Schatten über Schloss Allstedt - Inge Harländer - E-Book

Schatten über Schloss Allstedt E-Book

Inge Harländer

4,9

Beschreibung

Auf Schloss Allstedt (Im Süden Sachsen-Anhalts gelegen) sind drei Männer verschwunden. Der 17-Jährige Jasper, der 1842 in dem berühmten Gestüt des Schlosses arbeiten möchte, wird, ohne es zu wollen, in die Angelegenheit hineingezogen. Selbst nicht aus Allstedt stammend, erfährt er während seines Aufenthalts Interessantes über die Geschichte und Entwicklung von Schloss Allstedt. Wer waren die verschwundenen Männer und was ist aus ihnen geworden? Wie kann Jasper zur Aufklärung beitragen?

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Inge Harländer, geboren 1954 in Schleswig-Holstein, schreibt Romane mit historischem Hintergrund.

Sämtliche Personen in diesem Roman (einschließlich Schlossvogt und Stallmeister) und deren Handlungen sind fiktiv.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig und keineswegs beabsichtigt.

Skizze Museum Burg und Schloss Allstedt

Inhaltsverzeichnis

Donnerstag

Freitag

Sonnabend

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag der zweiten Woche

Freitag der zweiten Woche

Anhang

Danke schön

Bisher erschienen

Donnerstag

Er wusste nicht, woher er noch die Kraft nehmen sollte, diese vielen Stufen hinauf zu gehen.

Seit früh um sechs war er jetzt schon auf den Beinen.

Noch eine Stufe und noch eine Stufe.

Er war so müde, so erschöpft und ihm war nach weinen zumute.

Wäre doch der Alte, der jetzt hier hinaufsteigen müsste, nicht gestürzt. Würde er doch jetzt nicht zu Bette liegen und könnte statt dessen diese Aufgabe, die ja seine war, übernehmen.

Bis hinauf zur Uhr waren es noch unzählige Stufen.

Hätte er nur nicht so voreilig gesagt, dass er die Aufgabe gerne übernehmen würde. Hätte er nur nicht erwähnt, dass er sich mit Uhrwerken auskannte, weil der Vater seines Spielkameraden ein Uhrmacher ist, und ihm viel darüber erzählt hatte.

Von ihm hatte er gehört, welche Arbeit es war, die Uhren aufzuziehen, die Räderwerke zu schmieren, und die Uhr alle paar Tage neu zu stellen, weil die meisten sich in der Zeit immer wieder verschoben.

Ja, hätte er nur nicht so angegeben.

Jetzt musste er diesen massigen eckigen Torturm, der wohl an jeder Seite 17 Fuß misst und aus dem Mittelalter stammen soll, hinaufklettern. 115 Fuß hoch soll er sein. Er musste davon ungefähr 100 Fuß bewältigen.

Auskennen tat er sich ja tatsächlich nicht. Er war lediglich wissbegierig gewesen.

Er schaute hinauf und seufzte.

Es nützte ja nichts, das Uhrwerk musste aufgezogen und die vielen Räder geschmiert werden.

Hatte er eigentlich heute zu essen gehabt?

Er grübelte, während er langsam Schritt für Schritt die Treppe hinaufging.

Weil er neben seinen Arbeiten in den Stallungen auch im Schlossbereich aushelfen musste, hatte er für die Köchin mehrere Eimer Wasser aus dem Innenhof hereingeholt und in die Schlossküche getragen. Dabei hatte er einen Apfel gegessen.

Danach hatte er Holz geschleppt. Stundenlang. Sowohl für die Küche als auch für Räume des Schlosses und der Vorburg.

Dann hatte er Teile der Burghöfe mit seinem Reisigbesen gefegt. Den Kehricht musste er auf seiner Holzschubkarre anschließend zum Abfallhaufen bringen.

Zwischendurch erhielt er eine Ohrfeige, weil er angeblich nicht schnell genug gelaufen war.

Aber Essen? Doch, ja, einen bereits abgenagten Hühnerknochen hatte die Köchin ihm mit einem freundlichen Lachen gereicht, als er klagte, dass das Mittagsmahl ihm nicht gereicht hatte.

Ach, und dann war da noch der Kanten Brot. Viel zu klein und viel zu wenig für einen jungen Mann, der sich noch im Wachstum befand. Schließlich war er erst 17 Jahre alt.

Hunger war sein ständiger Begleiter.

Jetzt war es eigentlich schon an der Zeit, sich schlafen zu legen, aber noch war es hell genug, um diese letzte Aufgabe des Tages zu erfüllen.

Noch eine Stufe und noch eine.

Die Beine waren so schwer.

Auf jedem Zwischenpodest hatte er eine kleine Verschnaufpause eingelegt und trotz seiner Erschöpfung einen Blick durch die Schießscharten genossen.

*

Er erinnerte sich, dass er, als kleiner Junge von vielleicht sechs Jahren, begeistert mit seinem Großvater, der auf diesem Schloss in Diensten gestanden hatte, über Pferdepflege und Zucht geredet hatte. Er hing förmlich an dessen Lippen. Leider war der Großvater, der sehr alt geworden war, dann, für ihn viel zu früh, an Altersschwäche gestorben.

Wie gerne hatte er den Geschichten des Alten gelauscht. Wie gerne wollte er, wenn er erst einmal groß genug dafür wäre, auch auf dem Schloss und mit den Pferden arbeiten. Allerdings hatte er da noch nicht geahnt, wie anstrengend es war, die Ställe auszumisten und die schweren Schubkarren am Misthaufen zu entleeren. Das hatte er in den letzten Tagen an seinen schmerzenden Muskeln zu spüren bekommen.

