Schatten und Licht - Julia Nowak - E-Book

Schatten und Licht E-Book

Julia Nowak

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Beschreibung

Begleiten Sie den jungen Hans auf seinem von Schicksalsschlägen geprägten Weg. Nach wahren Begebenheiten …

Klappentext: Um seiner Familie nach dem Großen Weltkrieg ein Auskommen zu ermöglichen, verpflichtet sich der friedliebende 18-jährige Hans widerwillig zur Armee. Kurz darauf stellt ihn das Leben auf eine harte Probe …

Nach einem tragischen Schicksalsschlag findet sich Hans, am Boden zerstört, in den Wirren der 20er Jahre wieder, wenn Deutschland unaufhaltsam auf die nächste Katastrophe zusteuert. Hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Liebe, trifft Hans eine folgenschwere Entscheidung …

Dieser bewegende Liebesroman basiert in großen Teilen auf dem Leben des Großvaters der Autorin. Tauchen Sie ein in eine schicksalhafte, mehrere Jahrzehnte umspannende Geschichte, die in den Nachwehen des Ersten Weltkriegs beginnt und bis in die 1950er Jahre fortdauert.

Wird Hans sein Glück finden?

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Julia Nowak

 

Schatten und Licht

 

Ein Leben zwischen Liebe und Krieg

 

 

 

Ihre Zufriedenheit ist unser Ziel!

 

Liebe Leser, liebe Leserinnen,

 

zunächst möchten wir uns herzlich bei Ihnen dafür bedanken, dass Sie dieses Buch erworben haben. Wir sind ein kleines Familienunternehmen aus Duisburg und freuen uns riesig über jeden einzelnen Verkauf!

 

 

Vor allem aber möchten wir, dass jedes unserer Bücher Ihnen ein einzigartiges und erfreuliches Leseerlebnis bietet. Daher liegt uns Ihre Meinung ganz besonders am Herzen!

 

Wir freuen uns über Ihr Feedback zu unserem Buch. Haben Sie Anmerkungen? Kritik? Bitte lassen Sie es uns wissen. Ihre Rückmeldung ist wertvoll für uns, damit wir in Zukunft noch bessere Bücher für Sie machen können.

 

Schreiben Sie uns: [email protected]

 

Nun wünschen wir Ihnen ein angenehmes Leseerlebnis!

 

Moni & Jill von EK-2 Publishing

 

05. Juni 1950

 

Hans schaute auf die Uhr. Diese zu lesen, hatte er gerade erst gelernt, und er war sehr stolz darauf. Die Zeiger standen gerade auf kurz nach 14 Uhr und Hans schnappte sich den kleinen abgenutzten Holztritt aus der Küche. Mit diesem ging er in den Hof, stellte den Tritt vor den Briefkasten und stieg darauf. Anders war es ihm noch nicht möglich, die Post zu holen, die der Briefträger jeden Tag um 14 Uhr bei ihnen einwarf. Ob wohl heute der langersehnte Brief dabei war? Hans streckte sich auf die Zehenspitzen und förderte zwei Briefe und eine Postkarte zu Tage. Die Postkarte war von Onkel Erich, die interessierte ihn nicht, aber die Briefe betrachtete er genauer. Einer der Briefe kam von der Stadt, der für seine Mutter bestimmt war. Auf dem zweiten Brief konnte Hans mit Anstrengung die Worte Deutsches Rotes Kreuz entziffern und war sofort aufgeregt. War das etwa der Brief, den ihm seine Mutter so lange versprochen hatte? Endlich eine Nachricht, was mit seinem Vater geschehen war.

Er eilte ins Haus zurück, die Briefe presste er fest an seine Brust, wie einen Schatz.

„Mama, Oma! Da ist ein Brief!“, rief Hans und stolperte aufgeregt in die Stube.

Dort saß nur seine Mutter in ihrem Lieblingssessel und war in Näharbeiten vertieft, von denen sie jetzt aufsah.

„Leise, Hans! Oma hat wieder schlimme Kopfschmerzen und schläft nebenan. Hast du die Post geholt?“

Hans nickte und überreichte seiner Mutter die Briefe und die Postkarte. Sie widmete sich erst der Postkarte ihres Bruders, dann den Briefen. Den aus Ludwigshafen legte sie schnell beiseite, dann hielt sie den Brief vom Deutschen Roten Kreuz in der Hand. Andächtig fuhren ihre Finger über den Stempeldruck der Organisation.

„Ist das der Brief, in dem steht, wann Papa wiederkommt? Den du mir versprochen hast?“, fragte Hans leise und rückte näher an seine Mutter heran.

Ihre Hände zitterten leicht und ihre Stimme klang belegt, als sie sprach: „Ja ... ja, das ist der Brief, mein kleiner Hans ... Hoffen wir das Beste.“ Sie zerriss den Umschlag dank ihrer zittrigen Finger mehr als nötig, aber Marie wollte endlich Gewissheit. Was war mit ihrem Mann geschehen? Würden sie sich wiedersehen? Was war mit dem ersten Brief kurz nach dem Krieg, stimmten die Informationen noch oder hatte das Rote Kreuz mehr herausgefunden? Die Gedanken an den Besuch von Julius blitzten vor ihrem inneren Auge auf. Seit dem Besuch hatte sie die Kiste mit den Habseligkeiten ihres Mannes immer dicht bei sich unter ihrem Bett aufbewahrt. Dorthin würde sie später auch den Brief legen, eine letzte Erinnerung an seine Abwesenheit. Maries Herz pochte wild gegen ihren Brustkorb, als sie das Papier mit noch immer zittrigen Fingern auseinanderfaltete. Ihre Augen suchten automatisch die Worte, die sie so sehr gefürchtet hatte.

 

Hans Schneider ... Gefangenenlager Helenenstadt ... Tod am 14.03.1948 ... wir bedauern Ihren Verlust sehr ...

 

Marie las die Zeilen mehrmals, aber die Information drang noch nicht richtig zu ihr durch. Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen und sie hielt einen Schluchzer zurück. Insgeheim hatte sie damit gerechnet, Hans nicht mehr wieder zu sehen. Schon der erste Brief hatte das angedeutet. Das machte den Verlust leichter. Wie in jedem Brief des Roten Kreuzes stand auch hier, dass die Informationen nicht gesichert waren und man in Hoffnung bleiben könne, denn es seien schon totgemeldete Soldaten wieder zurückgekehrt. Doch Marie hielt das für eine Floskel. Sie wollte sich nicht mehr an diese winzig kleine Hoffnung klammern, das Leben ging weiter und sie musste stark bleiben, für ihren anderen Hans. Mit einem traurigen Lächeln betrachtete sie ihren Sohn, der sie neugierig anstarrte. Vielleicht war das nur Einbildung, aber Marie glaubte, auch in seinem Gesicht so etwas wie Verständnis lesen zu können.

„Mama?“, fragte er mit erstickter Stimme. „Was ist mit Papa?“

Marie zog Hans auf ihren Schoß und drückte ihn an sich.

„Ach, Hans“, seufzte sie. Wie sollte sie ihm das nur kindgerecht erklären? Konnte man den Tod überhaupt kindgerecht erklären? „Weißt du, du hast recht. Das ist der Brief, auf den wir schon so lange gewartet haben. Jetzt wissen wir, was mit Papa passiert ist.“

„Er kommt nicht mehr, oder?“, fragte Hans mit belegter Stimme. Tränen rollten über seine Wangen.

Marie schüttelte den Kopf und wiegte Hans in ihren Armen.

„Nein, Papa kommt nicht mehr nach Hause. Jetzt haben wir die Gewissheit.“ Sie umarmte Hans fest und legte ihre Wange an seinen Kopf. „Aber Oma und ich, wir sind immer für dich da, hörst du? Wir bleiben bei dir. Das darfst du nicht vergessen. Wir schaffen alles zusammen.“

Hans schniefte, mehr und mehr Tränen bahnten sich ihren Weg. Er hatte seinen Vater nicht gekannt, aber er war trotzdem traurig. Wie alle seine Schulkameraden hatte er sich gewünscht, der Vater würde irgendwann wieder zu ihnen kommen, wenn der Krieg vorbei war. Der Vater seines besten Freundes war schon letztes Jahr zurückgekommen. Hans‘ Vater nicht. Er besaß nur dieses eine Foto, das seine Mutter ihm niemals in die Hand gab. Wo er als Baby auf der Brust seines Vaters lag. Sie beide sahen so glücklich dabei aus. Das war nicht fair!

 

Er kugelte sich auf dem Schoß seiner Mutter zusammen und lauschte ihrem Herzschlag, einer tröstlichen Melodie. Die Umarmung und das rhythmische Wiegen in ihren Armen beruhigte Hans.

