Schattenland: 32 schwarze Geschichten - Stefan Melneczuk - E-Book

Schattenland: 32 schwarze Geschichten E-Book

Stefan Melneczuk

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Beschreibung

Albträume, die kein Ende nehmen.Gespenster, die keinen Frieden finden.Liebe, die den Tod überdauert.Invasoren, die Menschen jagen.Songs, die aus der Hölle kommen und ein Rockstar, der mit ihnen Rache nimmt.Ein Herrenhaus, das heimgesucht wird.Ein Hexenwald, der ein dunkles Geheimnis birgt.Ein Amt, das Träume steuert und jeden Verstoß gegen das staatliche Tempolimit mit harter Hand bestraft.Eine Stadt, die zu Stein erstarrt.Eine Geisterbeschwörung, die aus dem Ruder läuft und statt Erkenntnis nur den Tod bringt.Willkommen im Schattenland!32 rabenschwarze, preisgekrönte Geschichten zur Geisterstunde.Auf der Schwelle zwischen sanftem Schauer und purem Horror.

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Stefan Melneczuk

SCHATTENLAND

Stefan Melneczuk

SCHATTENLAND

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-603-3

Inhalt

VORWORT

S C H A T T E N L A N D

ALBTRAUM

STEINE

HUNDERT

NOVEMBERNACHT

KAMERA SIEBEN

HORCH 39

MARTERPFAHL

DIE BRÜCKE

DIE AKADEMIE

MONSTRUM

A B S U R D

GLAS

SCHLÄFER

VERFOLGT

DURST

HARDSONS LETZTER SONG

HUNGER

KANAL 38

N A C H T W E L T

MAYDAY!

HOLZ

KELLER

VERSCHOLLEN

MARTYRIUM

JULIA

ZEIT

TRAUMA IN GRAU

DAS HAUS AM HÜGEL

DAS MÜTTERCHEN

WINTER

AM FLUGSTEIG

NUNNINGTON HALL

LUCIA

A N H A N G

E I S

NACHWORT

IM RÜCKSPIEGEL

Der Autor

VORWORT

Gleich hinter Helmstedt stiegen sie zu uns in den Zug – auf dem Weg nach Westberlin. Die beiden DDR-Grenzer wollten mit strengem Blick wissen, warum ich keinen Reisepass dabei hatte und kassierten wenig später zwanzig Westmark für ein ziemlich teures Lesezeichen, das mir letzten Endes dann doch noch die Fahrt durch die Deutsche Demokratische Republik gestattete. Das ist jetzt fast auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre her, und im Reisegepäck hatte ich damals eine meiner ersten Kurzgeschichten. Mit ihr hatte man mich, als einer von dreiundzwanzig Nachwuchsschriftstellern unter insgesamt fast 750 Bewerbern, zum TreffenJunger Autoren nach Berlin eingeladen. Das Herz schlug mir bei meiner ersten Lesung vor Publikum fast bis in den Hals, und als ich Tage später mit einer Urkunde der Berliner Festspiele nach Hause kam, wartete schon ein Redakteur der WAZ auf mich, um einen jungen Mann aus dem Hattinger Hügelland vorzustellen, der sich anschickte, eines Tages ein Schriftsteller zu werden.

Nun, die DDR ist mittlerweile Geschichte, und mich gibt es immer noch. Bei Lesungen vor Publikum schlägt mir das Herz immer noch bis in den Hals, und manche meiner Zuhörer wurden lange nach dem Jahr geboren, als ich es im Zug nach Berlin – neben zwei weiteren Jungautoren im Abteil, die Jahre später geheiratet haben – zum ersten Mal in meinem Leben mit der ostdeutschen Staatsmacht zu tun bekam. Die Kurzgeschichte, um die es damals ging, heißt bezeichnenderweise Verschollen und ist jetzt Teil dieser Story-Sammlung. Ich habe sie, wenn man so will, in den vergangenen Wochen auf der Werkbank restauriert, gemeinsam mit vielen weiteren Geschichten, die zum größten Teil in den 90er Jahren entstanden sind.

Zum Abdruck kamen sie in den ersten beiden Büchern, die von Klaus Bielefeld und Monika Wunderlich in den Jahren 1998 und 2003 mit großem Engagement und Liebe zum Detail herausgegeben wurden. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar. Mit Schattenland, den Titel hatte damals auch meine erste Story-Sammlung, die zweite hieß Absurd, schließt sich ein Kreis, der vor einem Vierteljahrhundert im Zug nach Westberlin seinen Anfang genommen hat.

All die Geschichten für dieses Buch wiederzusehen, hatte fast schon etwas von einem Klassentreffen. Ich habe mich mit jedem dieser alten Bekannten noch einmal beschäftigt, fast ein Jahr lang, und mich gefragt, ob ich ihm oder ihr – im wahrsten Sinne des Wortes – neue Seiten abgewinnen kann. Das Leben ist Veränderung, und in jedem Abschied liegt ein Neuanfang. Das gilt auch für das Schreiben. Smartphones und das Internet haben Einzug in die Geschichten gehalten, und manche meiner alten Freunde tragen jetzt andere Kleidung. Geblieben ist das Herz, das in ihnen schlägt und immer noch über ihre Seelen wacht.

So sind mit Geisterstunden und Schattenland und den Anhängen meiner Romane Marterpfahl und Rabenstadt jetzt gut siebzig meiner Kurzgeschichten bei BLITZ erschienen. Es war schön, meine alten Freunde für dieses Buch wiederzusehen und mit ihnen noch einmal durch die Hattinger Wälder zu ziehen in Vollmondnächten. Neue Gespenster haben sich uns unterwegs angeschlossen, versammelt im dritten Teil dieses Buchs, gemeinsam mit Geistern, die nach kurzen Auftritten in Anthologien und Zeitschriften von der Bildfläche verschwunden sind und jetzt zu neuem Leben erwachen. So reisen wir mit ihnen ins Schattenland und lassen alle Grenzen auf dem Weg in die Nacht hinter uns.

Reach out touch faith! Mein Dank gilt an dieser Stelle all denen, die mich über viele Jahre hinweg begleitet haben, die mir treu geblieben sind selbst in schwerer See, und die sich Zeit für mich und meine Geschichten nehmen – in welcher Form auch immer. An erster Stelle danke ich meiner Familie, meinen Freunden, meinen Kollegen und meinen Lesern. Wo wäre ich ohne Euch?

TO CELEBRATE THE FACT

THAT WE’VE SEEN THE BACK

OF ANOTHER BLACK

DAY

Depeche Mode,

Black Celebration,

1986

S C H A T T E N L A N D

See the stars are shining bright

Everything is alright tonight

Depeche Mode,

Never Let Me Down Again,

1987

ALBTRAUM

Monod starrt an die Decke. Einen solchen Albtraum hat er niemals zuvor gehabt. Seine Gedanken sind schwer wie Blei. Mühsam gräbt sich sein Verstand aus ihnen hervor. Großer Gott, im Traum waren sie alle tot. Monod holt Luft, Monod atmet aus. Die Bilder haben ihn die ganze Nacht lang verfolgt. Überall gestorbene Menschen. Auf der Straße. In zahllosen Autos. In Fahrstühlen. Auf Rolltreppen. An Schaufenster gelehnt. Alle tot. Der Himmel schweigt. Die Erde auch. Das Meer schon lange. Ein Berg aus Toten in einer Wüste aus Beton. Wölfe auf den Dächern. Krähen über den Feldern. Das Regiment der Pest in einem Land aus Schatten.

Der Tod ist über Nacht gekommen und hat nicht einen Menschen übrig gelassen. Niemand hat ihn aufgehalten auf seinem Weg durch die Stadt. Er war schneller als jede Nachrichtensendung.Und jetzt liegen wir hier. Niemand beerdigt uns. Niemand weint um uns. Wir sind verlorene Seelen. Wir sind Staub. Wir sind Schmutz unter den Fingernägeln, und Gott wäscht sich heute Nacht seine Hände. Kein Gebet. Keine Rettung.

