Sarah Jane - James Sallis - E-Book

Sarah Jane E-Book

James Sallis

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Beschreibung

Sarah Jane Pullman ist ein guter Cop mit komplizierter Vergangenheit. Aufgewachsen in einer Kleinstadt, bekam sie als jugendliche Ausreißerin Probleme mit dem Gesetz, wurde zwangsweise zur Army eingezogen und heiratete nach ihrer Rückkehr den absolut falschen Mann. Ihr Leben erfährt eine unerwartete Wendung, als sie in den Polizeidienst eintritt – und sich umgehend auf dem Posten des diensthabenden Sheriffs wiederfindet, nachdem dieser vermisst gemeldet wird. Sarah Jane nimmt sich des Falls an und entdeckt, dass hinter dem mysteriösen Verschwinden des Sheriffs ein ebenso mysteriöses Leben steckt, das er Freunden und Kollegen verheimlicht hat. Während der Ermittlungen wird aber auch Sarah Jane von ihrer Vergangenheit eingeholt. Das FBI taucht auf, um den Fall eines ermordeten Cops zu untersuchen …

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Seitenzahl: 231

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James Sallis

Sarah Jane

Roman

Aus dem Englischen übersetztvon Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel

»Sarah Jane« bei Soho Press, New York.

© James Sallis 2019

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2021

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: Trent Parke / Magnum Photos

Covergestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-140-1

Für meine Studenten,die mir helfen, nicht zu vergessen,warum dies so wichtig ist.

… von diesem Tag an lebte sieglücklich bis an ihr Lebensende. Bis auf das Sterbenam Ende. Und das Leid dazwischen.

LUCIUS SHEPARD

Erinnerungen sind Jagdhörner,deren Ton im Winde vergeht.

GUILLAUME APOLLINAIRE

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

1

Ich heiße Pretty, aber ich bin nicht hübsch. War ich nie, werd ich nie. Und es ist auch nicht mein richtiger Name, nur Daddy nennt mich so. Schönheit ist oberflächlich, hat er früher immer gesagt, also habe ich mir mit sechs den Arm aufgekratzt, um nachzusehen. Die Narbe ist immer noch da. Vermutlich ist es genau dasselbe wie mit dem Spruch, wenn du lange genug buddelst, kommst du in China wieder raus. Ich hab mir dabei einen Haufen Blasen geholt.

Mein richtiger Name ist Sarah Jane Pullman. Die Kids in der Schule nennen mich Squeaky. In der Kirche bin ich meistens S. J. oder einfach Junior (was, als Daddys Mädchen, für die alten Kerle, die neben dem Eingang zur Sonntagsschule stehen und rauchen, in ihren Anzügen mit dem abgewetzten Hintern, so gar nicht geht). Anscheinend nennt mich jeder, den ich kenne, irgendwie anders.

Das alles habe ich mit sieben in mein Tagebuch geschrieben. Es war kein richtiges Tagebuch, nur so ein Collegeblock, wie man ihn für die Schule bekommt, mit einem gänseblümchengelben Deckel, auf dem Southern Paper stand, und Linien in breitem Abstand. Zur Sicherheit befestigte ich eine Büroklammer an den Seiten, in wechselndem Muster, mit unterschiedlich vielen zusammengesteckten Seiten und an verschiedenen Stellen. Ich kann mir heute nicht mehr vorstellen, wer meiner Meinung nach heimlich hätte lesen wollen, was eine Siebenjährige über ihr Leben schrieb.

Damals haben wir Hühner gezüchtet, immer jeweils sechstausend, in lang gestreckten Gebäuden, die an Militärbaracken erinnerten – es war der jüngste Versuch, Geld zu verdienen, nach dem Verkauf von Erde aus den Hügeln hinter dem Haus, dem Bau von Gartengrillplätzen für andere Leute und der Reparatur von Rasenmähern. Wir nahmen süße, kleine, piepsende Küken aus Wellpappkartons, und Monate später wateten wir zwischen panischen Hühnern hindurch, packten sie an den Füßen und stopften sie in Käfige, die auf Lkws gestapelt und dann abtransportiert wurden. Man musste schnell sein, sonst drängten sie sich in den Ecken und erstickten.