„Mama?“, fragte er leise und hob den Kopf.

„Was ist, mein Kleiner?“ Marie streichelte ihrem Sohn durch die Haare und lächelte ihn an. Er war ihr ganzer Stolz.

„Kannst du mir von Papa erzählen? Alles, was du über ihn weißt, vom Anfang bis zum Ende. Das hast du noch nie gemacht.“

Marie lachte und lockerte ihre Umarmung.

„Ja, das stimmt. Wenn du möchtest, mache ich das. Heute haben wir ja Zeit.“

Hans kletterte von ihrem Schoß und lachte bereits wieder. Er liebte die Geschichten über seinen Vater. Marie legte ihm eine Hand auf die Schulter, damit er sich ihr zuwandte.

„Pass auf, du holst dir jetzt ein Glas von deiner Lieblingsmilch und dann kommst du zu mir in den Garten. Wir machen es uns auf unserer Bank gemütlich, das Wetter ist so schön. Dort erzähle ich dir dann alles, was ich von Papa weiß. Ganz fest versprochen.“

Hans nickte und eilte in die Küche, Marie schlenderte in den Garten. Dabei schweiften ihre Gedanken zu ihrem Ehemann Hans. Witwe war sie nun, jetzt hatte sie es schwarz auf weiß. Endgültig. Eine Träne stahl sich aus ihrem Auge, die sie trotzig wegwischte. Sie wollte nicht weinen, nicht vor ihrem Sohn. Marie setzte sich auf die Bank und glättete ihren Rock. Immer noch waren ihre Gedanken bei Hans – bei ihrem Mann. Ein Lächeln zuckte über ihre Lippen, als sie daran dachte, wie schrecklich sie ihn zuerst gefunden hatte, als Erich mit ihm vorbeigekommen war. So alt war er gewesen und so imposant. Zu imposant, dachte sie damals. Und doch, sie hatte sich nicht wehren können gegen ihre Gefühle.

 

Ihrem gemeinsamen Sohn jetzt die Geschichte zu erzählen, ehrte sein Andenken und so würde Marie abschließen können. Abschließen mit dem schönsten Kapitel in ihrem bisherigen Leben.

 

12. Juli 1920

 

Wehleidig blickte Hans aus dem Fenster. Das Wetter war viel zu schön, um in der Stube zu sitzen und Papiere zu ordnen. Und doch hatte ihn sein Vater dazu verdonnert.

„Du bist der Einzige in der Familie, der das versteht, also kümmere dich“, hatte er gesagt und die Tür des Hauses hinter sich geschlossen.

Seitdem saß Hans alleine zwischen all den Papieren und trauerte dem Spaziergang nach, den er bei dem schönen Wetter hatte machen wollen. Er konnte hören, wie seine Mutter und seine älteste Schwester im Erdgeschoß das Essen zubereiteten. Seine anderen Geschwister waren scheinbar alle außer Haus, und auch sein Vater war in die Stadt gefahren, um Besorgungen zu machen.

 

Zwischen all den Papieren entdeckte Hans beim Durchblättern einen Handzettel. Er nahm ihn in die Hand und las die Überschrift: Männer, helft dem Reich! Den Zettel hatte Julius mitgebracht, als er gestern von der Schule heimgekommen war. Jemand hatte ihm den Zettel zugesteckt, hatte er gesagt. Nachdenklich faltete Hans das Papier und legte es zur Seite.

Seit dem großen Krieg vor zwei Jahren las er ständig solche Aufforderungen. Hans hatte im großen Krieg nicht gekämpft, er war zu jung gewesen, bei Kriegsende gerade so 17 Jahre alt. Auch jetzt verspürte er nicht den Drang, zur Waffe zu greifen. Kopfschüttelnd beendete er den Gedanken und widmete sich dem Stapel an Briefen, den sein Vater ihm aufgetragen hatte. Die Zeit verging und er bemerkte nicht, dass er Besuch hatte, bis es an den Türrahmen klopfte. Hans zuckte zusammen und sah auf. Im Türrahmen stand sein Vater, bereits wieder im einfachen Hemd für zu Hause.

„Geht es gut voran?“, fragte er und nickte zu den Papieren.

„Ja, ich komme gut voran. Vielleicht schaffe ich es heute noch, alle Briefe zu bearbeiten. Dann können wir morgen zur Post“, berichtete Hans. „Es sind nur noch ein paar Briefe übrig.“

Sein Vater betrat die Stube und nickte zufrieden.

„Das ist eine gute Idee, wir gehen morgen zur Post. Vielleicht findest du dort auch eine Anstellung. Ich habe dir gestern schon gesagt, langsam wird es für dich auch Zeit, Geld zu verdienen. Der große Krieg ist vorbei und wir brauchen jede Mark hier.“

Hans presste die Lippen aufeinander und nickte gehorsam. Sein Vater hatte es ihm nicht nur gestern gesagt, sondern auch unzählige Tage davor. Insgeheim wusste Hans, dass er recht hatte. Er musste arbeiten gehen. Zwar waren seine Schwestern langsam alt genug, um zu heiraten und die Haushaltskasse nicht mehr zu belasten, aber auch er konnte sich nicht ewig damit herausreden, den Papierkram der Familie zu machen. Zudem hatte Margarete bereits einen Freund und würde, obwohl sie jünger war, vermutlich vor ihm das Haus verlassen.

In diesen Zeiten erwachsen zu werden, war aber auch schwer, dachte Hans frustriert.

 

Sein Vater hatte den Zettel entdeckt, den Julius mitgebracht hatte, und überflog ihn rasch. Er legte ihm den Zettel vor die Nase.

„Sie suchen ständig nach neuen Rekruten. Warum gehst du nicht dorthin? Dienst an der Waffe hat noch keinem jungen Burschen geschadet, auch mir nicht. Außerdem verdient man dort gut, habe ich gehört.“

Hans schüttelte den Kopf. Sein Vater wusste doch, dass er die Waffe hasste! Dann musste sein Wunsch, ihn aus dem Haus zu kriegen, dringend sein.

„Ich will nicht schießen wollen, Vater, das habe ich dir schon einmal gesagt. Mit Krieg und Gewalt will ich nichts zu tun haben.“ Er schob den Zettel zur Seite und arbeitete stoisch weiter an der Post.

Sein Vater seufzte schwer und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wenn du meinst, dass das nichts für dich ist, dann bitte, aber ich erwarte von dir, dass du bald eine Ausbildung beginnst und Geld nach Hause bringst. Vielleicht suchen sie ja auch Schreibkräfte in der Armee, hast du darüber schon einmal nachgedacht? Wenn du nicht an die Waffe willst, ist das vielleicht eine Möglichkeit, trotzdem gut zu verdienen.“Wieder schüttelte Hans den Kopf.

„Nein, darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht. Geht das denn?“

Sein Vater fasste ihn an der Schulter und blickte Hans eindringlich in die Augen.

„Na dann solltest du vielleicht mal mit Lehrer Braun sprechen. Wie ich gehört habe, weiß er umfänglich Bescheid über die ganzen Sachen, die das Heimatheer betreffen und die Rekrutierungen. Junge, wenn du zur Armee könntest, dann ist unser Auskommen gesichert, sobald deine Schwestern aus dem Haus sind. Noch ein oder zwei Jahre, dann können wir hoffentlich wieder ein ganz akzeptables Leben führen. Nur mein Einkommen reicht eben nicht mehr.“

Weil Hans wusste, dass jede Diskussion zwecklos war, nickte er und schwieg. Er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, für die Familie Geld zu verdienen und nicht an die Waffe zu wollen. Wenn es aber wirklich die Möglichkeit gab, als Schreibkraft der Armee zu dienen und nicht an die Waffe zu müssen ... Sein Vater hatte recht, er würde beim Militär viel verdienen, das war allgemein bekannt. Wenn die Gerüchte wahr waren, gab es bei der Armeesogar Verpflegung und Hans würde einen beträchtlichen Teil seines Lohns der Familie schicken können. Er fuhr sich mit den flachen Händen durch das Gesicht und seufzte. Eine Entscheidung musste her und vielleicht würde Lehrer Braun ihm helfen können.

 

Hans hatte Glück und traf seinen ehemaligen Lehrer im Garten vor seinem Haus. Er richtete sich auf und musterte den Kerl, der zielsicher auf sein Haus zuhielt.

„Grüß dich, Hans!“, rief er, schon bevor Hans bei ihm angelangt war.

„Hallo, Lehrer Braun“, grüßte Hans zurück und hob eine Hand.

