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In Linda bricht ein unerwartetes Gefühlschaos aus als sie erfährt, dass ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Immerhin hatte sie viele Jahre keinen Kontakt zu ihm, der immer ganz in ihrer Nähe lebte. Linda ahnt nicht, was auf sie zukommt und womit sie sich auseinandersetzen muss. Sie erfährt von einer Bestattungsverpflichtung und was das finanziell bedeutet. Außerdem lernt sie was zu tun ist, wenn bei der Trauerfeier die falsche Urne beigesetzt wird. Über ihre Erlebnisse führt Linda Tagebuch um zu verstehen, zu verarbeiten und zur Bewältigung der Tatsache, dass ihre Fragen unbeantwortet bleiben werden. Es sind Botschaften vom Tod, über die Liebe und an das Leben. Am Ende kann sie ihrem Vater verzeihen.
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Seitenzahl: 285
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Erstes Quartal - Der Winter, der mein Leben veränderte
Samstag, 26. Januar
Sonntag, 27. Januar
Montag, 28. Januar
Dienstag, 29. Januar
Mittwoch, 30. Januar
Donnerstag, 31. Januar
Freitag, 1. Februar
Samstag, 2. Februar
Sonntag, 3. Februar
Rosenmontag, 4. Februar
Dienstag, 5. Februar
Donnerstag, 7. Februar
Freitag, 8. Februar
Samstag, 9. Februar
Sonntag, 10. Februar
Dienstag, 12. Februar
Mittwoch, 13. Februar
Donnerstag, 14. Februar
Freitag, 15. Februar
Samstag, 16. Februar
Sonntag, 17. Februar
Montag, 18. Februar
Dienstag, 19. Februar
Mittwoch, 20. Februar
Donnerstag, 21. Februar
Freitag, 22. Februar
Samstag, 23. Februar
Sonntag, 24. Februar
Montag, 25. Februar
Dienstag, 26. Februar
Mittwoch, 27. Februar
Freitag, 29. Februar
Montag, 10. März
Dienstag, 11. März
Samstag, 15. März
Montag, 17. März
Dienstag, 18. März
Mittwoch, 19. März
Donnerstag, 20. März
Karfreitag, 21. März
Zweites Quartal - Der Frühling, der mir die Augen öffnete
Mittwoch, 26. März
Samstag, 29. März
Sonntag, 30. März
Montag, 31. März
Dienstag, 1. April
Donnerstag, 3. April
Samstag, 5. April
Sonntag, 6. April
Montag, 7. April
Donnerstag, 10. April
Freitag, 11. April
Sonntag, 13. April
Montag, 14. April
Mittwoch, 16. April
Donnerstag, 17. April
Freitag, 18. April
Samstag, 19. April
Donnerstag, 24. April
Freitag, 25. April
Sonntag, 27. April
Montag, 28. April
Mittwoch, 30. April
Freitag, 2. Mai
Sonntag, 4. Mai
Montag, 5. Mai
Dienstag, 6. Mai
Mittwoch, 7. Mai
Donnerstag, 8. Mai
Samstag, 10. Mai
Pfingstmontag, 12. Mai
Donnerstag, 15. Mai
Sonntag, 18. Mai
Mittwoch, 21. Mai
Sonntag, 25. Mai
Dienstag, 27. Mai
Freitag, 30. Mai
Montag, 2. Juni
Dienstag, 3. Juni
Donnerstag, 5. Juni
Freitag, 6. Juni
Samstag, 7. Juni
Sonntag, 8. Juni
Montag, 16. Juni
Donnerstag, 19. Juni
Freitag, 20. Juni
Drittes Quartal - Der Sommer, der mir den Weg zeigte
Mittwoch, 25. Juni
Donnerstag, 26. Juni
Donnerstag, 3. Juli
Montag, 7. Juli
Sonntag, 13. Juli
Montag, 14. Juli
Donnerstag, 17. Juli
Freitag, 18. Juli
Samstag, 19. Juli
Donnerstag, 24. Juli
Freitag, 8. August
Sonntag, 17. August
Mittwoch, 20. August
Freitag, 22. August
Samstag, 23. August
Donnerstag, 28. August
Samstag, 30. August
Montag, 1. September
Samstag, 6. September
Sonntag, 7. September
Dienstag, 9. September
Mittwoch, 10. September
Donnerstag, 11. September
Donnerstag, 18. September
Viertes Quartal - Der Herbst, der mir Frieden brachte
Montag, 22. September
Mittwoch, 24. September
Donnerstag, 25. September
Samstag, 4. Oktober
Sonntag, 5. Oktober
Montag, 13. Oktober
Mittwoch, 15. Oktober
Donnerstag, 16. Oktober
Sonntag, 26. Oktober
Donnerstag, 30. Oktober
Donnerstag, 6. November
Das Ende vieler Worte
Um halb zehn am Morgen klingelt das Telefon. Max reicht mir den Hörer. Es ist meine Tante Johanna, die mich seit Jahren nicht angerufen hat. Daher bin ich in Alarmbereitschaft. Zögernd informiert mich Johanna, dass mein Vater verunglückt ist. Am Küchenfenster stehend überschlagen sich meine Gedanken. Ich frage mich, was passiert ist, wo er jetzt ist und vor allem, wie schwer er verletzt ist. Johanna antwortet auf meine stummen Fragen, dass mein Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Er ist wahrscheinlich wegen Übermüdung eingeschlafen und in der Nacht gegen einen Baum gefahren. In Sekundenbruchteilen versuche ich zu erfassen, was sie mir da gerade mitgeteilt hat. Jahrelang hatte ich versucht mir vorzustellen wie es sich anfühlt, wenn mich eines Tages diese Nachricht erreicht. Bisher habe ich allen – und vor allem mir selbst – gegenüber felsenfest behauptet, es würde mich nicht groß berühren können. Im Gegenteil, ich hatte mir vorgemacht, es würde mich erleichtern, weil damit alle Fragen, Gefühle und quälenden Gedanken sterben würden. Aber stattdessen ist alles leer und ich habe an diesem Samstagmorgen keine Vorstellung davon, welche emotionalen Talfahrten mich in der kommenden Zeit er- warten. Ich spreche noch kurz mit Johanna, worüber kann ich nicht sagen. Nachdem das Telefonat beendet ist, setze ich mich auf die Couch und schaue aus dem Fenster nach oben in den Himmel. Max will wissen, was passiert ist. „Mein Vater ist heute Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen.“ Ich schaue weiter aus dem Fenster. Pause.
