Feuerhaar - Inge Harländer - E-Book

Feuerhaar E-Book

Inge Harländer

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Beschreibung

Die 18-jährige Margaretha lebt um 1870 in der zauberhaften Landschaft zwischen Schleswig und Eckernförde bei ihren Großeltern, die eine Friesen-Pferdezucht betreiben. Begleiten Sie Margaretha in ihrem Alltag mit den Ereignissen der damaligen Zeit. Erfahren Sie mehr über ihre Jugendliebe zu Thomas (der sie enttäuscht), ihre tiefe herzliche Freundschaft zu Luise (die noch eine Überraschung birgt) und die Zudringlichkeiten des widerlichen Nachbarn Hein Egg (der Margaretha und den Hof begehrt). Erleben Sie ihre Begegnung mit Claudius, den die Großeltern gerne als ihren Ehemann sähen. Kommen Sie mit Margaretha in den Schleswiger Dom, zum Kriegerdenkmal von 1865 am Königshügel bei Jagel und den Runensteinen am Selker Noer. Teilen Sie Margarethas Begeisterung für die Pferdezucht und besonders zu ihrer Friesenstute Sternenfee. Alles scheint so idyllisch und liebevoll - bis etwas Unvorhergesehenes geschieht.

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Inge Harländer, geboren 1954 in Schleswig-Holstein, schreibt Romane mit historischem Hintergrund.

Sämtliche Personen und deren Handlungen sind fiktiv.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig und keineswegs beabsichtigt.

Für alle „Hummeln“, die eigentlich nicht fliegen können, es aber dennoch einfach tun.

Runenstein am Selker Noer

*

Margaretha hatte sich hinter einer riesigen uralten Buche versteckt und blickte auf die Lichtung um zu sehen ob sie wirklich da waren. Trotz der einbrechenden Dämmerung hatte sich die junge Frau an diesem warmen Maiabend heraus geschlichen. Ihre Großmutter hatte ihr zwar verboten zu so später Stunde das Haus noch zu verlassen, aber sie hatte sich leise davongemacht, als diese sich nach dem Abendessen um den Abwasch kümmerte.

Behände war sie, wie so oft barfuß, durch das kleine Dorf über breit ausgefahrene Wege, über eine kleine Anhöhe und dann am Rande des Weizenfeldes durch das nicht allzu dichte Unterholz bis hierher gelaufen. Nur wenige Minuten hatte sie für die kurze Strecke gebraucht.

Die Neugierde hatte sie trotz des leichten Nieselregens voraneilen lassen. Und sie war zufrieden, denn sie waren tatsächlich da. Aus ihrem Versteck heraus beobachtete sie die Lichtung. Die Gruppe befand sich an einem Lagerfeuer.

Alte, Junge, Kinder und dazu einige große zottelige Hunde.

Das Licht des Feuers glomm vor sich hin. Ab und zu flackerte es auf und knisterte, wenn der leichte Wind hinein blies.

Ein Karren stand nicht unweit des Feuers, sechs braune Pferde grasten friedlich davor.

Zwei Wagen und einige kleine Zelte, in denen die Leute wohnten, standen am Rande der Waldlichtung ganz nahe an der kleinen Au, die hier nahezu lautlos vorbeifloss.

Ihr Herz schlug heftig, denn er war auch dabei.

Sein schwarzes Haar, sein ausdrucksvolles Gesicht mit den leuchtenden dunklen Augen und seinem Lachen hatte sie so sehr vermisst.

Er saß direkt vor dem Feuer, so dass sie keine Mühe hatte, ihn sofort zu erkennen.

Ihm gegenüber hatte sich der Rest der Truppe auf der Lichtung versammelt.

Musik erklang. Die von einem alten Mann gespielte Geige brachte eine fröhliche Melodie hervor.

Beinahe hätte Margaretha Herrn Karl nicht erkannt. Er schien so viel älter geworden zu sein.

Lebendige schnelle Töne waren zu hören. Lustige Laute einer Mundharmonika, gespielt von einem zarten Jungen, kamen hinzu und tönten durch den Wald.

Die Schaustellertruppe, die sie so lange nicht gesehen hatte, übte scheinbar gerade ein neues Bühnenstück ein.

Thomas gab direkte Instruktionen, um den Auftritt einer alten Frau zu korrigieren. Es war seine Mutter, Elsabea, die die Rolle einer Königin spielte und von ihm einige Anweisungen bezüglich ihrer Körperhaltung erhielt.