Nicht, dass meine Eltern sich keine Mühe gaben. Sie hatten normale Jobs, bei denen sie sich den Hintern aufrissen, nur um abends nach Hause zu kommen und sich um das hier zu kümmern. Das Be- und Entladen von fünfundzwanzig Kilo schweren Futtersäcken, das tägliche Wenden der Sägemehlstreu, die zudem regelmäßig zusammengekehrt und ausgewechselt werden musste, immer musste dafür gesorgt werden, dass es ausreichend Wasser gab und die Heizöfen in den Bruträumen einwandfrei funktionierten, die Düsen frei waren, das Gas auf kleiner Flamme und ohne Unterbrechung brannte. Doch in der Stadt war nicht viel Geld zu holen, und was da war, kam von den Howes oder den Sandersons und floss wieder zu ihnen zurück, nachdem es sich wie die Hühner vermehrt hatte.

Ich bin in einer Stadt namens Selmer aufgewachsen, unten, wo Tennessee und Alabama sich treffen und irgendwie zu einem eigenen Land werden, in einem Haus, das sich die ersten sechzehn Jahre meines Lebens darauf vorbereitete, den Hügel hinunterzurutschen, was es, direkt nachdem ich ausgezogen war, auch tat. Daddy ist damals in einen Trailer gezogen und hat ihn, soweit man das mitbekam, kaum noch verlassen. Über meine Hochzeit mit Bullhead Jahre später und das alles will ich nicht groß reden. Weitere Narben.

Aber ich hab nicht all die Sachen gemacht, die man mir andichtet. Zumindest nicht alle.

Nach meinem zehnten Geburtstag war Mom nicht mehr viel da. Niemand sprach darüber. Sie war für Wochen und Monate fort, und dann trat sie eines Morgens aus dem großen Schlafzimmer und war für eine Weile wieder da, bewegte sich im Haus von hier nach dort wie ein überzähliges Möbelstück, für das wir versuchten, einen Platz zu finden.

Einmal ist sie mitten in einem Kinofilm gegangen, sagte kein Wort, ging einfach weg, es war irgendeine blöde Komödie über ein Paar, das sein erstes Date hatte, aber es wegen des Wetters, knuffigen Tieren, Verkehrsstaus und Paraden nicht schafft, zu einem zweiten Date zusammenzukommen. Mein Bruder und ich haben uns den Rest des Films angesehen, bis zum großen Finale, wo der Typ am rechten Bildrand steht und sie links und sich zwischen ihnen eine große freie Fläche auftut. Darn und ich haben dann draußen eine halbe Stunde gewartet, bevor wir einen Busfahrer überredeten, uns kostenlos nach Hause mitzunehmen, da wir kein Geld dabeihatten. Mein Bruder hieß Darnell, doch alle nannten ihn Darn.

Als wir hereinkamen, blickte Dad vom Küchentresen auf, wo er sich gerade einen Milchpunsch mixte. »Ah, mal wieder weg«, sagte er.

Ich erklärte ihm, dass sie zurückkäme.

»Vermutlich wird sie das.« Er nahm einen Schluck und gab mehr Zucker dazu. »Das Leben ist keine Pizzeria, Pretty. Es gibt keinen Lieferservice.«

Wir rasen mit siebenunddreißig Sachen durch diese gottverlassene ausländische Wüste, und irgendwo rechts von uns sehen wir eine Staubwolke. Im Osten oder Westen, wer weiß das schon. Es gibt da draußen nicht viele Orientierungspunkte, man muss auf den Kompass schauen. Die verdammte Sonne ist auch keine Hilfe, sie ist einfach überall. Oscar hält mit dem Jeep am Fahrbahnrand, um wenigstens eine grobe Vorstellung davon zu bekommen, wie weit diese Staubwolke entfernt ist, in welche Richtung sich das Fahrzeug bewegt und mit welcher Geschwindigkeit. Unser Wagen ist im Leerlauf, doch die Stöße aus Buckeln und Schlaglöchern sind uns praktisch in Fleisch und Blut übergegangen. Wir spüren sie immer noch. Oscar hat keine Schweißflecken unter den Armen, und ich denke, verdammt, der Mann ist nicht von dieser Welt, eher so was wie ein Außerirdischer. Irgend so eine Kreatur.

Hast du mal dran gedacht, Kinder zu bekommen, fragt mich Oscar. In diesem tödlichen Sonnenlicht kommt man echt auf schräge Gedanken, Gespräche, die du woanders niemals führen würdest. Als würde die uns umgebende Gleichförmigkeit so etwas zutage fördern. Ich meine, irgendwann, ergänzt er.

Ich erzähle ihm nicht, dass ich bereits eins hatte.