STEINE

Als Paul die Augen öffnete, starrte er auf die Wohnungstür. Verschlossen richtete sie sich vor ihm auf und schien jeden seiner Blicke zu verspotten. Paul stöhnte leise und fühlte sich wie gerädert. Am furchtbarsten schmerzte sein Rücken. Als er sich aufrichtete, stieß Paul gegen eine leere Martini-Flasche, und es hätte ihn an diesem grauen Morgen nicht gewundert, in ihrem Bauch einen Brief von Gott zu finden. Pass auf dich auf, mein Lieber, bei jedem Schritt, den du da draußen machst. Mit hohlem Donner schlug die Flasche gegen den Schirmständer im Flur. Gott hatte davon abgesehen, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Aus welchem Grund auch immer.

Gestern Nacht hatte er viel Alkohol verschüttet, der Parkettboden stank wie eine Kneipe. Im Wohnzimmer lagen weitere Flaschen. Zerbrochen. Alle zerbrochen. Paul brauchte fünf Minuten, bis er alle Scherben aufgesammelt hatte. Er schlich noch einmal ins Wohnzimmer und befreite die Stereoanlage aus dem Bandsalat, der mittlerweile bis auf den Boden reichte und sich als nostalgisches Kunstwerk aus analogen Zeiten mit seinen Glitzerstreifen über den Teppich ergoss. Phil Collins ist erledigt. Ein für alle Mal. Diese Erkenntnis zauberte Paul ein versonnenes Lächeln auf die rauen Lippen. Er schaltete das Radio ein. Nur Rauschen. Paul überprüfte die Frequenzen und programmierte sie neu in das Gerät – ohne Erfolg. Als seine Kopfschmerzen mit einer Fanfare zu Ehren des Grafen Aspirin zurückkehrten, schaltete Paul das verdammte Radio aus und ging in die Küche, wo er zwei Tabletten mit kaltem Bier abwärts spülte. Auf dem Tisch und auf den Schränken türmte sich schmutziges Geschirr. Bei dem Gedanken, das alles im laufenden Jahrzehnt abwaschen zu müssen, fühlte Paul sich noch schlechter als ohnehin schon. Wollte er auch morgen etwas essen, musste er unbedingt einkaufen. Und wieder kroch die vergangene Nacht durch seine Gedanken. Diese Kopfschmerzen!

„Du musst sie vergessen!“

Frank rutscht auf der lädierten Wohnzimmercouch hin und her, angestrengt an seinem Glas Single Malt nippend. Der würzige Duft des Whiskys dringt in Pauls Nase, und bei der Erinnerung daran wird ihm noch einmal schlecht.

„Du denkst mehr an sie als sie an dich.“ Bei diesen Worten bemüht sich Pauls mit Abstand bester Freund um ein väterliches Lächeln, doch so gut es auch gemeint ist, muss es an diesem Abend missglücken wie die Jungfernfahrt der Titanic.

„Ich verstehe sie nicht“, hat Paul darauf erwidert, ahnend, dass ihm die funkelnde Flasche zwischen Salzstangen, Chips und Aschenbechern noch zum Verhängnis wird.

„Sie hat dich abgezogen.“ Das sagt Frank so ruhig wie ein Scharfschütze, der sein Ziel erfasst. Dann wird er laut, als Paul die Augenbrauen nach oben zieht. „Oder etwa nicht? Junge, ich bitte dich! Melanies Neuer ist zehn Jahre älter, fährt einen Porsche, hat drei Kinder, und ihr Brief an dich ist einfach ...“

„Das Letzte“, fällt Paul ihm ins Wort. „Du hast ja Recht, verdammt, du hast ja Recht! Trotzdem lassen sich all die Jahre nicht einfach ausradieren.“

„Hat das jemand von dir verlangt?“ Frank bemüht sich redlich, gekränkt zu klingen. „Du kannst von Glück reden, dass du diese Arschkuh nicht geheiratet hast. Wahrscheinlich wären ihr im nächsten Jahr dann die Sicherungen durchgebrannt.“

Diese Art von Logik versteht Paul nicht. „Sie war eine Nummer zu groß für mich.“

„Sie war eine Nummer zu groß für mich, sie war eine Nummer zu groß für mich“, heult Frank und schlägt auf den Tisch, wohl darauf bedacht, den Whisky nicht zu gefährden. „Spar dir dein Selbstmitleid! Unsinn! Diese Arschkuh – bitte verzeih mir diese Wortwahl – diese Arschkuh wird noch sehen, was sie angerichtet hat. Patricia hat da eine nette Kollegin im Büro, schon lange allein, und ich könnte doch ...“

„Oh nein“, stöhnt Paul. „Verschont mich damit.“

„Auch gut, auch gut.“ Frank klingt jetzt wirklich verletzt und trinkt sein Glas aus. „Wie du willst. Ich muss weiter.“

„Was nutzt mir eine Frau, die aussieht wie Prinzessin Leia und den Charakter von Darth Vader hat?“

Darauf wissen sie beide keine Antwort. Frank geht gegen eins nach Hause.

Das alles war Geschichte.

Jetzt war für Paul die Frage wichtiger, wie er diesen Vormittag überlebte. Kurz vor zehn, die Tabletten wirkten immer noch nicht. Er ließ sich auf die Couch fallen und suchte nach der Fernbedienung. Vom Zeitungsstapel starrte ihm ein alter Spiegel-Titel mit Marcel Reich-Ranicki entgegen. Zwischen den Polstern fand er die Zauberbox und schaltete den Fernseher ein. Schnee im Ersten. Schnee im Zweiten. Paul stellte den Ton ab. Drei, vier, fünf, sechs und sieben boten nur Testbilder. Alle anderen auch. WIR BITTEN DIE STÖRUNG ZU ENTSCHULDIGEN, strahlte es auf Kanal acht. Der Suchlauf flitzte ergebnislos durch den Schneesturm, und das Einzige, was Paul zu sehen bekam, war ein verschneiter Porno in niederländischer Sprache, in dem eine Reitpeitsche eine Rolle spielte. Paul holte tief Luft, kroch hinter den Wohnzimmerschrank und prüfte den Antennenstecker. In seinem Kopf drehte sich alles, als er über der Anschlussbuchse hockte und feststellte, dass alle Stecker richtig saßen. WIR BITTEN DIE STÖRUNG ZU ENTSCHULDIGEN.

Paul kapitulierte und schaltete den Fernseher auf Standby. Er wollte sich gerade zum Telefon kämpfen und Frank anrufen, als es ihn mit Macht ins Badezimmer zwang. Die ganz große Katastrophe blieb allerdings aus. Paul hing mit dem Oberkörper über der Badewanne und wartete. Sodbrennen, das war alles neben Kopfschmerzen und seinem knirschenden Rücken. So muss es sein, wenn man stirbt, fuhr es durch seine Gedanken. So und nicht anders. Er zog sich ins Wohnzimmer zurück und legte sich auf die Couch. In seinem Magen rumorte es wie auf einer Großbaustelle. Der Schotte hatte ihm den Rest gegeben. Verdammter Single Malt. Noch einmal ein Versuch mit der Zauberbox. WIR BITTEN DIE STÖRUNG ZU ENTSCHULDIGEN. Nun schneite es auch in den Niederlanden.

„Ich liebe dich“, flüstert Melanie. Paul legt seinen Kopf auf ihren Bauch. Ihre Hände streicheln seinen Nacken, und er spürt, wie sich die Gänsehaut an ihm hocharbeitet. Er rutscht höher und fühlt ihren Herzschlag. Draußen scheint die Sonne verschwiegen durch die Schlitze der Rollos.

„Wie spät ist es?“ Paul richtet sich verschlafen auf.

Melanie murmelt etwas. Dann dreht sie sich zur Seite. Einen Moment lang kann er ihre kleinen, festen Brüste im Halblicht sehen. „Kurz vor sieben.“

„Kurz vor sieben?“, ruft er entsetzt. „Ich muss um halb im Büro sein! Großer Gott!“ Das letzte Wort zieht Paul in die Länge, und dadurch klingt es auf alberne Weise amerikanisch. Halb angezogen, stürzt er in die Stereoanlage neben dem Schlafzimmerfenster.

„Was machst du da?“, fragt sie.

„Sterben.“

Melanie lacht leise.