„Mutter, ein wenig erhabener dürften deine Bewegungen schon sein. Eine Königin schreitet, und bewegt sich nicht wie ein Bauernmädchen“, lachte er.

Margaretha konnte ihren Blick gar nicht lösen. Am liebsten wäre sie gleich auf die Lichtung gesprungen, um ihre Freunde zu begrüßen. Allerdings genoss sie den Augenblick zu sehr, um ihn gleich zu unterbrechen.

Ein Jahr war es her, seit sie sie zuletzt gesehen hatte. Ein ganzes sehr langes Jahr.

Die Dorfbevölkerung sah es gar nicht gerne, dass sie Kontakt zu diesen Menschen hatte.

Schauspieler, Hausierer, Heimatlose hieß es, Umherziehende, hieß es, Nichtsnutze hieß es auch.

Aber diese Nichtsnutze wurden gerne von den Bauern beschäftigt, wenn in der Erntezeit Hilfskräfte für die Arbeit fehlten.

Und wurden sie deshalb von der Bevölkerung auch nur in irgendeiner Weise anerkannt?

Nein. Wie immer schon mussten sie am Rande der Ortschaften lagern.

Wie immer schon waren sie, außer eben in der Erntezeit, ungern gesehen und wie immer schon hatten sie einen schlechten Ruf, weil sie ständig unter Geldmangel litten.

So wurde ihnen nachgesagt, dass sie trotz ihres Unterhaltungswertes dennoch Unruhe brächten. Auch dass sie stehlen würden, wurde behauptet. Und die Waren, die sie zum Verkauf anboten, seien sicher Diebesgut wurde gemunkelt.

Margaretha allerdings glaubte nichts davon. Sie war sogar der Meinung, dass einige der Dorfbewohner die Anwesenheit ihrer Freunde nutzten, um selbst den einen oder anderen Diebstahl zu begehen.

Margarethas Großeltern hingegen hatten nichts gegen den Kontakt einzuwenden. Sie hatten sogar die Arbeitskraft von Thomas inzwischen sehr schätzen gelernt.

Im Vergleich zu den Umherziehenden waren ihre Großeltern vermögend. Ihr Großvater hatte den Hof hier im Herzogtum Holstein geerbt, und ihre Großmutter hatte eine große Mitgift in die Ehe eingebracht. Sie besaßen einige Hektar Land, bestehend aus Ackerflächen und Wiesen, nicht zu vergessen die vier Kühe, einige Schweine, Gänse, Enten und Hühner.

Der ganze Stolz aber waren die Pferde. Sie züchteten Friesen. Große, gutmütige pechschwarze Pferde. Ein Hengst, vier Stuten, drei Dreijährige, davon zwei Stuten und ein Wallach, und zwei Jährlinge, zurzeit also zehn Pferde, gehörten zum Hof. Und der Großvater wurde wegen seiner ausgezeichneten Pferdekenntnisse bei vielen Leuten aus der Umgebung häufig um Hilfe gebeten, wenn dessen Pferde Krankheiten hatten oder wenn es um Zuchtfragen ging.

Anfangs wurde der Großvater wegen seiner Zucht dieser Pferderasse belächelt. Wurden hier doch kräftige Arbeitspferde gebraucht. Er hatte die Leute lächeln lassen. Er war sicher, dass die „Geldleute“ die besondere Schönheit, Eleganz und Umgänglichkeit der Friesen schon noch erkennen würden. Und so kam es auch.

Margaretha war so in Gedanken versunken, dass sie erst jetzt bemerkte, dass die Musik verklungen war und ihre Freunde sich ans Feuer gesetzt hatten.

Sie wusste: Gleich würden sie Kaffee trinken.

Nach dem Üben Kaffee trinken. Das war ihr noch aus dem letzten Jahr in Erinnerung geblieben. Ein Topf mit Wasser wurde auf das Feuer gestellt. Wenn das Wasser kochte, wurde der Kaffee in einer blau gemusterten Kanne, die sehr in Ehren gehalten wurde, aufgebrüht.

Frau Elsabea (Sie hatte neben ihren schauspielerischen Fähigkeiten auch die Gabe, die Zukunft aus der Hand zu lesen, und konnte damit manchmal ein kleines Zubrot für die Truppe verdienen. Diese Kunst hatte sie von einer weisen Frau erlernt, wie sie Margaretha im Vorjahr berichtet hatte.) erzählte ihr einmal, dass diese Kanne ein Erbstück sei; sie soll aus Meissen stammen und schon einige Jahrzehnte alt sein.

Einer der Hunde hatte Margaretha offensichtlich gewittert.

