Schärennacht - Lina Areklew - E-Book
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Schärennacht E-Book

Lina Areklew

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Beschreibung

Die Krimi-Entdeckung aus Schweden!
»Am schwedischen Krimihimmel ist ein neuer Stern aufgegangen. Lina Areklew hat mich von der ersten bis zur letzten Seite in Atem gehalten.« Lina Bengtsdotter


Sofia Hjortén ist in ihre Heimat Ulvön, eine kleine Insel im Schärengarten der Höga Kusten zurückgekehrt. Nach einem Schicksalsschlag steht ihre Karriere als Kommissarin in Stockholm still, der Polizeidienst in der malerischen Küstenregion ist unaufgeregt. Doch dann wird an Mittsommer ein Mann grausam am Bootssteg erschlagen. Die Mordermittlungen spülen für Sofia vergessene Gefühle an die Oberfläche, denn dringend tatverdächtig ist ihr ehemaliger Freund Fredrik Fröding. Sofia will Fredriks Unschuld beweisen und kommt auf die Spur erschütternder Ereignisse, die sich tief in das Leben der Inselbewohner gebrannt haben ...

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Seitenzahl: 499

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Buch

Nach einem schweren Schicksalsschlag hat Kriminalkommissarin Sofia Hjortén Stockholm verlassen und ist in ihre Heimat, die idyllische Insel Ulvön, zurückgekehrt. Der Polizeidienst an der Höga Kusten ist unaufgeregt, und Sofia findet Trost und Ruhe in der Abgeschiedenheit der Insel. Außerdem sind hier ihr Vater und auch ihre Tochter begraben. Doch dann wird an Mittsommer ein Mann tot im seichten Wasser am Ulvöner Bootssteg aufgefunden. Wie sich herausstellt, handelt es sich um den bekannten Hotelier Adam Ceder, der grausam erschlagen wurde. Die Mordermittlungen spülen für Sofia in Vergessenheit geratene Gefühle an die Oberfläche, denn ausgerechnet ihr ehemaliger Freund Fredrik Fröding ist dringend tatverdächtig. Obwohl die Indizien gegen ihn sprechen, will Sofia Fredrik helfen und seine Unschuld beweisen. Dabei kommt sie auf die Spur erschütternder Ereignisse, die sich tief in das Leben der Inselbewohner gebrannt haben …

Weitere Informationen zu Lina Areklew sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lina Areklew

Schärennacht

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

Die schwedische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Ur askan« bei Strawberry Förlag, Schweden.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2022

Copyright © Lina Areklew, 2020

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by arrangement with Nordin Agency AB, Sweden

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: © Arcangel / Ivy Ho; FinePic®, München

Redaktion: Julie Hübner

KS · Herstellung: ik

Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-27450-4V001www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine Familie – es gibt keine Worte.

Prolog

M/S Estonia, 28. September 1994

Der Pullover ist in der Schwimmweste hängen geblieben, der Rücken ist nackt. Die Schuhe sind weg, vielleicht noch da drinnen, aber er spürt keine Kälte. Eine Frau ruft herzzerreißend, fleht ihn um Hilfe an, doch er hat weder die Zeit noch die Möglichkeit, etwas zu tun. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, lässt er sie zurück, wirft sich an die Reling. Menschen kämpfen um ihr Leben, um festen Halt, während das Schiff krängt. Soll er versuchen, wieder unter Deck, zurück zu Mama und Papa zu kommen? Irgendetwas sagt ihm, dass er jetzt auf sich gestellt ist. Er muss es allein schaffen. Mit neuer Entschlossenheit hievt er sich über die Reling. Das Schiff krängt mit jeder Woge mehr, und schon bald kann er die Außenseite der Fähre hinunterrutschen. Er schaut auf das krängende Schiff hinunter und denkt, dass es wie ein sterbender Wal aussieht, dessen weißer Bauch direkt über die Wasseroberfläche blitzt. Und es befinden sich noch viele Menschen in seinen Eingeweiden.

Angst brennt in seinem Brustkorb, aber er bewegt sich weiter. Die Füße rutschen über den Metallrumpf vorwärts. In der Dunkelheit stößt er auf andere. Verwirrte und panische Menschen, die alle auf die Welle warten, die sie hinaus in die schwarze Leere mitreißen wird. Überall sind verzweifelte Rufe nach den Liebsten zu hören. Wieder denkt er an Mama und Papa. Er hat die Eltern nicht mehr gesehen, seit er sich inmitten der Kette von Menschen die sich neigenden Treppen hochgezogen hat.

Er tritt auf eines der Fenster, spürt den Unterschied zwischen dem dicken Plastik und dem kalten Rumpf. Die Kajüte dahinter ist leer. Die Familie, die dort geschlafen hat, muss es rausgeschafft haben. Decken, Kissen und Taschen liegen durcheinandergewürfelt auf der geschlossenen Tür. Ein rosafarbener Teddybär ist in der Garderobe festgeklemmt.

Die Beleuchtung blinkt ein letztes Mal auf, dann wird es dunkel, und der gellende Ton des Signalhorns ist zu hören. Der Himmel wird von Notraketen rot erleuchtet.

Die ganze Welt ist gekentert.

Er hebt den Blick und sieht eine Welle nach der anderen über die Rettungsinseln schlagen, die zu Wasser gelassen wurden. Der Wind nimmt sie hoch und lässt sie über die Wasseroberfläche kreiseln. Jetzt muss er sich entscheiden. Bleiben und mit in die Tiefe gezogen werden oder sich in das eiskalte Meer stürzen.

Man kann das hier nicht überleben. Das begreift er. Das Leben wird in dieser Nacht zu Ende gehen.

Donnerstag, 20. Juni 2019

1.

Der Mageninhalt schoss in einem ungebändigten Schwall aus Fredrik Frödings Mund. Als er zwischen den Würgeanfällen Luft zu holen versuchte, brannte es ihm in der Nase. Vor der Kloschüssel kniend, die eine Hand um den Toilettenpapierhalter gekrallt, beförderte er den letzten Rest aus sich heraus.

Er erhob sich auf zitternden Beinen und fuhr zusammen, als er sein Spiegelbild sah. Das Weiß seiner Augen war hellrosa und von grellroten Blutgefäßen durchzogen, die sich bis in die Iris hineinschlängelten. Beim Anblick seines grauen Gesichts und der unrasierten Wangen wendete er den Blick ab.

Er wollte einen Schritt Richtung Tür machen, aber seine Beine trugen ihn nicht, und er sackte zusammen. So blieb er auf dem Badezimmerteppich liegen, den Blick auf die verstaubte Plastikverkleidung um das Abflussrohr des Handwaschbeckens gerichtet, und versuchte, den Raum dazu zu bringen, sich nicht mehr zu drehen.

Es waren wieder zu viele gewesen. Nach den ersten beiden Tabletten hatte er weniger als eine halbe Stunde gewartet, bis er zwei weitere genommen hatte. Jetzt war der Blister leer. Der Alkohol hatte die Wirkung verstärkt, und die Begleiterscheinungen hatten nicht auf sich warten lassen. Wie ein Sandsack traf ihn der Schwindel, und dann kamen auch schon die Übelkeitsanfälle. Seit seiner allerersten Tablette war ihm immer wieder dringend ans Herz gelegt worden, die angstdämpfenden Medikamente nicht mit Alkohol zusammen einzunehmen. All die Jahre war er in der Hinsicht sehr vorsichtig gewesen. Der letzte diesbezügliche Fehler war ihm an der Uni unterlaufen, das war bald fünfzehn Jahre her. Damals war er mit seinen ausgeschlagenen Vorderzähnen in der Hand in einem fremden Hauseingang aufgewacht.

Fredrik blieb noch ein Weilchen auf dem Badezimmerteppich liegen und wartete, bis sein Atem sich beruhigte. Aber bald musste er aufstehen. Wenn er sich nicht aufraffte, die Treppe hinunter- und zur U-Bahn ging, würde er die Stunde bei Torsten Bredh verpassen. Er versuchte, den Weg vor sich zu sehen, und bildete sich ein, dass sich der Knoten in seinem Innern mit jedem Schritt, den er in Gedanken unternahm, ein wenig mehr löste. Mit einer Kraftanstrengung gelang es ihm, auf alle viere zu kommen. Die Beine sackten noch einmal unter ihm weg, doch am Ende stand er, ohne zu schwanken, auf dem kalten Plastikteppich. Indem er sich an der Badezimmerwand abstützte, schob er sich zur Dusche vor und drehte den Hahn auf. Schon bald stieg Dampf über dem Duschvorhang auf. Vorsichtig ließ er die Wand mit der einen Hand los und zog sich die Boxershorts aus, vermied aber, sich im Spiegel über dem Waschbecken anzusehen, als er nackt unter das brühheiße Wasser stieg.

Fünfundvierzig Minuten später stand er draußen auf dem Karlavägen. Menschen hechteten vorbei, genau wie immer, mit Tüten in den Händen und gestressten Mienen. Scheinbar völlig unwissend in Bezug darauf, wie schnell sich das Leben ändern konnte. Fredrik beneidete sie. Er fantasierte gern über die Menschen, die ihm unten, wo früher das Esplanad-Kino gewesen war, im ICA-Supermarkt begegneten. Verschwitzte Väter mit kleinen Kindern an den Händen, die durch Taco- und Gemüseregale pflügten. Wenn er nur einer von ihnen sein könnte. Einer, der das freitägliche Abendessen plante, Windeln wechselte, All-inclusive-Familienreisen unternahm.