Nichts. Ich begreife es nicht. Wir frühstücken, obwohl ich keinen Hunger mehr habe.
Später am Glascontainer und fülle ich die großen Behälter wie automatisiert. Doch auch der Lärm von zerspringendem Glas holt mich nicht in die Realität zurück.
Am Nachmittag fahren wir zum Möbelhaus, um Regale für Max’ Büro zu kaufen. Ich bin wie betäubt, als ich zwischen den Regalen stehend meine Freundin Caroline anrufe und ihr für heute absage „Wir schaffen es nicht, vorbeizukommen. Mein Vater ist letzte Nacht bei einem Autounfall verunglückt.“ Caroline ruft: „Oh nein! Was ist mit ihm?“ Wie ferngesteuert presse ich ein „Er ist tot“ heraus. Hoffentlich hört Caroline nicht die Werbedurchsage des Mitarbeiters im Hintergrund, der freundlich auf die aktuellen Sonderangebote hinweist. Sie würde sich sicher fragen, wie ich in dieser Situation an einen Möbelkauf denken kann. Meine Gedanken tragen mich zu dem Tag zurück, an dem mein Großvater sich das Leben genommen hatte. Am Abend seines Todes habe ich ernsthaft in Erwägung gezogen, in die Disco zu gehen. Mein damaliger Freund hat mich davon abhalten können, ‚weil man so etwas nicht macht‘. Es ist bei diesen Nachrichten wohl so, dass irrationale Handlungen die Realität ausblenden sollen, damit man nicht verrückt wird. In der Schlange vor der Kasse schwirrt mir immer wieder durch den Kopf: ‚Papi ist letzte Nacht tödlich verunglückt. Er ist einfach gegangen. Es gibt ihn nicht mehr.‘
Nachdem alle Kartons im Auto verstaut sind, fahren wir zu meiner Mutter. „Jetzt weiß ich, wie du dich gefühlt hast, als du damals gesagt hast, du hast jetzt keine Möglichkeit mehr, Dinge mit deinem Vater zu klären.“ Ich berichte in Kurzform, was ich von Tante Johanna weiß.
Mama ist geschockt. Nach allem, was war, hätte sie ihm so ein Ende nicht gewünscht. Bei einem Wein erzählt Mama ein paar Episoden aus ihrem Leben mit meinem Vater. Auch ich stehe noch unter Schock und die Gedanken, die mir dabei durch den Kopf gehen, lassen sich nur schwer in Worte fassen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich immer noch nicht die leiseste Ahnung davon, was der Tod meines Vaters überhaupt für mich bedeutet, da ich mich nicht mehr als direkt angehörig und in irgendeiner Weise betroffen fühle.
Es ist schon gegen Abend, als wir aufbrechen, um Max´ Mutter Ruth im Krankenhaus zu besuchen. Ruth ist zwei Tage zuvor am Herzen operiert worden. Im hinteren Teil des Aufwachraums liegt ein Mann. Als ich ihn wahrnehme, muss ich sofort an meinen Vater denken. Ich werfe den Multivitaminsaft auf das Bett. „Das haben wir dir mitgebracht“, kann ich noch unter Tränen hervorbringen, bevor ich aus dem Zimmer stürze. Das ist zu viel für mich. Der Mann und dann der Anblick von Ruth, die so schwach aussieht. Die Stationsschwestern sind sofort in Alarmbereitschaft, als ich am Schwesternzimmer vorbeirenne, als wäre der Teufel hinter mir her. Sie kümmern sich gleich um Ruth, die sich ja unter keinen Umständen aufregen darf. Kurze Zeit später sitzen wir zusammen in einem Aufenthaltsraum. Worüber wir sprechen, kann ich heute nicht mehr sagen.
Auf dem Rückweg nach Hause halten wir beim Italiener an, da bisher noch keine Zeit war, an Essen zu denken. Ich bestelle mir ein Risotto, das fast unberührt wieder zurück geht. Stattdessen betäube ich mich mit Rotwein und Grappa.