Er schlug mit kehliger Stimme an.

Jetzt drehte sich Thomas in ihre Richtung.

Sie trat lächelnd hervor. Und ein Jauchzen klang von den Anwesenden zu ihr herüber.

„Margaretha!“, hörte sie die erfreuten Rufe.

„Margaretha mit dem Feuerhaar!“, rief Thomas, der auf sie zu rannte, sie in die Arme nahm und durch die Luft wirbelte.

Er drehte sich mit ihr im Kreis und lachte voller Freude über ihre Anwesenheit.

Endlich ließ er sie herab, und sie wurde mit großer Freundlichkeit auch von dem Rest der kleinen Gruppe begrüßt.

Die Kinder schauten mit Bewunderung auf ihre langen, lockigen roten Haare.

Die Feuerhaare, wie Thomas diese Haarpracht gerne nannte.

In ihrer Kinderzeit wurde sie wegen ihrer ausgefallenen Haarfarbe häufiger Hexe genannt. Und sie hatte sehr darunter gelitten.

Als die Großmutter ihr dann aber verriet, dass Hexen sehr kluge, weise Frauen gewesen waren, die auch die Heilkünste beherrschten, war sie stolz auf ihre besondere Haarfarbe.

Und durch Thomas liebevolle Bezeichnung mochte sie ihre Haarfarbe inzwischen richtig gerne.

„Ihr wart solange nicht hier. Ich habe euch alle sehr vermisst“, bemerkte sie atemlos.

Sie wurde ans Feuer gezogen, ließ sich auf einem Baumstamm, der als Sitzplatz davor gelegt worden war, nieder und schaute der Reihe nach alle an.

Sie hatten sich kaum verändert. Nur ein Jahr älter geworden wie sie selbst. Aber sonst war alles, wie sie es in Erinnerung hatte. Eine Heiterkeit herrschte unter ihnen, eine Vertrautheit, Wärme und Zuneigung teilten sie miteinander, die ihr so im Ort nirgends begegnete.

„Woher weißt du, dass wir hier sind, Margaretha?“ Es war Herr Karl, der auch die Geige gespielt hatte, der sie ansprach.

„Hat sich unsere Ankunft im Ort schon herumgesprochen und sind die Leute neugierig, was wir in diesem Jahr anzubieten haben?“, wollte er wissen.

„Ja“, sagte sie, „mein Großvater erwähnte es am Mittag. Er freut sich tatsächlich auf euch, weil Großmutter dringend neue Kessel und Töpfe braucht. Auch sind einige ihrer Messer stumpf. Der Scherenschleifer war lange nicht im Ort. Und Großvater braucht sicher wieder die Hilfe von Thomas bei den Pferden, weil die Dreijährigen eingeritten werden sollen. Hoffentlich könnt ihr in diesem Herbst viel verdienen.“

Neben dem Handel mit Kesseln und Töpfen, boten sie das Schleifen von Messern und Werkzeugen an. Im nahe gelegenen Hochmoor verdingten sich einige aus der Familie zum Torfstechen. Dies war eine sehr anstrengende und schmutzige Arbeit. Da diese Arbeit nicht gut bezahlt wurde, arbeiteten sie zusätzlich auf den Feldern und gaben mitunter kleine Vorführungen zum Besten.

Thomas war ein sehr guter Messerwerfer.

Er malte auch die großflächigen Bilder, die für ihre Vorträge benötigt wurden.

Margarethas Großvater lobte Thomas als sehr guten Pferdekenner und den besten Einreiter, den er je hatte. Bei manchen Arbeiten mit den Tieren hatte er schon geholfen.

Thomas etwas jüngere Schwester Rosali spielte meistens die Jungverliebte, sein Neffe den jugendlichen Liebhaber und nebenbei Mundharmonika und das Oberhaupt, der Herr Karl, wie er sich nennen ließ, war der Direktor der kleinen Gruppe und spielte hervorragend Geige. Ihre musikalische Darbietung war sehr geschätzt. Viele Zuhörer fanden sich ein, wenn auf eine Vorstellung hingewiesen wurde.

Hierin lag neben dem Kesselverkauf die Haupteinnahmequelle. Alle Leute waren dankbar für ein bisschen Abwechslung und ließen nach der Aufführung den einen oder anderen Taler als Anerkennung in die von den Kindern herumgereichten Mützen fallen.

Ihre Vorführung begann immer mit der Einleitung:

Hört ihr Leut und lasst euch sagen, was sich neulich zugetragen!

Dann wurde in einer Art Sprechgesang von den neuesten Ereignissen berichtet.

