Scar City - Shreyas Rajagopal - E-Book

Scar City E-Book

Shreyas Rajagopal

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Beschreibung

Eine Stadt, die alles bietet außer Heimat. Geld, das alles kaufen kann außer Hoffnung. Wo findest du Halt, wenn deine Welt zusammenbricht? In der neonerleuchteten, unbarmherzigen Megalopolis Bombay leben Rish und seine Freunde auf einer Insel aus Gold. Als Kinder reicher ltern schwimmen sie in Geld, ihre Kreditkarte kennt kein Limit und sie selbst auch nicht. Ihr Alltag besteht aus Partys, Shoppen und Sex, eine rastlose Suche nach Höhepunkten. Viele zieht es ins Ausland, auch Rish geht zum Studium nach New York. Doch jetzt ist er zurück in Bombay, spontan, mitten im Semester. Er ist nervös, labil, lebt noch exzessiver als früher. Weder Freunde noch Eltern kennen den wahren Grund: Rish gibt sich die Mitschuld am Selbstmord von Rahul, dem Bruder seines ältesten Freundes. Niemand weiß, dass Rish einer der Letzten war, der Rahul lebend gesehen hat. Jetzt fressen seine Schuldgefühle ihn auf. Dann wird auf einer Party seine beste Freundin vergewaltigt. Rish ist im freien Fall. Kann es Erlösung für ihn geben?

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Über das Buch

In der neonerleuchteten, unbarmherzigen Megalopolis Bombay leben Rish und seine Freunde auf einer Insel aus Gold. Als Kinder reicher Eltern schwimmen sie in Geld, ihre Kreditkarte kennt kein Limit und sie selbst auch nicht.

Ihr Alltag besteht aus Partys, Shoppen und Sex, eine rastlose Suche nach Höhepunkten. Viele zieht es ins Ausland, auch Rish geht zum Studium nach New York. Doch jetzt ist er zurück in Bombay, spontan, mitten im Semester. Er ist nervös, labil, lebt noch exzessiver als früher.

Weder Freunde noch Eltern kennen den wahren Grund: Rish gibt sich die Mitschuld am Selbstmord von Rahul, dem Bruder seines ältesten Freundes. Niemand weiß, dass Rish einer der Letzten war, der Rahul lebend gesehen hat. Jetzt fressen seine Schuldgefühle ihn auf. Dann wird auf einer Party seine beste Freundin vergewaltigt.

Rish ist im freien Fall. Kann es Erlösung für ihn geben?

Der Autor

Shreyas Rajagopal, Jahrgang 1986, lebt und arbeitet in Bombay. Er hat am namhaften St Xavier‘s College Bombay und dem Indian Institute of Management Calcutta studiert und ist im Finanzsektor tätig. Scar City ist sein erster Roman.

Shreyas Rajagopal

SCAR CITY

Roman

Aus dem Englischen

von Stefanie Jacobs und Simone Jakob

Ullstein

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Die indische Originalausgabe erschien 2014

unter dem Titel Saltwater bei Penguin India, Gurgaon.

ISBN 978-3-8437-0963-7

© 2014 by Shreyas Rajagopal

© der deutschsprachigen Ausgabe

2014 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung und Illustration: Cornelia Niere, München www.cornelianiere.de

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alles in diesem Buch ist wahr.Besonders die erfundenen Stellen.

I HOMECOMING

1

AUF DEM GEPÄCKBANDzwischen Koffern und Reise­taschen liegt eine einzelne rote Zahnbürste, und Rish findet, sie sieht einsam aus. Fast als ob sie sich verstecken, unwichtig werden wollte, damit keiner sie bemerkt. Sie kommt jetzt schon zum zweiten Mal vorbei, und er sieht zu, wie sie die Runde macht, dann fotografiert er sie mit dem iPhone. Seine Hände sind nicht ruhig, das Bild ist leicht verschwommen, und irgendwie wirkt die Zahnbürste dadurch noch einsamer und bedeutungsloser.

Rish steckt das Handy vorsichtig wieder in die Tasche seiner weißen Cordjacke. Es ist fast exakt dasselbe Weiß wie das seiner Gucci-Mokassins, und das ist kein Zufall. Seine Jeans sind dunkel und liegen sehr eng an, und er hat sie unten umgeschlagen, so dass sie knapp zwei Zentimeter oberhalb der Schuhe enden und den Blick auf seine Knöchel freigeben. Er hat keine Socken an. Er ist groß, schlank und hat eine leicht gebeugte Haltung.

Um seinen Hals hängen große gelbe Kopfhörer, und er trägt eine blaue Wayfarer-Sonnenbrille mit schwarzen Gläsern, auch hier im Gebäude. Er trägt sie schon seit zwei Tagen und hat sie nur abgenommen, als die Flughafen- und Einreise-Security darauf bestand. Das Kopfhörerkabel baumelt neben seinen Knien, nirgendwo eingestöpselt, und sein Gepäck liegt leicht ramponiert vor seinen Füßen.

Um ihn herum eine Menschenmenge, alles drängelt und schiebt, um Gepäck zu holen, weiterzureichen und auf bereitstehende Trolleys zu hieven. Es wird enger und enger, und jetzt streifen ihn fremde Ellbogen und Schultern, und die scharfe Kante eines grau-gelben Koffers mit einem Union-Jack-Aufkleber trifft ihn direkt unter der Kniescheibe. Sein Bein will einknicken, tut es dann aber doch nicht, fast als wäre es nicht der Mühe wert.

Der Kofferbesitzer in einem nichtssagenden grauen Straßenanzug murmelt eine halbherzige Entschuldigung, und Rish sieht nicht mal hin, als der Mann wieder aus seinem Leben schlurft, ohne je wirklich eingetreten zu sein.

Rish blendet den Schmerz aus – und denkt nicht an die 267 Passagiere, die gerade einen Achtzehn-Stunden-Flug hinter sich haben und einander schon wieder auf die Pelle rücken. Er denkt definitiv nicht daran, wo er herkommt, und in diesem Moment – wie in so vielen anderen – auch nicht daran, wo er hin will.

Auf der Flughafentoilette nimmt er die Sonnenbrille ab und wäscht sich das Gesicht. Die Wände sind aus bleichem grauem Granit, und von den sechs Leuchtröhren funktionieren nur vier, genug, um die Schatten noch grauer zu machen. So sehen U-Bahn-Stationen im Film noir aus, denkt Rish, und dann, als er sein Spiegelbild sieht: Dieses Licht macht mich blass.

Er sieht ein Gesicht mit dunklen Ringen um die Augen, die nur noch so groß sind wie kleine Mandeln. Das rechte Auge, das im fahlen Licht unruhig glänzt, ist von einem dunkleren Violett umrandet.

Seine Finger nähern sich dem Bluterguss und berühren ihn sanft, und die Augen in dem Gesicht zucken ein bisschen.

Aus dem Hahn läuft warmes Wasser, tröpfelt vielmehr, und es dauert 45 Sekunden, bis sich Rishs zusammengelegte Hände damit gefüllt haben. Er wirft es sich ins Gesicht, und es fühlt sich ekelhaft an, wie es ihm den Nacken hinunterläuft und sein T-Shirt durchweicht.

Rish öffnet die Augen: immer noch dasselbe Gesicht.

Auf dem Weg nach draußen bleibt er noch einmal am Gepäckband stehen, und als die rote Zahnbürste wieder vorbeikommt, hebt er sie auf und steckt sie in seine Jackentasche.