Er zog den Reißverschluss der Lederjacke hoch, ging vornübergebeugt die Treppen hinunter und nahm Kurs auf die Rolltreppe jenseits der Absperrungen zur U-Bahn. Auf der obersten Treppenstufe ließ er sich erschöpft nieder und rieb sich keuchend das Gesicht. Menschen räusperten sich und seufzten laut, während sie sich vorbeidrängelten, doch er tat so, als würde er sie nicht bemerken. Er schloss die Augen und hielt das Gesicht in die kühle Luft, die sich ihren Weg aus den dunklen Tunneln heraufbahnte. Er stellte sich vor, dass sie Schwindel und Übelkeit mit sich fegen würde.

Dieses Mal hatte sich die Angst fast fünf Jahre lang nicht blicken lassen. Fünf Jahre Ruhe, doch jetzt war alles mit einer Macht zurückgekehrt, die ihn erschreckte. Er wusste, was der Auslöser gewesen war, hatte sich aber nicht davor schützen können. Es war wie eine Kraft, die an ihm zerrte, und er ertappte sich selbst dabei, wie er im Zeitungskiosk stand und in Sonntagsbeilagen mit Headlines wie »Das Leben nach Estonia« blätterte oder Artikel von Müttern mit süßen Kindern an der Hand verschlang, die am Djurgårds-Denkmal Blumen ablegten: »Elsa durfte ihre Großmutter nie kennenlernen.« Zudem hatten die Journalisten und Fotografen ihn, obwohl so viele Jahre vergangen waren, immer noch im Visier. Manchmal waren es nur ein paar wenige Interviews um den Jahrestag herum. Dann wieder mehrere am Tag. Die runden Jahrestage waren am schlimmsten, aber inzwischen gaben sie immer schneller auf. Es war nicht mehr wie am Anfang, als sie mehr oder weniger vor dem Krankenhaus ihre Zelte aufgeschlagen hatten und, als er dann nach Hause entlassen worden war, wochenlang die Straße vor der Wohnung seiner Großmutter belagerten. Sie waren sich nicht zu schade gewesen, Fotos von ihm, seinen Freunden, seiner Schule zu machen. Hatten scheinheilig gefragt, gelockt, gedroht und bestochen. Alles nur, um die beste denkbare Geschichte über den völlig am Boden zerstörten Dreizehnjährigen zu verfassen, der in der schlimmsten Fährkatastrophe Europas seine komplette Familie verloren hatte. Und jetzt war es wieder so weit. Zeit, an den Gedenkbeilagen zu feilen. Auch wenn die Versuche bisher nicht besonders aggressiv gewesen waren, hatte ihr Drängen doch genügt, um ihn wieder in eine Abwärtsspirale zu schleudern und zurück in Torsten Bredhs Praxis zur Behandlung von posttraumatischem Stress zu bringen.

Fredrik erhob sich mit weichen Knien. Er konnte den Bahnsteig sehen. Drei Minuten bis zum nächsten Zug.

*

Sofia Hjortén schielte auf den freien Parkplatz neben dem vollgepackten Wohnmobil. Der Golf, den sie auf Ulvön stehen hatte, war rostig und hatte mehrere Dellen an den Türen. Ein Wegwerfauto. Doch hier auf dem Festland war sie sorgfältiger mit der Wahl des Parkplatzes. Ihr schwarzer Volvo XC60 war erst ein Jahr alt, in den wollte sie sich ungern eine Beule fahren. Sie sah noch einmal hin und entschied, dass die Lücke groß genug war.

Im Schatten vor dem Wohnmobil saß eine Frau auf einem Hocker und stillte ein Baby. Zu ihren Füßen schlabberte ein brauner Hund gemächlich Wasser aus einer Plastikschale. Amüsiert nahm Sofia noch eine Reihe ähnlicher Gespanne auf dem Parkplatz wahr. Immer Mütter mit einer unterschiedlich großen Anzahl von Kindern und Haustieren, die ausgeführt werden mussten, aber nie irgendwelche Väter.

Sie schloss das Auto ab und ging in den Outlet-Shop. Das Jagd- und Angelgeschäft an der E4 war ein selbstverständlicher Stopp für viele Touristen, und das Gedränge im Sommer konnte ziemlich nervig sein. Das galt vor allem für die Bekleidungsabteilung, wo die Besucher aus der Großstadt sich um zur Hälfte im Preis reduzierte Daunenjacken und warme Wanderschuhe rissen, die doch niemals auch nur in die Nähe eines Berges kommen würden. In der Angelabteilung hingegen war Sofia zumeist die einzige Vertreterin ihres Geschlechts.

Bengt kam auf sie zu und umarmte sie. Eigentlich fand sie nicht, dass sie einander gut genug kannten für eine Umarmung. Sie hatten die letzten drei Jahre derselben Hechtangelmannschaft angehört, aber das war’s auch schon. In ihren Augen waren sie höchstens Bekannte, aber sie wusste auch, dass ihr Maßstab für ein soziales Miteinander nicht derselbe war wie für normal veranlagte Menschen.

»Bist du schon aufgeregt wegen des Wochenendes? Norwegen, das ist echt ein Ding! Ist mehrere Jahre her, dass ich da geangelt habe. Du weißt ja, dass der Bus am Samstagmorgen schon um neun Uhr losfährt, dieses Jahr also keine Mittsommerparty!«, ermahnte er sie über die Schulter hinweg. »Oder arbeitet die Frau Kriminalkommissarin möglicherweise am Feiertag?«

Bengt nickte zum Glastresen weiter hinten im Laden, um ihr zu signalisieren, dass sie ihm folgen solle.

»Nein, die Frau Kriminalkommissarin hat tatsächlich frei«, erwiderte Sofia. Es war nach drei Jahren das erste Mittsommerfest, an dem sie keinen Dienst im Polizeirevier Örnsköldsvik schieben musste.

Bengt tauchte neben dem Tresen ab, wühlte zwischen einer Menge Kartons herum, die noch nicht ausgepackt waren, zog etwas Luftpolsterfolie beiseite und hob dann andächtig eine goldfarbene Angelrolle heraus.

»Da ist sie. Ihre Majestät die Shimano Calcutta Conquest 400 höchstselbst.« Bengt verbeugte sich leicht und reichte ihr die Rolle. »Du bist doch Rechtshänderin, oder?«

Sofia nickte und nahm die Rolle entgegen. Sie testete Freilauf und Bremse und genoss für einen Moment die fast lautlose japanische Präzision.

»Heftig, oder?«

Die Rolle würde sie ein kleines Vermögen kosten, aber das war es wert. Der Sieg in der Pike Challenge war voriges Jahr an ihre Mannschaft gegangen, aber zwei ihrer besten Wolfcreek-Ruten und ihre letzte Shimano-Rolle hatten dran glauben müssen.

»Die Schnur ist mit 110 Meter und 0,35 aufgespult, das dürfte doch für dich passen, oder? Brauchst du eine Rute? Und ein Gummi vielleicht?« Er grinste breit über seinen eigenen Witz. Sofia konnte dem erwartungsfrohen Strahlen nicht widerstehen.

»Real men use jerkbait, weißt du doch.«

Bengt kicherte, während er die Rolle wieder entgegennahm und sie einpackte.

»Zwei Tage noch«, sagte er mit strahlender Miene, »dann kracht es!«

2.

»Fredrik?«

Torsten Bredh schnippte mit den Fingern und legte den Kopf schief, um seinen Blick einzufangen.

Draußen vor dem Fenster des Psychiaters schien die Sonne, und Fredrik betrachtete die Schmutzränder auf den nicht geputzten Scheiben. Er war tief in Gedanken versunken. Hörte die Taue am Gummiboot schaben. Spürte Niklas’ kalte Hand, die krampfhaft die seine umklammerte, wenn die Wellen über sie schlugen.

Erst hatten sie gelacht. Dann vor Freude darüber geweint, wie absurd es war, dass sie beide es raus- und dann hinunter- in dasselbe Rettungsboot geschafft hatten. Doch je länger sie auf Rettung warten mussten, desto stiller waren sie geworden. Fredrik hatte getröstet, hatte versucht, seinen kleinen Bruder davon zu überzeugen, dass alles gut werden würde. Obwohl die Gedanken an die in der Fähre, im Wasser, in der Tiefe Verbliebenen ihn innerlich zerrissen. Die Gedanken an Mama und Papa. Schließlich hatten sie einander nur noch umarmt, sich am anderen festgeklammert und beruhigende Worte ohne Bedeutung geflüstert. Direkt neben ihnen waren zwei Menschen gestorben, doch keiner der anderen im Boot hatte das kommentiert. Sie hatten einfach nur wie versteinert dagesessen. Bis diese letzte Welle kam …

Fredrik hob den Blick und ließ ihn über Torstens im Hippie-Stil eingerichtete Praxis wandern. Sein zweites Zuhause im dritten Stock eines Hauses am Sveavägen. Die gesetzliche Krankenversicherung hatte ihn schon lange aufgegeben, da war die private psychiatrische Praxis das Einzige, was noch blieb. Als Fredriks Arzt nur resigniert mit den Schultern gezuckt und angefangen hatte, über Frührente zu reden, da hatte Torsten seine Praxis mit der Ausrichtung auf Trauerarbeit und Posttraumatisches Stresssyndrom gerade neu eröffnet. Fredriks Krankenakte war an Torsten übermittelt worden, und seither kam er hierher.