Sechs Stunden nach ihrer Geburt, so gegen zwei oder drei Uhr morgens, sagten sie mir, sie hätten alles getan, was in ihrer Macht stand, aber mein Baby wäre gestorben. Sie brachten sie zu mir, eingewickelt in eine rosa Decke, damit ich sie auf dem Arm halten konnte. Ihr Gesicht war gespenstisch weiß. Hatte sie überhaupt richtig gelebt? Eine Stunde nachdem sie gegangen waren, war ich weg.

Nö, antwortete ich Oscar.

Der Schatten eines vorbeifliegenden Vogels gleitet über uns hinweg. Wir beobachten, wie sich der Schatten von uns fortbewegt, in Richtung einer weit entfernten Windhose. Der Motor knackt leise. Riecht heiß. Alles riecht heiß.

Genau wie man hier draußen auf schräge Gedanken kommt, können Worte anfangen, sich einem zu entziehen. Sätze verlieren ihren inneren Zusammenhalt, haben Löcher. Verben fallen heraus, Antworten passen nicht mehr zu Fragen. Bei solchen Ausfällen muss man sich fragen, ob das, was wir denken, was wir noch denken können, ebenfalls heruntergefahren wird.

Es entfernt sich von uns, sagt Oscar. Was meinst du, ein einzelnes Fahrzeug?

Sieht so aus.

Wir setzen uns wieder in Bewegung.

Oscar mit weniger als einer Stunde zu leben.

An meinem siebzehnten Geburtstag, ein Jahr nachdem ich Selmer verlassen hatte, saß ich in einem Bus, der sich langsam Richtung Norden bewegte, immer in Sichtweite des Flusses, wie ein Boot, das vom Kurs abgekommen war und nun nach irgendeinem Zugang suchte, der ganz in der Nähe sein musste. Die Familie hinter mir, Eltern, zwei Kinder, vielleicht sechs und acht, kauften Lunchpakete, als an einem Rastplatz ein Verkäufer zustieg. Gebratenes Hühnchen, Brötchen groß wie Unterteller, Krautsalat. Vertrautes Essen für die lange Reise ins Ungewisse. Alle vier hatten einen beträchtlichen Körpergeruch; das Haar des Mannes und des Jungen glänzte ölig. Schon damals wusste ich, dass dies etwas signalisierte. Was genau, fand ich heraus, als der Junge im Bus ganz nach vorn ging und sich dann Reihe für Reihe nach hinten vorarbeitete und dabei immer wieder denselben Satz wiederholte, in einer slawischen Sprache, glaube ich. Ausländer. So viel zu vertrautem Essen. Sie waren zu einem Abenteuer aufgebrochen, das so mutig und tollkühn war wie mein eigenes.

Ich landete schließlich irgendwo hinter St. Louis, in einer Collegestadt, deren Einwohnerzahl sich in den Ferien halbierte, zu allen Seiten flaches Land, geografisch so mehrdeutig, dass man nicht sagen konnte, ob man sich immer noch im Süden befand oder irgendwo in einem Nicht-Kansas gelandet war. Die Unterkunft war früher mal ein Bauernhaus gewesen, das vor langer Zeit in Studentenzimmer unterteilt worden war, dann während seines langsamen, sicheren Abstiegs herausgerissene Wände erdulden musste, bis nur noch zwei Säle blieben, einer für jene, die im Bett waren oder schliefen, der andere für alle Übrigen. Neben einem festen Kern von Stammgästen gab es einen steten Strom Durchreisender. Gregory nannte sie Eintagsfliegen. An manchen Tagen war er selbst eine Fliege, wie die in der Suppe, an anderen Tagen war er unser Mentor, Anführer, Wahrsager, Schamane. Er hatte echt Ahnung, was? Und zwar so was von.

Wir lernten uns auf einer Studentenversammlung kennen, wo ich abhing, in Erwartung des großen oder kleinen Irgendwas. Ich vermutete, dass bei jungen Leuten, bei so vielen Hunderten von Leben im Zwischenstadium, irgendwas passieren musste. Momente begannen zu knistern, Schatten zuckten wie Grillen. Gregory gabelte mich in der Cafeteria auf, wo ich am stillen, bleichen Nachmittag meines vierten Tages über meinem zweiten, stundenlangen Kaffee saß. Er nahm mich mit zu sich nach Hause, gab mir ein Wurstsandwich, schlief mit mir und warf mich zurück ins Wasser.