Die auf einem Holzgestell abgelegten Zeichnungen wurden von einem der Kinder auf ein Zeichen von Herrn Karl umgedreht, so dass er sich ganz auf seinen Vortrag konzentrieren konnte. Im vergangenen Jahr wurde viel über die Eisenbahn berichtet. Schließlich wurde das Eisenbahnnetz immer weiter ausgebreitet. Immer mehr Städte waren jetzt mit der Bahn zu erreichen.

Margaretha hatte ihren Großeltern erst kürzlich das Versprechen abgenommen, dass sie noch in diesem Jahr eine Reise zu dieser Eisenbahn unternehmen würden. Dafür mussten sie dann allerdings bis nach Schleswig reisen. Und da das sehr zeitaufwendig sein würde, sie wären immerhin den ganzen Tag mit dem Landauer unterwegs, musste sie warten, bis der Großvater sowieso in der Gegend zu tun hätte.

Inzwischen hatten sich Alt und Jung um das Feuer gesetzt, um den Kaffee zu trinken. Neuigkeiten wurden ausgetauscht. In einem Jahr hatte sich doch das eine oder andere ergeben. Margaretha wollte natürlich auch etwas von den Anwesenden erfahren. Und so erzählten ihre Freunde, wo sie im vergangenen Jahr überall gewesen sind.

Von Niedersachsen waren sie an der Nordseeküste bis ans obere Ende von Dänemark gereist. Zurück ging es an der Ostsee entlang, wo sie den größten Teil des Winters auf einem großen Hof verbracht hatten. Dort gab es für sie die Möglichkeit durch das Hüten der Schafe und Gelegenheitsarbeiten durch den Winter zu kommen. Wohnen durften sie im Schafstall, wo sie es zumindest warm hatten. Und jetzt waren sie wieder hier, wo sie sich am wohlsten fühlten. Hier zwischen Nordsee und Ostsee, zwischen Flensburg und Kiel, zwischen Schlei, Treene und Eider fühlten sie sich eigentlich zu Hause.

„Gibt es Arbeit mit den Pferden bei euch, Margaretha? Meinst du, dass ich bei deinem Großvater schon einmal vorsprechen kann?“, wollte Thomas wissen.

„Doch sicher gibt es einiges zu tun. Die Dreijährigen sollen eingeritten werden. Und ich glaube dass zwei der Pferde für die Kutsche vorbereitet werden sollen. Frag also ruhig an.“

Die Kinder wollten von Margaretha wissen, woher die Friesen stammten und warum ihre Großeltern ausgerechnet diese Rasse züchteten. Sie erzählte ihnen, was sie darüber wusste.

Aus der Provinz Friesland an der Nordsee im Norden der Niederlande stammten diese gutmütigen Warmblutpferde. Im Mittelalter waren es beliebte Ritterpferde, weil sie sehr robust und kräftig gebaut waren und dennoch wendig und elegant wirkten. Sie waren im 17.ten Jahrhundert, also vor circa zweihundert Jahren, mit spanischen Pferden eingekreuzt worden. Ihr kräftiger Hals, der edle Kopf und vor allem das lange Haar ihrer Mähnen und der Kötenbehang an den Fesseln machen sie so besonders. Deshalb halten viele Adlige sich diese wunderschönen Pferde.

Sie eignen sich als Reitpferde genauso gut, wie auch als Kutschpferde, und auch als hervorragende Arbeitstiere sind sie sehr gut einzusetzen, wusste Margaretha mitzuteilen. Schon der Vater ihres Großvaters hatte diese prächtigen Tiere gezüchtet. Als der vor Jahrzehnten seinen Sohn mit auf die lange Reise in die Niederlande nahm um sich nach einer Zuchtstute umzusehen, lernte dieser dort seine Frau, Margarethas Großmutter, kennen und lieben.

Zur Aussteuer bekam die Großmutter eine wunderschöne braune Friesenstute mit in die Ehe. Und Nachkommen aus dieser Stute waren immer noch auf dem Hof. Der ganze Stolz der Großmutter.

„Wer sich in diese Tiere nicht verliebt, ist gar nicht fähig zu lieben, sagt meine Großmutter immer wieder, wenn sie sich die Zeit gönnt und ihre Pferde einfach nur voller Bewunderung hinter dem Gatterzaun stehend anschaut“, berichtete sie abschließend.

Die Kinder waren mit diesen Informationen zufrieden und wollten jetzt erfahren, warum Margaretha bei ihren Großeltern lebte und mit ihren achtzehn Jahren noch nicht verheiratet war. Ob es denn keinen Mann für sie gäbe.