Die meisten von Torstens anderen Patienten waren inzwischen schon weitergezogen. Hatten sich ein neues Leben gesucht, die Wunden heilen lassen. Er nicht.

»Fredrik?«

»Ja?« Er blickte auf die grünkarierte Hemdtasche des Psychiaters.

»Ich habe gefragt, woran Sie denken.«

»Niklas.«

Torsten gab sich große Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen, doch seine hochgezogene Augenbraue verriet, dass dies nicht die Antwort war, die er hatte hören wollen.

»Gestern habe ich ihn wiedergesehen.«

Torsten senkte den Blick und ließ die Luft langsam durch die Nasenlöcher entweichen.

»Aha. Wo ist er denn diesmal aufgetaucht?«

Fredrik war durchaus bewusst, dass Torstens Frage nicht aus einem ehrlichen Interesse herrührte, deshalb zuckte er nur mit den Schultern.

»Spielt das noch eine Rolle?«

Torsten antwortete seinerseits mit einem Achselzucken. Dies war ein gut eingeübter Tanz zwischen ihnen beiden.

»Fünfundzwanzig Jahre ist das jetzt her, nicht wahr?«

Eine rhetorische Frage, aber Fredrik nickte dennoch.

»Haben die Medien Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«

Noch ein Nicken.

Torsten lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

»Erzählen Sie, wo haben Sie ihn gesehen?«

Das hier war das Finale des Tanzes. Es entsprach kaum einem der zahlreichen Behandlungsprogramme oder einer der Methoden, die Torsten in der Hoffnung, dass Fredrik sich weiterentwickeln würde, mit ihm zusammen ausprobiert hatte. Stattdessen ließ er ihn inzwischen wieder und wieder von der Trauer, der Angst und dem quälenden schlechten Gewissen reden, mit dem er lebte. Die Schuld, die er darüber empfand, in jener Nacht die Hand seines Bruders losgelassen zu haben. Dass er ihn nur wenige Momente, ehe der Rettungskreuzer sie erreichte, hinaus ins schwarze Wasser hatte gleiten lassen.

»Wo haben Sie ihn gesehen?«, wiederholte Torsten.

Fredrik schloss die Augen und legte den Kopf in die Hände.

Er war guter Dinge gewesen und den Karlavägen entlanggegangen. Zwei Kollegen von der Pass-Stelle in Sollentuna hatten ihn gefragt, ob er nach der Arbeit auf ein Bier mitkommen würde. Um auf den bevorstehenden Urlaub anzustoßen. Sie waren in einem Gartenlokal in der Nähe des Stureplan gelandet, und aus einem Bier waren mehrere geworden. Eine schlechte Kombination zusammen mit den vier Tabletten, die er am Nachmittag genommen hatte. Sie hatten über die Arbeit geredet und darüber, welche Pläne alle für den Sommer hatten. Fredrik hatte gelogen und gesagt, er würde mit ein paar Freunden segeln gehen. Das hatte sich gut angefühlt. Fast wie ein richtiges Leben. Auf dem Nachhauseweg hatte er am Kiosk Halt gemacht, um ein Wasser zu kaufen. Als er die Geheimzahl der Kreditkarte eingeben musste, war es ihm schwergefallen, den Blick zu fokussieren, und als er sich an der Schlange vorbei zum Ausgang quetschte, torkelte er.

Und da war es passiert.

Vor dem Laden kam ein Mann mit schwarzer Schirmmütze und hellem Kapuzenpullover in raschem Tempo so dicht an ihm vorbei, dass Fredrik abbremsen musste, um nicht in ihn hineinzulaufen. Er sah dem Mann nach, der mit gesenktem Kopf, als würde er seine Schuhe betrachten oder sein Gesicht verbergen wollen, zum Fußgängerüberweg ging. Fredrik hatte schon ein kurzer Blick auf das Profil des anderen genügt.

Es war Niklas. Er wusste es.

Noch ehe er reagieren konnte, war die Ampel auf Rot gesprungen, und auf der vierspurigen Straße fuhren die Autos. Er hatte gerufen. Wieder und wieder hatte er Niklas gerufen, doch der Mann hatte nicht reagiert. Ohne nachzudenken, hatte sich Fredrik auf die Straße zwischen den Autos gestürzt und war gerannt, bis ihm das Herz in der Brust zu explodieren drohte. Er war zwischen den Abendspaziergängern hindurchgekreuzt und hatte die ganze Zeit versucht, die schwarze Kappe nicht aus den Augen zu verlieren, die sich schnell durch die Menschenmenge bewegte. Das Letzte, was er von Niklas sah, war, wie er an der Ecke vom Humlegården auf den Eingang des Hotel Ceder City East zusteuerte und einem rothaarigen Mann, der draußen stand, die Hand gab, um dann im Hotel zu verschwinden. Fredrik war wie gelähmt stehen geblieben, plötzlich unsicher, ob er sich nicht doch getäuscht hatte.

»Fredrik.«

Er öffnete die Augen und sah zu Torsten, der sich nach dem Laptop streckte, der ein Stück rechts von ihm auf dem Schreibtisch stand. Ein sicheres Anzeichen, dass ein neues Rezept ausgestellt werden würde. Torsten achtete immer darauf, seinen Bürostuhl so zu verschieben, dass der Schreibtisch nicht zwischen ihnen stand. Als ob der Psychiater gezwungen wäre, dicht bei ihm zu sitzen, um das innere Chaos zu verstehen, das in ihm und all den anderen armen Teufeln herrschte, die in dieser Praxis landeten.

Du wirst es nie verstehen. Ganz gleich, wie viel du deinen Bürostuhl auch herumschiebst.

»Fredrik, wenn Sie wieder Halluzinationen haben, bin ich verpflichtet, mit Ihnen über die Einweisung in eine psychiatrische Klinik zu sprechen. Ich möchte Ihnen ungern weitere Tabletten verschreiben, ohne dass wir einen Plan für die Zukunft haben.«

Fredrik nickte und holte Luft. Für gewöhnlich war Torsten nicht knickerig mit den Medikamenten. Er empfing ihn zu jeder Tageszeit, hörte ihm zu und verschrieb ihm dann Tabletten, doch es kam vor, dass er eine Gegenleistung verlangte. So hatte er Fredrik schon mehr als einmal in Spezialkliniken und zu experimentellen Behandlungen geschickt. Manchmal half das für eine Weile, manchmal nicht. Jedenfalls kehrte die Angst immer wieder zurück, und dann brauchte er seine Tabletten.

Torsten fixierte seinen Blick.

»Fredrik. Sie wissen, dass Ihr kleiner Bruder tot ist, nicht wahr?«

Fredrik schaute wieder aus dem Fenster. Schreckte zusammen, als er hörte, wie draußen etwas mit einem Kreischen auf den Asphalt schlug. An die Geräusche erinnerte er sich am besten. Wie das Wasser um ihn herum zu kochen schien. Die Fenster der Kajüten, die vom Druck explodierten. Eines nach dem anderen, wie Silvesterknaller.

Was Torsten sagte, spielte keine Rolle. Nichts, was irgendjemand sagte. Niklas musste in ein anderes Rettungsboot geklettert sein. Es waren mehrere in der Nähe gewesen. Und Helikopter auch. Er trug eine Schwimmweste. Vielleicht hatte er zu sehr unter Schock gestanden, um zu sagen, wer er war, oder er war mit jemandem verwechselt worden. Oder aber, er war … Nein, Niklas musste überlebt haben.

Als Fredrik aus Torstens Praxis kam, brannten seine Handrücken vom Kratzen. Mit schnellen Schritten ging er den Sveavägen hinauf und in die erstbeste Apotheke. Kaum wieder auf der Straße, riss er schon die Verpackung auf, nahm zwei Tabletten und lief dann zum Hotel. Aus Angst, dass er sich wieder getäuscht haben könnte, hatte er gestern nicht gewagt, das Gebäude zu betreten. Aber jetzt war er entschlossen. Er würde hineingehen.

Fredrik blieb auf der anderen Straßenseite stehen und betrachtete die Menschen, die durch die breiten Glastüren kamen und gingen. Er strich sich mit beiden Händen das etwas zu lange dunkle Haar aus der Stirn, zögerte einen Moment, steuerte dann aber mit entschiedenen Schritten auf den Eingang zu.

Der Portier in blauem Jackett hielt ihm höflich die Tür auf. Er ließ ein älteres Paar vorbei, das, jeder mit einem Kabinenkoffer ausgestattet, auf dem Weg hinaus war, und stand dann mitten in der in Gold gehaltenen Lobby. An der Decke hing ein riesiger Kristalllüster, und entlang der einen Wand verlief ein langer Rezeptionstresen aus Chrom. Dahinter standen junge Frauen und Männer, die ebensolche blauen Jacketts trugen wie der Portier. Fredriks Sichtfeld verschwamm an den Rändern, und er musste seinen ganzen Körper drehen, um den Raum scannen zu können. Er trat an den Tresen, streckte die Hand aus und lehnte sich dagegen, als ein Mann mit zum Seitenscheitel gekämmtem schwarzem Haar ihn ansprach.

»Bitte schön, wie kann ich Ihnen helfen?«

Fredrik drehte sich weg, um so tun zu können, als habe er ihn nicht gehört. In der vergeblichen Hoffnung, dass Niklas vielleicht dort stehen würde, lebendig, ihm vergebend, ließ er den Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Der Mann mit dem Seitenscheitel ging um den Rezeptionstresen herum und kam auf ihn zu.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte er mit einem Blick auf Fredriks abgewetzte Lederjacke.