Ich schwamm.

»Ich verrat dir, worauf alles hinausläuft«, sagte Gregory. »Man streift herum, um Halt zu finden. Und zwar immer. Je mehr du herumstreifst, desto mehr Halt findest Du.« Regen prasselte aufs Dach wie Vogelscheiße, rollte erwartungsvoll herunter in Dachrinnen, die verstopft waren mit den Ablagerungen vieler Jahre, gab auf und versickerte. Um uns herum konnten wir die anderen atmen hören, seufzen und furzen, das Raunen geträumter Gespräche.

»Da waren diese Typen, die früher im nächsten Gebäude Musik machten. Vor Jahren, ich war damals älter als du jetzt, aber nicht viel. Und ich habe zugehört. Der Drummer spielte drei Takte, setzte dann vielleicht sechs aus, stieg wieder für einen ein. Der Bass zog sein Ding durch, völlig ungeachtet einer Tonart oder eines Metrums, ohne ein irgendwie erkennbares Bedürfnis, den Takt halten zu wollen. Der Gitarrist nahm kein einziges Mal die Hand vom Tremolohebel, gnadenlos hantierte er damit herum, dehnte jede Note wie ein Gummiband kurz vorm Zerreißen, über neun, zehn Beinahe-Takte. Was zum Teufel war das? Also hörte ich weiter zu. Und nach einer Weile fand ich einen Zugang. Es war eine Musik des reinen Potenzials, eine Musik, die nie wirklich zustande kam, die sich weigerte, auch nur eine einzige Möglichkeit preiszugeben.«

Abgefahren.

Es war ja nicht so, dass er völlig abgedreht war.

Gregory hatte eine Menge Sachen ziemlich im Griff. Manches davon real, vieles nicht. Er warf Leinen aus wie jemand, der von einem Boot aus nah der Küste angelt. Derweil kursierten die gegensätzlichsten Geschichten über ihn. Er habe oben in Kanada eine Frau umgebracht oder fast, oder sie habe versucht, ihn umzubringen. Er sei Professor an der Antioch University gewesen und habe eines Tages einfach alles hinter sich gelassen. Er sei auf der Flucht vor Bundesagenten. Er habe in der Nähe von Portland in einer Kommune gelebt, die er einige Wochen vor einer FBI-Razzia verlassen hatte. Allen Geschichten gemein war, dass er flüchtete.

Jeder nannte den Ort Cracker Barn, und es dauerte nicht lange, bis ich meine eigene beste Cracker-Barn-Freundin hatte. Ich wollte mich kurz schlafen legen, das war an meinem dritten oder vierten Tag dort, stellte dann aber fest, dass sämtliche Matratzen belegt waren. Auf einer von ihnen, neben der Tür, hob ein dürres Mädchen mit zu viel Augen-Make-up den Kopf, wie eine Schildkröte, ohne den Körper zu bewegen, nur der Kopf kam hoch, sie rutschte schnell rüber und klopfte neben sich auf den Drillich. Zum Teufel, warum nicht. Als ich Stunden später aufwachte, redete sie vermutlich noch nicht, aber es wirkte so. Sie kam aus Scottsdale, Arizona, »wo die Leute rechtschaffen sind. Aber ich bin aus ihren Regeln nie schlau geworden. Verdammt, die haben mir noch nicht mal ’ne gedruckte Ausgabe ihrer Scheißregeln in die Hand gedrückt. Als müsste ich das alles einfach so wissen.«

Ich wusste über Arizona nur, dass es dort heiß war und dass es Kakteen und Cowboys gab, das war’s auch schon, wie sich Jahre später herausstellte.

Shawna war schon lange im Barn. Ein Jahr zuvor hatte Gregory ihr zum einundzwanzigsten Geburtstag einen Kuchen gekauft, und sie hatten eine Party. Davon erfuhr ich, als ich fragte, ob nicht irgendwer nach ihr suchen würde, und sie meinte, die hätten längst aufgegeben. Sie war in meinem Alter, siebzehn, als sie fortging. Erzählte mir, wie sie in Phoenix an einer Bushaltestelle stand, an der 16th Street, und sich die Reiseziele ansah, die auf die Seitenwand gemalt worden waren, Albuquerque falsch geschrieben, mit Weiß übermalt und dann wieder falsch geschrieben.

