Saya - Auf der Suche nach dem Leben - Katja L. Schlegel - E-Book

Saya - Auf der Suche nach dem Leben E-Book

Katja L. Schlegel

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Beschreibung

Das Leben weiß manchmal nicht, was es tut. Das Leben hat keine Ahnung von sich selbst. Das Leben lebt manchmal vor sich hin. Das Leben ist, wie man so sagt, unerbittlich. Aus dem kleinen Radio auf dem Tisch schnulzte Robbie Williams - thoughts running through my head and I feel the love is dead - Und sie seufzte. Die Liebe ist tot. Nun denn. "Ungewöhnlich! Kurzgeschichten, die sich langsam zu einem Roman verbinden. Nach der ersten Hälfte war mir klar, warum es zumindest noch einen zweiten Band geben wird." (Carolin Ehmann, Hannover)

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Leben ist das, was passiert, wenn man gerade andere Pläne macht.

(John Lennon)

Inhaltsverzeichnis

Paul und Paula

Wann war das?

Kollberg will nach Tokio

Wenn er nicht will

Anderland

Lampenfieber

Sweatshirt

Das geschminkte Ich

Abwasch

Nachts klappt alles

Nachtschicht

Nachtisch

Idylle

Fußgängerampel

Ein fast normales Leben

Dancing Queen

Vielleicht …?

Was ist Liebe?

Fast forward to end

Versprochen

We4you

Über den Tod hinaus

Kein Tokio

Kitsch

Zukunft

Wolkenbruch

Denkpause

Vorurteile?

Warteschleife

Home Run

Und jetzt?

Schluss jetzt

Lumpia

Welches Leben?

Sommernachtstraum

Epilog?

Paul und Paula

Gerhard hatte eingeladen. Ihn speziell am Tag zuvor nochmals telefonisch mit Nachdruck. „Ich kann nur sagen, irgendwann muss auch mal Schluss sein.“ Nun versank Paul seit einer Stunde etwas steif wirkend, mild lächelnd und mit verschränkten Armen in einer übertrieben opulenten Sitzlandschaft in dessen Garten, fühlte sich nicht ganz wohl und schaute sich um. Sie waren alle gekommen. Bernd mit Freundin. Thorsten und seine Frau. Belinda mit ihrem neuen Freund. Antonia, die quirlige Italienerin, und Peter, ihr lieber, aber staubtrockener Gatte. Heike und Willi. Wegen ihrer symbiotischen Verbindung nur Haiwilli oder Willihai genannt. Je nachdem, wen man meinte. Beide nahmen es immer vollkommen gelassen hin. Des Weiteren Hildegard mit Anhang und sogar Gerhards Eltern. Natürlich auch seine Frau Helga. Die vier hatten untereinander einfach ein super Verhältnis.

An dem reichhaltig gefüllten Büfett – Gerhard kleckerte in solchen Fällen nie – stand neben den vieren eine weitere Frau. Mit einem Meter Abstand und ernstem Gesicht. Er schätzte sie mindestens zehn Jahre jünger. Also auf höchstens Anfang vierzig. Sie schien sich hinter ihrem Glas Wein, das sie vor ihr Gesicht hielt, zu verstecken. Offensichtlich genauso still und stumm wie er die ganze Zeit auf dem Sofa und genauso allein. Hatte sie etwa auch ein ähnliches Schicksal hinter sich? Paul kniff die Augen ein wenig zusammen. Mittellange brünette Haare. Kurzes T-Shirt-Kleidchen im Marinelook mit einem schmalen, farblich passenden Gürtel. Darunter eine dünne, dunkelblaue Leggins und frauliche Figur. Kein Hungerhaken. Hübsch anzusehen. Er musterte sie noch ein wenig, nickte anerkennend und sah dann zu den anderen. Schmunzelte doch und dachte: Ganz schön was los.

Trotz des warmen, ja fast heißen Wetters und seines daher angepassten Outfits fühlt er sich aber mit einem Mal für eine solche Darbietung nicht richtig gekleidet. Er überprüfte es mit hochgezogenen Augenbrauen. Die um ihn herum waren schicker. Die Männer hatten alle weiße Hemden und gute Hosen an. Er nur ein Poloshirt und eine kurze Hose. Ob Julia mir zu anderem geraten hätte, überlegte er und schloss die Augen. Nun aber nicht mehr möglich. Mehr als ein Jahr nach ihrem Tod.

„Was du schon wieder hast?! Entspann dich! Alles gut!“ Gerhard klopfte ihm auf den Rücken. „Du kennst sie doch?! Alles Geschäftsleute.“ Er konnte Gedanken lesen. Thorsten stand neben ihm und beugte sich mit einem Schmunzeln zu Paul hinunter.

„Na, altes Haus. Wie gehts … inzwischen?“

Paul richtete sich etwas auf, rückte auf dem viel zu tiefen Sofa etwas vor und schüttelte und nickte und wackelte gleichzeitig mit dem Kopf.

„Alles ganz in Ordnung. Die Erde dreht sich nach wie vor.“ Was sollte er auch sagen.

„Magst du was trinken? Du hast ja nix mehr.“

Hatte er überhaupt schon was gehabt?

„Ein Glas Wasser reicht. Aber ich kann auch selber.“

„Nee, schon gut. In meinem Alter braucht man Bewegung.“

Schon hatte sich Thorsten umgedreht und war unterwegs. Schob sich nicht besonders galant zwischen der Frau in Marineoptik und Gerhards Eltern hindurch, die ihm amüsiert hinterherschauten. Mit einem großen Glas Wasser und seinem wieder gefüllten Glas Wein kam er auf demselben Weg zurück. Er hatte vorher nicht einmal verwundert Nur Wasser? gefragt. Wahrscheinlich waren alle daran gewöhnt, dass er, Paul, ein Sonderling geworden war. Vielleicht war er es auch schon immer gewesen.

Thorsten setzte sich neben Paul.

„Find gut, dass du da bist.“ Das war nicht nur so dahergesagt. Er meinte es ernst. „Und ich find gut, dass du nicht so bescheuert rumläufst wie wir. Sind doch alles blöde Uniformen.“ Er lachte und schlug mit einer freien Hand auf seine dunkle und sicher nicht ganz billige Leinenhose.

„Ich dachte, das wär für so ein Gartenfest auch nicht nötig“, gab Paul zurück.

„Ist es auch nicht. Himmelherrgott, keine Ahnung, warum wir das dauernd so machen. Aber wenn wir schon nix im Kopp haben, haben wir wenigstens was an den Beinen. – Du bist noch bei RWE?“

„Klar. Wo soll ich auch hin? Neue Jobs, wie ihr in eurer Branche, find ich so leicht nicht. Aber ich bin ganz zufrieden.“

„Ist auch für uns im Moment nicht ganz leicht. Die Wechselspielchen von früher sind passé. Und das ist wiederum Jammern auf hohem Niveau. Ford wird aber auch nicht drum herumkommen, Stellen zu streichen. Die ganzen Krisen gehen an keinem spurlos vorbei. Aber noch bin ich sicher.“

Paul nickte. Wie so oft in der letzten Stunde – wenn sie ihm etwas erzählt hatten.