»Niklas Fröding. Hat er hier eingecheckt?« Die Zunge fühlte sich dick an, und zu seinem Entsetzen hörte er, dass er lallte.

Der Mann, dessen bestickte Brusttasche verriet, dass er Theodor Hake hieß und der Hotelchef war, legte ihm die Hand auf den Arm und zog ihn beiseite.

»Leider können wir die Namen unserer Gäste nicht weitergeben. Wenn Sie also sonst nichts …« Er nickte vielsagend zu den Eingangstüren hinüber.

»Gestern war er hier.« Fredrik erhob seine Stimme, was einige Blicke auf ihn zog. »Ich habe ihn reingehen sehen.«

Der Hotelchef packte Fredriks Ellenbogen etwas fester und schob ihn auf die Türen zu. Fredrik versuchte, seinen Arm mit einem Ruck aus dem Griff zu befreien.

»Lassen Sie mich los!«

Ein Rezeptionist kam um den Tresen herum, und zwei der Gäste, die darauf warteten, einchecken zu können, sahen beunruhigt zu ihnen hin.

»Wenn Sie sich nicht beruhigen, werden wir gezwungen sein, den Sicherheitsdienst zu rufen.« Der Hotelchef griff nach dem Handy in der Hosentasche.

Vergeblich versuchte Fredrik, sich loszureißen. Im selben Augenblick, als der Hotelchef begann, den Kollegen vom Sicherheitsdienst die Situation zu erklären, kam ein rothaariger Mann seelenruhig auf sie zu.

Fredrik erkannte ihn sofort. Das war der Mann, den Niklas vor dem Hotel begrüßt hatte.

»Was geht hier vor?« Die Stimme klang autoritär.

Fredrik riss sich los und rückte seine Jacke zurecht.

»Ich suche nach meinem Bruder Niklas. Niklas Fröding.«

Der Mann nahm ihn in Augenschein.

»Mein Name ist Adam Ceder, ich bin der Besitzer dieses Hotels. Folgen Sie mir.« Er umrundete den Rezeptionstresen, tippte ein paar Augenblicke auf die Tastatur des Terminals und sah dann auf. Der kalte Blick ließ Fredrik erschaudern.

»Da muss es sich um ein Missverständnis handeln. Wir haben keinen Gast dieses Namens.« Ceder lächelte ihn bedauernd an.

Das Lächeln eines Lügners. Da gab es gar keinen Zweifel. Fredrik klatschte seine Hände auf den Tresen und griff dann nach Ceder.

»Sie lügen!«

Im Augenwinkel sah Fredrik den Hotelchef näher kommen, doch Ceder schüttelte ruhig den Kopf und hielt, ohne ihn aus den Augen zu lassen, die Hand hoch.

»Wie gesagt, es muss sich um ein Missverständnis handeln.« Mehr konnte er nicht sagen, ehe zwei Wachleute auf sie zukamen. Sie packten Fredriks Oberarme in einem harten Griff, der keinen Widerstand zuließ.

»Das können Sie nicht tun!«, rief er laut über seine Schulter.

Ceder stand da und sah ihm gedankenverloren nach.

»Ich will Niklas sehen!«

Freitag, 21. Juni 2019,

Mittsommerabend

3.

Vorsichtig zog Sofia ihren Arm zu sich heran und robbte ein bisschen von Kaj weg. Die Armbeuge klebte vom Schweiß an seinem Nacken, und ihre Hand war eingeschlafen. Sein grau meliertes Haar hatte sich in der Wärme gekräuselt und stand in Locken von den Schläfen ab.

Sie lag eine ganze Weile auf dem Rücken und starrte zur Balkontür, die halb offen stand und eine kühle Meeresbrise hereinließ. In der Ferne konnte sie die Wellen auf den Kiesstrand schlagen hören.

Kaj musste schon heute Abend wieder bei seiner Frau in Stockholm sein, doch das machte ihr nichts aus. So sah ihr Arrangement nun einmal aus, und außerdem hatte sie morgen ja den Angelwettbewerb in Norwegen, auf den sie sich freuen konnte.

Zu ihrer Erleichterung hatte Kaj es abgelehnt, zum Festland gebracht zu werden. Sie musste ihn nur unten in Ulvöhamn am Anleger absetzen, dann konnte er selbst die Fähre nehmen, und Sofia hätte noch den ganzen Nachmittag, um ihre Angelausrüstung zu ordnen. Außerdem würde sie sich mit Hingabe um ihr Boot kümmern, auch wenn es sich nicht zum Hechtfischen eignete. Tord, ihr Patenonkel, hatte ihre kostbare Riva Ariston im Winterlager gehabt. »Das Rennpferd« hatte ihr Vater das Boot immer genannt. Sein italienischer Augenstern mit dem Temperament eines jungen Füllens. Mal sanft, mal widerspenstig, aber schnell wie der Wind, wenn es sich ins Zeug legte. Jetzt gehörte das Pferd ihr, ob sie wollte oder nicht. Bis zum nächsten Jahr musste sie ihr altes Bootshaus auf Vordermann bringen, damit sie ein eigenes Winterlager hatte. Tord wurde langsam alt. Es war schon Aufwand genug, dass er im Winter jede zweite Woche zum Haus ging, um die Veranda vom Schnee freizuschaufeln, während sie wie der Pascha in ihrer warmen Wohnung in Örnsköldsvik hockte. Ihr Vater würde sich im Grab umdrehen, wenn er das wüsste. Seine Tochter – eine Büromaus auf dem Festland.

Sofia angelte nach dem Handy und fuhr mit dem Finger übers Display, um zu sehen, wie spät es war. Viertel nach neun. Der ganze Morgen war schon rum.

Kaj seufzte im Schlaf und drehte ihr den Rücken zu. Der Bettbezug bewegte sich mit ihm und hüllte seine langen Glieder wie in einen Kokon. Sofia blieb nackt auf dem warmen Laken liegen. Sie betrachtete ihren Körper, der im scharfen Morgenlicht so unattraktiv aussah. Der platte Bauch, die hervorstehenden Hüftknochen und die drahtigen Beine. Sie hatte schon immer wie ein Kind ausgesehen. Nur die kleinen Brüste mit den hellrosa Brustwarzen verrieten, dass sie eine erwachsene Frau war.

Doch Kaj hatte sich nie über ihre mangelnde Weiblichkeit beklagt, sondern fand sie im Gegenteil anziehend. Warum, das hatte sie nie begriffen. Ihre Beziehung ging seit zehn Jahren on and off, doch die Leidenschaft war nie abgekühlt. Kaj hatte niemals den Wunsch nach irgendwelchen Ausschweifungen in ihrem Sexleben geäußert. Was Sex anging, war er eine Generation älter als sie, für ihn war das immer noch etwas Schönes zwischen zwei Menschen, die sich liebten. Brasilian Waxing, One-Night-Stands und Onlinedating war nichts, womit sich Kaj Marklund befasste. Das machte ihr Arrangement noch seltsamer.

Vorsichtig setzte sich Sofia im Bett auf. Manchmal fiel es ihr schwer zu begreifen, was er in ihr sah. Trotz des Altersunterschieds von dreiundzwanzig Jahren konnte man meinen, dass sie die Ältere wäre. Die Langweilige. Kaj hatte ein aktives soziales Leben mit vielen Freunden, während Sofia ihr Zuhause kaum verließ. Und im Vergleich mit Mette Severin Marklund, diesem kunterbunten, das Leben genießenden Kanarienvogel, den Kaj geheiratet hatte, war Sofia bestenfalls gewöhnlich.

Manchmal fragte sie sich, wie alles wohl gekommen wäre, wenn sie nicht schwanger geworden wäre. Würde sie dann noch in Stockholm leben? Möglich. Dennoch war die Schwangerschaft eine positive Überraschung für sie gewesen. Sie hatte sich immer Kinder gewünscht. Die Chance, einem kleinen Menschen die Kindheit zu geben, die ihr selbst vor allem wegen Claire, ihrer Mutter, gestohlen worden war. Aber mit einem Vorgesetzten ein Kind zu haben, das war eine Schande, die zu tragen sie nicht bereit gewesen war. Schlimm genug, dass hinter ihrem Rücken schon getuschelt worden war, weil Sofia so schnell Karriere gemacht hatte. Sich nach oben zu schlafen gehörte nicht zu ihrer Vorstellungswelt, aber die Gerüchte waren nicht zu bremsen gewesen. Da spielte es auch keine Rolle, dass Kaj derjenige gewesen war, der sich an sie herangemacht hatte, und nicht umgekehrt.

Drei Tage, nachdem sie von der Schwangerschaft erfahren hatte, beendete Sofia die Beziehung und kündigte ihren Job als Ermittlerin bei der Mordkommission Stockholm City. Ihr war klar, dass es Kaj hart treffen würde, aber sie bildete sich ein, dass es für alle das Beste wäre. Sie war nicht bereit, das Kind aufzugeben, und wusste, dass sie nicht stark genug wäre, um Kajs Druck standzuhalten, falls er für eine Abtreibung votieren würde. Also hatte sie ihre Koffer gepackt, ihren Chef angerufen und gesagt, dass sie eine Versetzung nach Örnsköldsvik wünsche, und hatte das unwahrscheinliche Glück gehabt, fast nahtlos dort anfangen zu können. Kaj hatte sie monatelang gejagt, hatte angerufen, Briefe geschrieben und Blumen geschickt, doch sie hatte sich konsequent geweigert zu antworten. Ungefähr zeitgleich mit dem Termin des zweiten Ultraschalls hatte er aufgegeben, und Sofia hatte die Bilder des Kindes, das sie im Bauch trug, von ihrer und Kajs Tochter, allein in Empfang genommen.