Es war im Barn, wo ich das erste Mal gemerkt habe, wie ein Leben um mich herum Form annahm. Ich habe gelernt zu kochen, hauptsächlich aus Notwehr, da niemand sonst Lust dazu hatte und das, was auf den Tisch kam, oft undefinierbar und immer scheußlich war. Es brauchte etwas Übung, um den richtigen Dreh rauszukriegen, doch ich hatte einen ausreichend großen Vorrat an Versuchskaninchen zur Verfügung. Kochen erwies sich als eine Fähigkeit, die mir in meinem späteren Leben gute Dienste leisten würde, wie man so sagt. Außerdem lernte ich dort, Körpersprache zu lesen, ich fand heraus, wie man durchschaut, was andere sagen und was sie zu sagen glauben, all das zwielichtige Zeug, das dahinter lauert.

Manchmal, besonders spätabends, taumelten Gregorys Geschichten über die Klippe ins wahrhaft Absurde, wenn er beispielsweise anfing, davon zu erzählen, wie er die Unterwäsche erfunden hatte.

»Mein Freund Hogg und ich saßen eines Tages zusammen, wie immer in der Küche mit einer Flasche. Und wie wir uns an diesem schönen Sommernachmittag systematisch die Kante geben, da geht mir ein Licht auf. Ich hab alles mit einem Zimmermannsbleistift auf den Tisch gemalt. Das ist schon sehr lange her, ein paar Wochen nachdem wir die Ideen mit den Pilzen, den Tubas und Wespen hatten, oder vielleicht war’s auch kurz vorher. Hätte mir nie träumen lassen, dass aus dem Scheiß je was würde. Hab dafür nie auch nur einen Penny gesehen.«

Wir werden nie wissen, wie andere die Welt sehen, werden nie wissen, was in ihren Köpfen herumgeistert: Kleingeld, großartige Ideen, Ressentiments, Münzen aus dem Springbrunnen, schöngefärbte Erinnerungen, Codes und Chiffren.

Dieses Wissen war das Wertvollste, was ich aus dem Cracker Barn mitgenommen habe.

»Hatten Sie Kenntnis von den Absichten Ihrer Kameraden, Miss Pullman?«

Kein ordinäres Wussten Sie, nicht bei dieser kultivierten Anwältin mit ihrem maßgeschneiderten Kostüm und dem kunstvoll drapierten Seidenschal. Vielleicht würde sich, wenn ich nur richtig hinstarrte, der Schal zusammenziehen und sie langsam erwürgen. Sie würde eine Hand heben und ihn berühren. Ihn noch einmal berühren, entschiedener diesmal. Ein, zwei Schritte nach vorne stolpern. Mit hervortretenden Augen.

Und Kameraden statt Freunde oder Crew – das hatte ein ganz anderes Niveau.

Seit ich den Cracker Barn verlassen hatte, war ziemlich viel schräges Zeug passiert, und noch viel schrägeres lauerte an der nächste Ecke, Sachen, die ich mir in dem Moment gar nicht vorstellen konnte.

Man sagte, Judge Fusco duldete in seinem Gerichtssaal kein Wasser, weil es den Ablauf bremste. Ich hätte wirklich welches gebrauchen können.

Kein Problem hatte er jedoch mit Ventilatoren. Die waren überall. Drei unter der Decke, die sich im Schneckentempo drehten und Schatten über die Decke zogen, ein Tischventilator neben ihm auf der Richterbank. In der Nähe ein schräg nach hinten gekippter Kastenventilator, wie der Verstärker einer Rockband, damit der Luftstrom von der Rückwand zurückgeworfen wurde.

Hatte ich Kenntnis, wie sie gefragt hatte? Nun, Kenntnis gibt’s in allen Größen und Formen, richtig? Wissen ebenfalls. Aber, ja, an irgendeinem Punkt muss ich es wohl gewusst haben. Ist normalerweise so.

Das versuchte ich gerade zu sagen, wurde aber von der Anwältin zurückgehalten.

»Ja oder nein, Miss Pullman?«

Ich öffnete wieder den Mund, und heraus kam ein Ja.

Mein vom Gericht bestellter Anwalt sah aus wie maximal sechzehn, sein Schopf erinnerte an Schamhaar, das Doppelkinn war ein Ersatz für den Seidenschal der anderen, und er gab sein Bestes. Aber von dem Punkt an war das Ding im Grunde gelaufen, bis hin zu dem Moment, an dem Judge Fusco mir befahl, mich zu erheben, und verkündete, auch wenn manche seine Entscheidung infrage stellen würden, sei er vom alten Schlag und stelle mich angesichts meines jugendlichen Alters (wovon ich noch nicht viel hatte, von der Jugend, meine ich) und meiner offenkundigen Reue (echt jetzt?) vor die Wahl: Entweder ins Gefängnis oder zur Armee.