Paul fuhr hoch. Schon wieder eingeschlafen. Melanies Gesicht verschwand in einem Strudel unfertiger Gedanken. Immer noch roch es in der Wohnung schottisch. Frank, er musste Frank anrufen! Mittlerweile war es zwei Uhr. Paul stapfte in den Flur und tippte die Nummer. Zehn Ruftöne.

HIER IST DER AUTOMATISCHE ANRUFBEANTWORTER VON FRANK SINATRA. ICH BIN ZURZEIT IN NEW YORK UND NEHME EIN NEUES ALBUM MIT ROBBIE WILLIAMS AUF. SOLLTEN SIE MIR EINE NACHRICHT HINTERLASSEN WOLLEN

Paul legte auf und rieb sich die Stirn. Was für ein Tag! Noch ein Versuch mit dem Fernseher, noch ein Versuch mit dem Radio – ohne Erfolg. Er ging ans Wohnzimmerfenster und brachte es auf Kippstellung. Vor dem Fernseher blitzten weitere Scherben. Auf halbem Weg erstarrte Paul. Drei Jahre hatte er, um das Leben draußen auf der Kaiserstraße in Vohwinkel zu verinnerlichen. Wenn etwas in der Kulisse fehlte, merkte er das sofort. Instinkt. Was heute fehlte, war der Lärm der Straße und das Quietschen der Schwebebahn. Paul ging wieder ans Fenster und warf einen Blick hinaus.

Spärliche Aussicht aus der dritten Etage. Draußen Stille wie niemals zuvor – und das vormittags an einem Dienstag. Das Stahlgerüst der Schwebebahn war fast auf Augenhöhe. Kein Zug zu sehen. Auf der Stütze links saßen zwei Tauben und gurrten in das Schweigen. Weiter unten standen ein paar Autos zwischen den mit Betonringen geschützten Pfeilern, und das war alles. Noch einmal versuchte Paul Franks Nummer.

HIER IST DER AUTOMATISCHE ANRUFBEANTWORTER VON FRANK SINATRA.

Paul schleuderte den Hörer abwärts, eilte ins Bad und nahm eine Dusche. Ihm lief Wasser in den Mund, er trank es gierig. Es schmeckte nach Chlor. Die Kopfschmerzen ließen nach. Endlich. Wenig später verließ er die Wohnung und warf sich im Treppenhaus den Mantel über, denn der Herbst hatte mit Ostwind Einzug gehalten. Den flüchtig geschriebenen Einkaufszettel ließ Paul in den Weiten seiner Manteltaschen verschwinden.

Dünnes Licht im Treppenhaus. Die alte Gruber von nebenan hatte Putzwoche. Meister Propper und sein Neffe Ajax waren hier draußen gern gesehene Gäste. Ein blutroter Kunststoffeimer samt Schrubber stand am Geländer und versprach einen kurz bevorstehenden Präzisionsschlag. Paul eilte bergab und trat durch die schwere Haustür ins Freie. Noch kälter als erwartet. Eisiger Wind schnitt ihm durchs Gesicht. Er schlug den Mantelkragen hoch und sah sich um. Von der anderen Straßenseite strahlte ihn eine Frau von einer Plakatwand aus an. Mit verkniffenem Gesicht grub sie makellose Zähne in einen Hamburger und schaffte es sogar noch, dabei zu lächeln.

SATT FÜR NUR DREI EURO!

Das Plakat war noch nicht ganz geklebt. An der Hausfassade nebenan stand eine lange Aluminiumleiter. Auf halber Höhe hockte eine Gestalt in weißem Kittel. In der linken Hand hielt sie einen Quast, von der anderen aus wehte eine Papierbahn im Wind. Paul stockte der Atem. Er ging über die Straße, ohne nach links und rechts zu schauen. Heute kommen keine Autos. Heute fährt auch keine Schwebebahn. Heute machen alle Pause.

Paul blieb vor der Leiter stehen und schaute nach oben. Das Plakatpapier raschelte im Oktoberwind.

„Hallo?“, rief Paul in den Himmel, doch der Plakatkleber rührte sich nicht. Paul rüttelte an der Leiter und hoffte, dass sich der Mann jetzt umdrehte, um ihn mit Gift in der Stimme zu fragen, ob er noch alle Sinne beisammen hatte. Doch nichts dergleichen geschah. „Hallo?“

Stattdessen rutschte dem Mann auf der Leiter die Plakatbahn aus den Händen, schlug auf den Bürgersteig und rollte zur Seite. Im selben Moment knackte es laut, dem Mann auf der Leiter brachen die Arme ab. Er kippte nach hinten, zuerst langsam, ganz langsam, dann mit einem Ruck. Während beide Hände die Leitersprossen immer noch umfasst hielten – in einem Akt bergischen Starrsinns –, krachte der Rest des Plakatklebers vor Pauls Füße. Der Mann zerbrach augenblicklich. Graue Splitter, sie rutschten bis auf den Asphalt und sahen aus wie Gips. Dann schlug auch der rechte Arm des Toten auf, samt Hand dem Gesetz der Schwerkraft tief im Wuppertaler Westen folgend, und verfehlte Paul nur knapp. Der linke Arm hing immer noch an der Leiter wie abstrakte Kunst. Zwischen den zerbrochenen Brocken auf dem Bürgersteig klebten Reste eines Blaumanns, vermengt mit Stein.

„Allmächtiger!“

Das war alles, was Paul zustande brachte, fasziniert und entsetzt zugleich. Noch immer keine Schwebebahn. Er telefonierte noch einmal mit Frank Sinatras Anrufbeantworter. Schweigen auch bei der Polizei und bei der Feuerwehr. Paul fotografierte die Reste des Plakatmannes mit seinem Handy. Er hob einen Finger auf und zerbrach ihn ohne Anstrengung. Eine Skulptur aus Gips, Ergebnis eines verrückten Kunstseminars auf Einladung der VHS Bergisch Land, in Szene gesetzt im Herzen Vohwinkels und bereit, entdeckt zu werden an einem sonnigen Tag auf der Kaiserstraße.

Der linke Arm des Plakatklebers steckte noch immer im abgetrennten Ärmel eines Holzfällerhemdes. Leiter mit Arm.Oder Arm mit Leiter? Nach dem Dauerregen der vergangenen Tage schien heute endlich, endlich wieder die Sonne. Das Gesicht des Plakatmannes war ebenfalls grau und zur Fratze erstarrt. Den Mund hatte er weit aufgerissen, wie auf diesem irren Plattencover von Pink Floyd, und so beanspruchte er gut die Hälfte des Gesichtes. Dahinter ein pechschwarzer Schlund, von steinernen Zahnreihen umrahmt. Die Augen des Unglücklichen waren geschlossen. Schließlich stieg Paul die Leiter nach oben, brach auch den linken Arm ab und warf ihn neben den Rest des Ganzen.

Auf dem Weg zum Kaiserplatz empfing Paul eisiges Schweigen. Auf halber Strecke hingen zwei Schwebebahnzüge. Einige ihrer Scheiben waren zerbrochen und ließen erahnen, wie es da oben in den Wagen aussah. Scherben waren in die Straßenschlucht geregnet und glänzten auf Autodächern und auf dem Asphalt in der Sonne. Dann sah Paul die ersten beiden Auffahrunfälle. Opel contra Mercedes. Volkswagen contra Toyota. Die Motoren liefen immer noch, und die Fahrer hatten sich nicht abgeschnallt. In den Trümmern eines Schaufensters lag ein schweres Motorrad zwischen edlen Parfümflaschen, Kartons, Preisschildern und Sonnenblumen aus Kunststoff. Der Kopf des Fahrers steckte in der Auslage. POLIZEI stand auf dem Rücken des Lederanzugs. Der Duft von Eau de Toilette, Körperlotion und Rasierwasser mischte sich mit dem ausgelaufenen Benzins. Im Inneren des Geschäfts standen Frauen aus Stein um eine Verkaufstheke versammelt. Zwei Damen waren immer noch hübsch anzusehen. Unter Pauls Füßen knirschten Glasscherben, als er in die Auslage stieg, sich über den Polizisten beugte und ihm die Dienstwaffe abnahm. Der Polizist trug noch immer einen Helm. Er war von tiefen Rissen durchzogen.