Lehrer Braun unterbrach seine Gartenarbeit, legte die Harke zur Seite und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Wie geht es dir, mein Junge? Hast du Arbeit gefunden, seitdem du aus der Schule bist?“

Hans verneinte und lehnte sich gegen den klapprigen Holzzaun, richtete sich aber gleich wieder auf, als das Holz wankte. Keine gute Idee, er wollte nicht noch einen Holzzaun reparieren müssen.

„Tut mir leid“, beeilte er sich zu sagen und richtete das Holz wieder. Weil sein Lehrer nichts erwiderte, erzählte er einfach weiter. „Die letzten zwei Jahre habe ich meinem Vater hauptsächlich bei Papierkram geholfen, aber jetzt suche ich nach Arbeit. Langsam findet man ja auch wieder mehr Stellen, seit der Krieg aus ist.“

„Das ist wahr“, stimmte Lehrer Braun zu und nickte, „aber ich nehme an, du bist nicht nur zum Plaudern gekommen, habe ich recht? Das machen die wenigste Schüler, um nicht zu sagen gar keine.“

Beschämt senkte Hans den Blick und nickte, was seinem Lehrer ein Lachen entlockte.

„Aber Hans, dafür musst du dich doch nicht schämen. Was glaubst du, wie viele ehemalige Schüler mich noch besuchen kommen? Keiner. Also hab’ dich jetzt nicht so und sag, was du auf dem Herzen hast. Kann ich dir irgendwie helfen?“

Hans atmete tief durch und nickte.

„Mein Vater sagt, Sie wüssten Bescheid über die bei der Reichswehr, stimmt das?“

Lehrer Braun verlagerte das Gewicht auf einen Fuß und stemmte die Hände in die Hüfte. Er musterte Hans ausgiebig von oben bis unten, bevor er antwortete. Hans war das unangenehm und er biss sich auf das Innere seiner Wange, um nichts gegen seinen Lehrer zu sagen. Er wollte ihn nicht verärgern. Lehrer Braun nickte schließlich.

„Da hat dein Vater recht, mein Junge. Aber hast du nicht immer gesagt, dass du niemals eine Waffe in die Hand nehmen wollen würdest? Oder hat sich das inzwischen geändert?“

„Nein, nein“, Hans schüttelte heftig den Kopf, „das will ich immer noch nicht, aber genau darum geht es. Wissen Sie, ob man auch in die Reichswehr eintreten und Bürodienst machen kann? Als Schreibkraft beispielsweise. So etwas in der Art hat mein Vater wohl gehört ...“

Nachdenklich runzelte Lehrer Braun die Stirn.

„Ach, so ist das bei dir. Na, dann lass mich mal überlegen ...“ Er verlagerte das Gewicht abermals und kratzte sich am Kinn. „Weißt du, wenn ich mir es recht überlege, dein Vater könnte recht haben. Schließlich brauchen sie in den Quartieren Schreibkräfte und du könntest es wenigstens mal versuchen. Warte kurz hier, ich notiere dir eine Adresse, dort kannst du klingeln.“ Lehrer Braun hinkte ins Haus und kam nach kurzer Zeit mit einem Zettel in der Hand zurück, den er Hans reichte. „Der Mann arbeitet bei der Reichswehr, ich weiß leider nicht genau, als was, das kann er dir sicher besser beantworten, aber vielleicht kann er dir weiterhelfen“, erklärte er und deutete auf den Zettel.

Hans warf einen flüchtigen Blick darauf, die Adresse von Alois Meier lag am anderen Ende des Dorfes. Obwohl sie hier nicht viele Einwohner hatten, konnte sich Hans Alois nicht vorstellen. Vielleicht war er nach dem großen Krieg hergezogen? Damals waren viele auf’s Land gekommen, um sich besser versorgen zu können und nicht Hunger zu leiden.

„Vielen Dank, Lehrer Braun“, sagte Hans aufrichtig und neigte den Kopf.

„Aber nicht doch, Junge. Ich wünsche dir viel Erfolg bei deinem Vorhaben! Mach‘ es gut.“ Der alte Mann senkte lächelnd den Kopf und scheuchte Hans davon.

Hans winkte, bis er um die Ecke gebogen war, den Zettel mit der Adresse fest in der Hand. Er wollte erst mit seinem Vater Rücksprache halten, bevor er Alois um Hilfe bat, deshalb steuerte er zielstrebig auf sein Zuhause zu.

 

Als er das Haus betrat, fand er seinen Vater Zeitung lesend in der Stube sitzen. Er klappte die Zeitung zusammen, als er Hans wahrnahm, und blickte ihn abwartend an.

„Ich war bei Lehrer Braun“, berichtete Hans, woraufhin sich auf das Gesicht seines Vaters ein zufriedener Ausdruck legte.

„Und, hat es dir weitergeholfen? Setz‘ dich und erzähle mir alles.“ Er wies auf den Sessel neben sich und Hans gehorchte.

„Ja – obwohl, eigentlich noch nicht. Er hat nur gesagt, dass er glaubt, du hättest recht. Und er hat mir eine Adresse gegeben, die am anderen Ende des Dorfes liegt. Der Mann arbeitet beim Heimatheer und ich soll mich dort vorstellen.“

Hans reichte seinem Vater den Zettel, der ihn mit schiefgelegtem Kopf las und Hans dann wieder zurückgab.

„Ich kenne Alois, hatte aber noch nie etwas mit ihm zu tun, aber das ist doch besser als nichts. Wenn Lehrer Braun recht hat, solltest du hingehen, am besten noch heute, heute haben alle frei.“

„Ich weiß“, seufzte Hans und warf einen Blick auf die große Standuhr. „Sind Mutter und Margarethe schon weit mit dem Mittagessen? Dann bleibe ich hier.“

„Das musst du schon die Frauen fragen, mein Junge.“

 

Hans ging in die Küche, wo seine Mutter und seine zwei jüngeren Schwestern Margarete und Gertrud arbeiteten.

„Was machst du denn in der Küche, Hans? Du störst“, schimpfte Margarete und stupste ihn mit mehligen Fingern in die Brust.

Hans hob abwehrend die Hände und ging einen Schritt zurück.

„Ich wollte nur sehen, wie weit ihr mit dem Essen seid. Kann ich denn noch einen Besuch im Dorf machen, oder tischt ihr bald auf?“

„Eine solche Frage stellt auch nur ein Mann“, frotzelte Margarete und wies auf die mit Teiglingen bedeckte Tischoberfläche. „Das wird noch eine ganze Weile dauern. Wenn Mutter nichts dagegen hat, kannst du meinetwegen also gerne noch ins Dorf, da störst du uns wenigstens nicht.“

„Sei nicht so garstig zu deinem Bruder“, mischte sich ihre Mutter aus dem Hintergrund ein. Sie rührte gerade an einem dampfenden Topf und hatte ihre Haare mit einem Kopftuch gebändigt. „Hans, wenn du willst, geh ruhig noch mal ins Dorf. Das dauert noch eine Weile, aber sei wieder da, bevor die Kirchturmuhr vier schlägt, ja?“

Hans warf einen Blick auf die Uhr in der Stube hinter sich. Das räumte ihm knapp zwei Stunden Zeit ein, mehr als genug, wie er fand.

„Das werde ich, danke, Mama.“

Er machte sich sofort auf den Weg. Das Dorf hatte nur wenige Straßen, aber diese waren verwinkelt und Alois Maier wohnte sogar noch einige Meter abseits der übrigen Häuser, in einem kleinen Haus ohne Garten. Hier war Hans vorher noch nie gewesen, die Jungen im Dorf trauten sich nicht abseits der Straßen.

Er klingelte und wartete, aber niemand machte auf. Deshalb klopfte Hans gegen die Holztür, bis sie schließlich geöffnet wurde.

„Jaja, was ist denn so eilig“, brummte Alois Maier, eine Zigarette im Mundwinkel. Er trug nur ein Unterhemd und war unrasiert, aber sein akkurater Haarschnitt verriet, dass er auch gepflegt erscheinen konnte. „Was willst du halbe Portion denn?“, fragte er weiter und musterte Hans von oben bis unten.

Hans schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter und räusperte sich. Alois Müller war breitschultrig und grob, er flößte Hans mehr Respekt ein, als er vielleicht sollte.

„Entschuldigen Sie die Störung, ich will Sie auch gar nicht lange aufhalten. Ich hätte nur ein paar kleine Fragen ...“

Alois grunzte, nahm die aufgerauchte Zigarette und zertrat sie auf dem Boden.

„Die stellst du gefälligst nicht am heiligen Sonntag, Bursche! Ich habe bei Gott genug Stress, da brauche ich am Wochenende Ruhe.“ Er wandte sich schon wieder ab, als Hans doch noch den Mut fand.