Prompt salutierte ich vor dem alten Sack.

Wenn ich als Kind nachts im Bett lag, draußen am Stadtrand, wo wir wohnten, in vollständiger Dunkelheit, eingehüllt in das dumpfe Surren des Umspannwerks oben auf dem Crow’s Ridge, ganz in der Nähe, versuchte ich mir vorzustellen, nicht da zu sein, mir eine Welt ohne mich auszumalen. Meine Gedanken tasteten sich vor, zunächst in kleinen Schritten, dann forscher, immer weiter ausholend. Wenn ich aufwachte, wusste ich nicht, wo ich war, ich hatte kein Selbstempfinden, meine Gedanken waren frei schwebend. Und wenn die Welt sich nach einiger Zeit wieder ausrichtete, hatte ich jegliche Verbindung zwischen Körper und Geist verloren. Mein Arm wollte sich in der Dunkelheit vor mir nicht heben. Meine Beine bewegten sich nicht, wie nachdrücklich ich es ihnen auch befahl. In dieser pechschwarzen Dunkelheit gab es nur Geräusche: das Hämmern meines Herzschlags, das Surren vom Crow’s Ridge, das wortlose Summen des Radios im Schlafzimmer meines Vaters. Das statische Rauschen der Welt.

Abgesehen davon, dass Daddy Hühner züchtete, Erde verkaufte und Grillplätze baute, rief man ihn von Zeit zu Zeit, um gewisse Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

Wie bei Jenny Silers Problem mit den King-Jungs. Die zwei waren stark, Daniel und Matthew, mit ihren biblischen Namen, und ihr Vater war verschwunden, als sie noch Kinder waren, irgendwo in den Sümpfen vergraben, sagten alle, was ihm nur recht geschah, da der Mann nie Gutes im Sinn gehabt hatte, und die Liste derer, die ihn dort zur Ruhe gebettet haben könnten, war ziemlich lang. Daddy vertrat die Meinung, dass die beiden Jungs seitdem auf der Suche nach irgendwas gewesen waren, vielleicht, ohne es selbst zu wissen, nach ihrem alten Herrn. Meistens suchten sie auf den Grundstücken anderer Leute, in den Häusern anderer Leute und in den Habseligkeiten anderer Leute.

Zunächst fehlten bei Miss Siler nur Kleinigkeiten. Perlenohrringe und eine Insektenbrosche, deren Edelsteine wie echte Augen aussahen, der silberne Babylöffel ihres längst verstorbenen Bruders, ein Verlobungsring, den sie im Alter von vierunddreißig Jahren sechs Wochen lang getragen hatte. Letzten Samstag trat sie auf die Terrasse hinter dem Haus und fand ihren Hund auf halber Höhe der Treppe, steif und kalt, die stark angeschwollene Zunge aus dem Maul hängend. Vergiftet. Der alte Simon war zweimal von Autos und Trucks angefahren worden, er wurde von Jägern angeschossen, hatte ein Bein verloren und alles überlebt. Und jetzt das. Als Miss Siler mit einem Apple Pie vorbeikam, den sie in einer Form gebacken hatte, die ein Relikt aus dem Bürgerkrieg hätte sein können, hörte Daddy aufmerksam zu, nickte und sagte, er werde sich darum kümmern.

Warum rufst du nicht einfach die Polizei?, fragte ich ihn. So brachte man es uns zumindest in der Schule bei.

Wir stammen aus einer guten Hillbilly-Familie, Pretty. Wir rufen nicht die Polizei.

Daddy stattete den Jungs einen Besuch ab. Am nächsten Tag waren sie weg und wurden nie wieder in unserer Gegend gesehen. Daddy sagte, er nehme an, sie hätten letzten Endes wohl ihren nichtsnutzigen alten Herrn gefunden.

Zuerst riechst du das Zielmaterial. Pulverisierte Steine, Beton. Heißes Metall. Dann kommt in Wellen der Gestank des Sprengstoffs selbst. Ammoniak, Chlor. Stechend. Er steigt dir in die Nase, und du wirst ihn nicht mehr los.