Rish sitzt vor dem Bombay Airport auf einem Plastikstuhl, die Füße auf seinen Taschen. Er trinkt Kaffee aus einem Styroporbecher, und auf dem freien Sitz neben ihm liegt ein Sandwich. Es ist heiß und stickig, und sein T-Shirt klebt ihm schweiß­getränkt am Rücken, obwohl sich seine Arme unter der Jacke seltsam kühl anfühlen. Er überlegt, ob er sie ausziehen soll, aber in den Taschen sind all seine Papiere, und dann müsste er aufpassen, dass sie nicht rausfallen, deshalb behält er sie an.

Einmal pro Minute nimmt Rish sein Handy aus der Tasche, um Divya anzurufen, lässt es sechs Mal klingeln und legt wieder auf. Nach zehn Minuten geht sie ran. »Oh mein Gott, Rish, es tut mir so leid! Ich hab eine halbe Ewigkeit gebraucht, um hier rauszukommen. Ich bin unterwegs, in fünf Minuten bin ich da.« Sie legt auf, bevor er überhaupt hallo sagen kann.

Der Kaffee ist nicht mehr heiß, und das Sandwich sieht labbrig aus.

Rish rutscht auf dem Sitz herum, versucht, eine bequeme Position zu finden, und bemerkt ein dumpfes Stechen in seiner Schulter. Sieht ganz so aus, als würde die Wirkung der Schmerztablette nachlassen – er sollte besser was essen, bevor er die nächste nimmt. Rish hat seit achtzehn Stunden nichts gegessen, er hasst den Flugzeugfraß.

Er beißt in das Sandwich, das genauso schmeckt, wie es aussieht, und lässt es neben dem halb vollen Kaffee auf dem Sitz liegen.

Er wartet weitere zwanzig Minuten, dann klingelt sein Handy und es ist Divya.

Divya steigt nicht aus, und Rish versucht, seine Taschen durch die hintere Tür des Honda City zu quetschen. Er braucht ziemlich lange, um das Gepäck einzuladen, und Divya sagt nichts, sondern sieht ihn nur durch ihre große, schwarze Chanel-Sonnenbrille an, die etwas zu mächtig ist für ihr Gesicht. Ihre Lippen heben sich feucht und schokoladenbraun von ­ihrer hellbraunen Haut ab, und als sie lächelt, blitzt nur ein schma­ler Streifen ihrer perfekten Zähne auf. Rish spürt, wie er einen Kloß im Hals bekommt, und schluckt unwillkürlich, und bevor er sich bremsen kann, lächelt er ein winziges bisschen. Ein breites Grinsen tritt auf Divyas Gesicht, und weil Rish plötzlich das Gefühl hat, es wäre heller geworden im Wagen, sieht er nach, ob ihm vielleicht die Sonnenbrille runtergerutscht ist.

»Rish, oh mein Gott, wie schön dich zu sehen!« Er beugt sich über die Sitze, um sie zu umarmen, aber es wird eine unbeholfene Geste, weil sein linkes Bein noch nicht im Wagen ist und sie den Gurt nicht gelöst hat. Nach der Umarmung lässt Rish sich gemächlich nieder und schließt die Tür. Danach dreht er sich zu ihr, widmet ihr seine volle Aufmerksamkeit und richtet dabei lächelnd seine Sonnenbrille.

»Hey, hey. Was ist los?«

»Ist echt schön, dich zu sehen … Ich hab mir schon Ge­danken gemacht, wo du steckst und wann du endlich zu­rückkommst – aber das ist jetzt schon ne ziemliche Über­raschung.«

Rish zuckt die Achseln und ringt sich ein Lächeln ab, aber er hört nur halb zu und guckt sie an. Die braune Haut ihrer Beine sieht in ihren beigefarbenen Shorts noch brauner aus, ihre Fußnägel sind pink lackiert, und er starrt sie an, aber sie guckt nur auf die Straße und redet weiter, ohne es zu merken. »Das war jetzt mehr als ein Jahr, du Arsch, ich dachte schon, du hättest mich total vergessen! Du rufst nie zurück, antwortest nie auf Nachrichten … Und dann fragst du aus heiterem Himmel, ob ich dich abholen kann, und ich denk nur so, dem ist wohl gar nichts peinlich …«

»Ja, okay, geschenkt … aber du hast mich eine Stunde warten lassen.«

»Du bist echt unglaublich. Kannst froh sein, dass ich überhaupt gekommen bin. Deine Eltern werden ja sooo überrascht sein! Ich würd echt gern ihr Gesicht sehen, wenn du da reinspazierst«, sagt sie, zieht beherzt links rüber auf die Highway-Auffahrt und stößt fast mit einem grauen Toyota zusammen, der mit quietschenden Bremsen ausweicht, und als der Fahrer wütend hupt, kichert sie.

»Ja, werden sie, wenn ich lebend ankomme.«

»Klappe«, sagt sie. »Ich fahr jetzt seit sechs Monaten …«

Rish dreht alle Düsen der Klimaanlage in seine Richtung und bekommt Gänsehaut an den Armen. »Bringst du mich bis nach Hause?«

»Nee, würd ich ja gern, aber ich hab doch diese Sache da im Hyatt. Kannst dir von dort aus ein Taxi nehmen. Ich dachte, wir trinken schnell einen Kaffee und bringen uns auf den neuesten Stand. In drei Tagen ist eine Hochzeit, und ich hab noch tausend Sachen zu erledigen.«

»Kaffee klingt gut«, sagt er, und dann, »cool, dass du mich abgeholt hast.«

Sie lächelt ihn mit ihren makellosen Zähnen an. Sie ist wie Sonnenschein, und auf einmal fühlt er sich viel besser.

Es war eine spontane und nicht gerade leichte Entscheidung gewesen, zurückzukommen, seine Eltern waren gerade unterwegs und beide Wagen in der Werkstatt. Es gab niemanden in der Stadt, bei dem er bleiben konnte, und er hatte vorhin am Flughafen einfach ein vertrautes Gesicht gebraucht.

War vielleicht nicht die schlechteste Idee.

Sie sitzen im Café des Hyatt, Divya organisiert dort gerade ein Event, zusammen mit ihrer Mutter, der bekanntesten Hochzeitsplanerin der Stadt. Sie erzählt Rish alles darüber, während er mit einem Schokomuffin spielt.

»Die Tulpen sind alle aus Amsterdam eingeflogen worden, und das Blumenarrangement für den Brauttisch ist von Armani und …«

»Die machen auch Blumen?«

»Ja, wusstest du das nicht? Jedenfalls war Mum an der Entscheidung beteiligt, was für Hochzeitsgeschenke an die Familie des Jungen gehen. Wahnsinn, du glaubst nicht, was sie für Geschenktüten zusammengestellt hat …«

Der Muffin auf seinem Teller hat obendrauf kleine Schokoladenstückchen, die in die Kruste eingebacken sind, und Rish hat schon drei davon rauspräparieren können. Seine Mission: alle rauszuholen, ohne dass der Muffin dabei kaputtgeht. Divya redet im Hintergrund weiter, aber er hat sie ausgeblendet und wirft ab und zu ein erstauntes, hinreichend ehrfürchtiges »Im Ernst?« oder »Wirklich?« ein, denn das Gespräch hat einen bestimmten Rhythmus, und wenn er ihrer Tonlage und Melodie folgt, weiß er genau, wann er etwas gelangweilte Ungläubigkeit einstreuen muss. Die Gabel hat das vierte Schokostückchen jetzt fast raus, aber es steckt tief drin und der Muffin ist an der Seite schon eingerissen, und er muss sich jetzt voll konzentrieren und merkt, dass er sich auf die Zunge beißt.