Ehrfürchtig dachte er daran, was sein Großvater auch körperlich geleistet hatte.

Aber jetzt?

Noch so viele Stufen bis dort oben. Wenn es nicht so steil hochgehen würde, wäre es auch nicht so anstrengend. Und wenn die Stufen nicht so ausgetreten wären und etwas mehr Licht vorhanden wäre, würde er nicht soviel Unbehagen in diesem düsteren Turm empfinden. Nach unten mochte er gar nicht schauen, weil alles so gruselig wirkte. Auch hatte er Angst, hinab zu stürzen, weil er sich nur an der Mauer abstützen konnte.

Der Staub wirbelte unter seinen Füßen bei jedem Schritt auf. Er sah ihn kaum, denn durch die Schießscharten im Mauerwerk drang nur wenig Licht, aber er spürte, wie er in seiner Nase kitzelte.

Die Spitze des Turmes krönte ein fremdartig wirkender, mit Halbkreissegmenten geschmückter, Giebel der mit je zwei Fenstern nach allen vier Seiten dieses Gemäuers versehen war.

Ein welscher Giebel sei dies, wurde ihm neulich berichtet. Aus Italien soll diese auffällige gebaute Giebelform stammen.

Zu früheren Zeiten gab es verantwortliche Wachposten, die hier oben nach kriegerischen Angreifern Ausschau halten mussten, aber dies war in dieser geraden friedlichen Zeit nicht notwendig.

Außer dem alten Friedrich, der wöchentlich zwei- oder dreimal hier hinaufkletterte, kam niemand in diesen Turm. Wie schaffte es der alte Mann nur, alle paar Tage hier herauf zu steigen?

*

Viel Glück hatte er gehabt, hier auf dem Schlossgelände tatsächlich die ersehnte Arbeit gefunden zu haben.

Gerade einmal drei Wochen war er jetzt in Allstedt. Seine liebe Mutter lebte in einem kleinen Dorf nahe Weimar. Einen Vater hatte nie kennengelernt. Der war kurz nach seiner Geburt an einem Lungenleiden gestorben. Bis vor kurzem hatte seine Mutter es geschafft, ihn durch Wasch- und Näharbeiten zu ernähren. Aber jetzt war sie immerzu krank. Darum hatte sie ihn gebeten, sich Arbeit zu suchen, denn ihr karges Einkommen und der Lohn, den er durch kleinere Handlangerdienste bekam, reichte nicht mehr, um beide satt zu bekommen.

Und in Erinnerung an die vielen Erzählungen seines Großvaters, und eben weil dieser hier in jungen Jahren in Diensten gestanden hatte, war er nach Allstedt gekommen. So gerne wollte er in dem Gestüt arbeiten, von dem sein Großvater so Vieles zu erzählen wusste.

Überall hatte er auf dem Weg hierher nach Arbeit gefragt. Aber immer wieder hieß es, zur Zeit leider nicht. Versuch es mal da oder da.

Geschlafen hatte er meist auf Höfen im Stroh in irgendwelchen Ställen. Natürlich hatte er sich immer die Erlaubnis eingeholt. Mitunter bekam er auch eine kleine Mahlzeit, aber das waren Ausnahmen gewesen.

Immer wieder Absagen, dabei brauchte er so dringend Arbeit. Wollte er sich doch ernähren und auch seiner lieben Mutter Geld zukommen lassen.

In einem Wirtshaus in Allstedt hatte er sich ein kleines Abendmahl gegönnt, ein Bier getrunken und seine letzten Geldstücke gezählt. Sein Herz war ihm gar so schwer geworden, als er feststellte, dass er nur noch über wenige Mark verfügte. Den Kopf hatte er auf die Hände gestützt, während er verzweifelt überlegte, wie es weitergehen sollte.

Und dann dieses unverhoffte Glück, als er dort den Stallmeister des Großherzogs getroffen hatte.

Ziemlich alt war er Jasper vorgekommen.

Er hatte sich als Franz Furcht vorgestellt, hatte sich zu ihm gesetzt, gefragt wo er herkäme, und wollte wissen, was er in Allstedt zu tun hätte.

Dem hatte er dann seine Lebensgeschichte erzählt, und natürlich erwähnt, dass sein Großvater in jungen Jahren auch für den Großherzog Carl August tätig gewesen war. Welch Hochgefühl, als der Stallmeister nach kurzem Überlegen erklärte, dass er ihn als Hilfsknecht gebrauchen könne, weil einer der Arbeiter sich gerade woanders verdingt hatte.

Stolz war er gewesen, genau wie seine Mutter, der er einen Brief geschrieben hatte.

In diesen schweren Zeiten war es gut, zu wissen, dass kein Hunger zu leiden sein würde, meinte sie in ihrem Antwortschreiben.

Doch sein stetiger Hunger ließ sich nicht stillen.

Fast war er an seinem Ziel angekommen.

Er nahm sich vor, nach getaner Arbeit einen Augenblick auszuruhen und von oben auf die Landschaft zu sehen.

Ja, das würde er sich gönnen.

Er hoffte, dass dieser Anblick ihn für die schwere Plackerei des Tages versöhnen würde. Für einen Moment konnte er sicher vergessen, wie abgespannt er war.

*

Endlich war er am Uhrwerk, welches sich ungefähr in Höhe des zweiten Turmdrittels befand, angekommen.