„Ich auch. Sicher, mein ich. Strom werden wir alle noch eine Weile brauchen, denke ich.“ Paul stellte fest, dass er die ganze Zeit die Frau am Büfett anschaute. Thorsten sah den Blick und erklärte:

„Du wirst nicht glauben, wie sie heißt. – Dreimal darfst du raten.“

Paul tat, als wenn er überlegte, und zuckte mit der Schulter.

„Fast so wie du. – Paula. Ist doch witzig, oder?“

„Ach.“

„Ist schon seit Jahren bei Rewe. Wie Gerhard. Macht da was im Einkauf. Jetzt hat er sie auch mal eingeladen.“

Paul war heute auf Nicken eingestellt. Dabei musste er nichts in Thorstens Erklärungen zustimmen. Sie schaute kurz zu ihm herüber. Vielleicht auch nicht zu ihm, sondern einfach nur um sich herum. Auf der Suche nach anderen Gesprächspartnerinnen. Ihre Augen glitzerten dabei im Sonnenlicht. Die Nase lang und gerade, wie mit einem Lineal gezogen und die Lippen wie die Wasserlinie am Niehler Strand am Rhein im Norden des Stadtzentrums von Köln. Wahrscheinlich kam er wegen ihres Marinekleidchens drauf. Jedenfalls mit einem nicht zu roten Lippenstift betont. Wie bei Julia früher. Die konnte sich auch so gut schminken. Im Gegensatz zu Belinda. Bei ihr konnten die Lippen nicht rot genug sein. Attacke und Abwehr in einem. Er drehte seinen Kopf zu ihr. Die saß gestikulierend drüben am langen Tisch. Jedes Hemd der Männer dort wäre anfällig für ihre vielleicht verrutschenden Lippen. Belinda mochte nämlich … herzliche Kontakte. Vielleicht hatten die Männer genau davor Angst und sie selten einen Freund.

„Ich besorg uns noch mal was zum Trinken“, unterbrach Thorsten seine Gedanken. Sein Glas tatsächlich schon wieder leer. Schon wuchtete er sich aus den Kissen. Paul war es recht. Wenn er die dafür nötige Turnübung sah, war das Sich-bedienen-Lassen keine schlechte Idee. Dieses Mal blieb Thorsten kurz neben dem Niehler Strand stehen, lachte ihr irgendwas zu, was Paul nicht verstand, und sie lachte zurück. Das sah nett aus. Ganz entspannt. Sie schien doch keine Probleme zu haben. Das Gespräch davor war an ihrem ernsten Gesichtsausdruck schuld. Das hättest du wohl gern, hörte er sie sagen. Eine klare, etwas tiefe Stimme. Vielleicht würde er sich beim Essen neben sie setzen.

„Die anderen haben schon den halben Kuchen verputzt“, stellte Thorsten nahezu beleidigt fest, reichte Paul das Glas und blieb stehen. Er sah zu dem langen Tisch hinüber. An dem saßen schon die meisten der anderen. Konnte auch nicht anders sein, denn außer dem Sofa gab es keine Sitzgelegenheit. „Und in dem Ding kannst du dich ja unter all den Kissen verstecken. Ich geh mal rüber.“

„Mach das. Ich komm dann gleich nach.“

Thorsten hakte sich bei Silvia, seiner Frau, ein und trabte los. Sein Schritt verriet die erste Wirkung des Weins und Silvia knuffte ihn deswegen in die Seite.

„Geh grade!“ Sie schlug ihm zwischen die Schulterblätter. Westdeutsche Partyidylle.

„Darf ich?“ Paula, der Niehler Strand. Paul grinste wegen der Assoziation und sah zu ihr hoch. Ihr Glas inzwischen irgendwo abgestellt. Ihre Hände nun auf dem Rücken verschränkt wie bei einem kleinen Mädchen, das kurz davor war, etwas anzustellen.

„Klar doch. Gerne.“

Paula setzte sich, vielmehr fiel neben ihm ins Sofa und damit in die Kissen hinein, fiel ein wenig nach hinten und die Beine flogen hoch. Das Kleidchen verrutschte etwas. Er hörte so was wie ein Jesses! und lachte. Er schielte zu ihr. Sie hatte schöne, feste Beine. Die Leggins waren tatsächlich dünn. Unter dem Trikot des Marinekleidchens zeichnete sich unscheinbar ein kleiner Bauch ab. Wie bei mir, dachte er. Es war das Einzige, worüber sich Julia manchmal amüsierte, amüsiert hatte, die Falte unter dem kleinen Bauch. Dabei trank er so gut wie kein Bier. Sport betrieb er auch nicht. Er fuhr nur ein wenig Rad. Von Rösrath zum Rhein. Berge nicht vorhanden. Und manchmal zum Niehler Strand. Er lachte und sie stimmte ein, heller als vorher gedacht.

„Meine Güte! Was ist das denn?“

Paul erwiderte immer noch grinsend: „Ich glaube, in dem Ding fehlt das Unterteil. Der Rost, oder wie das heißt. Jetzt sind nur noch das Gestell und die hunderttausend Kissen übrig. Wer hier sitzt, sollte keinen Hunger haben.“

„Oder jemanden kennen, der hilft, herauszukommen. Du bist dann sicher so nett, oder?“

„Kriegen wir hin.“

„Bei Thorsten hat das vorhin nicht so … plump ausgesehen.“ Erst jetzt zupfte Paula das Kleidchen zurecht.

„Der kennt das Ding. Der ist im Sommer fast jeden Abend hier. Gerhard und er kennen sich seit dem Kindergarten, und Helga und seine Frau, glaub ich, auch. Dann haben sie alle zusammen studiert und Gerhard ist zu Rewe und Thorsten zu Ford gegangen.“

„Prima. Jetzt weiß ich schon wieder mehr. Bei Rewe bin ich im Übrigen auch. Ich mach den Einkauf für Aktionsware. – Woher kennst du die zwei?“

„Ich liefer denen den Strom. Bin bei RWE.“ Paul schüttelte den Kopf. „Nein, wir, also Thorsten, Gerhard, Bernd, Heike und ich, waren zusammen in der Schule.“

„Warum sagt eigentlich jeder zu den beiden Heiwilli und Willihei?“

„Wohlgemerkt Hai mit A!“ Er reckte einen Zeigefinger in die Höhe. „Sie haben nämlich zusammen ein Finanzierungsbüro. Ich sag aber schon immer nur Heike und Willi.“

„Wo ist deine Frau?“ Paula schwenkte ihren Blick.

Thorsten oder Gerhard hatten also doch nicht alles erzählt. Oder Paula tat so, als wüsste sie von nichts. Für einen Small Talk keine schlechte Taktik. Er entschied, im Groben darauf einzugehen.

„Sie ist vor etwas mehr als einem Jahr gestorben.“

Mal sehen, ob sie nachfragen würde.

„Oh. Das tut mir leid. Darf ich fragen, warum?“

Ihr Kleidchen wieder zurechtgezuppelt, versuchte sie sich hinzusetzen und scheiterte.