Ihr Blackberry klingelt laut. Der ganze Tisch vibriert. Jedenfalls hat das Geräusch Rish erschreckt, und ein winziges, reflexhaftes Zucken seiner Hand genügt, und das war’s mit dem Muffin.

Divya telefoniert mit ihrem Einkäufer in Thailand und pocht darauf, dass die Laternen exakt so orange sein müssen wie auf dem Muster, nicht rot und nicht gelb, und Rish sieht den abwesenden Blick in ihren Augen und wie sie sich beim Zuhören auf die Unterlippe beißt. Er guckt gelegentlich zu ihr rüber und spielt zum Spaß weiter mit seinem Kuchen, der jetzt in vier Teilen auf seinem Teller liegt.

Lass den Muffin. Lass das alles hier.

»Was ist mit deinem Auge passiert?«

Rish blickt auf, und sie sieht ihn an, das Telefonat ist vorbei, und er fragt sich, was er ihr antworten soll und ob es überhaupt eine Antwort gibt, die der Mühe wert ist. Sie hat die Ellbogen auf den Tisch gestützt, sich vorgebeugt und den Kopf schiefgelegt, so dass ihr der Pony in die Stirn fällt, und er sieht echte Besorgnis in ihrem Blick, während sie den Bluterguss mit zusammengekniffenen Augen begutachtet. Ihm stockt der Atem, und er will ihr alles erzählen, alles Gute, Schlechte und Hässliche, will das Treibgut offenbaren, das er zurückgelassen hat, und irgendwie gibt ihm das das Gefühl, dass alles gut wird.

Wieder klingelt ihr Handy, diesmal wie ein Hammer, der eine Scheibe zertrümmert, und es ist ein anderer Einkäufer aus Europa, der nicht wegen Laternen, sondern wegen Louis-Vuitton-Taschen anruft, und sie ist sauer, sagt, es wäre die vierte im Katalog gewesen, außerdem hätte sie doch Fotos von genau dieser Tasche gemailt und das wäre ja wohl total unprofessionell, und Rish stochert wieder und wieder mit der Gabel im Kuchen herum, und als auch dieses Telefonat vorbei ist, liegen auf dem Teller zu viele Muffinstücke, um sie zu zählen. Er sieht erwartungsvoll zu ihr hoch, aber ihr Gesichtsausdruck ist leer, und sie fragt: »Tschuldige, wo waren wir stehen geblieben?«

Der Moment ist vorbei, in Stücke zerrissen, und alles, was er ihr sagen wollte, ist in ihm vertrocknet.

Die Anrufe haben sie an die Arbeit erinnert, an To-do-Listen und schreiende Mütter mit Kontrollzwang, und es entsteht eine unangenehme Stille, sie tippt weiter auf ihrem Blackberry herum, sieht ihn gleichzeitig an und macht ab und zu verständnisvoll »m-hm«, obwohl er gar nichts gesagt hat.

Beim Bezahlen macht sie eine Bemerkung über die rote Zahnbürste, die vorn in der Tasche seines weißen Cord-Jacketts steckt. Er hat sie gefunden, sagt er, sie lag ganz allein auf dem Gepäckband, und er fand das komisch und hatte das Gefühl, sie ruft nach ihm.

Es ist das erste Mal, dass das, was er sagt, bei ihr ankommt, und sie beißt sich auf die Lippe und bemerkt: »Du bist echt ein komischer Typ.«

Rish sitzt in einem Taxi, nachdem er zwei große Wodka an der Hotelbar getrunken hat, wo er der einzige Gast war, und der Barkeeper, fit, glatzköpfig und hellhäutig, auch wenn seine Ohren abstanden wie die von Gandhi, war freundlich und still, so wie sie alle sein sollten.

Das sanfte Rauschen des Windes, der ihm durch die offenen Fenster ins Haar weht, dringt durch seine Kopfhörer, und er sieht, wie sich die Stadt vor ihm ausbreitet, während er über die Sea-Link-Brücke fährt, die neu ist, und dann auf die Worli Sea Face, die alt ist. Er fährt durch Straßen, in denen sich seit knapp hundert Jahren nichts verändert hat, das hat ihm sein Vater immer erzählt, und irgendwie ist das Alte ein Trost, fast so was wie eine Zuflucht; es sagt: Ich war hier, ich bin es noch und ich werde noch eine ganze Weile überdauern. In der Ferne gucken ein paar neue, glänzendere Wolkenkratzer raus, aber eigentlich sind sie nicht anders, nicht wirklich neu, denn Gebäude mögen sich verändern, aber die Familien bleiben, so viel weiß Rish, und er lächelt, streckt die Zunge zum Taxifenster raus und schmeckt die Stadt – die Träume, die Feuchtigkeit, alles vermischt sich im Geschmack des Meeres.

Den ganzen Heimweg hört er Smashing Pumpkins, und als er an der Wohnungstür ankommt, läuft »Bullet with Butterfly Wings« erst zwei Minuten, und er hört den Song erst zu Ende, bevor er klingelt. Eigentlich sollte er sich mehr freuen, zu Hause zu sein, denkt er, obwohl er schon lange nicht mehr so ruhig gewesen ist wie jetzt.

Rish hat keine Geschwister, und seit er das letzte Mal da war, hat das gesamte Hauspersonal gewechselt, die Polstermöbel sind nicht mehr dieselben, die Bilder an den Wänden vielleicht auch nicht, obwohl sie ihm bekannt vorkommen, und auf einmal ist er sich nicht mehr so sicher, ob sich überhaupt irgendwas verändert hat. Die Dienstboten sind aufgeregt und unsicher, als er kommt, und wollen alles richtig machen, aber er bittet nur um ein Glas Limonade. Nein, er will kein Abendessen. Er sieht auf die Uhr: Fast acht, das ist neun Uhr morgens Eastern Time, und er weiß, dass er versuchen muss zu schlafen.

Der Mix aus Wodka und Kaffee in seinem Magen fühlt sich an wie Batteriesäure. Zuletzt gegessen hat er, bevor er ins Flugzeug gestiegen ist, und er bittet schließlich doch um ein paar Sandwiches und Cornflakes.

Sein Zimmer ist noch dasselbe, und sein Poster von Alex Ross’ Batman glänzt ihn immer noch an. Neben seinem Bett liegen stapelweise Comics und DVDs – genau da, wo er sie liegen gelassen hat, und sein Zimmer ist sauber und nicht muffig. Irgendjemand muss gelüftet haben.

Es klopft an der Tür, und da steht eins der neuen Dienstmädchen, nach dessen Namen er nicht gefragt hat, mit dem Essen, und hinter ihr wartet Sandeep, einer der Familienchauffeure, mit dem Gepäck, das Rish vor der Wohnung stehengelassen hatte. Rish zeigt in die Ecke, wo er es hinstellen soll, und fragt sich, warum der Chauffeur überhaupt hier ist, wo die Wagen doch in der Reparatur sind, und ob er wohl mit dem Dienstmädchen gevögelt hat, und wenn ja, ob sie es auf seinem Bett treiben. Eher unwahrscheinlich. Nicht, wenn sie auch das große Schlafzimmer nehmen könnten, und dieser Gedanke beruhigt ihn ein wenig.

Er isst die Cornflakes und beißt ein paar Mal in ein Sandwich. Dann schaltet er die Klimaanlage aus und öffnet die Türen zu seinem Balkon mit Blick auf das Arabische Meer, legt sich hin und hört das ferne Dröhnen der Straße zur Hauptverkehrszeit, das sich mit dem Rauschen der Wellen mischt.