Bis hierher hatte er insgesamt 47 hölzerne Treppenstufen gezählt. Auf drei Zwischenböden hatte er seine Verschnaufpausen eingelegt. 18 Stufen hatte er schon hinter sich gebracht, als er durch das Burggebäude bis zum Absatz in den Torturm gekommen war. Also schon 65 Stufen, die nicht gerade so gebaut waren, dass sie bequem gegangen werden konnten.

Den Holzbottich mit dem Fett stellte er ab und zog mit der Handkurbel, die ihn an Flügel erinnerten, zunächst die schweren Gewichte der Uhr herauf. Das kostete Kraft, war aber die Hauptaufgabe, damit die Gewichte durch ihre Eigenmasse wieder nach unten gleiten konnten, und so das Uhrwerk am Laufen gehalten wurde.

Danach fettete er, wie der Alte es ihm aufgetragen hatte, die vielen Räder, damit alles wie geschmiert laufen konnte.

Nach wenigen Augenblicken war auch diese Arbeit bewerkstelligt und er gönnte sich seine kleine Verschnaufpause.

Für die nächsten drei Tage würde die Turmuhr jetzt wieder laufen.

Das gleichmäßig tickende Geräusch des Uhrwerkes hatte etwa Beruhigendes.

Wenn er sich jetzt noch traute, eine weitere, noch schmalere Treppe hinaufzusteigen, würde er auf die inneren Höfe und den Schlossbereich sehen können. Er schaute hoch, zählte 15 Stufen, und begann seufzend seinen weiteren Aufstieg.

Er schaute aus dem kleinen Fenster und freute sich, weil er für seine Mühe mit einem grandiosen Ausblick belohnt wurde. Seine Augen schweiften über den ersten Burghof, der eingerahmt von Gebäuden wie ein Fünfeck aussah, wobei hier die Ställe der Arbeitspferde und Wagen zu sehen waren. Dann führte ein breiter Durchgang zum zweiten Burghof. Dieser war wiederum eingerahmt von Gebäuden auf der rechten Seite. Eigentlich war dieser zweite Burghof der Wirtschaftsbereich. Auch die hofeigene Brauerei und das Forsthaus befanden sich hier.

Auf der linken Seite sah er die Kernburg, das Schloss, also den herrschaftlichen Bereich.

Auch im Schloss befand sich ein Innenhof, der von der Vierflügelanlage eingeschlossen wurde.

Das kleine spitze Türmchen der Kapelle des Schlosses konnte er von hier oben sehen, den Bereich des Innenhofes leider nicht.

Hoch droben bemerkte er einen Rotmilan, der seine Kreise zog. Gedanklich wünschte Jasper ihm einen guten Fang, damit der Greifvogel seinen Hunger stillen konnte.

Im Laufe der Jahrhunderte war immer wieder, der Zeit wohl angepasst, an dem gesamten Anwesen etwas verändert worden. Sein Großvater meinte damals, dass von Spätgotik über Renaissance bis Barock alles vorhanden sein. Das konnte Jasper von hier oben sehen und bestätigen.

Verwundert stellte er fest, dass der gesamte Schlossbereich mit Schieferplatten, alle anderen Gebäude hingegen mit roten Dachziegeln eingedeckt waren. Das war ihm noch gar nicht aufgefallen. Der Kontrast dieser Eindeckungen gefiel ihm gut.

Wenn er seinen Kopf weit nach rechts drehte, war es ihm möglich, die Gartenflächen, welche sich an das Burggelände anlehnten, zu sehen.

Selbst die hohe steinerne Burgmauer, die das gesamte Anwesen umgab, konnte er zum größten Teil betrachten. Außerdem nahm er Teile des fast fünf Meter tiefen Burggrabens wahr.

Wie sehr er es genoss, seine neue Umgebung von hier oben zu betrachten.

Gerade holte ihn die Fantasie ein.

*

Was mag hier alles geschehen sein? Wie wurden die angreifenden Krieger abgewehrt? Wie erklommen sie mit ihren schweren Rüstungen diesen Hang und wie hatten sie die Burggräben überwunden?

Wie klein die Welt von hier oben aussah.

So weit konnte er über die Landschaft schauen. Ganz weit dort hinten konnte er Anhöhungen erkennen. Ob er jemals bis dorthin käme, wohin er jetzt sehen konnte? Würde er sich je wieder so weit von Allstedt entfernt aufhalten?

Sein Blick glitt nach links, zu den ehemaligen Weinbergen, die neuerdings mit Kirschbäumen bepflanzt waren. In denen wurde vom Frühjahr bis in den weiten Herbst hinein gearbeitet. Dann sah er geradeaus über das Schlossgelände hinweg, zu den Gärten des Schlosses, und weiter fast bis zum Steinbruch, der dahinter lag.

Wie still es hier oben war.

Das Licht nahm zusehends ab, die Dämmerung kam schneller, als er dachte. Es wurde Zeit, den Rückweg anzutreten.

Noch einmal schaute er über die Dächer zum Schlossgelände. Irgendetwas erregte seine Aufmerksamkeit.

Da war doch etwas? Schlich dort eine Gestalt über den zweiten Burghof?

Und was schleppte sie hinter sich her?

Wer war das? Jasper konnte es nicht erkennen. Aber auf irgendeine Weise war es eigenartig.

Denn irgend etwas an dieser Person kam ihm vertraut vor.

War es die Leibesfülle? Oder der Gang? An wen erinnerte dieser Mensch dort unten ihn nur?

Und was zog der hinter sich her? War es ein Tier? Vielleicht ein Wildschwein oder gar ein Reh?

Das war doch zu merkwürdig.