„Stimmt es denn, dass Sie in der Reichswehr dienen?“

Alois drehte sich wieder um und musterte Hans mit einer hochgezogenen Augenbraue.

„Und ausgerechnet das interessiert dich, ja? Was wäre denn, wenn ich jetzt mit ‚ja‘ antworten würde, mh?“

„Naja ... es ist so, ich bin auf der Suche nach Arbeit, und für das Heer werden doch immer junge Männer gesucht. Da dachte ich, vielleicht könnten Sie mir helfen“, stotterte Hans, den Blick auf den Boden geheftet.

Wenn Alois ihn musterte, fühlte er sich klein und unwichtig, so stechend war sein Blick. Er schien Alois‘ Interesse geweckt zu haben, denn er kam auf Hans zu und legte im väterlich einen Arm um die Schultern. Bei der Berührung zuckte Hans zusammen und hob ängstlich den Kopf.

„Mein Junge, gerade bist du in meiner Achtung beträchtlich gestiegen. Hast du denn einen Augenblick Zeit? Dann komm doch auf einen Schnaps mit mir ins Haus.“

Hans hätte nicht widersprechen können, denn Alois bugsierte ihn bereits zur Haustür hinein, aber das wollte er auch nicht. Ein Lächeln formte sich auf seinem Gesicht. Vielleicht hatte er, wenn er später nach Hause kam, schon eine Arbeit vorzuweisen.

 

11. März 1923

 

Fast drei Jahre schon diente Hans nun in der Reichswehr. Als Steuerfachmann für die Armee bekam er es meist nur mit Zahlen zu tun, auch wenn er in der Ausbildung zu schießen gelernt hatte. Das war zwar nicht, was er wollte, aber solange er auf keinen Menschen schießen musste, konnte er damit leben. Keine Arbeit hätte ihn vollständig zufriedengestellt, das war ihm klar. Alois hatte ihm trotz alledem seine Traumstelle beschafft. Die Jahre waren hart für alle gewesen, insbesondere dieses Jahr. Die jüngsten Preissteigerungen trafen auch ihn, aber als Armeeangehöriger konnte er immer auf eine reichhaltige Mahlzeit hoffen und nicht nur einmal legte er ein wenig Geld oder Essen zur Seite, um seine Familie zu unterstützen. Nur noch seine drei kleinen Geschwister – Walter, Frieda und Karl – lebten bei ihnen, Margarete und Gertrud waren verheiratet und Julius in die Stadt gezogen, um dort eine Ausbildung im Büro zu machen. So kamen sie als Familie über die Runden. Hans kannte einige Familien, die es schlechter hatten als sie.

 

Mit zunehmender Inflation zogen sich seine Arbeitstage immer länger. Sein Vorgesetzter bestand darauf, sämtliche Eingaben am gleichen Tag noch zu bearbeiten, denn man konnte nie wissen, wie teuer es am nächsten Tag wieder sein würde. Das sorgte nicht nur bei ihm, sondern bei den meisten Arbeitenden für reichlich Überstunden und Unmut, aber sie hatten keine andere Wahl. Hans hatte versucht zu verstehen, warum alles so teuer wurde, aber die Regierung ließ dazu kaum Informationen nach außen dringen. Deshalb nahm Hans die Situation, wie sie war, und machte das Beste daraus. Er hatte schon viele Aufstände miterlebt und er verstand seine Mitbürger durchaus, aber er nutzte die Zeit lieber, um sich noch ein billiges Angebot zu kaufen, statt zu protestieren.

 

Heute wollte er nach der Arbeit noch zwei Laibe Brot kaufen gehen, denn Lebensmittel verteuerten sich in den letzten Wochen beinahe täglich. Deshalb eilte er zum Bäcker, der bereits dabei war, seinen Laden zu schließen.

„Hans!“, grüßte der Bäcker den jungen Mann und hielt inne.

„Philipp, hallo! Kannst du mir noch schnell zwei Laibe Brot verkaufen? Ich habe es nicht früher aus der Stube geschafft.“

Philipp nickte und ging nochmals in die Backstube, um für Hans das Brot zu holen. Hans zählte in der Zeit das Geld in seiner Tüte.

„Wie viel bekommst du denn heute?“, fragte er, als Philipp wiederkam, die Laibe in den Händen.

„Für zwei Laibe heute zwei Millionen Reichsmark“, antwortete Philipp und seufzte. „Das sind verrückte Zeiten, nicht wahr?“

Hans reichte ihm die Scheine aus seiner Tüte heraus und nickte.

„Aber was können wir schon machen? Wir müssen einfach schauen, wie wir damit leben. Danke, dass du noch auf mich gewartet hast.“ Hans nahm das Brot entgegen und verabschiedete sich vom Dorfbäcker, um nach Hause zu gehen. Er war froh, das Brot heute noch ergattert zu haben, denn mit dem heutigen Lohn hatte er es sich leisten können.

In Gedanken war er noch bei der Arbeit. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen seit Anfang des Jahres war auch schon genau so lange Thema in seiner Stube. Die Ausgaben der Regierung, um die Löhne der Arbeiter dort zu decken, belastete die Staatskassen enorm und sorgte für keine gute Stimmung unter seinen Kameraden. Auch die Behauptung Frankreichs, Deutschland habe Reparationsforderungen nicht beglichen, sorgte bei den Meisten für Unmut. Hans hatte mehrere Gespräche seiner Vorgesetzten mitangehört, aus denen er schließen konnte, dass Deutschland zu nicht mehr als den geleisteten Zahlungen imstande gewesen wäre. Wenn das stimmte, fand Hans die Unterstellungen Frankreichs nicht gerecht. Natürlich war er auch gegen die Besetzung des Rheinlandes, wie jeder, mit dem er sprach. Aber wen interessierte seine Meinung schon? Dass er Mühe hatte, genug Personal zu finden, weil jeder ins Rheinland ging, war ebenso seine Sorge wie die Finanzen. Stimmten diese nicht, gab es Rüffel vom Vorgesetzten. Also schuftete Hans jeden Tag, versuchte, Zahlen zurecht zu biegen und Personal aufzutreiben, das nicht ins Rheinland wollte – das war eine harte Aufgabe.

Gedankenverloren stieß er an einen festen Widerstand und wurde aus seinen Überlegungen gerissen. Er haderte kurz mit dem Gleichgewicht, fing sich aber schnell wieder und begutachtete die Situation. Der feste Widerstand entpuppte sich als junge Frau. Auch sie schien Einkäufe getätigt zu haben, denn auf dem Boden kullerten Kartoffeln umher und sie hielt eine Tüte in der Hand.

Peinlich berührt stellte Hans seine Tüten ab und half der jungen Frau, ihre Kartoffeln wieder einzusammeln.

„Das tut mir sehr leid. Ich war in Gedanken“, entschuldigte er sich und neigte den Kopf.

„Ach nein, das kann passieren, das ist nicht so schlimm“, wiegelte die junge Frau ab.

Hans reichte ihr die letzten Kartoffeln, und als sie sich wieder aufrichteten, betrachtete er die Frau zum ersten Mal näher. Sie trug robuste, einfache Kleidung, aber das tat ihrer natürlichen Schönheit keinen Abbruch. Ihre blauen Augen funkelten schelmisch aus ihrem sommerbesprossten Gesicht, was sie jung wirken ließ.

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, entschuldige bitte. Mein Name ist Hans“, stotterte er, er konnte den Blick nicht von ihren Augen abwenden, so sehr faszinierten sie ihn.

Das junge Mädchen grinste verschmitzt und neigte zum Gruß den Kopf.

„Hallo Hans, mein Name ist Hedwig. Sehr angenehm.“ Hedwig reichte ihm eine Hand, die er förmlich schüttelte.

Er kam sich dabei schrecklich steif vor, wusste aber nicht, was er sonst hätte machen sollen. Hedwig machte ihn nervös.

„Wie kommt es, dass du mir gar nicht bekannt vorkommst? Du bist doch nicht so viel jünger als ich, oder?“, fragte Hans ehrlich neugierig.

„Nein, ich denke nicht. Du kannst mich aber gar nicht kennen. Eigentlich komme ich aus der Stadt, aber dort gibt es noch weniger Essen als hier, weißt du? Meine Eltern haben mich zu meiner Tante und meinem Onkel aufs Dorf geschickt, damit ich mich ernähren kann. Sie brauchen Hilfe im Haushalt und so hat jeder etwas davon. Ich bin gar nicht hier aufgewachsen.“

Hans nickte verständnisvoll und überlegte dabei fieberhaft, was er als Nächstes fragen konnte. Seine Gedanken waren wie ein undurchsichtiger Pudding. Er wusste nur, dass er Hedwig nicht davonziehen lassen wollte. Was fragte man denn junge Frauen in seinem Alter, ohne dass es unangemessen wirkte? Innerlich seufzte Hans. Er benahm sich wie ein Idiot. So konnte das nichts werden.