Anfänglich war sie mit ihrer Entscheidung zufrieden gewesen und hatte sich stark und bereit gefühlt, der Zukunft als alleinerziehender Mutter zu begegnen. Doch dann war alles in Stücke gegangen. Die schreckliche Fehlgeburt und die Krankschreibung danach hatte sie isoliert. Ihre linkischen Versuche, sich in der neu-alten Stadt ein soziales Leben aufzubauen, waren misslungen, und als sie schließlich wieder ins Arbeitsleben zurückkehrte, war sie bereits als Eigenbrötlerin abgestempelt. Wer nichts von der Fehlgeburt wusste, ging davon aus, dass sie schon nach wenigen Wochen an ihrem neuen Arbeitsplatz durchgedreht war, und damit galt sie auch als Schwächling. Überdies hatten sie die Jahre in Stockholm zu einer von den »Null-Achtern« gemacht, wie man im restlichen Schweden die verhassten Hauptstädter unter Verwendung der Stockholmer Vorwahl nannte – für jemanden, der selbst ursprünglich aus Norrland stammte, war das der schlimmste Titel überhaupt.

Die Einsamkeit war zu einem Mantel geworden, den sie getragen hatte, zunächst gezwungenermaßen und später mit einer Art Stolz. Warum sie an jenem Februartag vor vier Monaten den Hörer in die Hand genommen und Kajs Nummer gewählt hatte, wusste sie nicht, aber er war überglücklich gewesen. Trotz der drei Jahre, die vergangen waren, war er bereit, die Beziehung wieder aufzunehmen. Alles war wie immer, abgesehen davon, dass er Mette kennengelernt und geheiratet hatte und Sofia sich nun mit der Rolle der Geliebten abfinden musste.

Sie fasste ihr langes blondes Haar zu einem Dutt oben auf dem Kopf zusammen, den sie mit dem Haargummi befestigte, das sie immer ums Handgelenk trug.

»Guten Morgen.«

Sie fuhr zusammen, als sie Kajs kratzige Morgenstimme hörte. Er streckte sich nach ihr und zog sie unter das Betttuch. Sie ließ sich einfangen, machte aber den Rücken rund, um seinem verschwitzten Brustkorb zu entkommen.

»Ich habe von dir geträumt«, murmelte er mit den Lippen an ihrem Nacken.

»Es ist schon nach neun.« Sofia entzog sich ihm vorsichtig. »Ich würde vorm Frühstück gern noch laufen.«

»Du meinst, vor dem Mittagessen?«

Das Mittagessen an Mittsommer. Sie unterdrückte den Seufzer, der sich durch ihre Luftröhre schob. Kaj hatte auf dem traditionellen Mittsommeressen mit Hering und Schnaps bestanden. Traditionen waren ihrem verheirateten Liebhaber wichtig.

»Wenn du hierbleibst, könntest du auch ein bisschen Bewegung bekommen«, versuchte er, sie zu locken, und zog die Bettdecke herunter, um seine erwachte Männlichkeit zu entblößen. Doch Sofia war bereits aufgestanden.

»Bleib ruhig noch ein bisschen liegen. Ich nehme die lange Runde.«

Kaj sah ihr enttäuscht nach.

»Okay, dann kümmere ich mich um das Essen, bis du wieder da bist.«

Sofia wühlte ein Paar Joggingschuhe aus der Tasche, die auszupacken sie noch nicht geschafft hatte. Kaj betrachtete sie.

»Wie lange hast du Urlaub?«

Sie zog sich ein verwaschenes T-Shirt mit dem Logo der Hechtfischervereinigung über den Kopf und beugte sich hinunter, um die Schuhe zuzubinden.

»Vier Wochen. Wenn nichts passiert.«

Kaj lächelte.

»Was sollte hier schon passieren?«

4.

Die Nacht war gleichermaßen kurz wie lang gewesen. Fredrik hatte es gerade so nach Hause geschafft, ehe die Angst ihm ein Loch in den Brustkorb gerissen hatte. Die Angst, dieses geschlechtslose Wesen, das ihm mit scharfkantigen Absätzen über die Brust tanzte, bis nur noch blutige Fetzen übrig waren. Sechs Tabletten hatte er bereits aus der Schachtel genommen, und das hier war das letzte Rezept, das er bekommen würde. Da war Torsten sehr deutlich gewesen. Er hatte ihm die Nummer einer Klinik bei Sundsvall gegeben, die er anrufen könnte. Wenn er noch mehr Tabletten wollte, dann musste er sich für mindestens vier Wochen Intensivbehandlung dort einliefern lassen.

Er setzte sich auf den Holzstuhl, der in der Küchenecke stand. Die Sonne warf durch das Fenster ein grelles Licht über den Fußboden. Seine Behausung war heruntergekommen. Früher einmal war es eine gemütliche und schicke Wohnung im Miniformat gewesen, jetzt war das Parkett abgenutzt, und es gab weder Teppiche noch Möbel. An den Wänden entlang stapelten sich Kartons und Tüten, und in allen Ecken sammelten sich Wollmäuse. Den afghanischen Teppich und mehrere der antiken Möbel seiner Großmutter hatte er während seiner letzten Krankschreibung über Kleinanzeigen verkaufen müssen. Jetzt waren nur noch das Bett, der Holzstuhl und der Küchentisch übrig. Näher als mit dem Job in der Pass-Stelle war er einer Anstellung als Polizist nicht gekommen, und das Gehalt, das die Behörde für die meist eintönigen und niedersten Jobs zahlte, reichte kaum, um seine Rechnungen zu bezahlen.

Obwohl er nicht viel ausgab, reichte es trotzdem nicht, um etwas zu sparen. Essen, Miete, Handy und vielleicht ab und zu ein Kinobesuch. In diesem Jahr hatte sein gesellschaftliches Leben bisher aus dem After-Work-Treffen bestanden, zu dem er zwei Abende zuvor gegangen war. Ansonsten war die ganze Zeit von Januar bis Juni ohne eine einzige vom Job losgelöste Zerstreuung verstrichen. Diese Erkenntnis war so trist, dass es ihm den Hals zuschnürte.

Fredrik schaute sich in der Wohnung um. Er spürte den mahnenden Blick seiner Großmutter von dem Foto, das einsam und mit Staub bedeckt in der Fensternische stand. Sie war so stolz gewesen, als er es auf die Polizeihochschule geschafft hatte. Er erinnerte sich, dass sie an dem Abend wie immer, wenn sie etwas zu feiern hatten, ins Restaurant gegangen waren, ins vornehme Riche. Sie hatte jedem vom Personal lang und breit erzählt, dass ihr Enkelsohn jetzt tatsächlich Polizist werden würde. Fredrik lächelte. Großmutter Greta. Die binnen einer einzigen Nacht Mutter, Vater und Versorgerin der Familie hatte werden müssen, und das, obwohl ihre jungen und kraftvollen Tage bereits lange hinter ihr lagen. Zu Anfang hatten sie gestritten. Fredrik war dreizehn Jahre alt, ein Waisenkind, das sich nach seinen Freunden im Vorort Bromma zurücksehnte. Greta Fröding war seit fünfundsechzig Jahren treues Mitglied des Inner-Wheel der Rotarier und lebte ein geruhsames Leben in einer Zweizimmerwohnung auf Östermalm mitten in Stockholm. Voller Scham erinnerte sich Fredrik an die Male, als sie ihn beim Rektor der Schule abholen musste. Erst hatte sie mit ihm geschimpft und ihn dann getröstet, wohl wissend, welche Trauer auf ihm lastete. Ganz allmählich war ein neues Dasein herangewachsen, das er im Laufe der Zeit akzeptiert und in dem er sich schließlich auch wohlgefühlt hatte. Fast zehn Jahre lang hatten sie in ihrer seltsamen Familienkonstellation gelebt. Bis zu dem Morgen, an dem Fredrik sie im Bett gefunden hatte, kalt und mit grauen Lippen nach einem heftigen Schlaganfall.

Bei dem Gedanken an Großmutter Greta war ihm, als würden plötzlich Glasscherben seinen Körper besetzen. Er konnte hier nicht bleiben. Er musste etwas tun. Mit jemandem reden.

Draußen vor der Haustür erwachte gerade die Stadt. Um den Kiesweg roch es angenehm nach frisch gemähtem Gras. Der U-Bahn-Waggon war fast leer, und er ließ sich auf einem Sitz ganz hinten nieder. Die Sonne schien bereits von einem tiefblauen Himmel, und unterhalb der Tranebergs-Brücke waren Familien dabei, ihre Boote mit Essen und Getränken für das heutige Mittsommerfest zu beladen. Fredrik lehnte den Kopf an die kühle Fensterscheibe und bewunderte den Ausblick. Stockholm erstrahlte in Sommerkleid und Pyjama.