Aber schon war die Gestalt aus seinem Gesichtsfeld verschwunden, denn die sogenannten Kavaliershäuser, die Gebäude, in denen zur Zeit links der Stallmeister wohnte, weil seine im Schloss liegenden Zimmer gerade renoviert wurden, und rechts das Kutscherhaus, welches zur Zeit leer stand, hinderten seine Sicht. Beide Gebäude trennten den ersten vom zweiten Burghof.

Er rieb sich die Augen.

Hatte er wirklich etwas gesehen, oder spielten ihm das Dämmerlicht und seine Müdigkeit einen Streich?

Es wurde wirklich allerhöchste Zeit, den Turm zu verlassen.

*

Vielleicht bekam er von der Köchin noch ein paar warme Kartoffeln oder gar eine kräftige Suppe.

Über die Köchin, eine kleine schlanke, schon recht betagte Frau, aber von Herzen freundlich, hatte er sich schon köstlich amüsiert, denn sie hatte die Angewohnheit, statt zu gehen, in kleinen Schritten beinahe zu hüpfen. Es sah aus, als würde sie kleine Tanzschritte vollführen, was ihr auch den Beinamen die „Tänzerin“ eingebracht hatte.

Der Gedanke an Essen beflügelte seine Schritte.

Hinab ging es erheblich schneller als hinauf.

Ehe er sich versah, hatte er die letzte untere Stufe erreicht.

Jetzt nur noch den Eimer mit dem Fett in den Stall zurücktragen und dann so schnell wie möglich zu dem Alten eilen, um ihm zu versichern, dass die übertragene Aufgabe erledigt sei.

Wenn er sich mit möglichst vielen Leuten gut stellte und seine Aufgaben gewissenhaft verrichtete, könnte er hier vielleicht etwas werden.

Wie schön es war, dass er auf dem Burggelände wohnen konnte. Wenn er sich vorstellte, jeden Morgen und jeden Abend den Weg über die Anhöhe in die Stadt machen zu müssen, war er recht dankbar über die kleine Kammer unter dem Dach des Gesindehauses, die er sich mit einem der Stallburschen, Otto, teilte.

An seinem ersten Arbeitstag war er schon erschöpft auf der Burg angekommen, weil er nicht gewusst hatte, dass der stetig ansteigende Weg aus der Stadt bis hier hinauf auf den Bergsporn, auf dem sich das Schloss befand, eine gute halbe Stunde dauern würde.

Am Abend mochte es ja noch gehen, da ging es ja hinunter, aber des Morgens, wenn die Gelenke noch müde waren, war es doch sicher recht mühsam, hinauf zu steigen zum Schloss.

Wie es wohl in einem heftigen und klirrend kaltem Winter sein würde? Oder in der großen Sommerhitze?

Er war wirklich froh, nicht den langen Weg, der in einem Bogen herum aus dem Schloss in die Stadt führte, gehen zu müssen.

Der mit Kirschbäumen bewachsene Hang wäre sicher eine ideale Abkürzung, aber ihm war schon mitgeteilt worden, dass es nicht erlaubt sei, diese Abkürzung zu benutzen.

Und er könne sicher sein, wurde ihm mitgeteilt, dabei gesehen zu werden, weil sich mitunter in dem kleinen gemauerten Gebäude, das auf halber Strecke am Hang gebaut war, die Arbeiter des ehemaligen Weinberges aufhielten. Denn hier lagerten sie Werkzeuge, die sie benötigten.

Unterhalb des Schlosses schlängelte sich die Rhone, die bei Blankenheim entspringt, in einem weichen Bogen durch Allstedt. Diese musste man überqueren, wenn man vom Schloss aus in die Stadt wollte. Auch ein Teich und die riesige Anlage des Vorwerks teilte den Stadtbereich vom Schloss ab.

*

Sein direkter Weg führte ihn durch die breite Spitzbogentür in die tiefer gelegene Küche. Wieder musste er acht steinerne breite Treppenstufen gehen.

Irgendwann wollte er einmal sämtliche Treppen und deren Stufen zählen. Er hatte das Gefühl, dass es nahezu Hunderte sein müssten. Aber vielleicht bildete er sich dies auch nur ein, weil er ständig Stufen vor sich sah.

Zu seinem Bedauern hielt sich hier niemand mehr auf.

Nichts mehr zu essen? Der Magen knurrte doch kaum überhörbar.

Auf dem Arbeitstisch der Köchin stand ein Korb, in dem er viele Äpfel liegen sah.

Es wäre doch sicher erlaubt, sich daran zu bedienen? Es war keiner da, den er hätte fragen können, also griff er beherzt zu.

Besser als nichts, dachte er, biss kräftig in den Apfel und spazierte über die Burghöfe zum Wohntrakt der Bediensteten.

Dabei erinnerte er sich, wie erstaunt er am Anfang war, dass für die wenigen Leute eine so große Küche bereitstand. Die Erklärung dafür war gewesen, dass die erheblich kleinere Küche, die sich in der Vorburg befand und in der in Abwesenheit der hohen Herrschaften üblicher Weise gekocht wurde, gerade wegen Renovierungen nicht benutzt werden konnte.

So hatte er das Glück, in diesem beachtlichen Raum verköstigt zu werden, den er vermutlich sonst eher selten hätte betreten können.

Jetzt aber schnell in die Kammer des Alten, um Bericht abzuliefern und von seiner Beobachtung zu erzählen. An die vielen Stufen, die hinauf zur Kammer führten, mochte er gar nicht denken. Er war für heute eigentlich genügend Treppen hinaufgestiegen. Aber es nützte ja nichts.

Natürlich wollte der Alte zuerst wissen, ob das Uhrwerk geschmiert und die Uhr aufgezogen worden war.