„Sie hatte einen perforierten Darm. Erst an einer Stelle und nach einigen Wochen an immer mehr. Keiner wusste, warum. Keiner konnte dann mehr helfen. Alles war entzündet und ihre Bauchhöhle vergiftete sich langsam mehr und mehr. Die letzten zwei Wochen waren traumatisch. Nur noch Schmerzen. Lilly und ich standen vierundzwanzig Stunden neben ihrem Bett. – Bis zum Schluss.“

„Scheiße! – Das tut mir leid. Echt jetzt. So früh!“

Paula prustete. Paula seufzte. Paula zog die Nase hoch. Paula strich sich langsam durch ihre Haare – Übersprunghandlung, sie merkte es – und sah ihn mit aufeinandergepressten Lippen an. Das Thema war nichts für eine Gartenparty. Das Thema war aber Leben. Das Thema musste warten. Nicht lange. Nur ein wenig. Vielleicht half’s, ein bisschen abzulenken. Ein bisschen.

„Lilly?“

„Unsere Tochter. Eigentlich Liliane. Aber jeder sagt nur Lilly zu ihr. Wir fanden den Namen damals schön. Sie ist inzwischen sechsundzwanzig.“

„Dann bist du aber früh Vater geworden.“

„Nein. Warum? Ich bin schon dreiundfünfzig.“

Wenigstens saß sie jetzt endlich etwas senkrechter, der Trikotstoff hingegen nicht, der war vollkommen verschoben auf ihrem Körper. Sie sah an sich herunter. Fotoungeeignet, stellte sie fest. Die ganzen Falten über ihrem Bauch machten sie dick, weil die eigentlich schmalen blauen Streifen sich zu breiten blauen Balken zusammengeschoben hatten.

Sie hörte auf, den Stoff zu korrigieren, und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen ungläubig an.

„Dreiundfünfzig?! Ich dachte, du wärst jünger als ich. Ehrlich.“

„Na! Und das kann ja wohl nicht sein.“ Paul gluckste: „Zwischen uns liegen mindestens zehn Jahre.“

„Nee, sind nur fünf. Ich bin achtundvierzig.“

„Wow! Scheinbar haben wir uns beide gut gehalten.“ Pauls Lachen klang jetzt eher bemüht.

Fast hätte sie nach einer Hand von ihm gegriffen. Trotzdem: „Ich find’s schön, dass du hier bist. Da bin ich nicht die Einzige, die hier allein rumspringt.“

„Gerhard meinte gestern zu mir, irgendwann muss mal Schluss sein. Das mit meiner Trauer und Nachdenkerei.“

Paula sah auf ihre Hand und wieder zu ihm. In ihrem Blick Zustimmung – Gerhard hat doch recht, oder? – Verständnis – Kenn ich, plötzlich biste allein. Und eine große Portion Verwunderung – wegen Gerhard. Dann ein Schmunzeln.

„Manchmal ist er drollig. Zu mir hat er genau dasselbe gesagt. – Allerdings vorgestern schon.“

Paul stutzte. Und im selben Moment entfuhr ihnen beide ein Ach, sieh an. Ihr Schmunzeln verschwand, als er fragte: „Und warum zu Ihnen?“ Er korrigierte sich selbst mit einem tadelnden Gesichtsausdruck. Was war denn jetzt los? Sie duzten sich doch schon die ganze Zeit. Wo war er nur mit seinem Kopf? Ja, Gerhard hatte tatsächlich recht. Mal muss Schluss sein. „Blödsinn … ich meine natürlich … bei dir? Entschuldige!“

Paula starrte nach vorne. In das Gebüsch neben dem Haus. Hob beide Hände und legte den Kopf etwas in den Nacken und die Fingerspitzen jeweils an ihre linke und rechte Wange. Sie schien außer der Frage, die Frage, die irgendwann kommen musste, alles überhört zu haben. Erst atmete sie tief ein und nach zwei, drei Sekunden atmete sie mit einem Pusten wieder aus. Außer Gerhard wusste keiner von ihrem … Debakel. Paul verfolgte ihre Gestik.

„Ich hatte einen wirklich sehr lieben Mann. Ich kann mich nicht beschweren. Fast zwanzig Jahre waren wir zusammen. Klaus und ich. Okay, ein paar Sachen … du weißt sicher, was ich meine … sind dann nicht mehr so wie am Anfang. Eigentlich gar nicht mehr. Ist oder war dann auch nicht so schlimm. Klaus hat zu viel zu tun, da ist das nun mal so, dachte ich. Doch dann war er immer häufiger bei irgendwelchen Terminen und eines Morgens finde ich diesen Zettel in seiner Jeans. Freu mich auf heute Abend! Kim. Dahinter drei Herzchen. – Kim. Wie in einem dieser Filme. – Kim. Einiges jünger als ich. – Kim. So ein Name sagt doch alles?! Oder? Allein deshalb unverschämt gut aussehend. – Kim. Seine Ansprechpartnerin in einem befreundeten Unternehmen. An diesem Abend konnte ich ihn noch nicht zur Rede stellen, aber am nächsten legte ich ihm einfach den Zettel hin. Ich heulte und er lachte: ‚Wenn du fragst, warum, schau mal in den Spiegel, sexy kann man das ja nicht mehr nennen, oder?‘ Ich …“

Paula brach ab und ein kurzes Schluchzen kam hoch. Dann griff sie mit einer Hand doch zu ihm rüber, umfasste eine von ihm und schüttelte sie heftig auf und ab. Schüttelte ihre Wut auf den Satz – sexy kann man das ja nicht mehr nennen – aus sich heraus.

„Entschuldige! Das ist so was von unwichtig, wenn ich an dein Schicksal denke.“

„Stimmt. – Denn du bist hier und lebst! Das finde ich schön.“

„Danke dir! Und ja. Auch du hast recht. – Dennoch vermisst du sie … logischerweise.“

Paul atmete durch. Er wertete ihre Aussage als Feststellung. Also musste er nicht mehr mit Ja antworten.

„Man kann nichts und niemanden aus der Vergangenheit zurückholen. Vorbei ist nun mal vorbei. Aber die Erinnerungen bleiben. Wenn man das kapiert hat, können diese trösten. Deine leider sicher nicht. Dein Mann ist ein Idiot, kann ich da nur sagen. Manchmal wäre es in so einem Zusammenhang besser, wenn Erinnerungen sterben würden. Sollen wir mal rübergehen? Etwas essen? So tun, als wenn wir Hunger haben?“

„Ich muss nicht so tun.“ Paula klopfte sich mit der flachen Hand auf den Bauch. „Futtern kann ich immer. Sieht man doch?!“

„Ist vollkommen in Ordnung und bei mir nicht anders.“ Er zeigte auf seinen.

„Ich seh nix.“

„Ich bei dir auch nicht.“

Am Kopfende waren noch zwei Plätze frei. Über Eck. Nicht nebeneinander. Auch nicht schlecht. So könnte man sich beim Schwatzen in die Augen schauen.

„Guck, sie haben uns separiert“, stellte Paula mit einem Lächeln fest und zeigte auf den Stuhl an der Seite. „Darf ich?“ Sie mochte es nicht, an Kopfenden zu sitzen.