Er wechselte auf die Tvärbanan, stieg an der Haltestelle Ålstens gård aus und ging in die Richtung von Philips Haus. Familie Lindén wohnte in derselben Straße, in der er selbst fast seine gesamte Kindheit verbracht hatte. Der einfache Charme der weißen, legoartigen Reihenhäuser und die Nähe zur Stockholmer Innenstadt hatten die Preise in den letzten Jahrzehnten durch die Decke gehen lassen. Jetzt lagen sie viel höher als Mitte der Neunzigerjahre, als sein eigenes Elternhaus hatte verkauft werden müssen.

Solange er sich erinnern konnte, hatten Hans und Inga Lindén davon gesprochen, im Alter das Haus zu verkaufen und in eine Wohnung in der Stadt zu ziehen. Er hatte den Verdacht, dass sie das längst getan hätten, wenn ihr achtunddreißigjähriger Sohn endlich ausgezogen wäre.

Fredrik klopfte an die Haustür. Falls Philip schon schlafen gegangen war, würde er ziemlich lange klopfen müssen, doch anstelle des Freundes aus Kindertagen tauchte Hans in der Tür auf.

»Er war die ganze Nacht auf und hat sich eben hingelegt. Geh nur rein, aber du weißt ja, es ist schwer, ihn zu wecken.«

Hans betrachtete ihn eingehend.

»Wie geht es dir?«

»Gut«, log Fredrik, betrat mit entschlossenem Schritt die Diele und nahm Kurs auf die Kellertreppe, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen. Drinnen waren die Reihenhäuser identisch strukturiert, und Fredriks eigenes Zimmer war früher wie das von Philip der Hobbyraum gewesen. Er schob die Tür auf, ohne zu klopfen. Philip lag auf dem Bauch im Bett, die Decke um die Beine gewickelt. Auf dem Schreibtisch verteilt standen mehrere Flachbildschirme, den Rest des Raums besetzte ein Ledersofa vor einem großen Fernseher. Auf dem Fußboden türmten sich Haufen von Kabeln und Konsolen zu verschiedenen Videospielen und Rechnern.

Sie kannten sich, solange Fredrik denken konnte. Beste Freunde, die sorglos auf der Straße vorm Haus Fußball und Hockey gespielt hatten, verbotenerweise Moped gefahren waren und im Jugendtreff abgehangen hatten. Äußerlich war Philip genau wie alle anderen, doch in seinem Innern war er anders. Er steigerte sich leicht in Dinge hinein, und dann fiel es ihm schwer, wieder aufzuhören. Wenn die anderen zum Essen nach Hause fuhren, konnte er auf der Waldlichtung zurückbleiben und sorgfältig ihre versteckten Pornoblättchen nach Datum oder Farbe oder was auch immer ihm einfiel sortieren, völlig gleichgültig gegenüber dem Inhalt, an den zu denken die anderen kaum aufhören konnten. Hans und Inga mussten abends oft losziehen, um ihn zu suchen. Fredrik akzeptierte Philips Eigenheiten, doch die anderen Freunde waren einer nach dem anderen verschwunden. Philip isolierte sich immer mehr, und eine tiefe Angst vor der Außenwelt hatte von ihm Besitz ergriffen. Als Fredrik zu seiner Großmutter gezogen war, hatte Philip ganz aufgehört, aus dem Haus zu gehen, und lebte nur noch für seine Computerspiele. Vom Hobbykeller aus machte er eine Ausbildung und arbeitete danach als freiberuflicher Systementwickler. Ein Job, der nur ein Minimum an menschlichem Kontakt erforderte und der von jedem Ort der Welt ausgeführt werden konnte.

»Philip.« Sanft rüttelte Fredrik an der mageren Schulter.

Der Freund rollte sich auf den Rücken und öffnete ein Auge.

»Verdammt noch mal, Fredde, wie spät ist es?«

»Gleich halb zehn.«

Philip rollte sich zurück auf den Bauch und zeigte Fredrik hinter seinem Rücken den Stinkefinger.

»Hau ab! Ich war grade eingeschlafen.«

Fredrik ging zu dem rechteckigen Oberlicht und öffnete es, um ein bisschen Luft hereinzulassen. Als er sich umdrehte, sah er sich selbst in dem Karomuster aus Spiegeln über dem Bett, das aus Philips Teenagerzeit übriggeblieben war. Kein ansprechender Anblick. Sein dunkles, ungewaschenes Haar war lang genug, dass er einen Dutt daraus hätte machen können. Er musste sich einen Friseurtermin besorgen.

Fredrik ließ sich aufs Sofa fallen und betrachtete die dünne Gestalt im Bett.

»Er war es«, sagte er. »Diesmal bin ich hundertpro sicher, dass es Niklas war.«

Philip antwortete erst einmal nicht, doch Fredrik sah an seinem angespannten Rücken, dass er nicht wieder eingeschlafen war.

»Fredde …« Widerwillig drehte sich Philip im Bett herum und schwang die Beine über die Kante. Seine Stimme klang mitleidig und verärgert. Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit den Handflächen das Gesicht.

»Wieder zu viel Benzo?«

Fredrik senkte den Blick und kaute auf einem Nagel. Nur das dumpfe Surren der ausufernden Elektronik im Raum war noch zu hören.

»Es ist ja nun nicht gerade das erste Mal, dass du ihn siehst.«

Es war schon mal passiert, schon oft, aber diesmal war es anders. Er war sicher, Niklas vor dem Hotel gesehen zu haben. Ganz sicher. Warum Adam Ceder ihn hatte auflaufen lassen und so getan hatte, als würde er Niklas nicht kennen, konnte er nicht begreifen. Oder warum sein Bruder sich vor ihm versteckt hielt.

Fredrik holte den Blister aus der Tasche und drückte demonstrativ zwei Tabletten heraus, die er dann schluckte. Sein Sandkastenfreund sah mit ablehnender Miene zu, als er die Augen schloss und sich auf dem Sofa zurücksinken ließ, darauf wartete, dass die chemische Mischung ihre Wirkung tun würde. Nach einer Weile wurde die Atmung ruhiger, und die Hände juckten nicht mehr so, aber das Herz klopfte immer noch unregelmäßig in der Brust.

»Kapierst du nicht, dass er es nicht wirklich war?« Philip sah ihn vorwurfsvoll an. »Warum nimmst du diesen Scheiß?«

Fredrik öffnete die Augen.

»Weißt du, wer Adam Ceder ist?«

»Nein, sollte ich?«, Philip klang müde.

»Die Ceder-Kette?«

Philip nickte.

»Und? Was zum Teufel hat das mit dem Ganzen zu tun?«

»Ich habe Niklas zusammen mit Ceder vor seinem Hotel gesehen.«

Im oberen Stockwerk hörte man einen Staubsauger.

»Fredde, verdammt …«

»Okay.« Fredrik hob die Hände. »Du musst mir nicht glauben. Das Einzige, worum ich dich bitte, ist, diesen Ceder zu checken. Ich bin sicher, dass er etwas über Niklas weiß.«

»Warum checkst du ihn nicht selbst? Du musst ja wohl nur jemanden bei der Arbeit darum bitten.«

»Und wie würde das aussehen?«

»Ja, wie würde das wohl aussehen?«, echote Philip ironisch.

Fredrik scherte sich nicht um seinen Sarkasmus. Er musste einfach mehr über Ceder herausbekommen. Was für einen Grund hatte sein Bruder gehabt, das Hotel aufzusuchen? Und warum behauptete Ceder, Niklas nicht getroffen zu haben?

Philip erhob sich widerwillig und ging, immer noch die Decke um sich gewickelt, zum Schreibtisch und fuhr seinen Laptop hoch.

»Wenn ich das jetzt mache und nichts über ihn finde, lässt du dann los? Ein für alle Mal?«

Fredrik nickte und erhob sich vom Sofa.

»Ich schwöre.«

Philip sah ihm in die Augen, und beide wussten, dass es nicht die Wahrheit war. Fredrik würde Niklas niemals loslassen. Nicht noch einmal.

»Wohin willst du jetzt?« Philip sah Fredrik nach, als er zur Treppe ging.

»Ich werde mir Adam Ceder vorknöpfen.«

Vor dem Ceder City East war ordentlich was los. Noch längst nicht alle hatten die Stadt in Richtung Schärengarten und Sommerhäuser verlassen. Ein steter Taxistrom spuckte Touristen aus, die alle über die grünende Natur mitten in der Stadt staunten. Adam Ceder kam heraus und begrüßte eine Gesellschaft, die mit Horden von Leibwächtern in schwarzen Wagen eintraf, um sogleich im Eingang des Hotels zu verschwinden.

Fredrik wusste, dass es nicht sinnvoll war, ihm zu folgen. Er hatte beschlossen, Ceder erst einmal aus der Entfernung zu überwachen. Während er wartete, drückte er noch zwei Tabletten in seine Hand und schluckte sie ohne Wasser. Der bittere Geschmack beruhigte ihn schon, ehe sie überhaupt anfingen zu wirken. Maximal vier am Tag hatte Torsten gesagt. Er schaute auf den Blister. Es war noch nicht einmal Mittag, und er hatte schon vier genommen.

Nach dem Besuch bei Philip hatte er die U-Bahn nach Hause genommen und das Auto geholt, das ein paar Blocks entfernt in einer Parkgarage stand. Auch das hatte seiner Großmutter gehört. Ein silberfarbener Skoda. Nicht gerade ein spektakulärer Schlitten, aber gut gepflegt. Das Auto zählte zu den wenigen Dingen, die er noch nicht verkauft hatte. Es gab ihm ein Gefühl der Freiheit, auch wenn er nur selten bis nie überhaupt irgendwohin fuhr.