Die Pistole wog schwer in Pauls Händen. Er fragte sich, ob er im Ernstfall damit umgehen konnte, steckte sie schließlich ein und ging wieder nach draußen. Steine, wohin er auch blickte. Die meisten waren immer noch angezogen. Einige hielten Tragetaschen in ihren unförmigen Händen. Andere hatten das Gleichgewicht verloren, waren umgefallen und lagen zerbrochen auf dem Pflaster. Eine runde alte Frau von den Ausmaßen eines Weinfasses, die sich aus einem Hauseingang gleich neben der Kreuzung arbeitete, starrte Paul aus einem königsblauen Kopftuch entgegen. Der Wind, der sich in ihren steifen Armen verfing, heulte leise. Ihre Handtasche trug die Versteinerte sorgfältig geschultert, wohl aus Angst, dass ein Straßenräuber sie ihr entreißen mochte, wie das hier leider immer häufiger passierte. Paul zog dem Stein das Kopftuch über das Gesicht und ging weiter. Aus dem Buchgeschäft nahe der Endhaltestelle nahm Paul sich noch die Tribute von Panem mit. Die hatte er schon immer lesen wollen.

Am Bahnhof saß ein zu Stein gewordener Bettler und wartete bis zum Ende aller Zeiten auf Kleingeld. BIN IN NOHT, stand auf dem Pappschild, das er in den Fingern hielt wie eine Tafel mit zehn Geboten vom Berg Ararat. Auf einer Bank der Wuppertal Bewegung hockten zwei Mädchen über einem Smartphone, dessen Display erloschen war. Ein paar Meter weiter stritt sich ein erstarrtes Paar, offensichtlich frisch geschiedene Eheleute, vor dem Eingang einer Anwaltskanzlei. Da steht ihr zwei auch noch in zehntausend Jahren, murmelte es in Pauls Gedanken.

Am Stand einer Bürgerinitiative gegen Massentierhaltung bei Legehennen sammelten zwei Steine mittleren Alters immer noch Unterschriften – und ihre Felswerdung änderte nichts daran. DÖNER IST GESUND war in der Nachbarschaft einer Eisdiele zu lesen, und der Spieß drehte sich immer noch. Das Fleisch war schwarz. SCHENKEN SIE SICH DAS PHANTOM DER OPER hieß es unterdessen im Fenster eines Reisebüros. Im immer noch hell erleuchteten Laden standen Terrakotta-Menschen Schlange. Vor ihnen saßen Steine vor summenden Computern, die auch noch zu Weihnachten laufen sollten, sofern die Wuppertaler Stadtwerke nichts dagegen hatten. Paul ging zum nächsten Bäcker und griff zu, ohne auf die Preise zu achten. Frühstück am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen. Die meisten Steine hier waren zerbrochen.

Auf dem Weg nach Hause begegnete Paul einer Streife des Kommunalen Ordnungsdienstes im angeregten Gespräch mit zwei jungen Männern in Springerstiefeln. Auf ihren Köpfen saßen Tauben. Sie erleichterten sich in großen Mengen, bevor sie Paul kommen sahen und weiterflogen.Außer den eisigen Windböen und seinen Schritten war nichts zu hören. Steine, wohin er auch sah. Fehlten eigentlich nur noch Mick Jagger, Keith Richards, Ron Wood und Charlie Watts. Noch ein Anlauf bei Mister Sinatra.

HIER IST DER AUTOMATISCHE ANRUFBEANTWORTER VON FRANK SINATRA. ICH BIN ZURZEIT LEIDER NICHT ZU HAUSE, UND ICH NEHME AUCH KEINE NEUE PLATTE MIT ROBBIE WILLIAMS AUF. VERGESSEN SIE ALLES, WAS SIE VOM WELTUNTERGANG ERWARTET UND WAS DIE MAYAS PROPHEZEIT HABEN FÜR DAS JAHR 2012. SOLLTEN SIE MIR EINE NACHRICHT HINTERLASSEN WOLLEN, SPRECHEN SIE BITTE NACH DEM SIGNALTON. ICH RUFE GARANTIERT NICHT ZURÜCK, DENN ICH BIN SO TOT WIE ALLE ANDEREN. DANKE!

„Komm schon! Ich weiß, dass du zu Hause bist!“

Paul steckte das Telefon ein, versetzte einem der Springerstiefel einen so harten Stoß, dass sein Zubehör ins Wanken geriet und nach zähem Ringen umkippte. Paul wählte wenig später weitere Nummern, solange er noch ein Netz hatte. Er ließ es jeweils zwei Minuten lang klingeln. Ohne Erfolg. Selbst bei einem Freund in Brandenburg, von dem er lange nichts mehr gehört hatte, versuchte er es. Nach dreißig Rufzeichen gab Paul auch dort auf, hängte ein und beschloss, noch in das neue Kaufhaus auf der Kaisermeile zu gehen.

Ganz oben wartete ein Supermarkt. Am Ende der immer noch laufenden Rolltreppe türmten sich Berge aus grauen Gliedmaßen und zerrissener Kleidung. Ein Männerkopf, der auf dem Treppenabsatz festhing, rollte hin und her, es von alleine nicht über die Schwelle schaffend. Paul hob ihn auf und legte ihn zu den anderen Steinen. Vor der Fleischtheke (VERSPRECHEN AUF BRIEF UND SIEGEL! UNSER FLEISCH KOMMT AUS DEUTSCHLAND) lag ein Mann in Jogginghose in seinem Einkaufswagen und hielt eine BILD-Zeitung in den kantigen Händen. Eine der Schlagzeilen fragte nach der Zukunft der Fußballnationalmannschaft. Eine andere nach dem Mädchen von Seite eins. Aus den Deckenlautsprechern sang Bryan Adams eine Ballade. Paul füllte einen Karton mit Konserven.

Die Frauen an den Kassen hielten ihre Scanner wie Schusswaffen in den Händen, bis in alle Ewigkeit, während am anderen Ende der Transportbänder ein paar Steine schon seit Stunden auf ihr Wechselgeld warteten. Paul ging noch einmal in die Regalreihen zurück und holte sich drei Flaschen Single Malt, nur für den Fall der Fälle. Einen Moment lang flackerten die Neonröhren an der Decke. Das ist erst der Anfang. Daran erinnert, steckte Paul zwei Taschenlampen und möglichst viele Ersatzbatterien ein. Sonderangebot.

Zurück auf der Kaiserstraße, sah Paul an einem Aufprallschutz der Schwebebahn einen bayerischen Sportwagen, der sich tief in den Beton gegraben hatte. Der Fahrer lag auf der Motorhaube, und an seinem rechten Handgelenk hing eine Rolex, die Paul problemlos passte. Die beiden Züge hoch oben standen immer noch und waren voll besetzt. Wie lange werden die armen Menschen da oben hängen, bis der Rost und der Wind ein Einsehen haben?

HUNDERT

David ahnte nicht, dass dies sein letzter Tag auf Erden war. Und so war es zu erklären, dass er in aller Ruhe frühstückte, die Zeitung las, ins Bad ging und sich noch einmal die Zähne putzte.

Ein Morgen im Oktober. David zog sich an, suchte zehn Minuten lang den Autoschlüssel, verließ um neun das Haus und eilte durch rauschendes Laub zu seinem Wagen. Eine halbe Stunde lang war er unterwegs, rauchte drei Zigaretten und erinnerte sich an seine vergessene Rasur und die Tatsache, mit nur einem Pfund in der Tasche auf dem Weg in die Stadt zu sein. Draußen regnete es Ahornblätter. Im Radio arbeitete sich ein erkälteter Sprecher an einer Terrorwarnung der Neuen IRA ab und bemühte sich redlich, den Text ohne Husten zu verlesen. Das erklärte die vielen Polizisten mit Maschinenpistolen auf dem Weg in die Redaktion.