Wir saßen da und behielten die Staubhose im Auge, versuchten festzulegen, wie viele es waren und wie weit weg sie sich befanden. Ich weiß noch, wie Oscar den Gang einlegte und wieder anfuhr. Ich blicke zu ihm rüber und sein Mund steht offen und alles ist still. Dann liege ich am Boden, blicke seitlich auf den Jeep, versuche, in meinem Hirn alles auszurichten und herauszufinden, wer von uns auf dem Kopf steht, und Oscar bewegt sich aus gefühlt einem Kilometer Entfernung auf mich zu, rührt sich aber kaum, und als ich wieder einen klaren Kopf bekomme, sehe ich auch, warum. Mit einer Hand hält er sein Bein fest, mit der anderen zieht er sich vorwärts. Von dem Bein ist nicht mehr viel übrig.

Meine Beine versagen ebenfalls ihren Dienst, aber ich kann kriechen, also mache ich das und erreiche ihn. Genau wie zuvor bewegt sich sein Mund, aber ich kann nichts verstehen. Dann begreife ich, dass ich überhaupt nichts höre, nur dieses Dröhnen in meinen Ohren.

Das Bein ist unterhalb des Knies komplett weg, der Rest wird nur noch von Hautlappen zusammengehalten. Es sieht aus wie die Fransen an einer alten Wildlederjacke, und ich halte seine Hand, als er sich versteift, blinzelt und aufhört zu atmen.

Es muss eine Panzerfaust gewesen sein. Also, wo sind sie? Warum sollten sie uns unter Beschuss nehmen und dann nicht kommen?

Schon komisch, wie viel man von der Welt verliert, wenn man nicht hören kann. Meine Nase war voll Bleichmittel, und in den Ohren hatte ich nichts als den Ozean.

Doch wenn man am Boden liegt und nicht geschossen wird, bleibt man unten. Wartet ab. Schätzt die Lage ein. So war es mir eingebläut worden.

Noch mehr Bleichmittel, mehr Ozean und Qualm, dann spürte ich Schritte hinter mir. Sehr nah. Ein Fuß stieß mich an, schob sich einen Moment später unter mich, kickte mich hoch und wurde dann zurückgezogen. Ich atmete so flach wie möglich. Drei Zehen eines nackten Fußes tauchten am Rand meines Blickfelds auf. Verharrten dort. Traten nach meinem Kopf. Dann konnte ich den Fuß nicht mehr sehen, spürte aber nach kurzer Zeit, dass irgendwer mit aller Kraft an meinem Stiefel zog. Vermutlich kniete er da unten und versuchte, mir den Stiefel auszuziehen.

Ich musste diese Gelegenheit nutzen, genau wie den Umstand, dass es nur einer war. Mit dem Fahrtenmesser in der Hand machte ich den schnellsten Sit-up meines Lebens und stieß zu – blindlings, nur nach Gefühl, dorthin, wo ich ihn vermutete. Er war klein. Und er kniete nicht, er saß. Das Messer erwischte ihn direkt an der Kehle. Aus der durchgetrennten Luftröhre drang ein blutiger Sprühregen. Seine Miene blieb vollkommen reglos. Als er umkippte, lagen seine Hände immer noch auf meinem Stiefel.

Er mochte zwölf oder dreizehn gewesen sein.

Er hätte natürlich Kanonenfutter sein können. In den Städten wurden sie so jung angeworben, und sogar noch jünger. Aber es war auch möglich, dass er einfach nur eine zurückgelassene Waffe gefunden und benutzt hatte. Ich wartete noch eine Weile, und als sonst niemand auftauchte, ging ich von Letzterem aus.

Fast ein ganzer Tag verstrich, erzählten sie mir. Für mich ist alles nur verschwommen: Dunkelheit strömt aus einem hellen Zentrum, blendend grelle Zickzacklinien, Blitze, Leuchtsignale, Leere. Ich redete mir fest ein, dass ich auf dem Rückweg zum Lager war, die Sonne immer links von mir haltend, doch die Sonne bewegte sich, sie war überall, rechts, links, direkt vor mir, hinter mir.

Eine andere Patrouille fand mich durch Zufall. Ich fragte, ob sie gekommen seien, um mich nach Hause zu bringen. Als sie fragten, wo zu Hause sei, wusste ich es nicht mehr. Wir haben Hühner, erklärte ich ihnen.