Diesmal würde Ceder seinen Fragen nicht entkommen können. Einen Menschen zu stalken war definitiv ein Übergriff, aber da Ceder sich weigerte, ihm die Wahrheit über Niklas zu sagen, gab es keine Alternative. Fredrik würde warten, bis er herauskam, und ihm folgen. Dann würde er von ihm Auskunft darüber verlangen, warum Niklas zum Hotel gekommen war. Laut Adressbuch wohnte Ceder in einer Villa auf Djursholm. Wenn sie dort, fern von jeglichem Sicherheitsdienst, angekommen wären, würde Fredrik aus dem Auto springen und ihn stellen. Das war der Plan.

Fredrik brauchte nicht lange zu warten. Schon gegen zwölf Uhr tauchte Adam Ceder wieder vor dem Hotel auf. Jetzt war er leger gekleidet in ein gelbes Polohemd und Kaki-Shorts, und er hatte eine Sporttasche dabei. Er plauderte einen Moment mit dem Türsteher, dann hielt ein schwarzer Mercedes-SUV vor dem Eingang. Der Fahrer stieg aus und reichte Ceder den Schlüssel, der in den Wagen sprang und kaum, dass die Tasche im Kofferraum verstaut war, davonfuhr. Fredrik startete seinen Skoda, rollte vorsichtig auf die Straße hinaus und folgte dem schwarzen SUV.

Schnell merkte er, dass sie nicht auf dem Weg nach Djursholm waren. Ceder nahm den Karlavägen nach Norden und arbeitete sich dann geschmeidig die Spuren wechselnd auf die E4 vor. Fredrik folgte in angemessenem Abstand. Sowie sie auf der E4 waren, drückte Ceder aufs Gas und fuhr bald 130 Stundenkilometer. Der Skoda quälte sich, als Fredrik versuchte, dasselbe Tempo zu halten.

Die Staus stadtauswärts hatten noch nicht eingesetzt, und bald waren sie am Flughafen Arlanda und an Uppsala vorbei. Fredrik sah besorgt auf die Tankanzeige. Wie weit wollte Ceder eigentlich fahren? Er fummelte das Handy aus der Jeanstasche und versuchte mit einem Auge auf der Straße und dem anderen auf dem Display herauszufinden, ob es nördlich von Stockholm irgendwelche Sommerhäuser gab, die der Familie Ceder gehörten, fand aber nur weitere Ceder-Hotels.

Zwei Stunden später fuhren sie immer noch und waren inzwischen an Gävle vorbei. Fredrik war noch nie weiter nördlich in Schweden gewesen. Die Unruhe brannte ihm im Magen. Sollte er umdrehen? Nein, das ging nicht. Ceder kannte Niklas, dessen war er sich so sicher, wie er hier jetzt saß. Wenn er eine Chance haben wollte herauszufinden, wo sein Bruder sich befand, dann war er gezwungen, mit Ceder zu sprechen.

5.

Als Sofia von ihrer Laufrunde zurückkam, hatte Kaj bereits das Mittagessen auf der Veranda vorbereitet. Auf dem Tisch lag eines von Großmutters bestickten Leinentischtüchern aus dem Schrank in der Diele, darauf stand eine Vase mit Wiesenblumen. Es gab Hering, Eihälften und Knäckebrot, und Kaj hatte für sich selbst Bier und ein Schnapsglas bereitgestellt und für Sofia ein Mineralwasser.

Sie hatte keinen Hunger, aber weil Kaj insistiert hatte, dass sie eine gemeinsame Mittsommermahlzeit einnahmen, ließ auch sie sich am Tisch nieder und legte sich eine Serviette auf den Schoß. Kaj ging in die Küche, um die gekochten Mandelkartoffeln zu holen. Sie strich Butter auf eine Scheibe Knäckebrot und nahm einen vorsichtigen Bissen.

»Also, diese Aussicht!« Kaj setzte sich und nahm genüsslich einen Schluck von seinem Bier. »Wenn Mette das hier sehen könnte. Sie liebt das Meer.«

Sofia antwortete nicht. Sie hatte nichts gegen Kajs Frau, aber sie in ihr Sommerhaus einzuladen, kam dann doch nicht infrage.

»Wir fahren morgen nach Yxlan«, fuhr Kaj in dem Versuch fort, eine Konversation in Gang zu bringen. Sofia nickte wenig engagiert und ließ den Blick über Steg und Boote wandern.

»Wie läuft es auf dem Revier? Geklaute Außenborder und Angler ohne Angelschein?« Kaj schob sich einen großen Bissen Senfhering und Kartoffel in den Mund und grinste schief.

Obwohl sie niemals gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatten, war die Arbeit doch das Gesprächsthema, das sie immer zusammenbrachte. Täterprofile und Morde gingen Hand in Hand, und mehr als einmal hatten sie am Esstisch gemeinsam Theorien entwickelt. In den Jahren ihres Zusammenseins hatte es kaum Grenzen zwischen Privatleben und Arbeit gegeben.

»Ganz ehrlich, Sofia, ist es nicht Zeit für dich, wieder nach Hause zu ziehen?«

»Das hier ist mein Zuhause.«

»Du weißt, was ich meine. Zurück nach Stockholm. Mein Gott, du bist noch nicht einmal vierzig, und wie sehen denn deine Karrierechancen hier aus?«

»Es geht das Gerücht, Vera würde in Pension gehen.«

Kaj schnaubte.

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.« Er kannte Sofias Chefin gut, denn die beiden hatten vor ein paar Jahren in einem unangenehmen Fall zusammengearbeitet. Die vermisste Mutter von zwei Kindern war vergewaltigt und ermordet aufgefunden worden, und Kaj und seine Kollegen von der Profiler-Gruppe waren gerufen worden, um die Ermittlungen zu unterstützen. Das war aber gewesen, bevor Sofia wieder nach Örnsköldsvik gezogen war.

»Wie alt ist Vera eigentlich?«

Sofia zuckte mit den Schultern. »Also, auf jeden Fall eigentlich nicht alt genug, um in Pension zu gehen.«

»Du meinst, nicht so alt wie ich?« Kaj lächelte sie über das Bierglas an, und Sofia konnte nicht anders, als das Lächeln zu erwidern.

»Sowas in der Art.«

Er wischte sich den Mund mit der Serviette ab und legte dann das Besteck auf dem Teller zusammen.

»Du kannst ja zumindest mal über die Sache nachdenken.«

»Über welche?«

»Zurückzuziehen. Ich würde dich gern öfter sehen.«

Sofia nickte, doch in ihrem Innern wusste sie, dass es nie dazu kommen würde. Sie würde niemals den Ort verlassen, an dem ihr Vater begraben lag.

Und ihre Tochter.

*

Als es auf halb sechs zuging, war Fredrik über fünf Stunden lang Adam Ceders SUV gefolgt. Am Fenster schienen unendliche Wälder vorbeigezogen zu sein. Mehrmals hatte er erwogen kehrtzumachen, es sich aber im letzten Moment anders überlegt. Nur noch ein paar Kilometer, dann würde er umdrehen. Doch er hatte nicht angehalten. Abgesehen von einem kurzen Stopp an einer Raststätte in Tönnebro, wo Ceder schnell rausgesprungen war, das Auto betankt und sich einen Kaffee gekauft hatte. Fredrik hatte es gerade mal geschafft, ein paar Liter Benzin in den Skoda zu schütten, da fuhr Ceder schon weiter Richtung Norden.

Drei weitere Stunden waren sie gefahren, ehe Ceder schließlich auf der Höhe von Bjästa, direkt südlich von Örnsköldsvik, abbog und weiter zum Fähranleger Köpmanholmen fuhr.

Fredrik blieb auf Abstand und parkte so weit wie möglich von Ceder entfernt. Sein Magen revoltierte beunruhigend, als er sein Zielobjekt gelassen den breiten Kai entlangschlendern sah, wo Unmengen von Touristen vor einer roten Holzbude Schlange standen, um Fährtickets zu kaufen. Auf der anderen Seite der Bucht lag unberührter dunkelgrüner Wald wie eine Decke über den steilen rotbraunen Felsklippen. Höga Kusten – die Hohe Küste. Fredrik war klar, woher die Umgebung ihren Namen hatte.

Er blieb noch ein Weilchen im Auto sitzen. Was sollte er jetzt tun? Es war offenkundig, dass Ceder vorhatte, sich aufs Meer hinauszubegeben. Sollte er versuchen, ihn hier anzusprechen, ehe er an Bord ging? Den Gedanken konnte er jedoch nicht weiterverfolgen, da er schon die Fähre in die breite Meeresbucht einbiegen sah und Ceder im Menschengetümmel verschwand. Er warf das Handyladegerät und sein Portemonnaie in eine Stofftasche mit Coop-Logo, die noch aus den Zeiten seiner Großmutter im Handschuhfach lag, und öffnete die Autotür.

Meeresgeruch schlug ihm entgegen, als er aus dem Wagen stieg. Das roch nach Tod. Sofort fingen seine Hände an zu jucken, und er kratzte sich nervös den einen Handrücken. Während er zur Fahrkartenbude lief, drückte er zwei runde Tabletten aus dem Blister und schluckte sie. Sechs Tabletten an einem Tag. Zwei zu viel.

Vor ihm in der Schlange schubsten sich ein paar Jugendliche und lachten. Hinter ihm reihten sich weitere Reisende ein. Es war die letzte Fahrt für heute, und alle schienen es eilig zu haben, an Bord zu kommen. Kaum hatte die Fähre angelegt, setzte sich die Menschenmenge auch schon in Bewegung. Er konnte Ceders gelbes Poloshirt weiter vorn in der Schlange erkennen.