David fand im zweiten Anlauf eine Parklücke, eilte weiter durch rauschendes Laub und ließ eine schwarze Katze vom Bürgersteig aus in einen Vorgarten flüchten, wo sie sich umdrehte und ihn mit einem mustergültigen Buckel und aus sicherer Entfernung anfauchte. In der Redaktion erwartete ihn, einmal mehr, ein gut gefüllter Schreibtisch und die mit Abstand hübscheste Sekretärin, der er jemals begegnet war. Leider nur die Vertretung einer Kollegin, die alle hier den Drachen nannten und Urlaub machte, vermutlich in einem Vulkan- oder Erdbebengebiet.

Die mit Abstand hübscheste Sekretärin, der David jemals begegnet war, klärte ihn darüber auf, dass Henry krank war. Verdammt. Der Rest der Mannschaft war ausgeflogen und kümmerte sich um die Irisch-Republikanische Armee. Ihnen allen stand ein langer Tag bevor, keine Frage.

„Kümmern Sie sich um das Portrait, Mister Kershaw?“

David bemühte sich, die mit Abstand hübscheste Sekretärin, der er jemals begegnet war, zu ignorieren. Sie hieß Victoria, quälte die Kaffeemaschine mit kaum zu bewältigenden Wassermassen und machte ihrem Namen auch heute Morgen alle Ehre.

Sag das noch einmal, Süße, bitte sag das noch einmal!

„Mister Kershaw?“

Danke!

„Bitte? Ich habe gerade nicht zugehört. Was meinten Sie?“

„Ich wollte nur wissen, ob Sie sich um das Portrait kümmern.“

„Welches Portrait?“ David schaltete den Rechner ein. Als sich das Redaktionssystem meldete, nippte er an einer wuchtigen Tasse mit der Aufschrift Ich hasse Jar Jar Binks.

„Hat Henry Sie nicht angerufen?“ Victoria zog ihre scharf konturierten Augenbrauen überrascht nach oben und erinnerte David mehr denn je an Demi Moore. Ein Motiv für die Ewigkeit, hörte er sich im Stillen sagen, als er sie so sah. Ein Motiv zum Niederknien. Wer sagt, dass Gott tot ist?

„Nein.“ Er seufzte. „Was denn für ein Portrait?“

„Eine Hundertjährige aus der Vorstadt. Hat eine Ewigkeit als Gärtnerin gearbeitet und scheint eine außergewöhnliche Person zu sein. So außergewöhnlich, dass sie den Chef kennt. Und ich glaube, das ist ausschlaggebend. Der Termin ist um zwölf.“

„Und da kann sonst niemand hin?“ David stellte die Tasse ab und studierte seinen zerknitterten Notizblock.

„Höre ich Kritik?“, erwiderte Victoria und machte David damit eine weitaus größere Freude, als sie sich denken konnte.

„Nein.“ David notierte sich die Adresse und dachte wieder an Gott. „Keine Kritik, meine Teuerste. Klang das etwa so? Warum sollten wir uns nicht einig sein?“

Hätte Victoria gewusst, dass sie David heute zum letzten Mal gegenüber saß, hätte sie anders gelächelt und einen besseren Gedanken als diesen hier gehabt: Verdammter Pfau!

„Sonst gehe ich hin“, säuselte die mit Abstand hübscheste Sekretärin aller Zeiten und nahm erfreut zur Kenntnis, dass David energisch den Kopf schüttelte.

„Vielen Dank für das Angebot, aber ich habe seit Jugendzeiten ein Faible für Dritte Zähne. Wenn Sie im Gegenzug morgen Abend mit mir Essen gehen, geht das in Ordnung.“

„Vergessen Sie das, Mister Kershaw“, sagte Victoria Day, Göttin seines letzten Tages auf Erden, jetzt zumindest leicht errötend. „Vergessen Sie das.“

David war Sklave seiner Gewohnheiten, und so überließ er im Laufe der nächsten Stunde drei weitere Zigaretten der Glut. Er schrieb ein paar belanglose Zeilen, nahm frisch gelieferte Fotos in Augenschein, gab Arbeit an Victoria weiter und telefonierte mit Henry, da er sich Informationen über die Hundertjährige erhoffte. Es blieb bei kargen Bemerkungen. Interessante Frau. Ich glaube, sie hat eine Menge in ihrem Leben mitgemacht. Und das war es auch schon. Zehn Minuten später trank David den letzten Kaffee seines Lebens und stellte sich vor, wie es wäre, neben Victoria einzuschlafen. Jenseits aller Tagträume ließ sie David mit einem unverbindlichen Lächeln in seinen Untergang ziehen.

Hundert Jahre. Die alte Schachtel wird eine Menge zu erzählen haben, wenn sie noch bei Sinnen ist. Hin und wieder wird sie ohne Zusammenhang in Erinnerungen schwelgen und sagen, die guten alten Zeiten seien die besten gewesen.

Helena Boogle bewohnte ein gepflegtes Haus im Londoner Norden. Im Vorgarten standen exotische Sträucher, und der Rasen war frisch gemäht. Das Grundstück lag an einer Seitenstraße. David ließ den Gartenzaun hinter sich und stieg über eine schmale Treppe zur Haustür. Ein Spatz sauste vorbei, flog mit schrägem Kurs ins Efeu an der Hauswand und verschwand im Mauerwerk. David drückte den pechschwarzen Klingelknopf und wartete. Notizblock und Kugelschreiber hielt er in den Händen, schaute auf die Uhr und stellte fest, dass er pünktlich war. Er wusste nicht, dass die Zeit von nun an gegen ihn lief.

„Guten Tag. Sie sind der Reporter?“

Frage oder Feststellung?

Die Frau in Dienstrobe, die David die Haustür öffnete, war keine hundert Jahre alt. Das ist Victorias Jahrgang, schoss es ihm durch den Kopf. Sie lächelte verlegen und wies David den Weg. Er roch Parfum, eine Spur aus süßem Parfum. David starrte abwärts, als sie die Führung durch das Haus übernahm. Sein Blick rauschte ihren Nacken entlang, hinab, tiefer, immer tiefer, bis das Hausmädchen sich unverhofft umdrehte. Sie stand jetzt im dünnen Licht eines Flures. Vor ihnen erhob sich eine alte, schwere, hölzerne Treppe und duftete nach Politur.

„Ich helfe Missis Boogle im Haushalt“, sagte das Mädchen. „Sie trägt das mit Fassung.“

„Wie meinen Sie das?“

„Missis Boogle hat ihr Leben lang gearbeitet. Dass sie jetzt auf Personal angewiesen ist, behagt ihr nicht.“ Jetzt lächelte das Mädchen nicht mehr. „Es stört sie, um genau zu sein. Ich sage Ihnen das nur, weil heute wieder so ein Tag ist, an dem es sie außerordentlich stört.“

„Gut zu wissen. Wohnt sie da oben?“ David wies zur Treppe. Keine Frage, das Mädchen wusste, woran er in genau diesem Augenblick dachte. Sie nickte, wandte sich wie gewünscht zur Treppe und bot ihm noch einmal Gelegenheit, einen Blick auf ihr unglaubliches Heckzu werfen. Wer zum Teufel ist Demi Moore? Und David folgte der Frau in jeder Hinsicht.

Oben angekommen, ließ sie ihn vorbei. „Zweite Tür links. Möchten Sie etwas trinken?“

„Tee, bitte.“

„Ihr Wunsch ist mir Befehl.“ Das Mädchen verschwand nebenan, und David glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Sag das noch einmal, Baby, sag das bitte noch einmal, genau in diesem Ton! Dann fand er seine Disziplin wieder, die er einen Moment lang verlegt hatte auf dem Weg nach oben.

Victoria Day fluchte selten, aber wenn sie fluchte, dann richtig. Diese Verwünschung galt einer exorbitant teuren und kleinen Nagellackflasche, die sie beim Durchsehen ihrer Post umgestoßen hatte. Mittlerweile war sie zu Hause, und das erklärte das Missgeschick in seinen ganzen Ausmaßen. Das Fläschchen war nicht verschlossen. Victoria hatte es gestern Abend auf dem Schreibtisch vergessen, und ausgerechnet jetzt war es geschehen. Die Fotos, mein Gott, alle Fotos, die auf dem Tisch verstreut liegen, und es erwischt genau jenes, das von Bedeutung ist. Entstanden nach einem Mittagessen vor drei Tagen, das David und Henry ihr in der Pause gönnerhaft spendiert hatten und das ein blasser Kellner mit Henrys Kamera gemacht hatte. Victoria saß in der Mitte. Das Bild war hinüber. Der dunkelrote Lack hatte genau das Drittel überzogen, das David zeigte. Jetzt war alles rot wie Blut. Victoria versuchte das Foto zu retten, aber es gelang ihr nicht.