„Klar doch.“

„Die beiden haben sogar echte Tischdecken draufgetan“, bewunderte Paula den Stoff und fuhr mit einer Hand darüber. „Keine alten Laken.“

„Das passt zu Gerhard und Helga. Im Sommer machen sie immer so ein Gartenfest. Verständlicherweise war ich die letzten zwei nicht mit dabei. Sonst meistens. Und dann lassen sie sich nicht lumpen.“

„Ich darf zum ersten Mal.“

„Und sicher nicht zum letzten.“

Paul sah sie die ganze Zeit an. Studierte quasi ihr Gesicht. Rund, wenn es stimmte, was Zeitschriften in dieser Hinsicht von sich gaben. Und an den Stellen, an denen er glaubte, man könnte vergangenen Kummer erkennen, kleine Fältchen. Man sah nicht, dass sie sich schminkte. Obwohl sie es tat. Wenn auch nur ein wenig, aber gekonnt. Ihre Brauen akkurat gezupft über grünen, bislang manchmal ernsten, aber im Grunde genommen strahlenden Augen. Auf ihren Wangen etwas Rouge. Die Lippen tatsächlich wie die Wellenlinie an einem Ufer. Ihre Haare hatte sie auf der linken, also seiner Seite hinters Ohr gekämmt. Sie wollte seinen Blick. Genießen? Zulassen? Oder einfach, weil man sich so besser unterhalten konnte?

„Wenn wir was essen wollen, müssen wir rüber zum Büfett. Hätten wir vielleicht vorher machen sollen.“

Sie bemerkte seinen nahezu forschenden Blick. Gar nicht dem von Klaus ähnlich, der mit seinen zumeist süffisanten Blicken immer irgendeine Forderung verknüpfte. Zu Beginn waren diese noch mit Zärtlichkeiten verbunden, dann schlief das ein und er brauchte ein bestimmtes Hemd bis zum nächsten Tag gebügelt, wollte dies oder jenes zum Abendessen oder verbat sich am Ende ihre unbändige Neugier. Du hast dich früher ja auch nicht für meine Arbeit interessiert. Was soll das jetzt? Pauls Blick hatte eher etwas von längst vergangenen Zeiten. Sie hüstelte verlegen geworden und senkte ihren Blick, fühlte Wärme in ihr Gesicht fließen und war versucht, ihn an die Hand zu nehmen, um mit ihm zusammen das Büfett zu plündern. Auch das war mit Klaus das letzte Mal vor vielen Jahren, zu vielen Jahren. Gut, dass es vorbei war.

Stattdessen stand sie fast eilig auf und ging vor ihm an den Tisch mit den Salaten. Paul sah ihr hinterher. Ließ sich Zeit. Glitt mit seinen Augen an ihrem Rücken entlang. Durch die offene Terrassentür spülte leise Musik nach draußen. Wie ein warmer Wind. Softer Jazz. Der Typ – wie hieß er noch? Klaus? – war ein Idiot. Wie so viele Männer. Keine Ahnung, was die dazu bewog, sich dauernd mit … Frischfleisch zu brüsten. Sie, Paula, war jedenfalls nicht nur hübsch, sondern hatte auch was im Kopf. Eine ehrliche Haut mit Emotionen. Die versteckte sie nicht. Außer vielleicht am Anfang hinter dem Glas. Aber sie war ja vielleicht in einem ernsten Gespräch und auch das erste Mal hier.

„Da weiß man gar nicht, was man nehmen soll.“ Beinahe synchron und gleichermaßen unentschlossen studierten sie das Angebot. Paula nahm ein wenig Salat, Couscous und von den überbackenen Auberginen. Paul machte es ihr einfach nach. Büfetts bedeuteten eine Art Überforderung.

Zurück am Tisch waren die ersten Diskussionen im Gange. Bernd, schon immer der Philosoph, redete über die Unbill der Menschheit. Seit jeher ein Lieblingsthema von ihm. Schon in der Schule wünschte er sich das Ende dieser und brachte damit mindestens die halbe Lehrerschaft gegen sich auf. Aber den Luxus, den ihre Eltern aufgebaut haben, genießen Sie in vollen Zügen, Bernd! Behring, der Deutschlehrer, legte sich besonders gerne mit ihm an – und unterlag meistens. In Zügen! Genau! Wir haben kein Auto. Sie ’ne S-Klasse, Bernds lächelnde Standardantwort. Ein Auto hatte er bis heute nicht. Und dennoch machte er keinen besonders alternativen Eindruck. Was brauchst du in Köln ein Auto? Seine zweite Standardantwort. Jetzt erklärte er den anderen, was die Krux dieser Menschheit war.

„Weißt du, die Zeitspanne, die die Menschheit hier mittlerweile auf Erden ist, entspricht ungefähr der einer Arschbombe vom 10-Meter-Brett. Das Schwimm- oder Freibad dazu wurde irgendwann Anfang der 70er-Jahre im letzten Jahrtausend gebaut und wir sind von da oben etwa eins Komma vier Sekunden unterwegs und der Effekt des modernen Menschen in dieser Welt entspricht dem Klatscher, den unsere Arschbombe auf dem Wasser fabriziert. Eine Minute später ist von den ganzen Wellen, von der Zerstörung sozusagen, die wir auf der gesamten Oberfläche hinterlassen haben, so gut wie nichts mehr zu sehen. – Und das Schwimmbad gibt es danach sicher auch noch ’ne ganze Weile.“

Besser konnte man einerseits die Gewalt und Macht und Stärke der Natur nicht erklären, andererseits die Wirkung des Menschen, befand Paul und nickte mit einem Grinsen Bernd zu.

„Und diejenigen, die es alles besser hätten machen können, sind dauernd zerstritten. Somit leichter Fraß für die ganzen Populisten. Die klatschen in die Hände und machen ihre üblichen Sprüche. Die anderen haben einfach keinen Mumm, hinzustehen und dafür einzustehen, was sie meinen und vertreten wollen. – Bloß keine Fehler machen. Und alles wird halb gar. – So ein Quatsch! Die nächste Wahl bestraft sie dann.“

Bernd beugte sich vor, nahm sein Glas Bier und trank einen Schluck.

„Das nennt man Demokratie und Meinungsvielfalt“, meinte Haiwilli und zog die Brauen hoch.

„Und kurz vor der Ziellinie geht denen dann immer die Puste aus“, erwiderte nun Gerhards Vater. „Nee, ehrlich, du hast recht, Bernd. Ich sag auch immer: Man muss mal hinstehen, auf den Putz hauen, die Faust recken und Grenzen setzen, Schlussstriche ziehen, eine Linie nicht längs, sondern ganz dick quer zeichnen und dann ist Schluss an dieser. Ultimaten benennen. Ansonsten …“

„… kriegen die ganzen Unfähigen den Hosenboden versohlt. Oder?“, lachte Haiwilli.

„Bei diesem Putin reicht das leider nicht.“ Willihai.

„Die müssen alle weg! Alle Putins und Co. Ist ’ne verdammt lange Liste!“

„Und jetzt überfällt uns noch die KI-Schwemme. Kostet die einfachen Arbeitsplätze der sogenannten einfachen Leute“, ergänzte Bernd, voll in seinem Element. „Und die Lobby behauptet genau das Gegenteil.“

„Aber so schlecht ist das doch gar nicht?!“ Willi war nicht ganz einverstanden. „Die monotone Arbeit hätte ein Ende.“

„Ich sag ja, die monotone Arbeit machen die, die da drüben in den Hochhäusern wohnen. Welche Arbeit haben wir dann noch für die? – Wart mal ab, was die Großindustrie mit KI anstellt. Das geht in die Rüstung und der nächste Krieg wird unkontrollierbar. Und mich braucht man dann auch nicht mehr. ChatGPT wirds machen. – Egal, was dieser Automat auch ausspuckt. Erst neulich hab’ ich es ausprobiert und der Intelligenzling sagt mir etwas von einem Gorillakrieg zwischen der Ukraine und Russland, und nichts von einem Angriffskrieg, den Putin begonnen hat. Oder lügen doch unsere Politiker? Ich sag euch, das wird unkontrollierbar. Schlimm genug, dass Großindustrie und auch andere Konzerne, Greenpeace und Ähnliches und gleichzeitig die Populisten finanzieren.“

„Alles unter dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung.“ Das war Willihais Revier.