Lachend, weil er diese Frage schon erahnt hatte, meinte Jasper: „Ja, ich habe den Auftrag sorgfältig ausgeführt. Du kannst ganz beruhigt sein, Friedrich.“

„Na, dann ist ja gut, mein Junge. In einigen Tagen werde ich wohl wieder auf den Beinen sein. Dann bist du diese zusätzliche Arbeit auch wieder los. Leg dich schlafen, Junge. Es ist schon spät.“

Damit drehte er sich auf seiner Bettstatt um und fiel augenblicklich in den Schlaf.

Nun gut, wenn der Alte seinen Schlaf brauchte, würde er ihm das Gesehene eben am nächsten Tag erzählen. Er könnte ja auch mit seinem Kumpel Otto, mit dem er die Kammer teilte, darüber reden.

Als er einige Türen weiter in seine Schlafkammer ging, kam er nicht mehr zum Erzählen, denn wegen des schon weit vorangeschrittenen Abends machte Otto sich eben für die Nacht bereit und wollte nichts mehr hören und sehen.

Nun, dann würde er am nächsten Tag seine Beobachtung schildern. So wichtig war es nun auch nicht.

Also erledigte auch er seine Abendwäsche an der Waschschüssel und legte sich in sein Bett.

Freitag

Am nächsten Tag hatte er seine Beobachtung schon wieder vergessen. Er hatte ziemlich viel zu tun, weil sein Dienstherr, der Großherzog Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach, eine Jagdgesellschaft angekündigt hatte, die in 14 Tagen stattfinden sollte.

Diese Vorankündigung, die der Schlossvogt am frühen Morgen kundgetan hatte, verbreitete unter allen vorhandenen Bediensteten Aufregung und hektisches Treiben. Die meisten Bediensteten zogen ja als ständige Begleitung mit dem Großherzog an den Ort seines Aufenthaltes, so dass nur einige wenige hier waren, um sich um den Erhalt und die Pflege der Gebäude, der Gärten und des Geländes zu kümmern. Aber die, die hier waren, machten Wirbel für Viele.

Die Höhergestellten ließen ihren Unmut wegen der zusätzlich anfallenden Arbeiten, die ausgeführt werden mussten, an deren Untergebenen aus. So fing sich auch Jasper die eine oder andere Ohrfeige ein, wenn er angeblich zu langsam in seinen Ausführungen war.

Dabei hatte er noch Glück, denn einige andere erhielten nicht selten heftige Prügel.

Er hatte gehört, dass einer der Stallknechte nicht mehr gehen konnte, weil der Stallmeister des Gestüts ihn durchgeprügelt hatte, und das nur, weil der Junge eine Wurzel, die für die Pferde vorgesehen war, gegessen hatte.

Eine Jagdgesellschaft war schon etwas sehr Interessantes. Mit ein bisschen Glück konnte man den Großherzog und einige der hohen Herrschaften aus der Nähe sehen. Und wer wusste schon, ob nicht auch eine Berühmtheit unter ihnen war. Vielleicht kam auch der Erbgroßherzog Karl Alexander mit?

*

Jaspers Großvater hatte ihm in einer langen Winternacht davon erzählt, dass er höchstpersönlich mit dem heute berühmten Dichter Johann Wolfgang von Goethe gesprochen hatte.

Der war nicht nur mit dem Großherzog Carl August, der Goethe 1782 das Adelsdiplom vermachte, befreundet gewesen, sondern hatte hier auf dem Schloss in seiner Funktion als Minister für Kriegswesen, Straßen-und Wegebau und der Finanzverwaltung und auch mit Verwaltungsarbeiten im Gestüt zu tun.

Hier soll er auch, so Jaspers Großvater, Teile eines Dramas, „Iphigenie auf Tauris“ geschrieben, und wohl etliche Zeichnungen aus der näheren Umgebung angefertigt haben.

Da Jaspers Großvater als junger Bursche in den Stallungen des Marstalls zu tun hatte, und Goethe sich sehr für die Pferdezucht des Herzogs interessierte, haben die beiden das eine und andere Fachgespräch geführt.

„Ein sehr angenehmer, hochgebildeter und vielseitig interessierter Mensch“, hatte sein Großvater Goethe beschrieben.

Und aus dieser alten Verbundenheit heraus hatte sich der Großvater dann das Buch „Das Leiden des jungen Werther“ gekauft. Dieses Buch sollte Jasper lesen dürfen, wenn er alt genug dafür sei, hatte der Großvater ihm versprochen. Das Buch hielt seine Mutter für ihn in Verwahrung.

*

In den Stallungen, die sich im ersten Burghof befanden, durfte Jasper jetzt arbeiten.

Welch erhabenes Gefühl es am ersten Arbeitstag gewesen war, nicht nur den Boden zu betreten, auf dem schon sein Großvater gestanden hatte, sondern sich auch dort zu bewegen, wo der berühmte Dichter Johann Wolfgang von Goethe vor nicht einmal 60 Jahren seine Spuren hinterlassen hatte.

Der Geruch nach Pferd, der hier über allem lag, berührte seine Sinne sehr.

Das warme Fell, die weichen Nüstern der Arbeitspferde, ihr friedliches Gemüt hatten sein Herz geöffnet, und es fiel ihm sehr schwer, sich nicht von ihnen aufhalten zu lassen, sondern seiner Arbeit nachzugehen.

Wie es wohl sein würde, wenn er erst einmal unten in der Stadt das Gestüt des Marstalls betreten durfte?

Dort, wo sein Großvater sich zum Stallmeister hochgearbeitet hatte.