„Guten Tag, junger Mann.“ Helena Boogle saß in einem Schaukelstuhl am anderen Ende des Zimmers. Sie schaute von ihrer Zeitung auf, als David anklopfte und bedachte ihren Besuch mit einem wachsamen Blick. Dann nickte die alte Dame. Ganz so, als erinnere sie sich an etwas. Sie trug ein schwarzes Kleid mit tadellos weißem Kragen, polierte Schuhe, eine schimmernde Brosche unter dem Kinn und eine lange Perlenkette, die sich über ihren dünnen Hals auf langem Weg nach unten schraubte. Ihr graues Haar war von Spangen gebändigt und floss in eine akkurat ausgerichtete Frisur. Tiefe Falten, die Augen in stechendem Blau.

„Ich nehme an, Sie sind der junge Mann, der etwas über Helena Boogle wissen will, Mister ...“

„Kershaw.“ Er gab ihr die Hand. Sie griff fest zu. Unerwartet fest. „David Kershaw. Wir bringen einen Bericht mit Bild, wenn Sie gestatten.“

„Und wo ist die Kamera?“, wollte die alte Dame wissen.

„Verdammt.“

„Im Wagen gelassen, wie? Macht nichts, Mister Kershaw. Ich denke, Nicole wird uns gleich ohnehin etwas zu trinken bringen. Sie wird Ihnen den Gefallen tun und schnell zum Auto gehen. Wenn Sie ihr nur eben die Schlüssel geben.“

„Nicht nötig. Ich gehe selbst.“

„Lassen Sie uns erst einmal ein wenig reden, ja?“, sagte Helena Boogle. „Nehmen Sie doch Platz, Mister Kershaw.“

Er setzte sich. Der Stuhl knarrte leise. „Ein schönes Haus.“

„Fast so alt wie ich. 1897 gebaut, 1922 ausgebrannt, 1927 renoviert und seitdem mein Zuhause. Wie lange schreiben Sie schon für die Zeitung, Mister Kershaw?“

„Seit dreizehn Jahren.“

„Schöner Beruf.“ Ihre Augen ließen nicht von ihm ab.

Er zuckte mit den Schultern.

„Sie lesen täglich Zeitung?“

„Mit Hingabe.“ Sie zeigte auf ein monumentales Regal neben sich. „Und Bücher. Viele, viele Bücher.“

„Favoriten?“ David warf einen Blick in die Reihen der Buchrücken. Eine Armee aus Titeln.

„Ich liebe Edgar Allan Poe, wenn Sie das meinen.“ Helena Boogle beugte sich nach vorne. „Meine Augen sind noch ausgezeichnet. Ihre auch?“

„Ich glaube schon.“

„Fragen Sie nur weiter, junger Mann. Verzeihen Sie, ich falle jedem ins Wort. Eine meiner schlechten Angewohnheiten.“

„Wann kamen Sie zur Welt?“

„Am 15. Oktober 1894. Meine Mutter habe ich nur eine Woche später verloren. Lungenentzündung. Damals war das noch ein Grund zu sterben. Sie wollen etwas über meine Familie wissen, oder?“

„So weit Sie möchten.“

„Ich kenne meine Grenzen, Mister Kershaw“, erwiderte die alte Dame streng mit sich und ihrem Gast. „Mein Vater war Schmied und ein angesehener Mann. Ich hatte Geschwister. Zwei Brüder und eine Schwester. Alle tot. Der ältere Bruder, Jack, fiel 1944 in Frankreich, der jüngere, Thomas, starb 1975.“

„Und Ihre Schwester?“

Die alte Dame holte tief Luft.

„Veronica kam mit fünf Jahren ums Leben. Das war 1909.“

„Sie haben eine Ewigkeit als Gärtnerin gearbeitet.“

„Vierzig Jahre lang. Ich hatte ein eigenes Geschäft, nicht weit von hier. Ich schätze Blumen über alles.“

Davon ist hier aber nichts zu sehen, Missis Boogle, dachte David. Im nächsten Moment erhob sich die Alte und ging erstaunlich sicher zur Tür. Sie kehrte mit einem Kaffeegedeck in den Händen zurück, bat David um seinen Autoschlüssel, und nachdem er ihn überreicht hatte, ging sie noch einmal hinaus zur Treppe, wo Nicole zu warten schien.

„Der schwarze Toyota“, rief David über seine Schultern, seine Notizen überfliegend.

Die alte Frau nahm wieder Platz, schnaufend. „Ein hübsches Ding, nicht wahr?“

David ging nicht darauf ein, auch wenn die Alte natürlich Recht hatte. „Wann haben Sie geheiratet?“

„1936. Mein Mann hieß Henry. Ein gütiger Mensch. Viele gute Jahre hatten wir, wenn Sie auch das schreiben möchten.“

„Haben Sie Kinder?“

„Leider nicht. Ich war in meinen besten Jahren unfruchtbar. Henry hat sehr darunter gelitten. Und obwohl er viel jünger war, habe ich ihn überlebt. Ein seltsames Gefühl, das sage ich Ihnen. Eine schöne Beerdigung. Ich denke oft an ihn. Sind Sie verheiratet?“

„Nein“, sagte David.

„Entschuldigen Sie, ich bin mal wieder zu neugierig. Ich habe während des Krieges in einer Munitionsfabrik gearbeitet. Zweiter Weltkrieg, muss ich wohl hinzufügen. Mein größtes Erlebnis war ein Frühstück mit Winston Churchill im Frühjahr 1955.“

Anekdote!, summte es in Davids Gedanken. „Wie kam das zustande?“

„Einfach so. Er saß plötzlich am Nebentisch. Das war in einem Café in Nottingham. Der Mann hatte einen ausgesprochen guten Appetit. Ich grüßte ihn, und er starrte mich an. Gott weiß, was Churchill damals in dieses Lokal verschlagen hat. Er hat seinen ganzen Tee verschüttet, als er mir in die Augen sah. Ich habe oft gelacht in meinem Leben, Mister Kershaw. Das können Sie mir glauben. Aber dieser Anblick hat allem die Krone aufgesetzt. Winston Churchill hat in meiner Gegenwart geschlabbert.“

David notierte: Frühstück mit Churchill im Frühjahr 1955. Tee verschüttet.

„Sie haben nicht damit gerechnet, dass ich mich noch so gut erinnern kann, oder? Mit hundert Jahren fängt das Leben erst richtig an, junger Mann. Ich kann das bezeugen.“ Bei diesen Worten pochte Helena Boogle mit ihrem Gehstock auf den Holzfußboden. Drei dumpfe Schläge. „Noch etwas Tee?“

„Danke“, erwiderte David. „Erzählen Sie nur weiter.“

„Was möchten Sie hören? Winston Churchill, schlabbernd? Ich habe viele Erinnerungen auf Lager. Sie sollten Ihre Fragen schon etwas genauer formulieren.“

„Lesen Sie oft Zeitung?“

„Was soll die Frage? Das sehen Sie doch selbst. Würde ich so etwas sagen, wenn ich den ganzen Tag vor dem Fernseher säße, um wie ein altes Weib vor mich hin zu dämmern mit einer Schnabeltasse in der Hand? Herrgott, Ihrer Vorstellung von Hundertjährigen entspreche ich wohl ganz und gar nicht! Also, schreiben Sie: Helena Boogle liebt Bridge und liest mit Hingabe Kriminalromane und Gruselgeschichten. Sie hat keine Haustiere, dafür aber mit fünfzehn Jahren ihre kleine Schwester Veronica umgebracht, weil sie ständig an ihrem Rockzipfel hing und dumme Fragen stellte.“

„Missis Boogle ...“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, knurrte die Hundertjährige. „Einen Scherz verstehen Sie doch wohl noch?“

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

„Dann streichen Sie die Passage mit Veronica eben.“

„Gut“, murmelte David und überlegte, wie sie das Loch in der Ausgabe füllen würden.