Nach ein paar Stunden unruhigem Schlaf steht er gegen elf Uhr abends wieder auf. Richtig erfrischt fühlt er sich zwar nicht, aber er weiß, dass noch mehr Schlaf schwierig wird. Er schaltet den PC in seinem Zimmer an, und während der hochfährt, überlegt er, ob er seine Ankunft ankündigen soll oder nicht.

Es ist sowieso egal, weil Divya es offenbar schon allen erzählt hat, denn auf Facebook fragen ihn eine Million fröhlicher, schöner Gesichter, wie es ihm geht und wann man sich trifft, und in seinem Kopf herrscht das reinste Chaos. Er versucht, ein paar Leuten zu antworten, hat dann aber mitten im Satz keine Lust mehr und sendet ihn trotzdem.

Er macht Liegestütze, bis seine Schulter, die vorher nur noch dumpf geschmerzt hat, vor Qualen explodiert. Er duscht heiß und überlegt dann, ob er noch rausgehen soll, aber er weiß nicht, mit wem er sich treffen soll oder mit wem er überhaupt richtig reden kann.

Er ruft Sunny an, aber der geht nicht ans Telefon.

Er ruft Lionel an, wartet, bis es zehnmal geklingelt hat, dann legt er auf und ruft noch einmal an. Er textet ihm, dass er wieder da ist, Drogen braucht und dass Lionel ihn so schnell wie möglich zurückrufen soll.

Plötzlich erschöpft von dieser geistigen Anstrengung, geht er wieder auf Facebook, klickt sich durch die Fotos von Freunden und stößt auf das Bild einer Aarti, die mal was von ihm wollte, aber da wollte er nicht. Auf den Bildern ist sie in Goa, hält Händchen mit einem Asif und trägt ein kurzes weißes Tank Top zu einem Jeansminirock, und ihr weicher flacher Bauch verhöhnt Rish in seiner jähen, verzweifelten Einsamkeit. Dieser Asif schielt ihr lüstern auf die Schulter, er ist dunkel und knochig und sieht irgendwie nach nichts aus, und Rish fängt an zu schwitzen und das Atmen fällt ihm schwer, denn auf einmal sieht er sie an seiner Seite, und das ärgert ihn, weil es ein schöneres Bild gewesen wäre.

Er klickt weiter zu den vielen anderen Bildern von all den Mädchen, ihren Freundinnen und den Freundinnen ihrer Freundinnen, und einige Fotos sehen aus, als wären sie in Goa im Cabana entstanden, in irgendeinem Laden in Puerto Rico, den er nicht kennt, in London, Dubai und Bombay und an so vielen Orten, deren Namen austauschbar und bedeutungslos sind. Die Mädchen sind hübsch, tragen kurze schwarze Kleider und haben glattes Haar, und bald ist er tief in Gedanken – verloren in Bildern von Nachtklubs, Stränden und Beinen, Beinen, Beinen, bis er ein bisschen hart wird, wenn auch nicht sehr, und als er überlegt, ob er was dagegen unternehmen soll, klingelt sein Handy, und es ist Lionel.

Lionel ist auf einer Party in Borivali und schafft es heute Abend nicht mehr in die Stadt, und ja, er hat Hasch, und nein, Koks hat er keins, aber er will sehen, was sich machen lässt, und sie können sich ja dann morgen Nachmittag treffen, es ist lange her und wie schön, dass Rish wieder im Lande ist.

Nachdem Rish aufgelegt hat, startet er Winamp und klickt auf Play, ohne zu gucken, welcher Song gerade geladen ist: Es ist »Creep« von Radiohead, und Thom Yorkes Stimme sagt ihm, er wäre so fucking special.

2

RISH SITZT IM Ambassador Hotel in Churchgate, und kurz vor dem Mittagessen wimmelt es hier nur so vor Studenten vom Jai Hind und HR und dem Xavier College, die alle die Uni schwänzen, oder vielleicht haben sie frei, aber ist auch egal.

Rish hat ein ausgeblichenes altes Air-Jordan-T-Shirt an, das er im Schrank gefunden hat, es fühlt sich leicht und kühl auf der Haut an, dazu trägt er dieselbe dunkelblaue Skinny-Jeans wie gestern, die für das Wetter in der Stadt zu warm und zu eng ist, und er beschließt, dass er unbedingt Shorts kaufen muss.

Neben Rish sitzt Nikhil. Obwohl er nervös ist, versucht er angestrengt, lässig und entspannt zu wirken, aber die Anspannung zeigt sich in seinen leicht zusammengekniffenen Augen und daran, wie er mit den Fingern auf die Knie trommelt. Er nickt zum Beat der gedämpften, Café-del-Mar-mäßigen Hintergrundmusik, aber man merkt, dass er ihn nicht spürt, weil seine Bewegungen leicht aus dem Takt sind.

Ihnen gegenüber sitzen Divya und Pooja. Pooja ist Divyas ABF, sie kennen sich schon seit einer Ewigkeit. Pooja und ­Nikhil sind mehr oder weniger zusammen, und das schon seit einer ganzen Weile, obwohl Rish weiß, dass Pooja dauernd mit anderen Typen rummacht. Rish ist sicher, dass Nikhil es zumindest ahnt, übermäßig diskret ist Pooja jedenfalls nicht.

Nikhil arbeitet im Teppich-Export-Geschäft seines Vaters oder so, und er ist älter, schon um die 25, und muss ungefähr 200 crore auf dem Konto haben, auch wenn man es ihm nicht ansieht. Pooja hat sich früher bergeweise Koks reingezogen und behauptet jetzt, sie wäre clean, was ihr aber keiner wirklich abnimmt.

Nikhil ist mit Pooja zusammen, weil sie deutlich heißer aussieht als er und sein Ticket in eine coolere, glamourösere Welt ist. Pooja ist mit Nikhil zusammen, weil er ihr jede Woche neue COACH-Handtaschen kauft und einmal im Monat mit ihr nach Dubai fliegt.

Nikhil ist stämmig und trägt ein beigefarbenes Armani-­Exchange-Hemd, das er in die enge hellblaue Jeans gesteckt hat, dazu seriöse braune Lederschuhe. Er hat eine Art Superkraft: Egal, wie viel Geld er für Klamotten ausgibt – und es ist obszön viel, das weiß Rish –, seine Sachen sehen immer aus, als hätte er sie vor irgendeinem Vorstadtbahnhof auf der Straße gekauft.

Die Mädchen reden über Flipflops, und Nikhil will von seinem neuen Audi erzählen, was man an der Art erkennt, wie er mit dem Schlüsselbund auf dem Tisch rumspielt, aber Rish vermeidet es, hinzusehen oder ihn darauf anzusprechen, obwohl sein Blick ständig auf die ineinander verschlungenen, im Licht funkelnden Stahlringe zu fallen droht. Stattdessen beobachtet Rish die Mädchen, und ihm fällt auf, wie ähnlich sie sich sehen und wie sie mit der Zeit immer mehr zu einer Person verschmelzen.