„Ich hatte euch doch schon im letzten Jahr erzählt, dass meine Eltern auf der Ostsee gestorben sind. Sie waren mit einem Schoner auf dem Weg nach Russland, wohin sie Friesen verkaufen wollten. Ein Graf aus der Nähe von St. Petersburg hatte großes Interesse an den Tieren. Bei starkem Sturm kenterte das Schiff. Alle Menschen, die an Bord waren, sind ertrunken. Leider auch meine geliebten Eltern. Ich war damals noch keine fünf Jahre alt. Ich weiß leider kaum noch, wie meine Eltern ausgesehen haben.“

Die Kinder bestätigten, dass sie sich an diese Geschichte erinnerten, gaben aber zu, diese traurige Begebenheit trotzdem immer wieder gerne zu hören.

Wenn ihre Großeltern, bei denen Margaretha seither lebte, nicht immer wieder das Aussehen der Eltern beschreiben würden, hätte sie deren Gesichter sicher längst vergessen. Sie wusste durch deren Erzählungen, dass sie die Lockenpracht von ihrem Vater und die roten Haare von ihrer Mutter geerbt hatte.

Mit ihren nahezu grünen Augen war Margaretha eine Schönheit, nur dass ihr dies nicht bewusst war.

Da ihr Vater das einzige Kind ihrer Großeltern war, würde Margarethas zukünftiger Ehemann einmal den Hof übernehmen können. Die Großeltern drängten mitunter schon zu einer Ehe, respektierten allerdings, dass Margaretha selbst einen Mann für sich finden wollte.

Den Sohn eines Nachbarn, Hein Egg, der finanziell sehr gut gestellt war, wollte sie auf keinen Fall zum Mann. Er war klein, untersetzt, hatte eine Gnubbelnase, rot unterlaufene Augen und war absolut humorlos. Obwohl die Großeltern ihr immer wieder erklärten, welch gute Partie er doch wäre und dass er auch über genügend Pferdeverstand verfügte, um die Zucht der Friesenpferde weiterzuführen, kam er für Margaretha nicht in Frage.

Sein merkwürdiges Verhalten war ihr aufgefallen, als er eines Tages zum Abendessen blieb.

Den Käse schnitt er sich aus der Mitte, vom Brot nahm er die dicksten Scheiben, den Rahm goss er reichlich in seinen Tee und die Wurst schnitt er sich in so dicken Scheiben ab, dass eine ganze Familie von seiner Mahlzeit hätte satt werden können. Außerdem taxierte er die Einrichtung und Gegenstände scheinbar nach deren Wert und starrte Margaretha in einer Art an, dass es ihr unangenehm den Rücken herunter lief.

Sie wusste, dass Egg sein Personal so hart arbeiten ließ, dass kaum jemand lange bei ihm aushielt.

Es hieß auch, dass er in der Kriegszeit bei allen möglichen Leuten Eier gestohlen hätte, um sie an die Soldaten zu verkaufen. Leider war er nie auf frischer Tat ertappt worden, aber die Bauern waren sicher, dass er der Dieb war.

Ständig war er auf der Suche nach neuen Arbeitskräften. Man erzählte sich, dass er die kleine Tochter eines Arbeiters, die erst sieben Jahre alt war, davon abhielt in die Schule zu gehen, weil er sie zum Gänsehüten brauchte. Statt ihr einen kleinen Lohn zu zahlen, erhielt sie einige Lebensmittel, die längst ihre Frische eingebüßt hatten. Da ihre Eltern aber sehr bedürftig waren, trauten die sich nicht, dagegen aufzubegehren.

So einer wie Thomas müsste ihr Ehemann werden, dachte sie immer häufiger. So ein lustiger Mensch, so voller Lebensfreude, so herzlich, so begabt, so liebenswert. Ja, das wäre dann schon richtig. Sie fühlte sich seit mehreren Jahren zu ihm hingezogen.

Aber ein Umherziehender, nein, das konnte sie wohl vergessen. Das war wohl nicht möglich. Vermutlich würde der Großvater das nicht gutheißen.

Thomas riss sie aus ihren Gedanken.

„Margaretha, ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst. Ich kenne deinen Großvater ja und weiß, wie böse er werden kann. Außerdem ist es spät geworden. Komm, ich begleite dich.“

Er nahm ihre Hand in seine und zog sie von ihrem Sitzplatz hoch.