Diese Frau ist irre. Total irre.

Danke, Kollegen. Vielen, vielen Dank.

„Mit achtzig war ich noch immer eine ausgezeichnete Autofahrerin. Stets unfallfrei, Mister Kershaw.“

„Und was für einen Wagen fuhren Sie?“

„Einen Bentley.“ Die alte Frau betrachtete seine Tasse. „Noch Tee?“

„Haben Sie vielleicht auch Wasser?“

„Selbstverständlich.“ Lauter: „Nicole! Etwas Wasser für den jungen Mann!“

„Danke.“

„Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, das Auto. Ich habe eine Sammlung uralter Kochbücher.“ Wieder erhob sie sich, ließ David für einen Moment allein und stellte ihm dann ein hohes Glas Mineralwasser vor die Nase. Sie rief in den Flur: „Besten Dank, Nicole. Zum Wohle, Mister Kershaw.“

David nahm einen Schluck. Das Wasser schmeckte seltsam.

„Ich habe viele Kochrezepte.“ Helena Boogle lächelte zufrieden und beobachtete David, als er das Glas auf den Tisch stellte. „Chemie ist meine Welt.“

„Chemie?“

Die alte Dame nickte. „Schwerpunkt Säuren. Sie trinken gerade Ihren Autoschlüssel.“

„Nach Säure schmeckt das hier aber nicht.“

Die alte Dame lächelte wieder. „Ich sagte ja, es sind alte und sehr raffinierte Rezepte. Übrigens, junger Mann, wir sollten die Geschichte meiner Schwester doch ins Protokoll aufnehmen.“

„Bitte?“

Helena Boogle faltete ihre Hände wie zum Gebet. „Sie war fünf Jahre alt, als ich sie umbrachte. Das Zeug sah aus wie Kakao und war gut zu mischen. Veronica hat keine Schmerzen gehabt. Der Arzt attestierte damals einen Herzfehler. Higgins hieß er, glaube ich.“

David stockte der Atem. „Und warum haben Sie Ihre Schwester umgebracht, wenn ich fragen darf?“

Die Alte rollte mit den Augen. „Weil sie wusste, was auch Sie längst wissen, Mister Kershaw.“

„Und das wäre?“

„Sie wusste, dass ich böse bin.“ Die alte Frau schloss ihre Augen auf das Niveau von Schlitzen. „Abgrundtief böse. Veronica mochte ihrer großen Schwester niemals folgen. Sie mied mich. Und sie hätte mich nach ein paar Jahren zweifellos verraten.“

David notierte: Tod der Schwester nicht verkraftet.

„Und das soll ich im Ernst schreiben?“

„Natürlich“, sagte die Frau. „Ich bin fast tausend Jahre alt, freischaffende Alchimistin und mische das beste Gift in Großbritannien. Ich war zwei Jahre lang Merlins Gattin und wurde 1894 zum zehnten Mal wiedergeboren.“

„Merlin?“

„Merlin.“ Sie lächelte wieder. „König Artus? Die Tafelrunde ist Ihnen ein Begriff? Merlin war mein Mann und Lehrmeister. Ich liebte ihn von ganzem Herzen. Ein wunderbarer Mensch, das sage ich Ihnen. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten. Hin und wieder überließ er mir Rezepte zur Abschrift.“

„Wen haben Sie neben Ihrer Schwester denn noch auf dem Gewissen?“

„Schwester, Schwester, Schwester“, rief Helena Boogle zornig. „Meine Schwester war eine beklagenswerte Ansammlung von Fleisch und Knochen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Niemanden sonst habe ich auf dem Gewissen, junger Mann. Niemanden! Veronica trank das Gift freiwillig, und ich freue mich, es endlich allen erzählen zu dürfen.“

David schüttelte den Kopf. „Wir sollten das Interview jetzt besser beenden.“

„Und warum, wenn ich fragen darf?“ Die Alte war außer sich. „Es geht doch jetzt erst richtig los.“

„Wie meinen Sie das?“

Die alte Dame schnappte nach Luft. „Warum haben Sie mich vorhin so angestarrt, als ich Ihnen die Tür öffnete? Gefiel Ihnen mein Rock? Mein Hintern? Gefielen Ihnen meine langen, langen Beine? Meine Hüften? Ich habe Ihre Erektion ja fast schon hören können. Nicht viel, und Ihnen wäre auf der Treppe die Hose geplatzt.“

„Sie sind ja verrückt.“ David empörte sich. „Unser Gespräch ist beendet.“

„Höflich ist das nicht“, sagte die alte Dame. „Und außerdem, wer von uns beiden ist verrückt? Ich, weil ich einen ignoranten Zeitungsmenschen hinrichte, oder Sie, Mister Kershaw, der denkt, dass Helena Boogle bald eine Schnabeltasse braucht? Sie haben die Wahl, junger Mann.“

David erhob sich und ging zur Tür.

„Gut so“, sagte die Alte. „Sie glauben also wirklich nicht, dass es Menschen wie mich gibt?“

„Danke für den Tee, Missis Boogle. Ich rufe jetzt besser Nicole.“

Wieder rollte Helena Boogle mit den Augen.

„Haben Sie das immer noch nicht begriffen? Nicole sitzt vor Ihnen! Sie haben mir nicht zugehört, was? Mann … Sie sind ja schlimmer als Winston Churchill!“

David spürte einen Stich im Magen. Scharf und schnell. Das Zimmer begann sich zu drehen. Danke, Kollegen, vielen, vielen Dank, Kollegen, danke Kollegen danke danke danke danke danke …

„Winston Churchill hat seinen Kaffee damals nicht getrunken. Er hat ihn geschlabbert. Helena Boogle tut so etwas bis heute nicht, Mister Kershaw.“ Bestürzt fügte sie hinzu: „Oh, Nicole, unserem Gast ist nicht gut, befürchte ich.“

David kippte auf die Tischplatte. Es regnete Blätter aus seinem Notizblock. Der Kugelschreiber krachte bergab. Hartes Holz, dachte David noch, als seine Haut reagierte und an ihm herablief. Das Wasserglas zerbrach auf dem Boden. Helena Boogle lachte leise vor sich hin, als sie sich die Falten aus dem Gesicht strich und mit Nicoles Antlitz unverwandt auf den Tisch starrte. „Sie sehen blass aus, junger Mann. Ist Ihnen nicht gut?“

Und dann flüsterte sie ihm Erinnerungen in beide Ohren, bis auch sie im Brei verschwunden waren.

Ich bin fast tausend Jahre alt, David Kershaw. Ich habe Könige kommen und gehen gesehen. Ich war dabei, als Johanna von Orleans am 30. Mai 1431 auf dem Scheiterhaufen brannte und bis zuletzt auf ihren Gott gehofft hat. Aber er kam nicht! Was hätte ich dafür gegeben, Jesus Christus am Kreuz bluten zu sehen, mit einer Lanze in meinen Händen. Stattdessen habe ich die Schlacht von Hastings betrachtet. Normannen gegen Angelsachsen, im Oktober 1066, aus sicherer Entfernung. Ich habe den Soldaten auf dem Feld beim Sterben zugesehen, im Schlamm liegend, in ihrem Blut, wie auch viele Jahre später im Dreißigjährigen Krieg. Ich habe Seelen aus Helmen getrunken, bis mein Durst gestillt war. Ich habe Jahre auf Schlachtfeldern verbracht, folgte der Schwarzen Pest quer durch Europa und tanzte in Hiroshimas Asche!

Ich war dabei, als sie John F. Kennedy 1963 erschossen haben, aus dem Hinterhalt, in Dallas, und wer sich Mühe gibt, entdeckt mich auf den Fotos, die damals gemacht wurden, als der Wagen mit dem Präsidenten davon brauste. Zwanzig Jahre zuvor war ich in den russischen Weiten, um dem Tod bei seiner kalten Arbeit zuzusehen, im Häuserkampf. 1916 stand ich im Stacheldraht von Verdun und habe die Gefallenen gezählt. Unverwundbar bis ans Ende aller Tage. Ich weiß, was Menschen einander antun, wenn sie sich und die Alchemie nicht im Griff haben. Auf die nächsten hundert Jahre, David Kershaw! Wo immer ich sie auch verbringen werde!