„Wo arbeitest du denn?“, fragte Hedwig interessiert und stellte ihre Einkäufe ab.

„Ich? Ich diene bei der Reichswehr, in der Verwaltung“, antwortete Hans stotternd.

Hedwig schmunzelte und musterte Hans von oben bis unten.

„Ah, ein Soldat also. Wie kommt es, dass du hier bist, wo es so beschaulich ist, und nicht im Rheinland? Willst du nicht kämpfen?“

Hans schüttelte den Kopf.

„Nein, kämpfen war mir schon immer zuwider. Ich bin froh, dass ich hinter meinem Schreibtisch bleiben kann. Ich finde auch, ich bin kein richtiger Soldat. Ich sitze nur am Schreibtisch und habe noch nie einen Menschen getötet.“

Hedwig verzog missbilligend die Lippen.

„Dir ist kämpfen zuwider, aber du bist bei der Armee? Meinst du nicht, das ist widersprüchlich, lieber Hans?“ Sie wandte sich von ihm ab und machte Anstalten, ihre Taschen aufzunehmen und zu gehen.

Hans hob die Schultern, er beeilte sich mit der Antwort, sodass Hedwig innehielt.

„Da hast du schon recht, aber es sichert mir und meiner Familie ein gutes Auskommen und ich bin zufrieden, solange ich nur in der Stube sitzen und niemanden erschießen muss.“

Wieder schüttelte Hedwig den Kopf, aber sie lächelte und stellte die Tüten ein weiteres Mal ab.

„Du bist schon ein komischer Vogel, Hans. Aber ein netter Vogel bist du auch. Sag, möchtest du nicht mit mir ausgehen?“

Hans öffnete und schloss den Mund wieder, aber kein zusammenhängender Satz wollte aus seinem Mund kommen. Er fühlte, wie Hitze in seine Wangen stieg. Wie Hedwig so vor ihm stand und ihn abwartend musterte, machte seine Gedanken verrückt. Dennoch brachte er ein gestammeltes „ja“ hervor, wonach Hedwig zufrieden lächelte.

„Das freut mich, Hans. Dann erwarte ich, dass du mich demnächst mal bei mir zu Hause besuchen kommst, vielleicht nach der Arbeit? Onkel und Tante möchten dich gewiss kennenlernen.“ Hedwig führte ihre Hand zu ihren Lippen und hauchte Hans einen Kuss zu, dann wandte sie sich zum Gehen.

Erst als sie ihren Blick von ihm nahm, konnte Hans wieder einen klaren Gedanken fassen.

„Warte mal, Hedwig!“, rief er und machte einen Schritt auf sie zu.

Hedwig blieb stehen und wandte sich lächelnd zu Hans um.

„Wer sind deine Tante und dein Onkel eigentlich? Wie heißen sie?“

„Ich dachte schon, du fragst gar nicht.“ Hedwig kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Schau nach Familie Dreyfuß, sie wohnen neben der evangelischen Kirche.“ Schon wandte sich Hedwig wieder ab und setzte ihren Weg nach Hause fort.

Hans atmete ein paarmal tief durch, bis sein Puls sich beruhigt hatte.

Er kannte Familie Dreyfuß. Sie waren älter und kinderlos, aber sehr nette und im Dorf beliebte Menschen. Wenn Hedwig mit ihnen verwandt war, konnte sie einfach keine schlechte Partie sein.

Gut gelaunt und mit breitem Lächeln machte sich auch Hans auf den Nachhauseweg. Endlich hatte auch er jemanden und war nicht mehr dem Spott seiner Geschwister ausgesetzt.

 

15. August 1926

 

Mit Hedwig auszugehen war das Beste, was Hans in seinem bisherigen Leben passiert war. Ihr Lächeln ließ sein Herz schneller klopfen und wenn sie seine Hand nahm, schwebte er im siebten Himmel. Sie waren noch nicht lange ein Paar, aber Onkel und Tante hatte sie ihm schon vorgestellt und auch seine Familie kannte Hedwig als seine Partnerin. Ihre Familien akzeptierten die neuen Partner und Hans hätte im Augenblick nicht glücklicher sein können: Seine Familie litt keinen Hunger, er hatte eine tolle Freundin und eine gute und sichere Anstellung.

Er schlitterte in einen bequemen Alltag aus Arbeit und Beziehung, den man eigentlich nur noch mit einer Hochzeit und einem Kind krönen konnte. Hans war mittlerweile 25 Jahre alt und mehr als bereit dazu, Vater zu werden. Schließlich war er schon mehrfacher Onkel und er liebte seine Nichten und Neffen.

 

Und dennoch, irgendwas hatte sich in den letzten Wochen zwischen Hedwig und ihm verändert, etwas Negatives. Hans konnte es nicht genau benennen, aber er hatte das Gefühl, dass Hedwig sich zunehmend vor ihm zurückzog. Er hatte schon oft versucht, sie darauf anzusprechen, aber Hedwig hatte immer wieder abgewunken und ihn mit etwas Schönem abgelenkt, einem Stück Torte beispielsweise. Hans machte sich immer mehr Sorgen um Hedwig, auch weil sie ihre ausgedehnten Spaziergänge, die sie sonst so gerne machte, immer mehr anstrengten. Was war nur mit ihr los? Oder bildete er sich das alles nur ein?

 

Im Alltag merkte man Hedwig selten etwas an, aber ihre Spaziergänge waren zunehmend eine Qual. Auch jetzt waren sie zu einem Spaziergang verabredet und das war der Grund, warum Hans sich gerade Sorgen machte. Weil es aber in den letzten Tagen immer wieder zu Streit geführt hatte, Hedwig darauf anzusprechen, bemühte er sich um eine neutrale Miene, bevor er klingelte. Sie schien ihn bereits erwartet zu haben, denn die Tür öffnete sich sofort und Hedwig strahlte mit der Junisonne um die Wette. Weil Onkel und Tante in Hörweite waren, begrüßte er Hedwig mit einem züchtigen Kuss auf die Wange. Ihr knielanges, marineblaues Kleid mit den kurzen Ärmeln stand ihr ausgesprochen gut.

 

Er bot ihr seinen Arm an und Hedwig hakte sich unter. Sie rief Onkel und Tante noch einen Gruß zu, dann war die Tür geschlossen und sie schlenderten den Feldweg hinaus, über die Äcker.

„Wann kommen denn mal wieder deine Schwestern zu Besuch?“, fragte Hedwig rundheraus und Hans runzelte die Stirn. Gewiss, Hedwig verstand sich mit seinen Schwestern gut, aber aktives Interesse hatte sie bisher nur selten gezeigt.

„Ich weiß nicht. Margarethe hat gerade entbunden, ich denke, da müssen wir eher sie besuchen, und mit Anna habe ich schon länger nicht mehr gesprochen, sie ist sehr beschäftigt momentan. Wie kommt es, dass du ein so großes Interesse daran hast?“

Hedwig zuckte mit den Schultern, aber ihr entschuldigendes Lächeln wirkte nicht echt.

„Ach weißt du, ich mag deine Nichten und Neffen einfach so gerne, sie sind alle so quirlig. Und an Wochenenden habe ich es einfach gerne laut um mich herum. Da sind so ein paar kleine Kinder doch genau das Richtige.“

Hans glaubte ihr nicht, aber er wollte nicht streiten, weshalb er es dabei beließ und die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht genoss. Der Sommer war seine liebste Jahreszeit.

„Es wird sich finden, dass wir sie bald mal wieder besuchen. Was meinst du denn, sollen wir Margarethe zur Geburt gratulieren gehen? Du könntest vielleicht vorab etwas kochen, sie hat gewiss noch nicht wieder die Kraft, stundenlang am Herd zu stehen. Sie freut sich bestimmt über ein deftiges Essen und ein bisschen erwachsene Gesellschaft.“

So euphorisch Hedwig zuvor darüber gesprochen hatte, so zurückhaltend war sie jetzt, und das bestätigte Hans‘ Vermutung. Irgendwas stimmte nicht, aber er konnte es nicht greifen.

„Ja, wieso denn nicht“, stimmte sie zögerlich zu und senkte den Blick. „Margarethe wird sich sicher über unseren Beistand freuen.“

 

Sie gingen noch ein paar Meter und Hedwig verfiel in für sie untypisches Schweigen. Die Besuche am Wochenende füllte sie gewöhnlich mit Geschichten aus ihrem Alltag und ihrem Lachen, aber heute war davon nichts zu hören. Hans war die Stille unangenehm und er suchte nach einem Weg, das Ganze möglichst unverfänglich anzusprechen.