Dort, wo die edle Zucht betrieben wurde.

Dort, wo er hinwollte.

Er stand auf dem Schlosshof. Den Rücken hatte er dem Tor, welches ins Schlossgelände führte, zugewandt. Den Besen in der Hand haltend, schaute er sich um.

Eines der besonders schönen Fenster, genau gegenüber des Eingangstores, links neben dem Vorbau, durch den man in die Herrschaftsbereiche gelangte, hatte wieder einmal seine Aufmerksamkeit erregt.

Es war ein Vorhangbogenfenster aus der Spätgotik. So hatte er vor einigen Tagen erfahren, als er seine Bewunderung darüber kundtat. Jetzt erst entdeckte er, dass noch zwei weitere kleinere auf der rechten Seite des Vorbaues vorhanden waren. Gerade dachte er darüber nach, woran ihn dieses Fenster erinnerte. Das Fensterglas hatte etwas von Flaschenböden, wie wenn einzelne Flaschenböden Stück für Stück nebeneinander gesetzt worden waren. Die Verzierungen der Mauer hingegen erinnerten ihn an eine Gardine, die bei ihm zu Hause so hübsch vor dem Fenster des Wohnraumes hing.

In Erinnerung an Zuhause dachte er sehnsüchtig an seine Mutter, an sein kleines Dorf und die Freunde, die dort geblieben waren.

Wie viel Spaß sie immer zusammen hatten. Er sah die kleinen Gassen, durch die sie gestreift waren, vor sich. Johlend und übermütig waren sie herumgetollt, ohne Schelte dafür zu ernten. Häufig hatten sie freundschaftlich miteinander gerauft. Einfach nur um festzustellen, wer der Kräftigste war. Niemals gab es ernsten Streit. Sie kannten sich alle, solange sie denken konnten.

Trotz Dürftigkeit und Not gab es eine gute Gemeinschaft und einen engen Zusammenhalt untereinander.

Seine Mutter hatte ihm einmal erklärt, dass der Charakter trotz Armut und Elend nicht ebenso sein müsste. Jeder könne, wenn er dazu bereit sei, Gutes und Schönes in sich nähren und sein Handeln danach richten. Worte, die er nie vergessen würde.

Aus den Knaben waren junge Männer geworden, die jetzt zum Unterhalt der Familien beitragen mussten. Einige hatten wie er das kleine Dorf verlassen um Arbeit zu finden, andere waren geblieben. Würde er sie je alle wiedersehen?

„Jasper, du hast hier nicht zu träumen, sondern zu arbeiten. Wo bleibt das Holz für die Küche? Die Köchin hat sich beschwert, nimm die Beine in die Hand und sieh zu, dass du läufst, sonst setzt es Hiebe“, wurde er jäh aus seinen Gedanken gerissen.

Diese Drohung war ernst zu nehmen, denn mit dem Stallmeister war nicht zu spaßen.

Jasper fragte sich kurz, was der Mann hier im Bereich des Schlossvogtes zu melden hatte.

Dieser kräftige, fast bullig aussehende Mann hatte trotz seines hohen Alters eine gar lockere Hand, wenn es darum ging, den Leuten zu zeigen, wer hier das Sagen hatte. Das hatte er in den letzten Tagen schon mitbekommen.

„Entschuldigung, Herr Furcht, ich beeile mich!“, rief er dem Stallmeister zu, nahm einige Holzscheite unter den Arm und eilte in die Küche, wo er mit erhobenem Kochlöffel, der beinahe einen halben Meter lang war um in den riesigen Töpfen zu rühren, schon erwartet wurde.

Ehe er sich versah, landete der mit einem kräftigen Klatsch auf seinem Rücken.

„So, mein Lieber, und nächstes Mal bist du schneller“, lachte die Köchin ihn an. Es war also noch mal gut gegangen. Und der Schlag weder schmerzhaft, noch böse gemeint.

Diese riesengroße Küche aus dem 15. Jahrhundert war etwas ganz Besonderes. Nicht nur, dass die Kochfläche, die sich auf gemauerten Ziegeln befand, mehrere Meter groß war, nein, besonders war auch der auf zwei achteckigen Freistützen stehende Kamin. Der Kaminschlot war fast zwanzig Meter hoch und soll der größte im deutschen Burgenbau sein, wie ihm erzählt worden war. Dazu kommen noch die drei profilierten Rauchfangbögen und die beiden Kreuzrippengewölbe, deren Schlusssteine jeweils mit den Wappen der Querfurter Edelherren verziert waren.

An einer Längsseite des Gewölbes, gleich rechts, befand sich der Platz, an dem die Bediensteten ihre Speisen zu sich nehmen konnten. Ein langer hölzerner Tisch stand in diesem Teil, umgeben von zwei sich gegenüber stehenden Bankreihen. Etwas weiter war eine Tür, die in den Vorratsraum führte.

Gleich links, wenn man in die Küche kam, befand sich eine durch drei Stufen erhobene Nische mit Fenster, in der der Schlossvogt und der Stallmeister ihre Speisen zu sich nahmen. Es waren im Augenblick nicht allzu viele Bedienstete, die täglich zur Mittagszeit versorgt wurden.

Wenn der Großherzog mit seinem Trupp ankam, sollte es hier drinnen ein stetiges Ein-und Ausgehen sein. Auch würden dann die zwei Bankreihen durch weitere ergänzt, damit möglichst viele Leute zeitgleich versorgt werden konnten. Wie im Bienenstock ginge es hier dann zu, wurde ihm erzählt.

