprägt – in den Flussniederungen des Yamuna wurden Weizen und Gemüse angebaut. Doch Neu-Delhi, Indiens Hauptstadt und zweitgrößte Metropole der Welt mit mehr als 25 Millionen Einwohnern, liegt weniger als eine Autostunde entfernt im Norden und breitet sich immer weiter aus. Als ich auf einer neuen sechsspurigen Schnellstraße durch Gautam Budh Nagar fuhr, den Bezirk, in dem Raipur Khadar liegt, passierte ich einen Bauplatz nach dem anderen. Neue Türme aus Glas und Zement sprossen himmelwärts, als wäre der Vorspann von Game of Thrones über Kilometer hinweg mitten auf dem indischen Land Wirklichkeit geworden. Neben zahllosen typischen Shoppingmalls, Wohnblocks und Bürotürmen war eine 2000 Hektar große »Sports City« im Bau befindlich, die verschiedene Stadien und eine Formel-1-Rennstrecke umfassen soll.
Der Bauboom kam Mitte der 2000er-Jahre in Gang und mit ihm die Sandmafia. »Eine gewisse illegale Sandförderung gab es auch schon vorher«, sagte Dushynt Nagar, Vorsitzender einer lokalen Organisation zum Schutz der Rechte der Bauern, »aber nicht in dem Maße, dass Land gestohlen wurde oder Leute umgebracht wurden.«
Die Familie Chauhan lebt seit Jahrhunderten in diesem Gebiet, erzählte mir Palerams Sohn Aakash. Er ist jung und schlank, hat große braune Augen und schwarzes, bereits lichter werdendes Haar, und er trägt Jeans, ein graues Sweatshirt und Flip-Flops. Wir saßen auf Plastikstühlen im Wohnzimmer der Familie, nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der sein Vater die tödlichen Schüsse erhielt.
Der Familie gehören rund 40 Hektar Land, und sie teilt sich weitere rund 80 Hektar gemeindeeigenes Land mit dem übrigen Dorf – besser gesagt, teilte. Denn vor etwa zehn Jahren beanspruchte eine Gruppe örtlicher Muskelpakete, wie Aakash sie bezeichnet, angeführt von Rajpal Chauhan (kein Verwandter – es ist ein weitverbreiteter Nachname) und seinen drei Söhnen, das Gemeindeland für sich. Sie trugen die Erde ab und begannen den Sand zu fördern, den die Fluten des Yamuna über Jahrhunderte hinweg hier abgelagert hatten. Was die Sache noch schlimmer machte, war, dass der durch den Sandabbau aufgewirbelte Staub das Wachstum der Feldfrüchte in der Umgebung hemmte.
Als Mitglied des Dorfrats setzte sich Paleram an die Spitze einer Bewegung, die die Schließung der Sandgrube forderte. Eigentlich hätte das leicht zu bewerkstelligen sein müssen. Nicht nur, dass dem Dorf Land gestohlen worden war – im Gebiet von Raipur Khadar ist die Sandförderung überhaupt verboten, weil sich in der Nähe ein Vogelschutzgebiet befindet. Und die Regierung weiß, was vor sich geht: Eine Untersuchungskommission des indischen Umwelt- und Forstministeriums stellte 2013 fest, dass in ganz Gautam Budh Nagar »unwissenschaftlicher und illegaler Sandabbau um sich greift«.45
Dennoch konnten Paleram und andere Dorfbewohner niemanden finden, der ihnen half. Jahrelang gaben sie bei der Polizei, bei Regierungsstellen und Gerichten Gesuche ein, aber nichts geschah. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele örtliche Behörden Schmiergelder von den Sandfirmen erhalten, damit sie ein Auge zudrücken – und nicht selten sind diese Behörden selbst an dem Geschäft beteiligt.
Wenn jemand nicht bereit ist, das Zuckerbrot des Bestechungsgelds zu akzeptieren, zögern die Mafias auch nicht, zur Peitsche zu greifen. »Wir führen zwar Razzien gegen illegale Sandförderer durch«, sagte Navin Das, der offiziell Verantwortliche für den Rohstoffabbau in Gautam Budh Nagar. »Aber das ist sehr schwierig, weil wir dabei angegriffen und beschossen werden.«
Seit 2014 haben Sandräuber in Indien mindestens 70 Menschen getötet, zu denen sieben Polizeibeamte und über ein halbes Dutzend Regierungsvertreter und Whistleblower zählten. Noch weit mehr wurden verletzt, darunter auch Journalisten. Nur wenige Monate nach meiner Indienreise 2015 schlugen illegale Sandförderer einen Fernsehreporter krankenhausreif. Und kurz danach wurde ein weiterer Journalist, der über illegalen Sandabbau recherchierte, bei lebendigem Leibe verbrannt.