»Hast du was von Rohan gehört?« Nikhils Frage ist an Rish gerichtet, aber auch die Mädchen verstummen und starren ihn mit kaum verhohlener Neugier an, und Rish nickt, sagt »Ja …«, und alle warten auf mehr, aber er lehnt sich zurück und schaut zur Seite, und während Nikhil ihn immer noch ­ansieht, legt Pooja Divya die Hand auf den Arm, und sie versteht und entspannt sich, nur Nikhil kapiert es nicht, starrt ihn weiter an und fügt schließlich hinzu: »Und, was macht er so, Mann, wo steckt er?«

Dabei lächelt Nikhil so beiläufig, dass Rish ihn am liebsten schlagen, treten und seine dämliche Fresse in die Luft jagen möchte, und Pooja legt ihre Hand auf die von Nikhil, aber der begreift es immer noch nicht, und Rish murmelt schulterzuckend, »Keine Ahnung …«, und danach fühlt er sich, als hätte jemand ein Loch in ihn reingebohrt, alle Luft entweicht und der Kabinendruck fällt ab, und plötzlich ist es sehr laut im Café, das Lachen am Nachbartisch übertönt die Musik, und jetzt sieht Nikhil Pooja an, die frustriert den Kopf schüttelt, und obwohl Rish Divyas bohrenden Blick spürt, schaut er nicht auf.

Der September in Bombay ist mörderisch, Rish checkt den Wetterbericht auf dem Handy, 32 Grad bei 78 Prozent Luftfeuchtigkeit, und das zu wissen, macht es irgendwie noch schlimmer. Pooja verabschiedet sich von Nikhil, weil er am Nachmittag noch zur Arbeit muss, und sie umarmen sich ­verlegen, während Poojas Wagen vom Hoteldiener gebracht wird. Nikhils Audi ist nirgends zu sehen, und Pooja beklagt sich über die Hitze und hält die Hand über die Augen, obwohl sie ihre Prada-Sonnenbrille trägt. Nikhil, unter dessen Männertitten sich Schweißflecken bilden, sagt, sie könnten ruhig schon aufbrechen, und kurz darauf sind sie unterwegs, während Nikhil im Rückspiegel mit dem Hoteldiener diskutiert. Er tut Rish leid, auch wenn er erleichtert ist, dass er sich den Audi nicht ansehen musste.

Die Mädchen wollen sich im INOX den neuen Film mit Reese Witherspoon ansehen und fragen, ob das für Rish okay ist, und er hat nichts dagegen – ganz egal, Hauptsache raus aus dieser Bullenhitze. Er lehnt sich im Sitz zurück, sieht die Palmen an sich vorbeirasen und hat das Gefühl, sie müssten jeden Moment explodieren wie in diesem Usher-Video …

Händchenhaltend betreten Rish und Divya das INOX am Nariman Point, Pooja geht telefonierend voran. Das Multiplexkino liegt in einem Einkaufszentrum im Finanzdistrikt, und mittags wimmelt es hier nur so von Bankern in Hemd, Krawatte und Anzug, und alle checken im Vorbeigehen verstohlen die Mädchen ab, was Rish ein ziemlich gutes Gefühl gibt, auch wenn er immer noch irritiert ist, dass Divya an der Tür seine Hand genommen hat.

Er hat keine Ahnung, was er davon halten soll, denn Divya ist immer noch mit Jay zusammen, der in Berkeley studiert, und es scheint was Ernstes zu sein, weil sie immer noch mit Jays Eltern zu Abend isst und mit seiner Mom zum Einkaufen geht. Ihre Hand fühlt sich kühl und klamm an, und dass sie ihn plötzlich einfach loslässt, macht die Sache nicht leichter.

Rish reißt seine Karte selbst ab, gibt den Mädchen ihre und entschuldigt sich mit »Ich muss mir die Nase pudern«. Sie starren ihn bloß an, und er geht einfach.

An der Theke kauft Rish eine große Cola, in der Hoffnung, seinen Magen zu beruhigen, als er ein bekanntes Gesicht in der Lobby entdeckt; es könnte Aman vom Jai Hind sein. Aman trägt ein zu enges Manchester-United-Shirt in XXXL und schmutzig-braune Cargoshorts. Als er Rish bemerkt, winkt er ihm zu und watschelt zu ihm rüber. »Hey, Rohan, was geht? Seit wann bist du aus Delhi zurück, Mann?« Er nuschelt ziemlich. Als Rish den Namen hört, zuckt er zusammen, aber er ist nicht in der Stimmung, Aman zu korrigieren.

»Ich bin erst seit ein paar Tagen wieder da, weißt ja, wie das ist …«

»Ich hab das mit deinem Bruder gehört, ­alles in Ordnung?« Er klingt wie ein schlechter Brando-Imitator.

»Ja, schlimme Sache. Ich will nicht darüber reden.«

»Kann ich verstehen. Hast du Lust, was zu rauchen? Mein Film ist furchtbar.«

Sie steigen über eine Feuerleiter auf das Dach des Multiplex-Kinos. Die Sonne ist brutal, aber sie finden ein schattiges Plätzchen unter einem Wassertank und Aman zündet einen Joint an. »Manali triple breed, mein Freund … das geilste Zeug überhaupt!«, lispelt er durch eine Wolke dicken bläulichen Rauch. Rish nickt, aber seine Augen sind auf die Glastürme von Nariman Point gerichtet, die in der grellen Sonne aufblitzen. Man hört die gedämpften, schwachen Geräusche des Nachmittagsverkehrs, und auf den Gehsteigen unter ihm drängen sich die Banker von vorhin, die sich jetzt beeilen, um in ihren Bienenstock zurückzukommen.

Aman reicht ihm den Joint, fett und unförmig wie Aman selbst, und er brennt schlecht und kratzt im Hals. Der Stoff ist okay, wobei er einen leicht metallischen Nachgeschmack hat, den Rish nicht einordnen kann.

Die Welt wird langsamer.

Aman sieht schweigend zum Himmel auf, und da er keine Anstalten macht, den Joint zu nehmen, raucht Rish eine Weile weiter, ehe er ihn zurückgibt.

Aman nimmt einen Zug, dann verzieht er das Gesicht, reicht Rish die Tüte und bedeutet ihm, dass er genug hat.

Das kommt Rish zwar seltsam vor, aber was kümmert’s ihn – er nimmt einen tiefen Zug. Der Nachgeschmack ist diesmal deutlicher – beißend, metallisch und grässlich vertraut.

Blut.

Das schmeckt nach Blut, verdammte Scheiße.

Rish nimmt den Joint aus dem Mund und entdeckt vorn am Rand einen dunkelroten Fleck.

Der Wichser hat mich mit irgendwas angesteckt!

Geschockt starrt Rish Aman an, den Joint immer noch in der Hand, doch der grinst nur und spuckt einen blutroten Eiswürfel aus, der zischend auf dem nackten Betonboden landet.

»Es hat angefangen zu bluten, ich brauchte dringend Eis und ne Tüte.« Er nuschelt jetzt gar nicht mehr so stark.

»Guck mal, hab ich mir vorhin selbst gemacht, tut unglaublich weh.« Aman öffnet den Mund, und in seiner dicken, geschwollenen Zunge steckt eine Mini-Harpune. Aus der Wunde sickert ein dünnes Rinnsal Blut.

Rish wirft den Joint weg, schafft es gerade noch zur Brüstung und kotzt sich in den gähnenden Abgrund die Seele aus dem Leib.

Mit brummendem Schädel tritt Rish in die angenehme Kühle des Kinos. Der Film hat schon angefangen, und er findet seinen Platz im Dunkeln. Divya sitzt außen, so dass für ihn nur der Platz neben Pooja bleibt. Sein Herzschlag dröhnt wie ein Ghettoblaster, und sein Kopf ist kurz vor dem Explodieren.