Eine zweistufige hölzerne Treppe führte auf die Feuerfläche, über der große Kessel an Haken hingen, um darin die Speisen zu kochen.

Diese Haken hatten in kurzen Abständen Zacken, an denen die Töpfe in der Höhe je nach Hitzebedarf verändert werden. Und vielleicht weil er näher an der Feuerstelle stand als die Köchin, rief sie ihm zu: „Leg mal einen Zacken zu, Jasper, das Wasser hat lange genug gekocht.“

Emsig kam er ihrem Wunsch nach und setzte den großen Topf einen Zacken höher.

Metallene Gestelle, an die Töpfe gehängt wurden, konnten auf dieser Fläche hin und her, und unter das jeweilige Feuer geschoben werden. Auch gab es hohe eiserne Spieße, auf denen Wildschwein und Reh, sogar ganze Ochsen gebraten und dabei gedreht werden konnten.

An der Rückseite gab es einen Backofen, eingelassen in einer ehemaligen Schießscharte, und rechts daneben, etwas tiefer gelegt, wurde eine ehemalige Schießscharte dafür genutzt, die Küchenabfälle und das Abwaschwasser hineinzukippen, damit es in den Burggraben fallen konnte.

Außerdem diente sie auch zur zusätzlichen Belüftung der Küche.

Abgesehen davon, war die Küche großzügig ausgestattet, mit allem, was zum Kochen benötigt wurde.

Pfannen, Töpfe, Kessel, Geräte, die Jasper nicht kannte, hingen an den Wänden nahe der Kochfläche. Tonkrüge, Geschirr, hölzerne Wannen und Schüsseln waren in großer Zahl vorhanden. Auf Wandregalen befanden sich Becher und Teller und auch die Löffel hingen daran herunter.

Ein riesiger Schrank verbarg wohl noch besseres Geschirr.

Auch lange hölzerne Behälter, in denen der Teig für Brot zubereitet wurde, standen an der Wand.

Jasper war jeden Tag nahezu berauscht von den Gerüchen, den Gegenständen und dem Geplapper, das hier herrschte. Die gute Stimmung, die die Oberköchin verbreitete, tat allen gut. Und darum wurde hier in diesem Raum auch mehr gesungen als an anderen Orten des Schlosses.

Seine Holzscheite verteilte Jasper unter den Aussparungen, die an drei unteren Seiten der Kochfläche vorhanden waren. So konnte von jeder zugänglichen Seite Holz aufgelegt werden.

Der Holzlöffel tippte auf seine Schulter.

„Hast du den faulen Johann heute irgendwo gesehen, Jasper? Er sollte mir Kräuter aus dem Garten holen. Ich habe es ihm gestern schon aufgetragen. Wie soll ich die Suppe ohne Kräuter zubereiten? Wenn ich den faulen Kerl unter meinen Kochlöffel kriege, wird er Musik daraus vernehmen.“

Jasper amüsierte sich über diese Drohung, verneinte aber ihre Frage, woraufhin sie mit einem kräftigen Schimpfen einem der Dienstmägde den Auftrag gab, die Kräuter zu holen.

Der faule Johann fehlte also schon wieder. Das war schon sehr oft vorgekommen, hieß es.

Meistens fand ihn irgendwer unter einem Gebüsch oder in einer stillen Ecke, wo er seinen Rausch ausschlief.

*

Jasper war auf dem Weg, Wasser zu holen und erinnerte sich daran, wie er am ersten Tag zum Brunnen, der sich im Innenbereich des Schlosshofes befand, gegangen war.

Den hölzernen Eimer hatte er herab gelassen und sich gewundert, dass er kein Aufklatschen hörte. Der Eimer schlug nach kurzer Zeit auf und als er ihn wieder hochgezogen hatte, war kein Tropfen Wasser darin gewesen.

Als er noch verblüfft dastand, feixten einige und lachten über sein dummes Gesicht.

„Da kannst du lange warten. Da wirst du kein Wasser finden“, klärte ihn einer der Gärtner auf.

„Und ich dachte schon, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht!“, hatte Jasper lachend geantwortet.

Dann wurde ihm erklärt, warum und weshalb dieser Brunnen kein Wasser lieferte.

Er war schon vor etlichen Jahren wegen der schlechten Wasserqualität zugeschüttet worden.

Trotzdem war die gesamte Schlossanlage dank eines raffinierten Röhrensystems nicht um Wasser verlegen. Ihm wurde auf seine Nachfrage erklärt, wie das Wasser hier hinaufkam.

So hatte er erfahren, dass es aus einer Quelle des sogenannten Brunnentals, durch den östlichen Wald, der „Wüste“, mittels hölzerner Rohrleitungen bis hier herauf geleitet wurde.

Der erste Ausfluss dieses Systems befand sich am Eingang des Schlosses, wovon eine weitere Röhre ins Innere gelegt wurde und eine dritte bis zum Kloster Naundorf führen sollte.

Weil die Röhren auch mal kaputt gingen, war auf dem Schloss eine Wohnung dem Zimmer- und Röhrenmeister vorbehalten.

Was für eine überragende Leistung. Jasper konnte es nur bewundern.

Dann wurde ihm natürlich gezeigt, dass er das Wasser aus dem Ausfluss vor der Wohnung des Großfürstlichen Oberförsters, am Ende des ersten Burghofes, holen konnte.

Für seine Unwissenheit bräuchte er sich nicht zu schämen, wurde ihm noch mitgeteilt, er sei nicht der Erste gewesen, der Wasser aus dem Brunnen holen wollte.