Rajpal und seine Söhne warnten Paleram und dessen Familie sowie andere Dorfbewohner, sie sollten ihnen keinen Ärger mehr bereiten, denn sonst … Aakash kennt einen der Söhne, Sonu, aus ihrer gemeinsamen Schulzeit. »Früher war das ein anständiger Kerl«, sagte Aakash. »Aber als er in das Sandgeschäft einstieg und anfing, schnelles Geld zu machen, entwickelte er eine kriminelle Mentalität und wurde sehr aggressiv.« Doch die Dorfbewohner ließen sich nicht einschüchtern, sondern erstatteten Anzeige wegen der Drohungen. Schließlich nahm die Polizei Sonu im Frühjahr 2013 fest und beschlagnahmte einige seiner Lkw. Er hinterlegte umgehend eine Kaution.
Wenig später fuhr Paleram eines Morgens mit dem Rad zu seinen Feldern hinaus, die direkt an die Sandgrube angrenzen, und traf zufällig auf Sonu.
»Sonu sagte: ›Du bist schuld, dass ich ins Gefängnis musste‹«, berichtete mir Aakash. »Er verlangte von meinem Vater, die Anzeige zurückzuziehen.« Aber stattdessen wandte sich Paleram erneut an die Polizei. Nur wenige Tage später wurde Paleram erschossen.
Sonu, sein Bruder Kuldeep und ihr Vater Rajpal wurden wegen des Mordes festgenommen. Alle drei waren aber bald schon auf Kaution wieder frei. Aakash läuft ihnen manchmal zufällig über den Weg. »Es ist halt ein kleines Dorf«, sagte er.
Aakash war bereit, mir und meinem Dolmetscher Kumar Sambhav das Gemeindeland zu zeigen, das die Mafia einfach für sich okkupiert hatte. Wir hatten an dem Tag in Neu-Delhi einen Wagen gemietet, und Aakash dirigierte unseren Fahrer zu der Stelle. Sie war nicht zu verfehlen: Direkt gegenüber der Straße, die aus dem Dorfzentrum führt, befindet sich eine aufgerissene Fläche, übersät mit drei bis sechs Meter tiefen Kratern, daneben haushohe Halden mit Sand und Gestein. Wir fuhren in das Areal hinein und tasteten uns über die zerfurchte Schotterpiste, die durch die Sandgrube führt, voran. Da und dort rumpelten Lkw und Maschinen für Erdarbeiten herum, an manchen Ecken waren Gruppen von Männern, mindestens 50 insgesamt, damit beschäftigt, mit Vorschlaghämmern Steine zu zertrümmern und per Schaufel Laster mit Sand zu beladen. Sie sahen uns neugierig hinterher. Schließlich deutete Aakash verhalten auf einen groß gewachsenen, stämmigen Mann in Jeans und Poloshirt: Sonu.
Kurz darauf und schon weit innerhalb des Grubengeländes hielten wir an, weil ich Fotos von einem besonders großen Krater machen wollte. Kaum waren wir ausgestiegen, sah Aakash vier Männer, von denen drei Schaufeln trugen, zielstrebig auf uns zukommen. »Sonu ist da«, flüsterte er.
Wir bewegten uns langsam zum Auto zurück und versuchten möglichst ungezwungen zu erscheinen. Aber wir waren zu langsam. »He, du Wichser!«, blaffte Sonu, jetzt nur mehr ein paar Meter entfernt, Aakash an. »Was hast du hier zu suchen?«
Aakash erwiderte nichts. Stattdessen murmelte Sambhav etwas in dem Sinne, wir seien einfach nur Touristen, während wir ins Auto kletterten. »Dann werde ich euch Arschlöchern mal eine Führung geben«, sagte Sonu, riss die Fahrertür auf und befahl dem Chauffeur auszusteigen. Dieser tat es und wir anderen auch. Klugerweise hielt Aakash weiterhin den Mund.
»Wir sind Journalisten«, sagte Sambhav. »Wir wollen hier nur sehen, wie die Sandförderung vor sich geht.« (Das Gespräch fand auf Hindi statt; Sambhav übersetzte es mir später.)
»Sandförderung?«, sagte Sonu. »Hier gibt es keine Sandförderung. Was habt ihr gesehen?«
»Was wir eben so gesehen haben. Und jetzt fahren wir weiter.«
»Nein, das werdet ihr nicht«, sagte Sonu.