„Aber Gorillakrieg ist gut“, stimmte der Chor der Restlichen beinahe grölend am Tisch an.

„Aber in der Medizin kann sie überaus hilfreich sein. Denk nur an Hermann“, wendete Gerhards Mutter ein und zeigte auf seinen Vater. „Bei seiner Prostata-Operation vor vier Jahren war der Apparat sehr erfolgreich.“

„Das ist von Menschen begleitete und kontrollierte Robotik“, schränkte Bernd ein: „KI steuert Prozesse allein – und ist lernfähig. – Soweit man das von solchen Apparaten überhaupt behaupten kann. – So einer wie Data aus Star Trek Enterprise ist in meinen Augen nicht realistisch.“

„Aber die halbe Menschheit sitzt am Computer und spielt oder hängt überm Smartphone und kümmert sich einen Scheiß um Kompetenzen, während sie über den Zebrastreifen läuft und von der anderen Hälfte nichts mehr mitbekommt. Hauptsache sie erreichen – wie heißt das? – ihren Score.“ Helga, Gerhards Frau.

„Mitkriegen tut überhaupt niemand was“, meinte wieder Bernd, „die Lobbys arbeiten sauber. Sponsern Klimaaktivisten, weil sie so tun, als seien sie auf deren Seite, unterstützen die Politik in Friedensfragen und kassieren zum Dank dicke Aufträge und bauen Autos, die im Grunde genommen keiner wirklich braucht.“

„Eigentlich wäre es schön, wenn man Militär und Rüstung und all den Quatsch verbieten könnte, oder?“

„Und unter den acht Milliarden Menschen ist sicher einer, der dir dann zeigt, wie man ein Fleischermesser noch verwenden könnte, sag ich dir. Und alle um diesen Messerschwinger haben Angst und machen mit.“

„Ach es gibt ja so viele Themen“, meinte nun Hildegard, „neulich fetzten sich in einer Diskussionsrunde im Fernsehen ein Politiker und eine Klimaaktivistin. Ich weiß grad nicht mehr deren Namen, aber ich kannte beide nicht. Solche Diskussionen werden ja gerne durch das B-Personal bestritten, das darauf hofft, irgendwann irgendwie irgendeinen Erfolg zu haben. Sie hatte sich jedenfalls irgendwo mit ein paar Kompagnons auf eine Brücke geklebt. Der Typ beugte sich zu ihr und mit dem drohenden Ton eines Lehrers, der die kommende Versetzung infrage stellt, meinte er: ‚Was Sie da mit Ihren Protesten betreiben, ist im höchsten Grade dämlich – und das meine ich ganz gendergerecht. Kümmern Sie sich mal lieber um unsere und Ihre Hinterlassenschaften, die die Welt viel mehr belasten werden. Und das über die nächsten viele Jahrhunderte. Zum Beispiel den Kunststoff, auch als Plastik bekannt, aus dem zum Beispiel Ihre Brille besteht.‘“

Paula lachte auf und beugte sich kauend zu Paul.

„Was ist Bernd eigentlich von Beruf?“

„Was wohl?!“ Paul lachte leise in sich hinein. „Journalist beim Kölner Stadt-Anzeiger. Manchmal schreibt er auch für unser Stadtmagazin. Dann nennt er sich Sebastian Schreiber.“

Paula grinste.

„Passt irgendwie. Schlau ist er aber. – Irgendwie.“

„Er war schon in der Schule in allen möglichen Kreisen aktiv. Friedensbewegung, Philosophie-AG, Gebetskreis und auf der Uni im SDS.“

Mit einem Mal schaute sie, den Arm unterm Tisch, auf ihre Uhr, ließ das Besteck auf ihren mittlerweile leeren Teller fallen und stand unvermittelt auf.

„Oh, scheiße! Es ist schon halb zehn. Sorry! Ich muss zum Bahnhof. Gleich fährt der letzte Zug, dann ist unser Kaff von der Außenwelt abgehängt. Jetzt wäre Beamen nicht schlecht. Dann hätte ich noch Zeit.“ Es klang trotz eines Lächelns tatsächlich etwas verärgert. Doch Paul hörte in diesem Moment nur das Wort Unser. Gleichzeitig fiel ihm ein, dass sie die ganze Zeit über alles Mögliche, aber nicht darüber gesprochen hatten. Nun gut, ihren Mann hatte sie zum Teufel gejagt. Gut so. Geschah dem Typen recht. Trotzdem hinterließ so etwas Spuren. Und er hatte ihr von Julia und Lilly, ihrer Tochter, erzählt. Von dieser Scheißkrankheit. Nur als die blöden Emotionen hochkamen, brach er ab.

Bis dahin hatten sie beide ihre Berufe geschildert, danach von längst vergangenen Urlauben berichtet und, als würde dahinter irgendein unausgesprochener Wunsch stecken, gesagt, wo sie wohnten. Zusammen diskutierten sie bis jetzt mit den anderen über das Tagesgeschehen, kritisierten sie die aktuelle Politik und verbesserten daraufhin auf ihre Weise und ohne Streit die Welt. Aber nichts davon erklärte die aktuelle Situation. Vielleicht hatte sie inzwischen einen Freund. Einen neuen Lebenspartner, den sie noch verschwieg, nach allem, was sie ausgetauscht hatten. Es wäre ihr ja zu gönnen, auch wenn er deswegen eine kleine Enttäuschung in sich spürte. Auch weil er nicht nachgefragt hatte.

Er seufzte fast automatisch auf und dachte, aus welchem Grund auch immer, genauso automatisch an das kleine Zimmer am Ende des Flurs, das einen eigenen Eingang zum Hausgang besaß. Vor Jahren vom Architekten des Mehrfamilienhauses für jemanden in Untermiete geplant und gedacht und von Julia und ihm für Lilly eingerichtet, wenn sie mal auf Besuch war. Mal. Doch meistens stand es für Monate leer und ungenutzt. Selbst nach Julias Tod kam Lilly nicht viel öfter als vorher. „Papa, es ist alles scheiße, ich weiß. Aber wir haben sie beide begleitet. Fast ein Jahr lang. Wir haben uns beide verabschieden können. Ich habe einen Beruf, einen Freund, den ich bald heiraten werde, und daher inzwischen auch ein anderes Zuhause. Und du bist kein Pflegefall. Das Leben … unseres … geht doch weiter. Lass dich nicht hängen! Du bist dafür viel zu jung. – Ich komm mal wieder vorbei. Versprochen!“

Dieses Mal-wieder-Vorbei war bereits über drei Monate her. Das Bett war dafür längst frisch bezogen und das Zimmer zum dritten Mal geputzt. Monatlich ging er hinein, wischte Staub, saugte, sah nach dem Rechten und blätterte in manchen ihrer Bücher. Monatlich reichte aber für kein Blumengießen. Also gab es nicht einmal einen Kaktus auf dem Fensterbrett. Während er über all das nachdachte, hörte er sich sagen:

„Wir haben ein kleines Gästezimmer am Ende des Flurs. Sogar mit eigenem Eingang und eigener Toilette. Wenn du … also … ich hoffe, es klingt nicht aufdringlich oder so? Ja … nein … ich dachte … dann könntest du jetzt noch … wär irgendwie schade, wenn … und so spät ist es doch noch nicht … es ist ja nicht einmal richtig dunkel … um acht gibts meistens Frühstück. Da trinke ich jedenfalls meinen Kaffee.“

Er hörte sich stottern. Er fühlte, wie er rot wurde. Mann, was quasselte er? Und warum sagte er Wir? Alles egal. Wenn sie Nein sagen würde, wollte er fragen, ob er sie wenigstens zum Bahnhof fahren dürfte. Vielleicht könnte man sich mal treffen. Als müsste er seinen Vorschlag bekräftigen, traute er sich und strich eine kurze Sekunde ganz leicht über ihren Rücken.