„Hedwig ... ist irgendetwas passiert? Du bist so still. So kenne ich dich nicht.“ Er legte behutsam seine Hand über Hedwigs und sah sie besorgt an.

Ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes, ihr Ausdruck war finster und traurig zugleich.

„Ach, Hans ...“ Sie seufzte und Hans glaubte, eine Träne an ihrer Wange zu sehen. „Dir kann ich einfach nichts verbergen, nicht wahr?“

Sofort war Hans angespannt. Er kannte Hedwig nur in bester Stimmung und fragte sich, was ihre Laune derart beeinflussen konnte.

„Was ist denn geschehen, Hedwig? Kannst du mit mir darüber reden?“, fragte er mit heiserer Stimme.

„Ich kann nicht nur ... ich muss sogar“, antwortete Hedwig und klang nun deutlich belegt. Sie blieb stehen und strich sich die schweißnassen Strähnen aus der Stirn. Offenbar hatten sie die paar Meter schon angestrengt.

„Hans ... hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht, mich zu heiraten?“

Völlig überrumpelt von der Frage blinzelte Hans und öffnete den Mund, um eine Antwort zu formulieren, aber kein Wort verließ seine Lippen, zumindest kein sinnvolles.

„Äh ... also ... nachgedacht?“, stotterte er unbeholfen und fühlte, wie seine Wangen heiß wurden.

Hedwig, die ihn sonst immer geneckt hatte, lächelte nur mit tränennassen Augen und nickte. Mit fahrigen Händen nestelte sie an den Knöpfen ihres Kleides herum, so nervös hatte Hans sie noch nie erlebt. Er fasste sich ein Herz und atmete tief durch.

„Also ... das kommt jetzt alles ein wenig plötzlich, musst du mir zugestehen. Aber ja, ich habe in der Tat schon darüber nachgedacht, dich zu heiraten, liebste Hedwig.“

Endlich war ihr Lächeln echt und erreichte ihre Augen.

„Ach, Hans ...“

Hans tätschelte ihren Arm und lächelte zurück.

„Aber wie kommt es, dass du mich das jetzt fragst? Bist du ungeduldig, oder hat es überhaupt einen bestimmten Grund? Dass eine Frau den Mann fragt, ist doch mehr als ungewöhnlich, das musst du zugeben ...“ Er erwartete, dass sich Hedwigs Laune wieder bessern würde, aber sobald er die Frage zu Ende gestellt hatte, kehrte der betrübliche Ausdruck wieder auf ihr Gesicht zurück.

„Ja, es hat einen bestimmten Grund“, antwortete Hedwig und zückte ein Taschentuch, um sich ihre nassen Wangen abzuwischen.

Panik machte sich nun auch bei Hans breit. Welchen Grund könnte Hedwig haben, ihn so zu bedrängen? Was war wichtig genug? Oder was war schlimm genug? Hans fasste sie an ihren Schultern.

„Hedwig, bitte rede mit mir. Was ist denn so Schlimmes passiert? Ich mache mir Sorgen!“Hedwig würgte den Kloß in ihrem Hals hinunter und atmete tief durch, bevor sie ihm antwortete.

„Ich ... ich habe Krebs, Hans. Der Doktor sagt, es ist schon recht weit.“

Dann brach Hedwig endlich in Hans‘ Armen weinend zusammen, während Hans sie festhielt.

 

Er wusste nicht viel über diese Krankheit. In seinem Umfeld hatte er sie bisher noch nicht intensiv erlebt, nur zwei seiner Vorgesetzten waren im Laufe der Jahre daran gestorben. Doch die waren alle wesentlich älter als Hedwig gewesen. Dass auch junge Menschen dieser Krankheit ausgesetzt sein konnten, machte ihn sprachlos. Damit hatte er nicht gerechnet und das hätte er auch niemals geglaubt. Gleichzeitig wurde ihm nun klar, wieso Hedwig ihn nach der Hochzeit gefragt hatte. Sie würde nicht mehr lange bei ihm sein können. Eine Behandlung konnten sich nur sehr reiche Menschen leisten und selbst die Behandlung war kein Garant für eine Genesung. Hedwig war also dem Tod geweiht. Die einzige Frage war, wann sie sterben würde.

„Das ist ... schrecklich, Hedwig“, würgte er hervor und fasste ihre Hand fester. „Ich wünschte, ich könnte etwas tun, damit der Krebs dich nicht mehr befällt.“

Hedwig lächelte müde und plötzlich fügten sich winzige Puzzleteile vor Hans‘ innerem Auge zu einem großen Ganzen zusammen. Ihre fahle Haut in letzter Zeit, die Appetitlosigkeit und die schnelle Erschöpfung. Dazu klagte Hedwig in den letzten Tagen zunehmend über Schmerzen, mal im Kopf, mal im Bauch. Waren das alles Lebenszeichen ihrer fortschreitenden Krebserkrankung gewesen und Hans war zu blind gewesen, dies richtig zu erkennen? Natürlich, Hans war kein Arzt, aber er war auch nicht dumm. Ähnlich hatte es bei seinen Arbeitskollegen auch begonnen. Er hätte es erkennen müssen, oder wenigstens ahnen müssen.

„Wir werden heiraten, Hedwig“, sagte er fest entschlossen. „Ich habe einiges gespart, von dem wir das Aufgebot bestellen können und vielleicht wollen uns unsere Familien ja ein wenig unter die Arme greifen. Lass uns mit allen reden. Du sollst als verheiratete Frau sterben.“

Hedwig fasste sich und lächelte. Zum ersten Mal seit Tagen strahlten auch ihre Augen wieder so wie früher.

„Danke, Hans. Das bedeutet mir sehr viel. Noch ein Mal eine richtige Frau sein ...“

Hans sah sie liebevoll an und legte einen Arm um ihre Schultern.

„Du bist eine richtige Frau Hedwig, auch jetzt schon. Und eine wunderbare Frau noch dazu, aber wer weiß schon, was Gott sich dabei denkt, manche früher und manche später zu sich zu holen?“

Hedwig seufzte hörbar und lehnte sich an Hans. Ihr leichter Schweißfilm auf der Stirn verriet, wie erschöpft sie war, aber ein Lächeln zierte ihr blasses Gesicht. Sanft zog er sie in die entgegengesetzte Richtung.

„Komm, du bist erschöpft, du sollst dich ausruhen. Bei der Gelegenheit können wir auch gleich Onkel und Tante von unserem Vorhaben erzählen. Wissen sie, dass du krank bist?“

Hedwig nickte schwach und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.

„Aber sie können auch nichts tun. Sie haben einfach nicht das Geld, um mich zu einem Arzt zu schicken und selbst meine Eltern in der Stadt können das Geld nicht aufbringen.“

Das Reden strengte Hedwig an und Hans gebot ihr mit einem Finger auf den Lippen, zu schweigen.

„Rede nicht so viel, wenn du dich beim Laufen anstrengst. Wir können später noch weiter darüber sprechen, aber jetzt gehen wir erst einmal nach Hause zu dir.“ Ihn schmerzte es, Hedwig jetzt mit diesen Augen zu sehen, aber er wollte für sie stark bleiben. Das war er ihr schuldig.

 

Die nächsten Wochen waren gleichzeitig die schönsten, traurigsten und stressbehaftetsten in Hans‘ bisherigem Leben. Niemand stellte sich gegen die Verbindung, im Gegenteil. Hans und Hedwig erfuhren von allen Seiten so große Unterstützung, wie es Hans nicht für möglich gehalten hätte. Das Aufgebot konnte er tatsächlich von seinem angesparten Geld bezahlen und seine Schwestern hatten darauf bestanden, Hedwig das schönste Hochzeitskleid zu nähen, das man im Dorf jemals gesehen hatte. Pfarrer Schmitt kam fast täglich zu Besuch, einerseits, um sich nach Hedwig zu erkundigen, aber auch, um Details der kirchlichen Hochzeit mit ihnen abzusprechen. Alle Entscheidungen diesbezüglich überließ Hans seiner Verlobten. Sie sollte die Hochzeit bekommen, die sie sich schon immer gewünscht hatte.

Deshalb zog er sich zurück und stand nur bereitwillig parat, wenn er nach seiner Meinung gefragt wurde oder es um seinen Anzug ging. Julius war sein Trauzeuge und, obwohl selbst jung verheiratet, noch nervöser als Hans.

 

In ihrem weißen Kleid und dem weißen Schleier mit dem von ihrer kleinsten Schwester geflochtenen Myrtenkranz sah Hedwig wunderschön aus. Hans traten auf dem Weg zum Standesamt und der Kirche mehr als einmal Tränen in die Augen. Das Leben war so ungerecht, eine so junge Frau in den Tod zu schicken! Hedwig strahlte wie eine Göttin und war wunderschön von innen heraus.