Jede Erinnerung an den genauen Ort, wo wir uns aufgehalten hatten, war weg. Ich erstattete Bericht, soweit ich dazu in der Lage war, und ein Team fuhr noch mal raus zu der Stelle, wo sie mich aufgesammelt hatten. Schließlich fanden sie das Fahrzeug, aber beide Leichen waren verschwunden. Oscars Erkennungsmarken tauchten in meiner Tasche auf. Ich konnte mich nicht erinnern, sie an mich genommen zu haben.

2

Fast ein Jahr später, kurz bevor ich Bullhead kennenlerne, arbeite ich als Köchin in diesem Resort, das wie ein Jagdhaus ausgestattet ist, mit dunklen Balken, wo vorher keine Balken waren, und Wänden aus unbehandeltem Holz, die aussehen, als würden Splitter herunterhängen, doch selbst die Splitter sind mit Klarlack überzogen. Es ist Mitte Juli und so heiß, dass dein Schweiß verdunstet, bevor du ihn überhaupt bemerkst. Der Collegejunge Eric the Red hat eine so riesige Frühstücksbestellung reingegeben, dass ich nachsehen muss, ob es wirklich nur für eine Einzelperson ist. Der Mann, der am Ecktisch in Erics Bereich sitzt, ist tatsächlich allein und klopft gerade ans Fenster, um ein Eichhörnchen draußen im Gebüsch, meist Salbei und Rosmarin, auf sich aufmerksam zu machen. Das Sakko viel zu groß, ein normales weißes Oberhemd, unscheinbare blaue Krawatte mit einem Muster, das ich nicht erkennen kann. Einen Friseur hat er zum letzten Mal gesehen, als es draußen noch kalt war. Etwas, das aussieht wie das uneheliche Kind einer Butterbrotdose und eines Plastik-Aktenkoffers, steht auf dem Stuhl neben ihm. Der Mann, klatschnass, mochte gut und gern fünfzig Kilo auf die Waage bringen, und er hat genug zu essen bestellt für drei.

Ich gehe zurück durch die Küchentür, werfe Eier für das Omelett in den Mixer, hole Pfannkuchenteig aus dem Kühlschrank und schaue im Speckkasten nach, ob wir genug Vorrat haben. ’ski sieht zu mir rüber, um mir zu sagen, dass er heute früher gehen muss, weil er einen Termin bei der Einwanderungsbehörde hat. ’ski ist Russe, kam als Student her, jetzt ist sein Visum abgelaufen und er ist darauf aus zu bleiben. »Warum erzählst du mir das?«, frage ich. »Geh und sag’s Lizard.« Tony Lasardo, der für die Tagesschicht verantwortlich ist. »Ich sag es dir, weil du die Einzige bist, der das nicht total am Arsch vorbeigeht«, erwidert ’ski. Der Mann sollte Pluspunkte für eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, weil er die amerikanische Umgangssprache beherrscht.

Um zwei Uhr, nach dem großen Mittags-Ansturm, bin ich mit meiner Schicht fertig und beschließe, bei dem Kunstgewerbemarkt vorbeizuschauen, der im Zentrum stattfindet, gleich neben dem College. Dort hat man die Straßen abgesperrt, die sich daraufhin mit Verkaufsständen füllten, an denen Schmuck, Gemälde, Batik-Klamotten, Garten-Skulpturen, mundgeblasene Gläser und Keramik, handgemachte Seifen und gefriergetrocknete Suppen angeboten werden, mit Schokolade überzogene gefrorene Bananen, Kitsch und Kinkerlitzchen aller Art. Die Straßen sind voller Menschen – obwohl es so heiß ist, dass es zusätzlich zu den Dixi-Klos auch Duschkabinen geben müsste.

Wenn man die Augen zusammenkneift, kann man sich vorstellen, wieder auf einem der Basare zu sein, die es drüben in der Sandwelt überall gab. Andere Sprachen und andere Gerüche, aber dasselbe geschäftige Treiben, dieselben verstopften Straßen und Menschenmassen, viel zu viel von genau demselben.

Irgendwas folgt mir immer nach Hause. Eine Seifenschale, geformt wie eine Bärenkralle, Wandhaken wie heranlockende Finger, ein winziger Wombat aus Keramik. Ganz, ganz selten einmal findet etwas davon Verwendung. Das meiste bleibt, wo es landet, auf Tischplatten, Regalen, irgendwelchen Oberflächen. Ein paar Dinge führen ein Migrantenleben, ziehen von einem Ort zum anderen, bis sie nach einiger Zeit mit der Bevölkerung verschmelzen.