„Ich hab’ mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten mit jemandem.“ Das musste er wenigstens noch sagen. Als Erklärung. Als unausgesprochenen Wunsch. Und wusste gleichzeitig nicht, was er sich wünschen wollte, würde oder könnte. Paula biss sich auf die Unterlippe. Kaute für wenige Sekunden auf ihr rum. Strich sich die Haare nach hinten. Begann zu lächeln und setzte sich ganz langsam wieder hin. Fast hätte sie den Stuhl verfehlt. Sie rückte ihn wieder zurecht. Wie ihre Haare, an denen es nichts zu korrigieren gab. Er fand, sie sah einfach nur hübsch aus. Dann holte sie tief Luft.

„Mit eigenem Eingang“, wiederholte sie bedächtig, als gelte es, genau die Sekunden dafür zu brauchen, den Zug zu verpassen. Paul nickte nur. Wie zuvor vom Sofa aus sah sie an ihm vorbei in das Gebüsch neben dem Haus. Von dort trug der laue Wind den Duft von Fräulein Maria, der buschigen und pink-rosa blühenden Duftrose, dem ganzen Stolz von Helga, zu ihnen herüber. Sie hob beide Hände und legte den Kopf etwas in den Nacken und die Fingerspitzen jeweils an ihre linke und rechte Wange.

„Und wenn ich jetzt Ja sage?“

„Würde ich mich freuen.“

„Ich werde dich auch nicht … ich geh dann, wenn ich wach … obwohl, ein Frühstück …“

„Ich sag ja, ich würde mich freuen.“

***

Plötzlich stand Paula in der Schlafzimmertür und lehnte sich mit einer Schulter gegen den Rahmen. Das Licht der Nachttischlampe glimmte gelblich auf dem eigentlich weißen Shirt und den kurzen Boxershorts, die er noch in Julias Sachen gefunden hatte. Ich könnte auch in meiner Unterwäsche …, meinte Paula, als er in einer Schublade zu kruschteln anfing. Ich glaube, Julia wär glücklich, wenn …, wieder blieb ein Satz nach seinem Wenn unvollendet.

Jetzt war es seltsam, komisch, ja im Grunde genommen lustig, wie sich Kleidung veränderte, wenn jemand anderes sie trug, ging ihm durch den Kopf. Mehr als die beiden Teile hatte Paula auch nicht an. Julias Sachen waren jedenfalls ein, zwei Größen zu klein. Paulas Brüste waren größer und die Shorts ein wenig eng. Trotzdem eine schöne Figur oder gerade deswegen, dachte er und glaubte, schon wieder rot zu werden. Seltsam und komisch auch, dass ihm das alles jetzt als Erstes aufgefallen war. Na ja, er war wohl immer noch Mann genug. Bernd wüsste sicher dazu eine Antwort. Etwas verschämt rollte er die Lippen ein und dachte an die restlichen Dinge von Julia, die er nur zum Teil beim Roten Kreuz, der AWO und bei einer Erdbebenhilfe abgegeben hatte.

Nahm er nämlich eines der Teile in die Hände, wusste er bei jedem, wann und wo sie es getragen hatte, in welchem Urlaub, auf welcher Wanderung, bei welcher Party und sofort spielte sich ein Film vor seinem inneren Auge ab. Prien am Chiemsee, der Wanderrock für ihre gemeinsame Gipfelbesteigung in den Alpen, der Bikini für Langeoog, der für die Playa de Son Bou auf Menorca, als Lilly noch jünger war, das Abendkleid für deren Abschlussball. Ab diesem Moment war er unfähig, weiter aufzuräumen. Unbewusst zuckte er zusammen. Aufräumen. Schon allein dieses Wort störte ihn, stieß ihm auf. Wie konnte man Erinnerungen aufräumen? Ein geteiltes Leben? Gemeinsam Erlebtes? Das alles gehörte doch zu einem Leben. Das alles machte es aus.

„Ich hab’ Licht gesehen“, meinte Paula und presste mit einem Lächeln die Lippen aufeinander. „Darf ich?“, fügte sie eine Sekunde später hinzu und deutete auf den Stuhl neben seinem Bett. Längst hatte er das Buch zur Seite gelegt. Neben sich auf den Boden. Jetzt nickte er. Wieder einmal. Ernst und langsam. Sein Kopf meldete keinen Einwand, keine Absicht, keine Vorstellung von dem, was nun folgen könnte.

„Was liest du gerade?“ Paula kam zu ihm herüber, setzte sich und versuchte den Titel, neben ihm auf dem Kopf liegend, zu erkennen. Das Cover dunkel, nur die Schrift des Titels blutrot.

„Ist nur ein Krimi.“

„Zum Müdewerden?“

Wieder nur ein Nicken von ihm. Würde sie jetzt fragen, von was der Krimi handelte, wäre er unfähig, etwas darüber zu sagen. Er sah auf das Buch, dann auf das Shirt, die Boxershorts und ihre Beine. Zwar dieselben Sachen, aber trotzdem alles ganz anders. Ganz anders als bei Julia. Glücklicherweise. Prompt fragte sie:

„Um was geht es?“

Er zuckte mit den Achseln und lachte.

„Mord und Totschlag. Wie immer. Und am Ende kriegt der Kommissar alle Verbrecher. – Vermute ich.“

Jetzt nickte sie und grinste. Wieder sein Blick. Alles andere als provozierend oder ungehörig oder gar obszön oder … jedenfalls spürte sie seinen Blick und ihrer streifte durch den Raum. Sonst hätte sie so was wie Ich hab’ doch lauter Dellen gesagt, als er ihre Beine betrachtete, oder Ich sag ja, essen kann ich immer. Ihr Bauch. Sie schnaufte und sah über ihm an die Wand. Nichts an dieser oder im Raum, was an seine verstorbene Frau erinnerte. Nicht mal ein Foto neben seinem Bett. Sie war sich sicher, dass er viele von Julias Dingen nur fortgeräumt und nicht weggegeben hatte. An seiner Stelle hätte sie es genauso getan. Die Schränke, die einst für zwei Menschen Platz für allerlei Krimskrams und Kleidung boten, waren nun eine Art Sammelalbum für ein Leben geworden. Aus solch einem entfernt man nur offensichtlich Wertloses und nach und nach den Überschuss, mit dem man nichts mehr verband.