Die Zeremonie war schön und das Fest danach umso rauschender. Viele ihrer Gäste wussten um die besondere Situation, deshalb schenkten sie keine Dinge, die einer langen Ehe zuträglich gewesen wären. Stattdessen schlemmte die Gesellschaft in einem rauschenden Fest aus Leckereien, die Hans in seinem Leben noch nie gegessen hatte.

Doch das Wichtigste für ihn war, dass Hedwig sehr glücklich war. Sie lachte, aß und trank, als würde sie der Krebs nicht beeinträchtigen. Nur Hans fiel später am Tag auf, wie verschwitzt sie war und dass ihr Lächeln zunehmend angestrengt wirkte.

 

Wenige Tage nach der Hochzeit starb Hedwig. Es war fast, als hätte sie gewartet, bis der schönste Tag ihres Lebens vorbei war, um dann friedlich einzuschlafen. Obwohl dies abzusehen war, traf Hans der Verlust hart. Als ihr Ehemann oblag es ihm, für die Beerdigung alles zu regeln und zu bezahlen, aber er stützte sich dennoch auf ihre Familie. Sie beim letzten Gang miteinzubeziehen, hatte er schon vor der Hochzeit beschlossen und die Familie dankte es ihm mit uneingeschränkter Unterstützung.

 

Allerdings riss danach der Kontakt zu ihrer Familie immer mehr ab. Hans zog sich in seinem Elternhaus zusehends zurück und fokussierte sich auf die Arbeit, um seine Trauer zu ersticken. Nach der Arbeit besuchte er fast täglich Hedwigs Grab und legte frische Blumen darauf. Ihn irritierte es zwar, dass Hedwig nicht in der Stadt bei ihren Eltern begraben worden war, aber er fragte nicht danach. Insgeheim war er froh, so konnte er sie öfter besuchen. Manchmal saß er einfach nur auf der Parkbank in der Nähe des Grabs und unterhielt sich stumm mit ihr. An manchen Tagen wendete er viel Zeit für die Blumenpflege auf, riss Unkraut heraus und pflanzte neue Sträuße in die Erde. Abseits seiner Arbeit noch etwas für Hedwig zu tun, erfüllte ihn. Mehr, als sein Leben im Elternhaus es je hätte tun können.

 

Seine Schwiegereltern traf er dabei jedoch nie. Ob sie ihm den Platz lassen wollten, den er zum Trauern brauchte, oder sich nicht für ihre Tochter interessierten, hatte Hans auch später nie mehr herausfinden können. Doch er hielt sich nicht zu lange damit auf. Wichtig war, Hedwig zu gedenken.

 

15. April 1929

 

Hans stürzte sich auch in den nächsten Wochen und Monaten in Arbeit, die beste Medizin für ihn. Die Besuche an Hedwigs Grab nahmen mit der Zeit ab, dennoch schaffte er es auch heute noch mindestens jeden Sonntag, sich auf die Bank zu setzen und mit ihr ein paar Worte zu wechseln. Seit ihrem Tod vor drei Jahren hatte sich sein Leben sehr verändert. Nicht nur war er mittlerweile Haupternährer seiner Familie, auch sein Job hatte sich verändert. Die Zahlen, die jeden Tag bei ihm auf dem Tisch landeten, verrieten Hans, dass das Deutsche Reich aufrüstete, obwohl es der Versailler Vertrag verboten hatte. Wie aber konnte man sonst den Bau von Waffen bezeichnen? Selbstverständlich war er zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Nicht auszudenken, was Frankreich machen würde, sollte es feststellen, dass das Deutsche Reich gegen den Versailler Vertrag verstieß. Hans wusste nicht, was er davon halten sollte. Einerseits war er gegen Waffen und gegen Krieg, aber die Drangsalierung durch Frankreich war ihm genauso zuwider, aber das war nicht das Einzige, über was er nachdachte.

 

Viel größere Sorgen als die Inflation machte ihm die Entwicklung der Braunhemden in seinem Dorf. Er hatte die Gruppe, als sie sich vor ein paar Jahren anfingen, im Dorf auszubreiten, erst als Spinner abgetan. Sie hatten auch an seine Tür geklopft und versucht, ihn zu rekrutieren, aber als Armeeangehöriger war er für sie nicht von Interesse, behaupteten sie, nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte. Hans war das recht. Ihm war die SA suspekt und so musste er keine Ausrede erfinden, um sich ihnen nicht anschließen zu müssen. Je länger sie sich im Dorf aufhielten, desto froher war er mit seiner Entscheidung gegen die Gruppe. Sie prügelten sich, sie belästigten die Leute und sie führten sich auf, als gehörte ihnen das Dorf. Die Bewohner trauten sich schon seit längerem kaum noch auf die Straße. Die Vorfälle häuften sich immer mehr, bis fast täglich irgendjemand Probleme mit den Braunhemden bekam. Hans hatte nach der Arbeit bald jeden Tag Angst, den Zorn der Gruppe abzubekommen.

 

Auch heute schien wieder eine der unzähligen Straßenschlachten in Gange zu sein, als Hans von der Arbeit aus der Stadt nach Hause kam. Er hörte den Lärm schon von weitem und entschloss sich, sein geliebtes Fahrrad bei einem befreundeten Bauer in die Scheune zu stellen. Er hatte viel zu lange darauf gespart, um sich sein Fahrrad leisten zu können, als dass er sie von ein paar Hallodris beschädigen lassen wollte. Zu seinem Fahrrad legte er noch einen kleinen, handgeschriebenen Zettel. Alf und er hatten diese Absprache schon öfter getroffen und es häufte sich zunehmend, aber die Bewohner untereinander halfen sich eben, wo sie konnten. Nicht selten hatten auch sie schon Wertgegenstände von Nachbarn bei sich gehütet. Gegen die Braunhemden stand man zusammen.

 

Angespannt lauschte er und drückte sich mit dem Rücken an den Hauswänden entlang. Wer auch immer gerade Ärger mit der Sturmabteilung hatte, Hans wollte auf keinen Fall daran beteiligt werden. Vermutlich prügelten sie sich gerade auf dem zentralen Dorfplatz, weshalb Hans einen großen Bogen hinter den Häusern entlanglief.

So blieb er auf sicherem Abstand und seine Haltung entspannte sich allmählich, je leiser die Streitgeräusche wurden. Er freute sich schon auf einen Teller warme Suppe und einen friedlichen Abend ohne Braunhemden und Waffen bei seiner Familie. Hans war schon fast zu Hause angelangt, als er abrupt stoppte. Vor ihm lief ein Braunhemd, und es lief in die gleiche Richtung. Wollte die Person etwa auch zu ihnen nach Hause? Viel mehr Möglichkeiten gab es nicht mehr, das Braunhemd ignorierte Haus um Haus. Hans bekam es sofort mit der Angst zu tun. Ein Braunhemd verhieß nie Gutes, und er wollte seine Mutter und seine kleinen Geschwister so gut es ging beschützen.

So leise wie möglich folgte Hans dem Braunhemd und stellte mit Entsetzen fest, dass es tatsächlich sein Elternhaus betrat. Was wollte er dort? Die SA-Mitglieder machten selten Hausbesuche und seine Familie hatte sich – so wusste er jedenfalls – nicht danebenbenommen, zumindest in den Augen der Braunhemden. Hans konnte sich also nicht vorstellen, welchen Besuchsgrund der SA-Mann hätte haben sollen.

 

Mit gespitzten Ohren betrat Hans das Haus, konnte aber niemanden reden hören, den er als fremd empfand, was ihn irritierte. Das Braunhemd hatte er sich doch nicht eingebildet? Er hörte zuerst die Stimme seiner Mutter und seiner jüngsten Zwillingsgeschwister Karl und Frieda. Als er in die Stube kam, saßen die drei am Tisch und schnitten Gemüse zurecht.

„Hallo, Hans. Wie war dein Tag?“, grüßte ihn seine Mutter und sah kurz auf.

„Wie üblich, nichts Besonderes. Im Dorfkern sind schon wieder die Braunhemden unterwegs, ist irgendwas vorgefallen?“, fragte Hans beiläufig.

Seine Mutter spitzte die Lippen und teilte eine Zwiebel so heftig, dass eine Hälfte vom Tisch kullerte. Hans registrierte ihren Zorn mit hochgezogenen Augenbrauen – sauer kannte er seine Mutter nicht. Was war hier bloß los?

„Wenn du was von der SA wissen willst, frag‘ doch Julius“, antwortete ihm schließlich Karl und klang dabei ebenfalls nicht glücklich.