Gemeinsam schlenderten sie den Weg zurück. Sie sprachen kaum miteinander. Nur ein klein wenig über die Friesen und darüber, wie sehr Thomas sich auf die Arbeit mit den Pferden freute. Er wollte am nächsten Tag vorbeischauen und alles mit dem Alten klarmachen.

Margaretha hatte das Gefühl, auch etwas Neues berichten zu müssen.

„Morgen kommt übrigens meine Freundin Louise zu Besuch. Ich glaube, dass du sie im letzten Jahr auf unserem Hof gesehen hast.“

„Ist das die mit dem braunen Haar, die immer so von Herzen lacht?“, fragte Thomas und Margaretha bestätigte seine Erinnerung.

Kurz vor dem Hof verabschiedeten die beiden sich. Margaretha fühlte sich wohl in seiner Gegenwart und der Abschied fiel ihr schwer. Aber sie freute sich auch auf den folgenden Tag, weil Louise kommen würde und sie Thomas dann bei seiner Arbeit mit den Pferden beobachten konnten. Sie hoffte nur, dass die Großmutter sie nicht ausgerechnet morgen mit Arbeiten versorgten würde, die ihr das Zuschauen unmöglich machen würde.

Sie konnte sich leise ins Haus und über die alte knarrende Treppe – wobei sie immer nur an der äußeren Seite auftrat um das knarren zu verhindern - in ihr kleines Zimmer schleichen. Daran, dass keine Kerze mehr brannte, erkannte sie, dass die Großeltern sich bereits schlafen gelegt hatten. Es hatte also niemand bemerkt, dass sie sich davon gemacht hatte und gerade erst wiedergekommen war.

Sie zog ihr langes Wollkleid aus, kämmte ihre Haare und wusch sich vor der Schüssel, die von ihr immer mit frischem Wasser gefüllt wurde. Das Wasser war sehr kalt, aber das war sie gewohnt. Sie zog ihr kuscheliges Nachthemd über, zündete eine Kerze an und legte sich in ihr weiches Daunenbett.

Eigentlich wollte sie noch ein wenig lesen, aber ihre Gedanken sprangen hin und her, so dass sie sich nicht auf die geschriebenen Worte konzentrieren konnte.

Sie dachte an Thomas und auch an Louise.

Louise kam aus Kiel. Ihr Vater hatte mit dem Rumhandel einst ein kleines Vermögen erwirtschaftet. Dann kam aber der Krieg und weil er auch Handel mit den Dänen getrieben hatte, wurde ihm nach der letzten Schlacht 1864 von den hiesigen Händlern zunächst kein Rum mehr abgekauft.

So verschlechterten sich die Familienverhältnisse schnell. Nach wenigen Jahren erholten sich seine Geschäfte aber zusehends und es ging finanziell wieder bergauf. Für Louises Aussteuer war jedoch immer genug Geld vorhanden gewesen. Wie Margaretha war auch sie ein Einzelkind.

Seit frühester Kindheit, seit ihrem achten Lebensjahr, besuchte Louise ihre Tante, die hier nahe dem Dorf, in der Nachbargemeinde lebte.

Margaretha hatte ihrer späteren Freundin einmal aus der unerfreulichen Lage geholfen, als einige Jungs sie im Winter mit Schnee eingerieben hatten. Dieser Schnee war allerdings hart gefroren gewesen und die darin enthaltenen Eiskristalle hatten die Wangen von Louise schon blutig gerieben. Trotz ihres Weinens hatten die Jungs nicht aufgehört sie immer weiter mit Schnee abzureiben.

Margaretha, die gerade von der Schule nach Hause wollte, kam darauf zu und verjagte die laut grölenden Jungen. Und seit dieser Zeit waren sie und Louise befreundet. Sie tauschten alle Geheimnisse miteinander, konnten sich alles erzählen und vor allem von Herzen miteinander lachen.

Margaretha war sehr glücklich über diese Freundin. Sie hatte keine andere.

Ihren Mitschülerinnen war sie zwar sympathisch, aber sie suchten ihren Kontakt außerhalb der Schule nicht, weil sie ihnen zu begabt war.

Im Gegensatz zu den meisten Mädchen freute sie sich immer unbändig auf den Schulbesuch.

Im Gegensatz zu den meisten ging sie auch regelmäßig in die Schule.

Auch während der Erntezeiten, wo viele Kinder zu Hause bleiben und bei den Erntearbeiten helfen mussten. Nun gut, bei vielen war es auch notwendig, zu helfen, weil etliche Eltern sich keine zusätzlichen Arbeitskräfte leisten konnten und jede helfende Hand gebraucht wurde.