Gleich am Morgen telefoniere ich mit Susanne, der letzten Lebensgefährtin meines Vaters und Mutter meiner Halbbrüder David und Dominik. Susanne will von mir wissen, ob ich in die Wohnung meines Vaters möchte, da die Schlüssel bei ihr abgegeben wurden. Sie war gestern mit den Jungs dort. Die Jungs könnten vom Alter her meine eigenen Kinder sein. Ich weiß noch nicht genau ob ich sehen möchte, wie mein Vater zuletzt gelebt hat. Vielleicht würde ich wieder emotionale Verantwortung übernehmen – wie so oft, wenn es um ihn ging. Ich verabrede mich mit Susanne für kommende Woche.
Heute ist Wahlsonntag. Hessische Landtags- und Bürgermeisterwahl in unserer Gemeinde. Nach einer traumlosen Nacht bin ich sehr dankbar, dass ich ab Mittag zum Dienst im Wahllokal eingeteilt bin. So vergehen wenigstens diese Stunden ohne großes Nachdenken. Nur ab und zu kommt mir mein Vater in den Sinn. Wo ist er jetzt? Ist er wirklich tot? Meine Freundin Vivien kommt und ihr Mann Jan kommen am Nachmittag zur Stimmabgabe. Vivien sieht gleich, dass etwas nicht in Ordnung ist. „Was schlimmes?“ Ich nicke und berichte ihr knapp, was passiert ist. Auch Vivien ist geschockt. Wir unterhalten uns noch kurz und nur flüsternd wegen der Leute um uns herum. Durch die Stimmenauszählung bin ich wunderbar abgelenkt. Im Anschluss gehe ich noch kurz mit ins Rathaus zur Wahlparty auf einen Sekt. Das Wahlergebnis kann ich jedoch nicht abwarten. Von Max weiß ich, dass Tante Vera – die ältere Schwester meines Vaters - aus USA schon angerufen hat und sich eventuell später noch einmal melden wird. Deshalb gehe ich nach Hause.
Mit Max spreche ich über den Tag und die ganze Sache. „Was ist eigentlich mit deinem Onkel Henning? Hat ihm jemand Bescheid gegeben, dass sein Bruder tot ist?“
Für mich scheint festzustehen: „Du, ich glaube, das interessiert ihn gar nicht so sehr.“
Nach über einer Woche Krankheit bin ich heute den ersten Tag wieder im Büro und melde ich mich bei meinem Chef zurück. Ich erkläre ihm, was passiert ist und dass ich eventuell kurzfristig Urlaub brauche. Er schaut Hilfe suchend umher: „Mein Beileid. Ja, selbstverständlich. Kein Problem.“ Ich bin froh, dass er keine Fragen stellt.
Heute fliegt Mama für fast vier Wochen zu Freunden nach Arizona. Morgens verabschiede ich mich noch kurz telefonisch von ihr und wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass sie gesund wiederkommt.
Onkel Henning steht gegen neun Uhr unerwartet in meinem Büro und wirkt sehr betroffen. Das ist mehr, als ich erwartet hatte, wenn man den Zorn kennt, mit dem er über seinen Bruder sprach, als er noch lebte. Ich informiere ihn ganz kurz über die wenigen Einzelheiten, die ich bisher von Johanna und Susanne weiß. Henning erwähnt einen Geldbetrag, der in Amerika hinterlegt ist und aus der Versicherungsregulierung von dem Unfall, bei dem Opa vor drei Jahren ums Leben kam, stammt. Die Versicherung des Unfallfahrers hatte eine Entschädigung für die Hinterbliebenen gezahlt. Typisch amerikanisch! Der Betrag, den Henning jetzt erwähnt, sei der Anteil meines Vaters und wurde ihm damals nicht ausgezahlt. Ich soll aber mit niemandem über das Geld sprechen, beschwört er mich. Ich bin verwirrt, frage aber nicht weiter nach. Ein leiser Verdacht keimt in mir auf, er will mir eine Brücke bauen. Aber was geht mich dieses Geld an?
Keiner kann zu diesem Zeitpunkt sagen, wem es zusteht und wem nicht.
Etwas später ruft mich Hennings Frau Sonja an und sagt, dass es ihr doch sehr leidtut, wie alles gekommen ist. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie nie ein gutes Verhältnis zu ihrem Schwager hatte. Sie bietet mir ihre Hilfe an, wenn ich Rat brauche. Das finde ich richtig nett von ihr, da auch wir seit Jahren nur Kontakt über Weihnachtskarten halten und uns zum letzten Mal bei Opas Beerdigung gesehen haben. Kaum habe ich das Gespräch mit Sonja beendet, meldet sich Susanne. Sie hat die Wohnungsschlüssel bei der Polizei abgegeben und man hat ihr gesagt, dass sie gar nicht mehr in die Wohnung hätte gehen dürfen. Damit ist mir die Entscheidung bezüglich der Wohnung abgenommen. Sie erzählt mir, dass sie mit den Kindern an der Unfallstelle war. Der ermittelnde Polizist hat sie dort angetroffen und viele Fragen gestellt. Unter anderem wollte er wissen, ob sie sich vorstellen kann, dass mein Vater absichtlich gegen den Baum gefahren sein könnte, was sie ganz entschieden bestritten hat.