Wofür also die beinahe 10 Fuß langen ausgehöhlten Holzstämme, die er in einer Ecke hatte liegen sehen, dienten, war ihm nach dieser Erklärung klar gewesen.

Doch jetzt durfte er nicht länger trödeln oder in Gedanken schwelgen, denn dann hätte er es sich mit der Köchin wohl für längere Zeit verscherzt.

Schnell hatte er drei Eimer gefüllt, hatte sie nacheinander zur Küche getragen und war froh, als die Glocke zum gemeinsamen Mahl schlug.

Den hellen klaren Klang der Turmglocke liebte er sehr.

Nach dem Essen würde er mit dem Fegen der Innenhofes der Kernburg weitermachen.

Das frisch gebackene Brot war würzig, die Suppe war köstlich, hatte eine reichhaltige Gemüseeinlage und machte vor allem zuerst einmal satt. Er war zufrieden.

Während der Mahlzeit wurde über Johanns Abwesenheit spekuliert.

Jeder hatte eine andere Idee, wo er zu finden sein könnte. Einer meinte, dass ihn vielleicht die Prinzessin, die hier herumspuken solle, geholt hätte. Ihre Wohnung, im Bereich der „alten Zimmer“ im Schlossgebäude sollte voller Bilder sein, wusste er geheimnisvoll zu erzählen.

Ein anderer glaubte, dass es eher die Erhängten der 6 Kreuze gewesen sein könnten. Damit konnte Jasper überhaupt nichts anfangen, aber fragen mochte er im Moment auch nicht.

Es wurde gelacht und laut durcheinander geredet. Und für Jasper war es schön, dazu zu gehören. Eine Gemeinschaft mit allen Vor- und Nachteilen. Selbst die lauten Rülpser gehörten dazu.

Man kannte sich, man mochte sich, oder auch nicht. Immer wieder gab es natürlich auch Hauen und Stechen, wenn es darum ging, sich zu profilieren, oder sich einzuschleimen, wenn man Vorteile darin sah. So war das Leben.

*

Zwar träge von der Mahlzeit, aber dennoch voller Energie, machte Jasper sich wieder an die Arbeit.

Nach dem Kochen wurde schon wieder Holz benötigt und auch Wasser musste für den jetzt folgenden Abwasch herbeigeholt werden. Mit dem Fegen hatte er noch gar nicht anfangen können.

Und immer noch war Johann nicht erschienen. Das war seltsam, denn spätestens zu den Mahlzeiten hatte er sich immer wieder eingefunden, hieß es.

„Jaaaaasper“ wurde er laut gerufen. Der Stallmeister stand mit in den Hüften abgestemmten Armen im Schlosshof.

Er lief schnell zu ihm.

„Du suchst jetzt den faulen Johann. Und ich rate dir, finde ihn. Sonst ist er die längste Zeit in Diensten gewesen. Such das ganze Gelände ab. Gründlich. Und bringe ihn sofort zu mir, wenn du ihn gefunden hast. Verstanden? Und jetzt los.“

Mit barscher Stimme, die nie einen Widerspruch duldete, wurde dieser Befehl erteilt.

Jasper nickte und schickte sich an, den Schlossinnenhof zu verlassen.

„Wenn du ihn hier draußen nicht findest, suchst du in den Innenräumen. Aber putz dir vorher gründlich die verdreckten Schuhe ab!“, bekam er noch hinterher gerufen.

In den Innenräumen suchen? Jasper betete förmlich, den faulen Johann hier draußen nicht zu finden. Was für eine Gelegenheit, sich im Schloss umsehen zu können. Mit Erlaubnis!

Er verließ den Burghof durch das schmale Tor, überlegte, ob er über die Brücke in den zweiten Burghof, oder die kleine Treppe hinab nehmen sollte, um erst einmal die Kernburg, das Schloss, zu umrunden.

Er entschied sich für die zweite Variante.

Ein kleines Gartenstück war hier mit Blumen bepflanzt worden.

Das Gras, das den gesamten Schlossbereich umgab, war trocken und schon ziemlich hoch gewachsen. Da würden die Gärtner wohl demnächst mit ihren Sensen viel zu tun haben.

Wenn hier aber einer liegen würde, könnte er ihn nicht übersehen.

Jasper umrundete das Gemäuer.

Die Rundungen der Gebäudeteile fand er ehrfurchtgebietend.

Sie strahlten so viel Kraft und Stärke aus. Die imposante Höhe ließ ihn ganz demutsvoll werden. Ganz oben am Gemäuer konnte er das Fachwerk gerade noch deutlich erkennen. Auch die unzähligen Fenster, die hoch oben auf ihn herabsahen, beeindruckten ihn.

So ganz aus der Nähe konnte er jeden einzelnen Stein erkennen.

Schon erstaunlich, dachte er, von weitem sieht es so aus, als seien die Burg und das Schloss aus Ziegelsteinen gemauert.

Aber wenn er genau hinsah, erkannte er, dass es alles gekonnt geschlagene Steine waren. Die meisten davon waren rot. Einige aber auch leicht gelb und wieder andere erschienen ihm eher grau. Auch die Größe war recht unterschiedlich, aber dennoch sah alles sehr eben und ordentlich aus. Eben wie gemauert.

Auch die gewaltigen Stützpfeiler, die die Mauern gegen Absenkungen abstützten, waren aus Steinen aufgesetzt.

Was für eine Arbeit!

Irgendwie war es hier aber auch ein bisschen unheimlich. Einerseits war niemand zu sehen oder zu hören, anderseits hatte er das Gefühl, schon wegen der vielen Fenster, dass er von dort gut beobachtet werden konnte. Deshalb schaute er sich auch immer um.