Margaretha war einfach zu wissbegierig, um zu Hause zu bleiben.

Und im Gegensatz zu den meisten konnte ihr der zu vermittelnde Stoff gar nicht umfangreich genug werden.

So liebte sie es, Rechenaufgaben zu bewältigen, bei denen ihre Mitschülerinnen und Mitschüler nach kurzer Zeit kapitulierten, weil sie die Aufgaben als viel zu schwer empfanden. Eigentlich war für den Rechenunterricht der Mädchen nur vorgesehen, dass sie einige Grundrechenarten kennen lernten.

Margaretha bekam aber, weil der Rechenlehrer ihr Talent erkannte, immer Extraaufgaben, die sie mit Leichtigkeit lösen konnte.

Sie hatte auch das große Glück, dass ihre Schreiblehrerin sie nach dem Schulunterricht noch bei ihr zu Hause unterrichtete. Englisch und Französisch. Dieser Sprachunterricht gehörte nicht zum Lehrplan. Die Großeltern bezahlten diesen zusätzlichen Luxus aber gerne.

Ihr Großvater meinte damals: „Wer die Welt versteht kommt weiter“.

Selbstverständlich war sie auch der Dänischen Sprache mächtig, stand doch diese Region noch bis vor einigen Jahren unter der Dänischen Herrschaft von Christian IX..

Erst 1864 gewannen die Preußen den Krieg gegen die Dänen, und König Christian musste die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an den Deutschen Bund abtreten.

Jetzt war Wilhelm I. ihr König.

Dänisch zu sprechen war inzwischen verpönt, waren die Menschen in Schleswig-Holstein doch froh, der dänischen Herrschaft endlich entronnen und somit frei zu sein.

Sie war dem Großvater sehr dankbar für ihre zusätzliche Bildung.

Wenngleich der Preis für ihre Bildung hoch war.

Sie hatte keine Freundinnen, weil sie den Mädchen im Ort einfach zu schlau und zu bildungshungrig war.

Auch fanden ihre Mitschülerinnen sie zu wild für ein Mädchen. Sie benahm sich in deren Augen absonderlich, weil sie einerseits so gerne die Schule besuchte und anderseits auf dem Hof der Großeltern fast wie ein Junge aufwuchs und auch wie ein solcher ritt.

Pferde wurden schließlich woanders nur für die Arbeit gebraucht und nicht zum Vergnügen gehalten.

Welches der Mädchen im Dorf durfte denn schon mit Pferden arbeiten, oder welches Mädchen wurde mitgenommen, wenn es zur Aussaat auf die Felder ging?

Keines.

Sie alle mussten im Haushalt mithelfen, die Kühe melken, das Wasser aus den Pumpen schleppen, Essen kochen und Handarbeiten erledigen, aber doch nicht an solchen Männerarbeiten teilhaben wie Margaretha.

Und dann machte die das auch noch mit großer Freude. Trotzdem war sie im Ort sehr beliebt. Mit ihrer offenen ehrlichen Art und ihrem fröhlichen Wesen eroberte sie die Herzen der Bewohner und Besucher sehr schnell. Immer erkundigte sie sich nach deren Wohlbefinden und fragte auch nach den Angehörigen. Dadurch erfuhr sie allerhand an Neuigkeiten, die sie dann ihren Großeltern berichten konnte.

Jedenfalls würde morgen Louise kommen und für drei Tage, so war es von den Großeltern genehmigt worden, bleiben.

*

Schon früh am Morgen hörte Margaretha, die gerade vom Füttern des Federviehs aus dem Garten gekommen war, die Kutsche auf den Hof rollen.

Louise war angekommen.

Überglücklich begrüßten sie sich. Louise, in ihrem gelben Reisekleid und dem kleinen flachen Strohhut, der keck auf ihrem Kopf saß, sah aus wie der Frühling. Lachend fiel sie Margaretha in die Arme. Die Reisetasche wurde vom Kutscher, einem Bediensteten der Tante, ausgeladen und in die Küche getragen.

Hierin befand sich ein langer ovaler Esstisch aus Eichenholz, um den acht Stühle und eine lange Sitzbank mit Rückenlehne drapiert waren. Ein hoher Küchenschrank mit etlichen Fächern und Türen schmückte den Raum. Er wurde auch als Ablage für allerlei Kleinigkeiten genutzt. Kräutertöpfe verströmten einen würzigen Duft. An den Wänden hing ordentlich aufgereiht verschiedenstes Küchenzubehör. Auch einige kleine Landschaftsgemälde waren zu betrachten.