Als er sich setzt, legt Pooja seinen Arm um ihre Schultern und schmiegt den Kopf an seine Brust. Seine Finger streifen ihre Brüste, was sie anscheinend nicht stört, also lässt er sie dort, und nach etwa fünf Minuten nimmt sie seine Hand und legt sie mit der Handfläche auf ihren Körper.

Wie sie sich anfühlt, das Hasch und Amans schwarzes, blutendes Gesicht, das alles stürzt auf ihn ein, während er mit einem Gefühl der Leere ins Nichts starrt.

3

»DISKRETION, DAS IST das A und O in diesem Business.«

Lionels Stimme strotzt nur so vor falschen Betonungen, wie ein schlecht vorgetragener Monolog beim Vorsprechen. Als hätte jemand alle Emotionen aus seinen Worten entfernt und sie wahllos wieder eingefügt.

»Wenn man einfach mit jedem Geschäfte macht, wird man nicht respektiert.«

Rish nickt stumm mit einem sehr ernsten Ausdruck auf dem Gesicht, denn er glaubt, dass das der Anfang eines todernsten Gesprächs ist. Zumindest so ernst, wie bekiffte Unterhaltungen sein können – das nackte Skelett der Welt, in der sie leben, ihres prallen Fleisches und der glatten Haut beraubt. Beraubt vom Rauch. Befreit vom THC. Plötzlich kriegt man den Röntgenblick – man sieht die Dinge, wie sie wirklich sind. Man sieht die gelben, spröden Knochen im Inneren, selbst wenn die Haut darüber noch makellos ist.

Man wird weise.

Drei Züge, und man ist ein Guru.

Rish will aussteigen, abhauen und nie wieder das hohle Gelaber eines scheiß Dealers über sich ergehen lassen müssen. Du hast gewusst, worauf du dich einlässt, denkt er, und Selbstbetrug war noch nie dein Ding. Du kanntest den Preis, jetzt zahl ihn.

Sie sitzen in Lionels Wagen – ein heruntergekommener Maruti Zen, dessen Klimaanlage nicht funktioniert und in dessen Armaturenbrett ein riesiges Loch klafft, wo das Radio sein müsste. Sie fahren im Kreis durch Colaba, und Lionel schlängelt sich träge durch den Verkehr und biegt wahllos ab, während Rish einen Joint baut, den er eigentlich nicht rauchen will, aber das gehört eben dazu, und nicht zum ersten Mal wünscht sich Rish, er hätte mehr Durchsetzungsvermögen. Aber für einen Dealer ist Lionel ganz okay, sein Stoff vom Feinsten, und die Gespräche und das gemeinschaftliche Kiffen sind eben Teil des Deals.

»Außerdem hab ich den besten Shit, Alter. Mir geht es nicht ums Geld, ich verkaufe nur an Freunde, die es zu schätzen wissen, weißt du.«

Rish nickt, er kennt die Mischung aus Bullshit und Ernst, die sich gerade zusammenbraut. Er ist daran gewöhnt, aber er hasst sie trotzdem. Zu viele Leute in dieser Stadt bescheißen sich selbst und glauben, es würde irgendwen interessieren.

Er kennt Lionel zwar noch nicht lange, aber es ist nicht schwer, seine Herkunft zu erraten.

Lionel ist in Bandra aufgewachsen, hatte wahrscheinlich einen Cousin, der es zu bescheidenem Ruhm gebracht hat. Vielleicht als Tattookünstler oder Starfriseur, und der 14-jährige Lionel hängt nach der Schule im Laden rum und spricht mit all den hübschen Mädchen und Jungs mit Cornrows. Wie so viele Millenium-Kids in Bandra hält er sich für einen Schwarzen, hört in der High School nichts als Snoop und Tupac und hat ein Westside-Tattoo auf der Schulter. Später dann schwänzt er an den meisten Tagen die Uni, hängt im Laden rum und trägt Basketball-Shirts und FUBU-Jeans, die sein Bruder aus Maskat mitgebracht hat.

Seine Eltern sind in Rente und relaxt – sie haben Lionel erst spät bekommen. Sie haben in ihrem eigenen Haus in der Hill Road gewohnt, als es noch eine vergleichsweise ruhige, katholische Wohngegend war, bis die Pandschabi- und Sindhi-Geschäftsmänner kamen und anfingen, die schmucken Bungalows abzureißen und durch Stahl-und-Glas-Monstrositäten zu ersetzen – Doppelhäuser mit fünf Schlafzimmern und Aufzügen, die ihre Wagen bis ins Wohnzimmer heben.

Sie haben wahrscheinlich verkauft, als die Gelegenheit günstig war, und sind in eine Wohnung in Malad oder Goregaon gezogen. Sie hatten genug Kohle, um bequem davon zu leben, und vielleicht weiß Lionel das und glaubt, es reicht auch für ihn. Er wohnt noch zu Hause und arbeitet als Toninge­nieur oder Grafikdesigner in irgendeinem Postproduktionsstudio beim Film oder Fernsehen, und sie glauben, das erklärt seine neuen Handys und seine unregelmäßigen Arbeitszeiten.

Rish weiß zwar nicht genau, was Lionel als Dealer verdient, aber allzu viel dürfte es nicht sein, weil er nur mit weichen Sachen dealt – hauptsächlich Hasch und LSD. Er ist zwar teuer, aber zuverlässig, und seine Ware ist nicht gestreckt. Ziemlich wichtig in dieser Stadt, wo es normal ist, dass man alles Mög­liche unter den Stoff mischt – von Gummistücken über Waschmittel und Fußbodenreiniger bis hin zu Schuhputzcreme und Henna –, so dass das schwer verunreinigte, passend benannte »Bombay Black« entsteht, das an jeder Straßenecke vertickt wird. Es ist hart, brüchig und riecht ein bisschen nach verbrannter Plastikfolie, wenn man es raucht, aber es erfüllt seinen Zweck. Danach ist man zugedröhnt bis in die Haarspitzen. Am Morgen danach fühlt sich der Hals an, als hätte man mit Nadeln gegurgelt.

Rish ist ein Kenner, und die zwei Riesen für eine Tüte und die ernsten Gespräche sind es ihm wert – er muss sich nur daran erinnern, das große Ganze zu sehen.

Es wird dunkel, der Verkehr lässt nach, und sie fahren am Gateway of India und dem Taj Mahal vorbei auf den Radio Club zu, wo nur wenige Ausländer unterwegs sind, denn bis zur Touristensaison ist es noch zwei Monate hin. Grauhaarige, bärtige Männer in Khakishorts und Blondinen in farbenfrohen Salmar-Kawiz-Gewändern flanieren Hand in Hand und machen Fotos von den Fähren, die aneinandergebunden und mit blauen, grünen und weißen Lichtern geschmückt sind wie ein in die Bucht gestürzter Weihnachtsbaum. Das Taj Mahal Palace Hotel, nach den Anschlägen vom November 2008 fertig renoviert und wiedereröffnet, wird häufiger fotografiert als der Gateway. Das Taj Mahal Palace in Colaba und das Trident Oberoi Hotel am Marine Drive sind heute berühmt und die neuesten Must-See-Locations der Stadt – so was nennt man »Terrortourismus«.

Fragen Sie Ihren Reiseleiter, und er beschreibt bis in die grausigen Einzelheiten die Vorgehensweise der Terroristen, welches Restaurant zuerst angegriffen wurde, wo die Bomben detoniert sind, wie viele Leute dabei draufgegangen sind. Sie sind Amerikaner, Sir? Hier sind besonders viele Amerikaner gestorben … vielleicht geben Sie ihm ein Extra-Trinkgeld.