Obwohl ich nicht genau weiß warum, versuche ich bei der Polizei zu erfahren, wie es jetzt weitergeht und wo mein Vater überhaupt ist. Der zuständige Polizist ermittelt gerade in „unserer Sache“ – wie ich von Susanne erfahren habe – und ist daher nicht zu sprechen. Ich soll am nächsten Tag noch mal versuchen, ihn zu erreichen. So lange will ich nicht warten. Ich recherchiere den einzigen Bestatter in Bad Schwalbach und frage nach, ob mein Vater dort ist. Außerdem will ich wissen, wie der weitere Ablauf ist, wenn keiner der Angehörigen etwas veranlasst. Ich bin tatsächlich bei dem Bestatter gelandet, der meinen Vater vom Unfallort überführt hat. Mein Herz überschlägt sich. Die Frau am anderen Ende der Leitung empfinde ich als äußert unfreundlich. Sie in formiert mich darüber, dass sich jemand um die Bestattung kümmern muss, sobald eine Freigabe durch die Polizei erfolgt ist. Weiter erklärt sie mir, in einem – wie ich empfinde – etwas vorwurfsvollen Ton, dass die Angehörigen auch für den Fall, dass es ein „Armenbegräbnis“ gibt, weil keiner sich kümmert, für die Kosten aufzukommen haben. Dabei spiele es keine Rolle, ob der Verstorbene staatliche Unterstützung bekommen hat. Das ist schon mal der erste Hammer.
Kurz darauf meldet sich Tanta Johanna und informiert mich, dass sie jetzt erst mal gar nichts weiter unternehmen will. Sie hätte aber mit Susanne gesprochen und es wäre für die Kinder doch schön, wenn eine Trauerfeier stattfinden würde. Was soll das denn jetzt? Ich bin total verwirrt, reagiere aber nicht weiter auf ihren Vorschlag. Nach diesem Gespräch fällt mir Sonjas Angebot ein und ich frage bei ihr an, ob ich nach der Arbeit bei ihr und Onkel Henning vorbeikommen kann. Ich will wissen, wie seine Einstellung dazu ist. Vorher bin ich kurz bei Oma im Pflegeheim. Sie ist total durch den Wind. Mama hat ihr erzählt, was passiert ist, und sie macht sich große Sorgen auch wegen der Kosten.
„Immer bleibt alles an uns hängen. Es ist wie ein Fluch.“ klagt sie. Sie übertreibt, denke ich und versuche, sie zu beruhigen als ich mich auf den Weg zu Henning und Sonja mache.
Henning rät mir, doch mal im Internet nachzuforschen, wie es mit den Beerdigungskosten aussieht. Immerhin ruft er gleich Vera in Amerika an um zu fragen, was aus der Entschädigung nach Opa`s Unfall geworden ist. Da das Geld bei einem Anwalt in Verwahrung liegt verspricht sie, sich darum zu kümmern, ob und wie sie darankommen kann. Als ich kurz mit ihr spreche höre ich, dass ich mir wegen der Kosten keine Sorgen machen soll. Wir würden das alle irgendwie gemeinsam regeln. Das beruhigt mich nicht wirklich, weil ich weiß, dass alle drei Geschwister den Kontakt zu meinem Vater abgebrochen hatten. Weshalb sollten sie mich jetzt unterstützen wollen? Schließlich geht es um ihn und wieder mal um Geld!
Am Abend recherchiere ich also im Internet und es dauert es nicht lange, bis ich tatsächlich das Passende zum Thema öffentliche Bestattungspflicht und Unterhaltsverpflichtung finde. Es ist ein Urteil aus Gießen – meinem Geburtsort, wie passend –, in dem eine Tochter gegen die Überbürdung der Beerdigungskosten geklagt hatte, weil ihr Vater sich nie um sie gekümmert hatte, da die Eltern schon lange geschieden waren. Ich suche nach der Telefonnummer von Nils aus Wetzlar, einem Freund meiner Mutter. Er ist Jurist und ich bitte ihn, sich die beiden Urteile kurz durchzulesen und mir zu bestätigen, ob ich das richtig interpretiere. Bei meinem Schwager Jonas frage ich deswegen auch nach. Da auch er Jurist und unter anderem amtlich bestellter Betreuer ist, bestätigt er mir recht schnell, dass ich auf dem richtigen Weg bin.
Später sind wir mit Vivien und Jan beim Griechen und auch hier geht es nur um das Thema Kosten. Max beschwört mich, am nächsten Tag auf jeden Fall bei Susanne nachzuhören, wie sie sich das mit den Kosten vorstellt. Ich soll auf keinen Fall durchblicken lassen, dass ich eventuell alles alleine tragen muss. Da Vivien durch die Todesfälle in ihrer eigenen Familie in unserer kleinen Runde leider die Expertin ist, will sie sich bei einem bekannten Bestattungsinstitut erkundigen wegen der Kosten für eine anonyme Feuerbestattung ohne Trauerfeier und so.
Drei Tage nachdem es passiert ist. Immer wieder versuche ich mir vorzustellen, wie mein Vater jetzt wohl aussieht. Durch meine frühere Tätigkeit im Fotolabor bei der Polizei kann ich es mir ausmalen.
Am Morgen besorge ich auf dem Weg ins Büro eine rote Rose. Ich werde heute zu der Unfallstelle fahren und auch Susanne besuchen.