Margaretha zog ihre Freundin hinter sich her in den behaglichen Raum.

Die Großmutter, mit den Vorbereitungen für das Mittagsmahl beschäftigt, rieb sich die Hände an ihrer Schürze sauber, um Louise herzlich zu begrüßen. Sie fragte nach dem Befinden der Familie und danach, ob Louise eine angenehme Fahrt gehabt habe. Sie versprach, gleich einen guten Kaffee zu kochen. Ungeduldig stand Margaretha daneben, wohl wissend, dass sie diese ausgetauschten Artigkeiten nicht unterbrechen durfte. Aber sobald die Gelegenheit günstig war, präsentierte sie Louise den ganzen Stolz der Großmutter. Erst kürzlich hatte der Großvater eine Küchenneuheit liefern lassen.

Eine Küchenhexe.

„Schau, Louise, hier auf der metallenen Herdplatte gibt es verschiedene Einsatzringe. Je nachdem wie groß der Topf ist, der gerade benutzt werden soll, nimmt man entsprechend viele Ringe heraus und setzt den entsprechenden Topf darauf. Und sieh doch mal wie hübsch diese Hexe aussieht. Hier vorne“, erklärte sie ganz eifrig und öffnete eine der Ofentüren, „kannst du das Holz hineinlegen. So wird der ganze Ofen geheizt und die Küche gleich mit.“

Die Freundin war tatsächlich verblüfft. So etwas Modernes hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen.

„Das macht ja viel weniger Schmutz. Und ja, wunderschön sieht er aus. Und diese elegant geschwungenen Füße. Ich glaube wohl, dass in ganz Kiel niemand so etwas Wertvolles besitzt“, lobte sie begeistert.

Margaretha setzte Wasser in einem Kessel zum Kochen auf den Herd. Ihre Großmutter bestand auf dieser Tradition, jeden Gast zunächst einmal mit Kaffee zu versorgen.

Und Louise genoss diesen köstlich duftenden und so wohlschmeckenden Kaffee sehr. Drei Tassen zu trinken war nach Holsteiner Art Pflicht. Louise schaffte fast immer vier Tassen, was die Großmutter sehr zufrieden stimmte. Die gute Milch von den eigenen Kühen machte den Kaffee aber auch zu lecker. Jeder Gast des Hauses war erstaunt über den ausgesprochen guten Geschmack des Kaffees.

Die Großmutter hatte außer Margaretha noch niemandem ihr Geheimnis der Zubereitung verraten. Auf das gemahlene Kaffeepulver gab sie noch eine kleine Prise Kakaopulver und dann goss sie den Kaffeesud, wenn er einige Zeit in der Kanne abgestanden war, noch einmal durch ein Leinentuch. Dadurch blieb fast gar kein Kaffeesatz in den Tassen und der Geschmack war unvergleichlich gut.

Nachdem Louise zum Zeichen, dass sie genug getrunken hatte, die Tasse umgedreht auf den Teller stellte, verließen die jungen Frauen das Haus um Neuigkeiten auszutauschen.

Margaretha hatte versprechen müssen, nach den Friesen zu schauen und Bescheid zu geben, falls Thomas auf den Hof kommen würde. Beide wurden ermahnt, rechtzeitig zur Mittagszeit zurück zu sein.

Sie liefen, sich wie seit Kindertagen an den Händen haltend, über den mit großen Katzensteinen ausgelegten Hofplatz zur nahen Hausweide.

Die Sonne schien hell vom Himmel herunter. Lerchen mit ihrem hellen Gesang waren hoch am Himmel zu hören und die Schwalben flogen mit Futter für die Jungtiere im Schnabel um die beiden jungen Frauen herum.

Schwalben hat es auf diesem Hof schon immer gegeben. Viele Nester klebten an den Holzbalken im Pferdestall und am Außengemäuer des Hofes.

„Wo Schwalben nisten ist das Glück im Haus“ freute sich die Großmutter immer Anfang April, wenn die Schwalben aus ihrem Winterquartier zurückkamen.

Greif, der große gelb-braune Mischlingshund, war den beiden Frauen gefolgt und sprang guter Dinge, vor ihnen her.

Margaretha mochte es sehr, wenn er sie begleitete. Meistens aber war er in der Nähe des Großvaters, der diesen Hund innig liebte. Es beruhte wohl auf Gegenseitigkeit, denn Greif reagierte schon auf die leisesten oder auch nur angedeuteten Kommandos des Alten.

Am Gatter stand eine braune Stute. Der ganze Stolz der Großmutter.