„Julius?“, echote Hans stirnrunzelnd. „Ist er da?“

Julius hatte, seit er ausgezogen war, weniger Kontakt mit seiner Familie gehabt und dass er plötzlich im Haus war, erschien Hans merkwürdig.

„Er ist mit Vater im Garten“, antwortete Frieda und Hans machte sich sofort auf den Weg. Vielleicht erwartete ihn dort ja des Rätsels Lösung.

 

Tatsächlich standen im Garten sein Vater und Julius, beide hatten ihm den Rücken zugewandt. Sie unterhielten sich hitzig und Julius gestikulierte ausladend dabei. Was aber noch viel schlimmer war, registrierte Hans erst im zweiten Augenblick. Das Braunhemd, das kurz vor ihm die Stube betreten hatte, war Julius gewesen. Hans fühlte einen dicken Kloß im Hals. Warum hatte sich ausgerechnet sein kleiner, immer fröhlicher Bruder diesem Schlägertrupp angeschlossen? Das passte überhaupt nicht zu ihm! Hans räusperte sich und trat auf die beiden zu.

„Mutter hat mir gesagt, dass du zu Besuch bist. Hallo, Julius. Lange nicht gesehen, wie geht es dir?“

Julius‘ Gesicht trug einige Blessuren und verheilte Schnitte, aber er lächelte breit.

„Hans! Schön, dass ich dich auch zu Gesicht bekomme. Ich hatte schon befürchtet, du arbeitest zu lange und kommst spät nach Hause. Wie gehen die Dinge in der Armee? Gut?“

Hans runzelte argwöhnisch die Stirn. Julius klang entspannt, aber er hatte sich zuvor nie für seine Arbeit interessiert. Im Gegenteil, Julius hatte Schreiner werden wollen und nie etwas mit dem Militär am Hut gehabt, geschweige denn sich nach Hans‘ Arbeit erkundigt. Rührte das plötzliche Interesse von seiner Mitgliedschaft bei der SA her? Das schien Hans am wahrscheinlichsten zu sein. Er winkte ab.

„Ach, du weißt doch, ich beschäftige mich eigentlich den ganzen Tag nur mit Zahlen. Ich kann dir berichten, dass es uns nicht an Geld mangelt, aber mehr weiß auch ich nicht aus den Zahlen zu lesen.“ Das war glatt gelogen. Hans hasste lügen, aber er hasste die Sturmabteilung noch mehr. So weh es ihm tat, aber er traute seinem Lieblingsbruder gerade keinen Zentimeter über den Weg. „Wie geht es bei dir? Dein Gesicht sieht aus, als wärst du dem Odin von den Nachbarn vor die Lefzen gefallen. Muss dein großer Bruder mal wieder jemanden schlagen?“ Hans bemühte sich um einen lockeren Ton, war aber angespannt. Dieser scheinbar banale Austausch von Nichtigkeiten glich für ihn schon einem Verhör.

Dieses Mal winkte Julius ab.

„Nein, nein, es ist schon alles gut. Glaub mir, mein Kontrahent sieht viel schlimmer aus. Ist ja auch schon fast alles wieder verheilt. Mir geht es gut, Ehrenwort.“

Ihr Vater hatte den Austausch stumm verfolgt und seufzte nun geräuschvoll.

„Jungs, ich lasse euch mal ein bisschen alleine. Ich bekomme Kopfweh, wenn ich hier noch länger bin“, brummte er und stapfte ins Haus zurück.

Julius und Hans sahen ihm nach, Julius hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben.

„Was ist denn mit Papa los? Er ist doch sonst nicht so brummig?“, fragte Hans halblaut und runzelte die Stirn.

„Ach, Papa verkennt einfach die Zeichen der Zeit, glaube ich. Wir haben diskutiert. Seitdem ist seine Laune schlecht.“

Mit noch stärker gerunzelter Stirn wandte sich Hans zu seinem Bruder um und erblickte wieder sein Braunhemd, das er die ganze Zeit ausgeblendet hatte. Ihm wurde übel, aber er rang sich zu einer neutralen Bemerkung durch.

„Was genau meinst du? Welche Zeichen der Zeit?“

Julius lachte auf.

„Ach komm, Hans. Ich weiß, dass du die Sturmabteilung kennst, du bist nicht dumm. Bei der Reichswehr redet man doch sicher auch über uns, mh?“

Hans presste die Lippen aufeinander und verschränkte seine Arme.

„Ja, ich weiß von den Braunhemden, natürlich. Wie kommt es, dass du dich der SA angeschlossen hast? Davon wusste ich bisher nichts.“

„Ich bin auch noch nicht so lange bei der SA“, gab Julius zu und senkte den Blick für einen Augenblick, dann sah er Hans fest in die Augen. „Hans, ich weiß, du bist bei der Reichswehr, das mag nicht schlecht sein. Aber glaub‘ mir, die SA und die NSDAP sind die Zukunft! Adolf Hitler wird das Deutsche Reich zu neuer Größe führen. Endlich können wir Versailles endgültig abschütteln!“

Hans seufzte und lief im Garten auf und ab. Einerseits verstand er die Motivation – Versailles war eine herbe Demütigung und er hasste das Diktat ebenso – aber die Brutalität der SA hatte ihn von Anfang an abgeschreckt. Er hatte Angst davor, was passieren könnte, wenn die NSDAP mit Hilfe der SA an die Macht kommen würde. Dass ausgerechnet sein liebster Bruder damit sympathisierte, versetzte ihm einen Stich ins Herz.

„Julius ... ich kann dich verstehen, was Versailles betrifft. Ich hasse diesen Vertrag genau wie du, das weißt du. Aber die SA ist ungeheuer brutal. Hast du nicht mitbekommen, wie sie vor ein paar Wochen Immanuel und Jaron verprügelt haben? Die beiden liegen seitdem im Krankenhaus!“

Die beiden Zwillinge waren mit Julius zur Schule gegangen und seine besten Jugendfreunde gewesen. Hans hoffte, Julius eine Gefühlsregung zu entlocken.

„Jaron und Immanuel haben es nicht anders verdient. Sind laut geworden und patzig. Bitte fang‘ nicht damit an“, spuckte dieser nur aus.

Ungläubig schüttelte Hans den Kopf.

„Jaron und Immanuel waren laut und du meinst es wäre richtig, sie dafür ins Krankenhaus zu prügeln? Was ist nur los mit dir, Julius?“

Julius packte Hans am Arm und zwang ihn dazu, stehen zu bleiben.

„Mensch, Hans! Es geht hier nicht um Jaron und Immanuel! Es geht hier um uns. Um die arische Rasse! Die NSDAP wird bald an die Macht kommen und dann wird es wichtig sein, zu wem du gehörst. Noch hast du die Möglichkeit, dich der SA anzuschließen, komm einfach mit mir. Ich regle das schon für dich. Als Militärangehöriger bist du wertvoll für uns. Wir nehmen dich sicher mit offenen Armen auf, wir können Leute wie dich gebrauchen.“

Hans löste sich aus Julius‘ Umklammerung und rieb sich den schmerzenden Arm, verzog angewidert das Gesicht.

„Du bist schon total gehirngewaschen, Julius! Diese brutalen Schläger sind nicht die Zukunft, und solltest du recht haben, wäre das ein schwarzer Tag für das Reich. Nie im Leben werde ich bei eurem Schlägerverein mitmachen. Vergiss es!“

Der arrogante Ausdruck in dem Gesicht seines Bruders machte Hans rasend. Die Gehirnwäsche schien bei ihm schon vollständig abgeschlossen zu sein. Verbittert und enttäuscht wandte sich Hans ab.

„Du kannst wieder mit mir reden, wenn du normal geworden bist. Solange du so ein Schläger bist, will ich mit dir nichts mehr zu tun haben. Leb‘ wohl, Julius.“

„Das wirst du bereuen, Hans. Glaub‘ mir“, hörte er Julius sagen und biss sich auf die Lippe. Seinen Bruder zu verlieren, zerriss ihm das Herz. Insgeheim hoffte er, Julius würde ihn aufhalten und reuig zu Kreuze kriechen, aber er tat ihm den Gefallen nicht.

 

Niedergeschlagen betrat er die Stube, wo mittlerweile nur noch Mutter und Frieda in der Küche zugange waren. Frieda sah von ihrer Arbeit auf.

„Hat Julius dich jetzt auch vertrieben? Papa ist gerade mit hundsmieserabler Laune an uns vorbeigegangen.“

„Dann werde ich ihm das nachmachen“, gab Hans lahm zur Antwort und schlurfte in Richtung seines Kinderzimmers.

---ENDE DER LESEPROBE---