Im Büro angekommen meldet sich Leon, der Freund von Nils. Ich schildere ihm kurz, worum es geht. Zunächst ist er der Meinung, dass ich nichts mit den Kosten für die Bestattung zu tun habe, wenn ich die Erbschaft ausschlage. Er verspricht mir sich wieder zu melden, wenn er sich genauer informiert hat.
Endlich erreiche ich den Polizisten, der die Ermittlungen leitet. Es wird ein längeres Gespräch. Er spricht mich direkt mit meinem Vornamen an, was mich einigermaßen überrascht. Er setzt mich kurz darüber ins Bild was passiert ist. Dann will er wissen, welche Verwandten und Kinder es noch gibt, da er nur von den Jungs, einem Sohn in USA und mir weiß. Hat er diese Informationen von Susanne? Da sich Johanna und Henning am Vortag sehr bedeckt gehalten haben, gebe ich ihm alle Adressen, Namen und Geburtsdaten durch, die mir einfallen, auch von Claire in Frankreich. Ein von seiner Mutter zur Adoption freigegebenes Kind erwähne ich ebenfalls. Der Polizist ist verwundert wegen der Ausschlagung, da sich in der Wohnung doch einige Sachen von Wert befinden wie ein Computer und ein Fernseher. Ich sage ihm, dass wegen der Schulden niemand das Erbe antreten kann. Auch der Polizist bestätigt mir, dass die Angehörigen für die Kosten der Bestattung aufkommen müssen. Sollte sich zunächst niemand darum kümmern, wird das Sozialamt in Vorlage treten und sich recht schnell wieder melden wegen der Rückforderung. Fast beiläufig erwähnt er, dass die Freigabe zur Bestattung erfolgt ist und es sinnvoll wäre, wenn sich die nächsten Angehörigen kurzfristig an einen Tisch setzen und jemanden bestimmen, der die weiteren Formalitäten abwickelt. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, mir die Bilder vom Unfallort zeigen zu lassen, weil ich es immer noch nicht glauben kann. Aber dieses Vorhaben verwerfe ich ganz schnell wieder.
Stattdessen versende ich eine SMS an meine Verwandtschaft:
Wie ich erfahren habe, sitzen doch alle Angehörigen in einem Boot. Wir sollten uns kurzfristig treffen, um alles Weitere zu regeln. Ich schlage vor, wir treffen uns morgen. Bitte gib mir Bescheid, wann und wo.
Linda
Da mein Onkel und meine Tante zueinander auch nicht das beste Verhältnis haben, schicke ich die SMS bewusst getrennt an beide, damit keiner sich in die Enge getrieben fühlt. Es ist ein zaghafter Versuch, an ihre Mithilfe zu appellieren, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Schließlich geht es um ihren Bruder. Ich fühle mich in diesem Moment maßlos überfordert mit allem.
Vivien informiert mich inzwischen per E-Mail, dass sie mit Frau Ahrend gesprochen hat wegen einer günstigen Bestattungsvariante. Auch Frau Ahrend bestätigt die Regelung, wonach ein volljähriges Kind zur Kostenübernahme verpflichtet ist. Damit sitze ich finanziell wohl in der Falle. Ich werde mich trotzdem nach einer Möglichkeit diese Verpflichtung auszuhebeln erkundigen. Es kann doch nicht sein, dass ich dafür verantwortlich sein soll, obwohl wir so wenig Kontakt hatten und ich bisher finanziell nur draufgelegt habe, was meinen Vater betrifft. Meine Mutter hatte vor über dreißig Jahren für einen Kredit gebürgt, damit mein Vater sich selbstständig machen konnte. Ich glaube, er hat ab diesem Zeitpunkt gedacht, es macht sich irgendwie alles von selbst. Vor allem seinen Zahlungsverpflichtungen ist er irgendwann nicht mehr nachgekommen und somit war meine Mutter in der Pflicht. Sie hat den ganzen Kredit samt Zinsen zurückzahlen müssen. Dafür musste sie auch Geld verwenden, das sie ursprünglich für mich gespart hatte. Etliche Jahre später habe ich meinen Vater mal angerufen und wollte wissen, ob für mich die Aussicht besteht, das Geld irgendwann von ihm zurückzubekommen. „Du bist ja genauso geldgierig wie deine Mutter. Das hätte ich nie von dir gedacht.“ Das war seine einzige Reaktion. Er war beleidigt. Völliges Unverständnis, aber er fühlte sich im Recht. Wie so oft.
Mir kommt dabei spontan das einzige Paar Schuhe in den Sinn, die mein Vater mir jemals gekauft hat. Es war mal wieder eine dieser für mich so peinlichen Episoden. Ich war dreizehn Jahre alt und er hatte versprochen, Cowboystiefel für mich zu kaufen. Jedenfalls haben wir in dem Laden jemanden getroffen, den er wahrscheinlich von seinen nächtlichen Kneipentouren kannte. Mein Vater stellte mich stolz vor: „Das ist meine Tochter Linda.“ Daraufhin erwiderte sein Bekannter: „Hey, da hast du ja mal einen richtigen Glückstreffer gelandet!“ Die beiden haben sich köstlich amüsiert und laut über diesen Witz gelacht. Ich dachte damals nur: ‚Wo bitte ist das nächste Loch, in dem ich versinken kann?‘ Es ist ungerecht, das in meiner jetzigen Lage aufzurechnen. Aber wie soll ich es anders sehen nach allem, was war?