Das Schlafzimmer wie die übrige Wohnung sauber, modern und dennoch gemütlich. Sie glich in vielem ihrer, allerdings viel kleineren. An der Wand über ihm also nur ein paar Bilder. Eher Gemälde. Eines davon mit einer Tänzerin in einem wehenden, schwarz-roten Kleid, die wohl einen Flamenco tanzte. Es passte nicht zu der Beschreibung seiner Frau. Zum Glück, schoss ihr durch den Kopf. Julia würde sie also nicht beobachten. Nicht beobachten können. Paula lächelte in sich hinein.

„Magst du eigentlich mal wieder in Urlaub gehen?“, wollte sie wissen und wusste nicht, warum. „Immerhin ist der letzte ja über zwei Jahre her.“

„Allein?“, fragte er gar nicht überrascht zurück und fügte nach einer Denksekunde hinzu: „Was mach ich in so einem … allein?“

„Am nächsten Sonntag will ich endlich mal auf den Drachenfels. Da war ich noch nie. Die Ruine und Aussicht sollen ganz toll sein. – Ich mag auch nicht allein. Hättest du Lust mitzukommen?“

Warum musste er sich jetzt räuspern? Er schüttelte deswegen den Kopf und nicht wegen ihres Vorschlags und schob sich zum Kopfende hoch. Das Kopfschütteln hatte sie sicher bemerkt und falsch gedeutet, deshalb nickte er und meinte sofort:

„Da war ich auch noch nie.“

„Von Rösrath fährt morgens um Viertel nach neun ein Zug, gleich anschließend ein Bus. Dann müssen wir nur noch ein Stück wandern. In ein bisschen mehr als einer Stunde sind wir oben. – Heißt es. – Ich darf dich abholen? Du liegst dann ja quasi auf dem Weg.“

Jetzt lachte sie und er brauchte zu lange, etwas zu erwidern. Auf dem Weg lag er nicht. Sie musste ja erst zu ihm nach Rösrath fahren. Schon fragte sie:

„Gilt das mit dem Frühstück um acht bei dir auch sonntags?“ Zwei stille Sekunden verstrichen und sie schob hinterher: „Dann könnte ich …“

Paula sah auf die Leuchtanzeige seines Weckers. Die Nacht war fortgeschritten. So sagt man wohl, wenn die Uhr halb zwei morgens anzeigte. Ab welcher Uhrzeit hatte man noch etwas von einer Nacht? Vielmehr von den restlichen wenigen Stunden bis zum Morgen? Bis zum Frühstück? Die letzten eineinhalb Stunden waren ohnehin ein Kuriosum. Ein schönes. Wie sie fand. Sie saß dünn bekleidet in einem fremden Schlafzimmer neben dem Bett eines nicht mehr allzu fremden Mannes. Ohne Erwartungen, Aufforderungen oder … das dritte fiel ihr nicht ein. Das dritte würde vielleicht auch nicht in diese Reihenfolge passen.

„Tschuldige! Du bist sicher müde und ich halte dich die ganze Zeit mit meinen Fragen vom Schlafen ab.“

Vernünftigerweise müsste er jetzt Ja sagen, nicken, ihre Aussage bestätigen. Aber … er lächelte und zog zugleich die Stirn kraus … was heißt jetzt vernünftigerweise? Es würde ja auch nicht stimmen.

„Entschuldige dich doch nicht immer! Und du hältst mich von gar nichts ab.“

Paula tat entspannt.

„Das ist schön. Seit der Sache mit Klaus hab’ ich noch mit keinem Mann so gequatscht wie mit dir.“ Eine Hand von ihr schwirrte über seinen Kopf hinweg. „Und schon gar nicht in dessen Schlafzimmer.“ Ihr Lachen hell, ehrlich und ganz unverkrampft. „Aber schön hast du es hier. Auch … Lillys Zimmer.“

Verdammt noch mal, sie waren wirklich keine kleinen Kinder mehr. Und Gerhard hatte einfach recht: Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Daher jetzt oder nie. Sie war sich sicher, keinen Fehler zu machen. Sie deutete auf das Bett neben Paul.

„Darf ich?“

Würde er Nein sagen, wäre es auch nicht schlimm. Gar nicht. An dem Sonntag wollte sie trotzdem festhalten. Vielleicht käme das Ja dann später. Paul sah sie an. Lächelte. Das konnte alles bedeuten. Es wäre nicht schlimm. Paul sah zu dem Bett. Es war leer. Vollkommen leer. Er kniff die Augen zusammen und sah weiter auf das Bett. Es blieb leer. Julia meldete sich auch nicht aus dem Off. Ihm fielen nur die letzten Sätze an ihrem Bett im Krankenhaus ein. An einem Dienstag vor etwas mehr als einem Jahr. Das Doofe ist, es tut überhaupt nicht weh, hauchte sie unerwartet klar, wenn es wenigstens wehtun würde. Und: Was machst du nächste Woche? Nächsten Monat? Nächstes Jahr? – Scheiße, erwiderte er. Längst in Tränen: Heulen wie jetzt und an jede Sekunde mit dir denken. Was sonst? – Sie griff nach einer Hand von ihm. Hielt sie fest. So fest wie ihre wenige Kraft es noch zuließ. Versprich mir, dass du nicht zu lange zurückschaust. Das bringt doch nichts. Dir nicht. Mir nicht. Lilly nicht. Mach was draus. Ich drück dir die Daumen. Dann brach sie ab, weil sie auch weinen musste. Logischerweise. Und weil sie müde war. Logischerweise. Minuten später schlief sie ein. Am nächsten Morgen wachte Julia nicht auf. Dabei wollte er ihr noch so viel sagen. Vor allem, dass er sie liebte. Auch in den folgenden Stunden kam sie nicht mehr zu sich und es blieb ungesagt. Ihr vergifteter Körper schaltete einfach langsam ab. Ihre Füße wurden kalt, dann die Hände, die Beine, die Arme. Er flüsterte es in ihr Ohr. Am werdenden Morgen des Donnerstags war auch ihr Gesicht kalt. Irgendwann kurz nach Mitternacht hatte sie aufgehört zu atmen und ihre Ruhe gefunden. Irgendwann muss mal Schluss sein. Auf ihrem Gesicht glaubte er ein Lächeln zu erkennen. Vielleicht hatte sie ihn doch noch gehört. Paul atmete tief ein, hielt die Luft an und meinte:

„Da liegt aber keine Decke.“

Gleichzeitig hob er seine an und Paula zog das Shirt aus, legte damit einen Teil von Julia auf den nun leeren Stuhl und sich auf die andere Seite neben Paul. Vorsichtig deckte er sie mit seiner Decke zu.

So gut es ging.

Und es ging sehr gut.

Wann war das?

Vom kleinen Parkplatz aus konnte ich ihn schon durch das Glas der automatischen Eingangstür sehen. Wie immer saß er in dem kleinen Eingang direkt dahinter. Ich schlug die Autotür zu, lächelte zu ihm hinüber und ging langsam los. Dann, vor ihm, winkte ich Ivana zu, einer der Pflegerinnen. Sie streckte den Daumen hoch und lachte. Ihm gings heute gut. Währenddessen versuchte Papa mit schwankendem Oberkörper mal links, mal rechts an mir vorbeizuschauen. Wie immer. Seine linke Hand auf dem Rad des Rollstuhls. So ließ er ihn leicht hin und her schwingen.