Einen Schritt vor. Dann noch einen. Es stach in den Haarwurzeln. Das Herz schlug so heftig, dass es wehtat, aber er konnte jetzt nicht stehen bleiben. Eine Frau mit einem Schal um den Kopf seufzte ungeduldig, als er zögerte, den letzten Schritt auf die Gangway zu tun.

Noch ein Schritt. Die Panik setzte ein, und er war nahe daran zu fallen. Ein Mann von der Besatzung in einem weißen Hemd und mit tätowierten Unterarmen griff im letzten Augenblick nach seiner Hand.

»Hier, lassen Sie mich Ihre Tasche nehmen.« Er lächelte und wollte nach dem Stoffbeutel greifen, aber Fredrik riss ihm diesen aus der Hand.

»Ist schon gut«, murmelte er und lief eilig zu den Treppen, die aufs Achterdeck führten. Dort, so weit wie möglich vom Bug entfernt, warf er sich auf eine weiße Bank und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Der erste Teil war geschafft, jetzt blieb noch die Reise selbst. Er schirmte die Augen mit der Hand ab und sah zu den kargen Klippen hinaus. Würde er es schaffen, dorthin zu schwimmen, falls das Boot sank? Wohl kaum.

6.

Ulvön, 1979

Adam hängt über der Reling und betrachtet die Wellen, die um den Bug schäumen. Kleine salzige Tropfen spritzen ihm ins Gesicht.

Die Sonne scheint, und die Fähre ist voller Menschen. Ein kleiner Junge um die sechs Jahre hüpft aufgeregt auf der Stelle, als er den Hafen von Ulvön hinter der Landzunge auftauchen sieht.

»Ich kriege doch ein Eis, oder, Papa?«

Der Vater lacht und umarmt den Jungen.

Weiter hinten auf dem Deck warten die anderen. Insgesamt werden sie zwölf im Sommerlager sein. Adam kommt es schon jetzt wie ein Gefängnis vor. Gestern sind sie über sieben Stunden mit dem Bus gefahren. Als sie ankamen, war die letzte Fähre schon weg, also mussten sie bei einer Bekannten des Pfarrers übernachten, einer fetten Tante, die nach altem Essen und Schweiß stank. Er musste sich eine bucklige Matratze mit Thomas teilen, und dann waren sie schon um sechs Uhr geweckt und zur Fähre gebracht worden.

Es fühlt sich an, als wären sie auf dem Weg nach Alcatraz, der Gefängnisinsel, von der er in der Schule gehört hat.

Plötzlich kneift ihn jemand in die Seiten. Er fährt zusammen und fällt fast nach vorn über die Reling.

»Hör auf!«

»Was denn, ich hab mir gedacht, dass du sicher gern baden gehst.« Thomas hat sich angeschlichen und lacht jetzt.

Die russischen Mädchen sind auch rausgekommen und kichern begeistert über Thomas’ Scherz. Er zwinkert ihnen zu und ruft in holprigem Englisch.

»You want to swim?«

Sie lachen und nicken.

Thomas geht zu einem der Mädchen, packt sie um die Taille und tut so, als würde er sie über die Reling werfen wollen. Adam wendet sich wieder dem Meer zu. Er kann nicht begreifen, warum alle so aufgekratzt sind. Vier Wochen lang werden sie von zu Hause weg sein. Auch wenn seine Mutter nervig ist, wäre er doch lieber in der Stadt geblieben als auf einer verdammten Insel mitten im Niemandsland.

Der Hafen kommt näher. Eine lange Reihe rot gestrichener Bootshäuser säumt die Hafenbucht. Trotz des schönen Wetters sieht es öde und geisterhaft aus. Am Kai steht eine kleine Gruppe Menschen und wartet. Der Pastor mit weißem Kragen und schwarzem Mantel, dazu zwei Mädchen in Adams Alter. Die eine sitzt im Rollstuhl. Sie hebt die Hand und winkt ihnen zu. Adam winkt vorsichtig zurück. Thomas lacht.

»Sieh mal die da!« Die russischen Mädchen lachen auch, obwohl sie nicht verstehen, was Thomas sagt. »Voll die Behindertenrallye!«

Seine laute Stimme hallt über den Sund, und das Mädchen im Rollstuhl windet sich.

Adam holt Luft und schaut zum Himmel.

Bald wird er wieder zu Hause sein.

7.

Nach zwei schrecklichen Stunden meldete der Kapitän durch den Lautsprecher, dass sie nun den Hafen von Ulvön ansteuerten. Fredrik hatte die gesamte Fahrt über den Blick fest auf den Horizont gerichtet. Nach unten in den Salon wagte er nicht zu gehen, auch nicht auf die Toilette. Er wollte weder in den Eingeweiden des Schiffes gefangen sein, wenn es sank, noch Ceder begegnen. Erst als die dicken Taue um die Poller gelegt worden waren, lockerte er seinen krampfhaften Griff um die Bank. Er öffnete und schloss die Hand ein paarmal, um die steif gewordenen Finger wieder zum Leben zu erwecken, und blickte derweil über den Hafen. Der Kai war voller Menschen, und es herrschte Hochstimmung. Fahrräder, Kinderwagen und Kühltaschen wurden an Land geschleppt, und alle halfen einander. Manche wurden mit einer Schubkarre erwartet, in die das Gepäck verfrachtet werden konnte. Es wurde umarmt und gewinkt. Fredrik entdeckte Ceder, der entschlossenen Schrittes über die Gangway marschierte, um dann nach rechts auf den Kiesweg abzubiegen.

Fredrik beeilte sich, von der Fähre herunterzukommen. Auf der linken Seite stand ein einfacher, rot gestrichener Kiosk, davor ein bunter Eismann aus Plastik. Daneben entdeckte er eine Tankstelle mit einer Infotafel. Er presste sich an einer Gruppe junger Mädchen mit allzu kurzen, bauchnabelfreien Pullovern vorbei, achtete aber darauf, nicht zu nah an Ceder heranzukommen. Als er an der Infotafel vorbeikam, blieb der andere plötzlich stehen und sah auf sein Smartphone.

Auch Fredrik hielt an und tat so, als würde er die Karte studieren, die auf der Tafel angebracht war. Ulvön bestand eigentlich aus zwei Inseln, der nördlichen und der südlichen. Das Hotel lag weniger als einen Kilometer nach Osten auf der nördlichen Insel, auf der er sich selbst gerade befand. Wahrscheinlich war Ceder auf dem Weg dorthin. Laut Karte gab es noch ein paar Dörfer auf der Insel, Fjären, Norrbyn, Norrbysbodarna und Sörbyn, alle ein paar Kilometer weiter nach Norden. Ansonsten schienen die Inseln nicht dicht besiedelt zu sein. Sein Blick fiel auf eine Anzeige zu dem Fischerdorf Sandviken. Ein Kulturdenkmal aus der Mitte des 17. Jahrhunderts mit Fischerhütten, die man zur Übernachtung mieten konnte. Er schielte zu Ceder, betrachtete aber weiter die Karte, als er merkte, dass der Hotelbesitzer nach wie vor auf etwas wartete. Fredrik las. »Auf Ulvön ist die älteste Produktionsstätte für Surströmming beheimatet, sowie eine Eisenerzgrube aus dem 17. Jahrhundert …«

Endlich rührte sich Ceder.

Fredrik stand einen Moment lang still und zögerte, als ihn plötzlich ein harter Schlag gegen die Schulter fast rückwärts fallen ließ.

»Oh, sorry, ich …«

Eine blonde Frau lächelte ihn entschuldigend an. Er war gerade im Begriff, Ceder weiterzuverfolgen, als die Frau seinen Arm berührte.

»Fredrik Fröding?« Sie beugte sich zu ihm vor, und noch ehe Fredrik sich wehren konnte, hatte sie ihn etwas linkisch umarmt. Als sie einen Schritt zurück machte, sah er ihr in die grünen Augen und versuchte vergebens, das bekannte Gesicht einzuordnen. Viel zu lange dauerte es, bis er begriff, dass er hier mit Sofia Hjortén zusammengestoßen war. Sie fing schon an, sich zu winden.

»Sofia.«

Beide atmeten aus.

»Lange nicht gesehen.«

Sie war immer noch schön. Die grünen Augen waren von dichten blonden Wimpern umrandet, und das lange blonde Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden.

»Ja, wirklich. Wie geht es dir?« Fredrik fuhr sich mit der Hand durch das ungekämmte Haar.

»Gut.«

»Und was machst du hier?« Er lächelte entwaffnend, und Sofia erwiderte das Lächeln.

»Ich wohne hier. Zumindest im Sommer. Ich habe ein Haus draußen bei Norrbysbodarna. Vielleicht hast du es ja gesehen, als du mit der Fähre reingekommen bist. Weiß, mit dreieckigen Fenstern über der Veranda.«

Fredrik nickte beeindruckt. Er hatte das große weiße Haus gesehen, das nur etwa hundert Meter vom Wasser entfernt wie ein leuchtender Stern mitten im dichten Wald lag.

»Du bist also nicht in Stockholm geblieben?«

»Nein, vor ein paar Jahren bin ich wieder hierher in den Norden gezogen«, antwortete sie. »Und du?«

»Ich wohne immer noch in der Wohnung in der Brahegatan.«