Ich vereinbare mit Frau Ahrend einen Termin für den nächsten Tag, um alles Weitere zu regeln. Immerhin hat Johanna angeboten, mich zu begleiten, was mich einigermaßen beruhigt. Wen hätte ich sonst mitnehmen sollen? Meine Mutter ist nicht da. Max kannte seinen Schwiegervater gar nicht. Da bleibt nicht viel Auswahl.
Um halb drei am Nachmittag mache ich mich auf den Weg in den Taunus. Es ist ein schöner, trockener Wintertag. Die Sonne strahlt freundlich vom Himmel. Ich habe mir eine Wegbeschreibung ausgedruckt und fahre ziemlich langsam, als ich in die Gegend komme, wo es passiert sein könnte. Die Stelle fällt sofort ins Auge und ist nicht zu verfehlen. Ein Stück weiter auf einem Waldweg stelle ich das Auto ab und laufe zu dem Baum. Es muss ein frontaler Aufprall gewesen sein, da die Rinde auf einer Seite komplett fehlt. Der Anblick raubt mir im ersten Moment komplett den Atem. Immer wieder gehe ich um den Baum und überlege, wie es wohl in der Nacht war. Es liegen einige Autoteile direkt am Stamm. Direkt daneben hat jemand Blumen abgelegt. Ich überdenke meine bisherige Einstellung zu solchen „Kultstätten“ am Straßenrand. Auch die Wiederbelebungsversuche durch den Notarzt haben ihre Spuren hinterlassen. Ein kalter Schauer überfährt mich, als ich die Klebepads zur Überwachung der Herztätigkeit wahrnehme, die vereinzelt auf dem Boden liegen. Eine halbe Stunde vergeht und bin entsetzt, in welchem Tempo die Autos an der Stelle vorbei rasen. Es ist eine unübersichtliche Kuppe mit einer Rechtskurve. Hier kann man schnell von der Straße abkommen. Auf dem Boden am Stamm des Baumes sammle ich einige Teile der Baumrinde auf. Es ist kein besonders kräftiger Baum, der dem Aufprall standgehalten hat. Der Baum direkt daneben hat einen wesentlich stärkeren Stamm.
Danach fahre ich zu Susanne, die ganz in der Nähe wohnt. Da ich die Hausnummer vergessen habe und sie auf dem Handy nicht zu erreichen ist, laufe ich die Straße hoch und runter, um dann zu erfahren, dass ich intuitiv direkt vor dem richtigen Haus parke. Wir haben uns erst einmal gesehen und das ist auch schon einige Jahre her. Susanne erwähnt direkt meine unheimliche Ähnlichkeit mit meinem Vater, bevor sie mich umarmt. Sie wohnt mit den Kindern sehr einfach und schläft im Wohnzimmer, wenn ich es richtig gesehen habe. Dann begegnet mir David. Da er in der letzten Zeit keinen regelmäßigen Kontakt mehr zu unserem Vater hatte will ich wissen, warum. Er berichtet, dass mein Vater nicht damit einverstanden war, wenn David am Wochenende lieber was mit seinen Freunden machen wollte und es ihm auch nicht recht war, dass er schon eine Freundin hat. Deswegen hatten sie sich gestritten und ein halbes Jahr lang keinen Kontakt gehabt. Vor zwei Wochen hatten sie sich aber ausgesprochen, danach wäre es für ihn gut gewesen. Ansonsten ist er ziemlich verschlossen, drückt mich aber, als er sich zu einem Treffen mit Freunden verabschiedet. Dominik, der jüngere der beiden, ist dagegen total aufgedreht. Ich bin etwas unsicher, ob das an meiner Anwesenheit liegt oder an der ganzen Situation. Susanne erzählt, dass sie sich bereits vor acht Jahren endgültig von meinem Vater getrennt hatte. Ich überlege, wie klein die Kinder damals noch waren. Dominik war gerade mal drei Jahre. Mein Vater sei von Susannes Mutter immer und bis zuletzt unterstützt worden. Insbesondere in finanzieller Hinsicht gab es da wohl eine Menge Hilfe. So war auch das Unfallauto auf ihre Mutter zugelassen. Susanne vermutet, dass ihre Mutter in ihm mehr gesehen hat als nur den Vater ihrer Enkelsöhne. Gemeinsam haben sie ihr eine ganze Zeit lang das Leben schwer gemacht, sie als unfähige Mutter hingestellt und ihr eine Menge Steine in den Weg gelegt. Am liebsten wäre es ihrer Mutter gewesen, mit den Kindern und meinem Vater auf Familie zu machen. Einige Bilder, die mir Susanne zeigt, scheinen das zu bestätigen. Dort sind mein Vater, ihre Mutter und die beiden Jungs zu sehen und wirken tatsächlich wie eine Familie. Irgendwie krank das Ganze. Widerliche Vorstellung. Was ist das für eine Frau, die ihrer eigenen Tochter solche Schwierigkeiten bereitet? Ich bleibe bis in den späten Abend und es ist die meiste Zeit Susanne, die erzählt. Sie scheint sich jahrelangen Kummer von der Seele zu reden. Aber ob ausgerechnet ich der richtige Zuhörer bin? Was sie zu berichten hat kommt mir vor wie die Wiederholung dessen, was meine Mutter erlebt hat. Nur noch eine Spur härter. Ich fühle mich in gewisser Weise mit ihr verbunden. Zwischendurch zeigt sie mir Bilder von gemeinsamen Reisen mit meinem Vater. Als ich auf das Thema Kosten komme und wie ich mir das vorgestellt habe bin ich erleichtert, dass Johanna schon mit ihr gesprochen hat. Die Trauerfeier ist damit vom Tisch. Susanne erklärt sich sofort bereit, sich an den Kosten zu beteiligen. Ich frage mich allerdings, ob sie dazu in der Lage ist. Auf der Rückfahrt bin ich doch ziemlich fertig. Es war emotional sehr anstrengend und was ich in den vergangenen Stunden gehört habe, hat mich ziemlich verwirrt. Ich freue mich auf zu Hause.