Sie sind jetzt in der Gasse hinter dem Radio Club und parken in der Nähe des Meers. Lionel kriegt jetzt endlich die richtigen Vibes, und sie rauchen wortlos. Rish beobachtet durch das Fenster ein paar taporis, die in ein Gespräch mit einem Araber vertieft sind, und fragt sich flüchtig, worüber sie wohl verhandeln – Drogen, Mädchen, Jungen …

Willkommen in Colaba, Baby, egal, worauf du stehst, hier findest du es.

Das sind die Straßen aus »Shantaram«, in denen man Junkies und Dealer aus hundert verschiedenen Ländern trifft, in den winzigen Zimmern vierstöckiger Hotels, in deren Lobbys es von osteuropäischen Prostituierten wimmelt. Du hast sie schon mal gesehen – es sind die weißhäutigen Blondinen in paillettenbesetzten Hotpants, die in deinem Lieblings-Bollywood-Streifen im Hintergrund tanzen. Aber das ist nur ein Nebenjob – ein finanzieller Grundstock, der sich gut im Antrag fürs Arbeitsvisum macht. Vielleicht geht irgendwo im tiefsten, finstersten Winkel der Stadt gerade jemand ans Telefon und sagt – »Ja, Sir, die Dritte von links hat für Sie Zeit.« Und vielleicht sind diese Filme ja auch bloß Werbung. Ein Angebotsportfolio.

Diese und andere Dinge gehen Rish durch den Kopf.

Dann denkt er daran, warum er die Stadt verlassen hat, und es kommt ihm vor, als wäre er nie wirklich weg gewesen.

4

ALS RISH REINKOMMT, brennt im Wohnzimmer noch Licht, und er bleibt an der Tür stehen und sieht, dass seine Mutter auf der Couch sitzt und auf ihn wartet, was ihn überrascht, weil er sie nicht vor dem Wochenende zurückerwartet hat. Sie ist tief in Gedanken, und es dauert eine Weile, bis sie merkt, dass er vor ihr steht, aber dann breitet sich ein sanftes Lächeln auf ihrem Gesicht aus, immer weiter und weiter – bis es über die Grenzen ihres Gesichts hinauszureichen scheint.

Sie hat ihn ein ganzes Jahr nicht gesehen.

Rish geht zu ihr, und sie steht auf, um ihn an sich zu drücken, und die fünf Sekunden, die die Umarmung dauert, kann er nur an eins denken: Kann sie die Drogen an mir riechen? Anscheinend nicht, oder sie will jetzt nicht darüber reden. Er lässt sie zuerst los, und sie nimmt sein Gesicht in beide Hände und sieht sich ihren Sohn genau an – dann entdeckt sie sein blaues Auge, und ihr Lächeln schwindet.

»Was ist mit deinem Auge passiert? Hast du dich etwa …«

»Nein, Ma, ich bin ausgerutscht und gegen die Kante vom Küchenschrank gefallen.«

»Oh, warst du damit beim Arzt? Wenn du willst, rufe ich Dr. Mehta an.«

»Schon okay, Ma, es ist fast Mitternacht. Mir geht’s gut. Und dir? Gute Reise gehabt?«

»Das Übliche, wir mussten überstürzt zurückfliegen. Deinem Vater ist irgendwas Wichtiges dazwischengekommen – er ist vom Flughafen direkt ins Büro gefahren und ist erst spät zu Hause. Wir haben versucht, dich anzurufen, konnten dich aber nicht erreichen. Er will sich morgen mit dir zum Mittagessen treffen«, sagt sie und scheint mit jedem Satz zu schrumpfen, und ihr Lächeln versickert in ihrem höflichen Gesicht – ihre Lippen sind leicht nach oben gebogen, die Augen offen, als wäre sie amüsiert, aber es liegt kein Strahlen darin. Rish hört ihr zu, aber er registriert nur: Sie sind nicht wegen mir zurückgekommen.

Sie sitzen zusammen im Wohnzimmer und machen Smalltalk, sie fragt ihn über die Uni aus, und er muss eine komplizierte Notlüge über Erdkundekurse, neue Freunde und einen Job in der Campus-Bibliothek erfinden, bis das Dienstmädchen reinkommt und Rish fragt, ob sie ihm etwas zu essen bringen soll. Er möchte Chocos, aber sie weiß nicht, was das ist und ob sie welche im Haus haben, also bittet er stattdessen um Cornflakes. Ja, aufs Zimmer bitte.

»Musst du denn wirklich arbeiten? Wenn du Geld brauchst … Ich könnte mit deinem Vater reden.«

»Nein, Ma, alles okay.«

»Nicht, dass es dich am Lernen hindert, Rishi, das wollen wir nicht.«

»Nein.« Er unterbricht sie, und obwohl er nicht laut wird und seine Stimme sich kaum verändert, klingt seine Gereiztheit durch, und einen Moment lang sagt sie nichts. Sie hat die Hände in den Schoß gelegt und die Finger so fest ineinander verschränkt, dass ihre Knöchel weiß werden.

»Na schön – aber wenn du irgendwas brauchst …«

»Ja, keine Sorge – ich sag Bescheid, Ma«, sagt er, und dann, »Warum bist du eigentlich noch auf?«

»Wir sind spät nach Hause gekommen, und jetzt kann ich nicht einschlafen.«

»Ach so.«

»Erinnerst du dich noch an Onkel Ramesh? Wir haben ihn und seine Familie in Delhi besucht. Hätte dir auch gefallen dort. Sie haben einen neuen Hund, Pasha. Ein Labrador, genau wie Danny«, sie hält kurz inne, »nur, dass Pasha schwarz ist. Er sitzt zu Rameshs Füßen, genau wie Danny bei mir damals, wenn ich von der Schule kam. Selbst beim Mittagessen, ich habe ihm unter dem Tisch das Gemüse gegeben, das ich nicht mochte. Niemand hat etwas bemerkt …« Ihr Lächeln verändert sich, wird warmherziger, und ihre Augen sind randvoll mit Nostalgie.

»Ich weiß, Ma, das hast du mir schon erzählt.«

»Ich hatte ihn wirklich lieb, Rishi, und er hat mich immer beschützt. Es ist wunderbar, mit Hunden aufzuwachsen. Das habe ich deinem Vater oft gesagt, aber er wollte nie einen anschaffen.«

»Die Wohnungen in Bombay sind zu klein, das ist den Hunden gegenüber nicht fair, Ma.« Es sind auswendig gelernte Antworten, vorgetragen ohne Gedanken oder Gefühle.

»Ich weiß, ich weiß. Aber als du noch klein warst, wolltest du unbedingt einen Hund. Weißt du noch, als ich dir zum fünften Geburtstag einen Welpen gekauft habe und wir ihn zurückgeben mussten? An dem Abend hast du dich in den Schlaf geweint.« Sie schüttelt den Kopf. »Du warst so ein süßer kleiner Junge.«

Rish weiß nichts mehr davon, obwohl ihm klar ist, dass man sich an solche Dinge erinnern, sie im Gedächtnis abspeichern sollte. Glänzende Perlen auf dem Grund des riesigen, trüben Sees der Kindheit. Irgendwie ist ihm unwohl bei dieser Unterhaltung mit ihrem Sepiastich. Die Vergangenheit ist vergangen und kommt nicht zurück.