In dieser Art ging der Wortwechsel einige zunehmend spannungsgeladene Minuten weiter, bis einer von Sonus Schlägern ihn darauf hinwies, dass ein Ausländer zugegen war – ich. Das ließ Sonu und seine Männer zögern. Es ist äußerst ungerecht, aber wenn sie einem westlichen Ausländer wie mir etwas antaten, konnten sie sich damit sehr viel mehr Ärger einhandeln als bei einem Einheimischen wie Aakash. Einen Moment lang herrschte konfuse Unschlüssigkeit. Wir nutzten die Gelegenheit, schnell ins Auto zu steigen und uns aus dem Staub zu machen. Sonu blickte uns finster hinterher.
Während ich dies schreibe, schleppt sich der Prozess gegen Sonu und seine Verwandten dahin. Die Aussichten auf eine Verurteilung sind nicht besonders groß. »In unserem System lässt sich mit Geld leicht alles kaufen – Zeugen, die Polizei, die Behördenvertreter«, erklärte mir ein mit dem Fall vertrauter Jurist unter der Bedingung, dass er anonym bleibt. »Und diese Leute haben durch das Geschäft mit dem Sand eine Menge Geld.«
Aakash steht in Kontakt mit den Ermittlern der Polizei und hat versucht, die indische Menschenrechtskommission für den Mord an seinem Vater zu interessieren. Seine Mutter fleht ihn an, die ganze Sache fallen zu lassen, vor allem seit ihr anderer Sohn, Aakashs Bruder Ravindra – der in dem Fall der Hauptzeuge gewesen war –, letztes Jahr tot neben einem Bahngleis aufgefunden wurde. Offenbar wurde er von einem Zug überfahren. Niemand weiß, wie das geschehen konnte.
Auch andernorts in Indien versuchen viele Leute auf die eine oder andere Weise, die Sandförderung zu stoppen oder zu begrenzen. Das National Green Tribunal, eine Art Bundesgericht für Umweltfragen, lädt jeden Bürger dazu ein, gegen illegalen Sandabbau Klage einzureichen. Dorfbewohner organisieren Demonstrationen und blockieren Straßen, um den Abtransport des Sandes zu verhindern. Fast jeden Tag bekundet ein örtlicher oder staatlicher Vertreter seine Entschlossenheit, die Sandförderung zu bekämpfen. Lkw werden beschlagnahmt, Geldstrafen verhängt, Leute inhaftiert. Die Polizei setzt zum Aufspüren illegaler Sandgruben sogar Drohnen ein.
Aber Indien ist ein riesiges Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern. Dort sind Hunderte und höchstwahrscheinlich Tausende illegale Sandgruben in Betrieb. Korruption und Gewalt behindern viele der gut gemeinten Versuche, gegen sie vorzugehen.
Und dieses Problem betrifft nicht nur Indien. Illegale Sandförderung im großen Stil findet in Dutzenden Ländern statt. In der einen oder anderen Form wird in fast jedem Land der Welt Sand abgebaut. Indien ist nur das extremste Beispiel einer sich anbahnenden Krise, von der die ganze Welt betroffen ist.
Im Grunde ist es eine Frage von Angebot und Nachfrage. Das Angebot an nachhaltig gewonnenem Sand ist begrenzt. Die Nachfrage jedoch nicht. Tag um Tag wächst die Weltbevölkerung. Immer mehr Menschen in Indien – und auch sonst überall – wollen in anständigen Häusern leben, in Büros und Fabriken arbeiten, in Einkaufszentren shoppen gehen, auf Straßen fahren. Die wirtschaftliche Entwicklung, wie wir sie verstehen, benötigt Beton und Glas. Das heißt Sand.
Seit Jahrtausenden verwendet der Mensch Sand. Aber erst seit dem 20. Jahrhundert, mit dem Anbruch der Moderne, wurde Sand für die westliche Welt unverzichtbar. Im 21. Jahrhundert, in unserer digitalen, globalisierten Zeit, ist Sand für fast jeden unverzichtbar geworden. Vor einem Jahrhundert lebten nur einige wenige Hundert Millionen Menschen auf eine Weise, die eine große Menge Sand voraussetzte. Heute leben Milliarden so, und ihre Zahl wird täglich größer. Sand ist zu einem der am stärksten nachgefragten Handelsgüter des 21. Jahrhunderts geworden, und er ruft auf der ganzen Welt Gewalt und Zerstörung hervor.
Wie ist es so weit gekommen? Wie wurden wir so abhängig von einem derart schlichten Material? Warum nur verwenden wir so viel davon? Und was bedeutet unsere Abhängigkeit für unseren Planeten und unsere Zukunft?
TEIL I
Wie Sand dieindustrialisierte Welt des20. Jahrhunderts erschuf
Nichts erbaut sich auf Fels, alles auf Sand, aber unsere Pflicht ist zu bauen, als sei Stein der Sand …
Jorge Luis Borges,Fragmente eines apokryphen Evangeliums1
Kapitel 2