Max übrigens ist großartig. Er kann mit allem ja überhaupt nichts anfangen und ist erstaunt, wie viel Energie ich in die ganze Angelegenheit investiere. Er möchte jedoch nicht mehr, „dass ich allein im Dunkeln da hinten im Taunus herumfahre“, wie er sich ausdrückt. Ich bin insgeheim froh, dass Mama gerade jetzt nicht da ist. Sie würde bestimmt einiges nicht verstehen, was ich gerade mache.
Wir schauen uns am PC später den Bericht an, der im letzten Jahr im ZDF ausgestrahlt wurde zum Thema „Geld gegen Auto“. Max hat ihn ja noch gar nicht gesehen. Ich habe im Büro schon danach gestöbert, da Henning mich wieder daran erinnert hatte. Aber allein wollte ich mir das nicht anschauen. Es ist eine Reportage über ein Pfandleihhaus, in dem Autos verpfändet werden können. Mein Vater ist zu sehen, als er einen Jaguar für einen Betrag von dreitausendfünfhundert Euro verpfändet, um sich selbstständig zu machen. Er erwähnt in dem Interview seinen damals zwölfjährigen Sohn David, der bei ihm eine Ausbildung machen soll. Gute Ideen hatte er ja und ich muss dabei an seinen Vorschlag denken, mich Fahrunterricht anzumelden, als ich sechzehn Jahre alt war. Woher er immer den Glauben genommen hat, dass alles funktioniert, möchte ich wissen. Ich denke, da habe ich nun zwei Erinnerungen in bewegten Bildern: diesen Beitrag und das Video meiner ersten Hochzeit vor fünfzehn Jahren. Wer hat schon solche Andenken?!
Ich bereite eine Karte vor, die ich meinem Vater mitgeben will. Zaghaft bringe ich das für mich Unfassbare zu Papier. Ich versuche in Worte zu fassen, wie sehr mich sein tragisches Ende berührt hat und ich hoffe, er hat seinen Frieden gefunden und ich irgendwann die Fragen ruhen lassen kann. Vor allem aber muss ich jetzt lernen, ohne die Antworten weiterzuleben. „Ein letzter Gruß von Deiner Tochter“ steht auf dem Umschlag. Zwei Bilder von mir lege ich zu der Karte - ein Foto als Baby, das er aufgenommen hatte und ein Passfoto aus dem letzten Jahr.
Heute haben wir im Büro unser wöchentliches Teamgespräch mit der Abteilung. Als wir mit dem Protokoll fertig sind, sagt unser Chef: „Frau Deli hat euch noch etwas zu sagen.“ Dann erzählt meine Lieblingskollegin Meret, dass sie gekündigt hat und Ende März nach Mexiko geht. Diese Nachricht trifft mich so sehr. Heiße Tränen schießen mir in die Augen, als ich aus dem Sitzungszimmer renne. In meinem Büro angekommen lasse ich den Tränen freien Lauf. Etwas später kommt Meret und nimmt mich in den Arm. Ich freue mich sehr für Meret, aber das ist alles zu viel für mich in diesem Moment. Auch mein Chef kommt dazu, legt seine Hand auf meinen Arm: „Das wird schon wieder.“
Tante Johanna und ich treffen uns um achtzehn Uhr vor dem Bestattungsinstitut. Es wird ein Art Auftrag ausgefüllt mit den persönlichen Daten. Auch die einzige und letzte Ehefrau - meine Mutter – sowie die Anzahl seiner Kinder - erwachsene und minderjährige - werden festgehalten. Die genaue letzte Adresse wissen wir beide nicht. Frau Ahrend hat schon mal die Kosten zusammengestellt. Diese liegen bei zweitausend Euro. Die Kosten für die Überführung vom Unfallort zum Friedhof in Bad Schwalbach kommen noch dazu. Die Überführung zum Krematorium ist für den nächsten Tag geplant. Frau Ahrend fragt, ob wir noch ein Foto von ihm haben möchten, „wenn er gut aussieht“. Ich zögere zunächst, aber dann lehnen wir beide ab. Ich wusste nicht, wie Johanna darauf reagiert, aber ich bilde mir ein, es erst dann glauben zu können, wenn ich ihn noch mal gesehen habe. Es werden weitere ei- genartige Fragen gestellt wie: „Wissen Sie, wo die Kleidungsstücke sind?“ Nein. „Dann muss er ja ein Hemd anbekommen.“ Mir wird schlagartig übel. Am liebsten würde ich weglaufen. Ich habe doch damit nichts zu tun!? Es ist alles so unwirklich. Als ob ich Darsteller in einem Film bin und nach Drehschluss die Rolle ablegen kann, um wieder in mein reales Leben zu gehen.