»Er war ganz weiß, mit einem schwarzen Fleck am Hals …«

Er steht auf, geht zu ihr hinüber, legt ihr die Hände auf die Schultern, und erst jetzt bemerkt sie, dass er nicht mehr sitzt und auf dem Weg nach draußen ist.

»Versuch zu schlafen, Ma, ich bin auch müde. Wir reden morgen weiter.« Mit diesen Worten geht er auf sein Zimmer, obwohl sie ihm etwas nachruft, was er nicht versteht, und erst als die Tür mit einem lauten Klacken ins Schloss fällt, kann er wieder frei atmen. Seine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Er hat keine Ahnung warum, aber nach jedem Gespräch mit seinen Eltern ist er gereizt und wütend, auch wenn er es gar nicht will. Wie jetzt zum Beispiel; er weiß, er hätte so viel mehr tun und sagen können. Ein guter Sohn sein können, ihr zuhören und die Sorge und Liebe aus ihren Worten herausfiltern, aber es ging nicht, nicht nach dem Tag, der ganzen Sache mit den Mädchen und allem anderen.

*

Die Fenster in seinem Zimmer stehen offen, und der Wind hat die Laken vom Bett geweht, die auf einem Haufen auf dem Boden liegen. Seine Taschen sind ausgepackt, und seine Klamotten in die Reinigung gegeben worden – die Koffer sind ­nirgends zu sehen. Die Schale mit Cornflakes steht auf dem Nachttisch, neben einem Nokia-Handy, das gerade aufgeladen wird, daneben liegt eine Pre-paid-SIM-Karte. Er steckt die Karte ins Handy und schaltet es ein.

Es ist dasselbe Handy, das er letztes Jahr in Indien benutzt hat, und während er darauf wartet, dass es sich mit dem Netz verbindet, checkt er beiläufig die SMS, die noch im Posteingang sind. Das hat was von einer Zeitmaschine – ganze Unterhaltungen noch mal zu erleben, wie sie vor so langer Zeit passiert sind.

Es gibt vorhersehbare SMS von Sunny und Divya, die nichts sind als eine unbarmherzige Folge von Was-geht’s und vorgeschlagenen, diskutierten, angenommenen, abgesagten und in letzter Minute doch wieder angenommenen Freitagabend­plänen, weil niemand eine bessere Idee hat.

Es gibt auch noch ein paar von Andy, und er lächelt, als er zwei davon überfliegt. Scherben einer perfekten, schmutzigen kleinen Affäre. Einen Moment lang ist er versucht, sie alle durchzugehen und zu lesen – aber dann lässt er es. Wozu in der Vergangenheit schwelgen, es bringt ja eh nichts.

Zwanghaft scrollt er durch den Posteingang, registriert die Absender, während ein Teil von ihm sich schon wieder fragt, ob er sich eine Tüte bauen soll, als ihn plötzlich ein Name auf dem Display anspringt und wie ein Schlag ins Gesicht trifft.

Es ist eine Nachricht von »Rohan – US«, und er weiß, was es ist, obwohl er sie komplett vergessen hatte. Sekunden verstreichen tickend auf der hölzernen Wanduhr, sein Herz hat ausgesetzt, und sein Magen scheint ihm in die Kniekehlen gerutscht zu sein.

Das Handydisplay ist eine Meile breit und füllt seine gesamte Sicht aus, bis außer der Nachricht nichts mehr existiert. Er sollte sie nicht lesen. Aber sein Daumen klickt sie wie von selbst an.

»Danke Mann. Ich wusste ich kann auf dich zählen.«

Er liest sie weniger, als dass er sie mit der Version in seinem Kopf vergleicht. Sein Gedächtnis ist wortgetreu.

Halb so wild, du hast es dir viel schlimmer vorgestellt, als es ist. Wie auch immer, es ist vorbei, und du kannst nicht mehr viel daran ändern. Du hast bewiesen, dass du ein Mann bist, und jetzt lösch diesen Scheiß.

Nachdem Rish die Nachricht gelöscht hat, wirft er das Handy aufs Bett, das auf der federnden Matratze noch einmal hochspringt und dann liegenbleibt. Er nimmt das Hasch, das er von Lionel gekauft hat, aus der Tasche und bricht ein großes Stück ab.

Zwanzig Minuten später steht Rish stoned auf dem Balkon und sieht zu, wie die Sterne hinter schwarzen Wolken Verstecken spielen. Er schließt die Augen und hört, wie die Wolken sich im Wind berühren.

5

ER WIRD VON ETWAS Unmenschlichem gejagt. Es ist fremdartig, erbarmungslos und grässlich – das weiß er, obwohl er sich nicht umgedreht hat. Das braucht er auch nicht. Und wenn er stehenbleibt, um es sich anzusehen, wird er langsamer, und das gibt seinem Verfolger vielleicht schon die Zeit, die er braucht.

Er rennt so schnell er kann durch die verlassenen Straßen einer heruntergekommenen Metropole, mit Gebäuden, die so hoch sind, dass sie sich meilenweit über ihm im Himmel zu berühren scheinen. Er rennt und rennt und rennt, aber die rotglühenden Augen sind immer da, verfolgen ihn, und er weiß, sie werden nie von ihm ablassen, und er ringt keuchend nach Luft, biegt ab und landet in einer Sackgasse, wo es kein Entkommen, keinen Ausweg und keine Versteckmöglichkeiten gibt, und er spürt, wie sich der fremdartige Blick in seinen Rücken bohrt, und weiß, ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich umzudrehen und sich zu stellen.

Rish schreckt schweißüberströmt aus dem Schlaf hoch. Er wirft einen Blick auf sein Handy, es ist vier Uhr morgens, und während der Alptraum langsam verblasst, merkt er, dass er immer noch seine Jeans anhat. Er kann sich nicht daran erinnern, wie er eingeschlafen ist. Er muss ohnmächtig geworden sein.

Die halbleere Schale mit Cornflakes steht neben ihm auf dem Bett – sie leuchtet in der Dunkelheit, wechselt im Licht des Fernsehers die Farbe. Ein alter Steven-Seagal-Film läuft auf HBO.

Rish zieht sein T-Shirt und die Jeans aus, geht ins Bad, stellt sich vor den Spiegel und versucht, sich die Einzelheiten seines nackten Körpers in Erinnerung zu rufen. In dem bisschen Licht, das durch die offene Tür fällt, sieht er nur einen jungenförmigen Schatten – ein dunkleres Schwarz auf Schwarz.

Er macht das Licht an, und obwohl er die Augen schließt, noch bevor seine Finger das Klicken des Schalters registrieren, zuckt er trotzdem zusammen, als auf dem Bildschirm seiner Lider ein orangefarbenes und hellgrünes Feuerwerk explodiert. Er macht die Augen wieder auf, und selbst durch die bunten Blitze kann er jetzt jedes Detail seines Körpers erkennen, und als er die Augen zusammenkneift, muss er zugeben, dass er etwas besser aussieht – fitter, schlanker und konturierter – als das Bild in seinem Kopf, obwohl er sechs Monate weder im Fitnessstudio noch beim Schwimmen war.

Auf der Badezimmerablage liegt sein Gilette-Mach-3-Fusion-Rasierer, seine elektrische Colgate-Zahnbürste und die namen- und markenlose, aber darum umso außergewöhnlichere rote Zahnbürste vom Flughafen. Sie ist zusammen mit den anderen Sachen ausgepackt und dahin verfrachtet worden, wo sie dem Anschein nach hingehörte, und obwohl sie unter ihresgleichen ist, müsste jeder, der sie sieht, sofort merken, dass sie nicht hierher passt.