„Hallo Papa“, ich beugte mich hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Er sah hoch und schien zu überlegen. Seine Stirn in Falten.

„Hallo … Betty.“

Hallo und Betty etwas zeitversetzt. Trotzdem war ich ein wenig überrascht. Er hatte mich erkannt und wusste sogar meinen Namen. Meinen Kosenamen! Eigentlich heiße ich Bettina. Heute war wirklich ein guter Tag. An manchen anderen hieß ich Gerda, wie Mutti, oder Elsbeth, wie seine Schwester.

„Wo ist sie?“, fragte er mich und ich presste die Lippen aufeinander.

„Sie kann heute nicht“, log ich und strich ihm über den kahlen Kopf. Wie bei einem kleinen Kind. Er nickte nur, sah immer noch an mir vorbei, jetzt rechts, und brummte etwas. Derweil ging ich um den Rollstuhl herum, umfasste die Griffe, machte Ivana ein Zeichen, dass ich ihn nun mit hinausnehmen würde, und schob ihn sogleich vors Haus. Unsere übliche Runde zum kleinen Rosengarten nebenan begann. Dort gab es einen alten, romantisch zugewucherten Brunnen, den er sehr mochte. Jedes Mal deutete er still auf eine der üppig und wild blühenden Ranken, die sich aus dem Moos stemmten, aus dem wiederum ein verbeultes und eher nur noch tröpfelndes Rohr herausblinzelte.

Auf den Blüten und Blättern glitzerte heute das Sonnenlicht in den Wassertropfen. Das erste Mal seit Tagen. Die letzten saßen wir entweder hinter der Eingangstür und schauten hinaus in den Regen oder taten dies vom Aufenthaltsraum, in dem aber jeder Ton, jedes Wort so oft von den nackten Wänden zurückschallte, dass er mich kaum verstand. Hast du was gesagt? – Ja, Papa, ist aber nicht so wichtig. – Du musst lauter reden. Sag der da, die soll nicht immer dazwischenquatschen. Er zeigte dorthin, wo niemand saß.

Jetzt hörte man nur das leise Tropfen, etwas Vogelgezwitscher und ab und zu ein Auto hinter der Hecke vorbeifahren. Papa rutschte auf seinem Stuhl etwas nach vorne, beugte sich vor und wollte an einer Blüte, die dafür viel zu weit weg war, riechen. Ich nahm einen anderen Ast und hielt die Rose daran unter seine Nase.

„Die da riecht besser.“ Er zeigte auf die viel zu entfernte.

„Stimmt“, erwiderte ich, natürlich ohne es kontrolliert zu haben: „Was habt ihr heute schon gemacht?“

„Auf dich gewartet.“ Eine bessere Antwort auf eine recht dumme Frage konnte es nicht geben. Was tat man schon in einem Pflegeheim? Ein paar Fingerübungen, etwas singen, wenn möglich spielen, essen, in den Fernseher gucken und vor allem hinausschauen. Was in den Köpfen vorging, wusste zumeist keiner. Die wenigsten teilten sich mit. Papa war gottlob noch anders.

Manchmal.

„Nun bin ich ja da.“

„Aber sie nicht.“

„Vielleicht morgen.“

„Das sagst du immer.“

Heute jedoch war Papa wach. Ich hielt ihm noch mal die Rose unter die Nase und er winkte ab. Die andere hatte ihm besser gefallen.

„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“

„Das hab’ ich doch alles schon erzählt.“

Das klang mürrisch. Aber es stimmte. Doch wollte ich ihm nicht dauernd etwas vom Geschäft erzählen oder von daheim, wo ich seit einem halben Jahr ohnehin allein lebte, weil ich mich von Matthias, meinem Mann, getrennt hatte, was Papa nicht einmal wusste. Was gab es dann schon zu erzählen, ohne um irgendwas herumzueiern? Stefan und Maike wohnten inzwischen auch nicht mehr zu Hause, sondern in München und Berlin. Er studierte, sie war mit ihrem Freund zusammengezogen und wusste nach ihrer Lehre mit der Ausbildung noch nichts anzufangen. Seitdem war alles verändert. Seitdem hatte sich alles verändert. Und Matthias und ich unfähig, damit umzugehen. Ganz im Gegensatz zu meinen Eltern. Wir lebten uns auseinander, statt unsere neue Zweisamkeit zu genießen. Doch die alte schien schon viel zu abgeschliffen zu sein. Die Lust, nun miteinander etwas zu unternehmen, die Lust, endlich die Menschen, Orte und Veranstaltungen zu besuchen, was wir uns doch nur immer wieder vornahmen, und die Lust aufeinander war verflogen.

Wann wir das letzte Mal miteinander geschlafen haben, wusste ich schon lange nicht mehr. Es musste Jahre her sein, viele Jahre. Und seit mehr als einem Jahr war diese Lust gänzlich verschwunden, als ich von Sibille erfahren hatte. Danach versuchte ich zu retten, was zu retten war, zog eines Abends die Unterwäsche an, die er mir an meinem vierzigsten geschenkt hatte, und dachte an diesem Abend ihn in ihr, sie passte noch wie seinerzeit, zu verführen. Doch er schob meine Hand nur zur Seite, lächelte aufgesetzt und mit einem beinahe abfälligen Ton meinte er: „Lass es. Du weißt doch längst, dass das keinen Sinn mehr hat.“

Ich starrte ihn an. Sofort kamen Tränen hoch. Ich konnte sie nicht mehr verhindern. Dann stand ich auf, zog meinen Schlafanzug an und ging in Maikes Zimmer. In der Tür drehte ich mich noch einmal um.

„Dann zieh doch zu ihr.“

Was er vierzehn Tage später auch tat.

Jetzt beugte ich mich wieder zu Papa hinunter und forderte ihn mit einem „Also?!“ noch einmal auf.

„1959. – In einem Café am Kröpcke. – Sie arbeitete dort als Serviererin. – Ich war da noch Student und sie gerade mit der Schule fertig. – Ich glaube, sie wusste da noch nicht, was sie werden wollte. – Wie Maike, oder? Die weiß es ja auch noch nicht. Dabei hat sie einen so schönen Beruf gelernt. – Aber Gerda war hübsch. – Schwarzer langer Rock, weiße Bluse, dunkelgrüne Schürze. – Soweit ich weiß. Die langen, blonden Haare als Zopf. Wie die Bardot oder Monroe. So hieß die doch, oder? – Ich wusste sofort, dass ich sie heiraten würde. – Wo bleibt sie eigentlich?“

Sein Lächeln verschwand hinter einem nun entrüsteten und suchenden Blick. Er drehte sich dafür, so gut es ging, in seinem Rollstuhl um. Nun linksherum. Den Kopf mal nach links, mal nach rechts geneigt.

„Sie kann heute nicht. Vielleicht morgen“, antwortete ich vollkommen überrascht über seinen Redefluss. So hatte ich ihn schon lang nicht mehr erlebt. Sonst musste ich ihm die Sätze einzeln aus der Nase ziehen.

„Sie weiß doch, wo ich bin. Hat sie so viel zu tun? Hat das Café heute nicht Ruhetag?“

Ich schluckte.

„Die haben doch immer offen.“