Im Anschluss an diesen anstrengenden Verwaltungsakt gehen Johanna und ich zum Italiener auf einen Wein. Zu ersten Mal habe ich das Gefühl, dass mich die ganze Sache nicht nur allein betrifft. Wir unterhalten uns ganz gut und sie erzählt mir ein paar Dinge, die da so gelaufen sind unter anderem mit meinen Großeltern. Seit sie entdeckt hatte, dass mein Vater das Konto meines Großvaters missbrauchte, weil sie den gleichen Vornamen hatten, hatte Johanna den Kontakt zu ihrem Bruder abgebrochen. Es ist irgendwie alles unglaublich. Erst gegen neun Uhr bin ich zu Hause. Max hat mit dem Abendessen gewartet. Ich telefoniere mit Mama in Arizona. Sie und ihre Freundin Sabine sind in heller Aufregung und wollen wissen, was es Neues gibt. Sabine rät mir, über das Foto noch mal nachzudenken. Der Bestatter könnte es ja für mich aufbewahren für den Fall, dass ich es jetzt nicht sehen möchte. Es ist gegen halb elf, als wir endlich essen. Nicht sehr gesund, aber das ist mir in diesem Moment total egal!
Morgens rufe ich gleich bei Frau Ahrend an und sage, ich hätte es mir noch einmal überlegt und wenn es möglich wäre, sollten sie doch bitte ein Foto von meinem Vater machen und es für mich aufbewahren.
Dann setze ich mich mit dem Vorsteher beim Ortsgericht in Panrod, dem letzten Wohnort meines Vaters, in Verbindung. Er ist mittlerweile im Besitz der Wohnungsschlüssel. Herr Daniels erwähnt ein Sparbuch mit einem Guthaben von einhunderteinundvierzig Euro. Weshalb hat er das besessen? Als „eiserne Reserve“ kann der Betrag ja nicht gerade bezeichnet werden. Und nach dem, was ich von Susanne gehört habe, hat er sich manchmal sogar bei seinen Söhnen von deren Gespartem was geliehen. Also, ein Sparbuch mit einem Guthaben in Höhe von einhunderteinundvierzig Euro aufzubewahren ist in diesem Fall absurd.
Auch mit dem Amtsgericht in Bad Schwalbach nehme ich Kontakt auf um zu erfahren, ob und wann ich wegen des Nachlasses angeschrieben werde. Die zuständige Rechtspflegerin ist sehr nett und erklärt mir, wie das Schreiben wegen der Erbausschlagung formuliert werden muss. Außerdem sagt sie, dass ich diese auch in Wiesbaden bei Gericht erklären kann und nicht in Bad Schwalbach erscheinen muss. Übereifrig wie ich bin, setze ich im Anschluss an das Gespräch für alle Beteiligten ein entsprechendes Schreiben auf.
Gegen Mittag meldet sich Frau Ahrend bei mir. Mit der Überführung meines Vaters sei alles gut gegangen. Ein Foto von ihm zu machen „sei jedoch nicht ratsam gewesen“, da schon zu viel Zeit vergangen ist und auch die Verletzungen zu stark waren. Sie hätten ihm meine Karte in die Hände gegeben und ich sollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er war. Wie war er denn? Und welche Erinnerungen habe ich?
Nach dem Büro hole ich die Sterbeurkunde ab und fahre zu Johanna. Wir sitzen kurz zusammen und ich habe zum ersten Mal in diesen Tagen das Gefühl, dass jetzt alles einigermaßen geregelt ist. Mich überkommt das große Bedürfnis, nach Hause zu fahren und mich unter einer überdimensionalen Bettdecke zu verkriechen. Einfach abschalten statt zu funktionieren wie ein Roboter. Das wäre schön.
Die Anspannung der letzten Tage macht sich in meinem Nackenbereich bemerkbar. Es ist, als ob meine Schultern mit großen Gewichten beschwert sind. Johanna gibt mir eines von ihren Schüßlersalzen mit zur Entspannung. Vielleicht hilft es ja wirklich. Ich bin dankbar für ihre Fürsorge, die mir zugleich fremd ist.
Zu Hause angekommen bestätigt mir Max, dass er nie gedacht hätte, dass ich das alles bewältigen könnte. Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich ihn jetzt nicht so unterstütze mit Ruth. Er beschwichtigt mich. Ich sollte nicht mehr mit zu ihr in die Klinik gehen. Das wäre jetzt nicht gut für mich.
Heute habe ich Urlaub und kann sogar bis acht Uhr schlafen. Nach dem Frühstück beginne ich in der Küche damit, Gewürze und Öl nachzufüllen und zu putzen. Ganz wichtige Tätigkeiten also. Aber die lenken prima ab! Ich putze die Treppe, räume auf, füttere die Vögel im Garten. Ein paar Maschinen Wäsche laufen nebenbei. Dabei muss ich nicht nachdenken und bin schön ausgepowert hinterher.