Mit einem Kupferlöffel, den sie hinter ihrem Stuhl hervor gezogen hatte, verrührte die alte Dame den Reporter auf der Tischplatte, strich ihn glatt und fischte Fetzen seiner Kleider aus dem Brei. Sie probierte David und drückte sein Gesicht zurück in die Masse. Helena Boogle fuhr ihm versonnen über den Hinterkopf, ehe der Strudel auch ihn versinken ließ.

„Armer Mann, armer Mann“, flüsterte sie, aß mit Appetit und zündete wenig später alle Vorhänge im Haus an.

NOVEMBERNACHT

Rezession! Nachdem Chang die größten Probleme überstanden und dank seines neuen Jobs alle Schulden auf einen Schlag bezahlt hatte, ging er mit dem Taxi auf Nachtfahrt. Die Börsenkrise hatte gerade auch an der Westküste ihre Spuren hinterlassen, und immer noch liefen die Geschäfte schlecht. Aber das hier, mitten in der Nacht, brachte gutes Geld. Sehr gutes Geld, um genau zu sein. Vorausgesetzt, er lieferte anständige Arbeit ab. Die Nachtclubs zogen eine Menge Publikum an, und so kam es, dass Chang nicht lange warten musste. Es war viertel nach zwei, als er an einer belebten Straßenecke einen Mann mittleren Alters ins Taxi steigen ließ. Sehr gut, sagte er sich beim Blick in den Rückspiegel. Um nicht zu sagen: perfekt!

„Guten Morgen“, lallte der Fremde, zog sich den Trenchcoat zurecht und ließ sich in den Rücksitz fallen. Der Club, der gegenüber mit aufwendiger Leuchtreklame warb, hieß DARK LADY und war ein tobendes Menschennest, aus dem Schwärme Betrunkener in den frühen Morgen verschwanden. Der Mann auf dem Rücksitz sah fertig aus, trug eine verrutschte Nickelbrille, hatte sich lange nicht mehr gekämmt und rümpfte die Nase. „Hmmm“, raunte er. „Sie haben vor mir eine Dame gefahren, was?“ Er schlug die Wagentür zu, schnupperte und schnaufte. „Aber egal, bringen Sie mich nur weg von hier, ja?“ Der Fremde schnallte sich an und fügte hinzu: „Ich glaube, ich werde, ach Gott, ich glaube, ich werde verfolgt.“ Diesen Satz verschluckte er regelrecht, in einer übel anmutenden Mischung aus Rülpsen, Niesen und Husten seinem Druck ein obszönes Ventil bietend. „Nun fahren Sie schon!“

„Okay.“ Chang schaltete den Zähler ein. „Wer verfolgt Sie denn?“ Wieder schaute er in den Rückspiegel. Diesmal, um die Straße zu checken.

„CIA“, meinte der Trenchcoat-Mann. „Ich glaube, es ist die CIA.“

„Wirklich?“

„Hören Sie schlecht?“ Der Betrunkene lehnte sich zurück. Das Taxi sauste durch Nebenstraßen auf einen für diese Zeit stark befahrenen Highway. Chang lenkte den Wagen souverän durch die Nacht. An einer Hausfassade hing ein Kinoplakat mit Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis und Sylvester Stallone. „Haben Sie den Film schon … äh, gesehen?“

Der Taxifahrer schüttelte den Kopf.

„Ist ja auch egal … wie heißt du?“

„Chang.“ Der Mann am Steuer konzentrierte sich wieder auf die Straße. „Mein Name ist Chang.“

„Chang!“ Der Betrunkene lächelte mit verschwitztem Gesicht. „Mein Name ist Ken, Chang.“ Er reichte ihm über den Sitz hinweg die Hand. „Bekannt aus Film und Fernsehen.“

„Wo möchten Sie hin, Ken? Wohnen Sie in einem Hotel?“ Chang ließ den Rückspiegel nicht aus den Augen.

„Nein! Wie kommst du darauf? Ich bin auf, uhhhhhhh, ich bin seit Tagen auf der Flucht, und auf der Flucht braucht man kein Hotel, keine Kreditkartenbuchung und kein, wie sagt man, Bewegungsprofil. Ich zahle alles in bar. Da drinnen im Club war alles blond.“ Der Trenchcoat-Mann brachte es fertig, eine Zigarette aus den Tiefen seines Mantels zu fischen. „Rauchverbot, Chang, ist hier im Taxi Rauchen verboten?“

„Nein“, sagte der Fahrer. „Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Wo soll ich Sie hinfahren?“

„Raus aus der Stadt, fahr mich einfach raus aus dieser Stadt und ins nächste Motel. Muss meinen Rausch ausschlafen. Hast du Kinder, Chang?“

„Nein.“ Der Chinese überholte zwei Trucks. „Leider nicht.“

Der Mann namens Ken nickte benommen. „Aber eine Frau? Du hast doch sicher eine Frau, oder?“

„Auch das nicht.“

„Schade“, sagte der Fremde. „Meine, äh, meine Frau wurde vor zwei Tagen weggeholt. Weiß der Teufel, wo sie jetzt ist.“

„Weggeholt? Was soll das heißen?“

„Entführt, Chang, das soll das heißen. Seid ihr kleinen Menschen alle so schwer von Begriff? Ach Mann … sorry, ich, ich glaube, ich hab’ einen über den Durst gekippt.“

Chang nickte stumm. Jahre hatte es gedauert, bis er sich diese Disziplin aneignen konnte. Höflichkeit ist alles, wenn du Erfolg haben willst, hatte Onkel Li zu sagen gepflegt, damals, als er noch Taxi fuhr, um sich über Wasser zu halten. Schalt deine Ohren auf Durchzug, wenn sie dir dumm kommen. Was zählt, ist, dass du sie sicher ans Ziel bringst und dass sie sich wohlfühlen unterwegs. Dann stimmt auch das Trinkgeld.

„Ihre Frau ist entführt worden?“ Chang beobachte Ken.

„Sieht ganz danach aus.“ Der Betrunkene hustete, und Chang sah, dass dem Fremden jetzt Tränen über das Gesicht liefen. „Das machen sie mit allen, die zu viel wissen.“

„Was meinen Sie?“ Sie durchquerten einen Tunnel. „Um was geht es?“

„Ich war mit einem Space Shuttle da oben, Chang.“ Jetzt kurbelte sein Passagier das Seitenfenster hinab, ächzte und zeigte mit seiner rechten Hand steil in den Himmel, während ihm der Fahrtwind ins Gesicht schlug. Er war kaum noch zu verstehen. „Ich bin mit der Discovery geflogen, Chang.“

„Sie sind bei der NASA? Sie sind Astronaut?“

„NASA!“ Ken schlug Chang auf die Schultern. „Du hast noch nie einen wie mich mitgenommen, was?“

„Die Leute erzählen eine Menge, wenn ich sie fahre.“

„Ja, das glaube ich.“ Das klang erstaunlich nüchtern. „Ja, das glaube ich wirklich, kleiner Mann. Aber glaubst du denn auch, dass alle die Wahrheit sagen? Ich meine, glaubst du denn auch, dass die Leute vom Fernsehen alles wissen, was da draußen vor sich geht?“

„Nein“, sagte Chang. „Das glaubt niemand.“

„Na also!“ Der Betrunkene wies Chang an, schneller zu fahren. „CNN lügt, mein Freund. Da oben ist alles ganz anders, als sie uns weismachen wollen.“ Wieder zeigte der Trenchcoat-Mann in den Nachthimmel.

„Was ist anders?“

„Ich habe selbst gesehen, dass alles anders ist, Chang.“

„Aber was denn?“ Der Fahrer lauschte.

Der Fremde hustete zwei endlose Minuten lang. Dann sagte er: „Alles ist ganz anders, als die Hunde uns glauben machen wollen. Sie erzählen uns etwas von Experimenten und fragen sich, ob wir es da oben in der Schwerelosigkeit mit einer Frau machen können, verstehst du, Chang? Sicher haben wir es da oben schon mal mit einer Frau gemacht, aber darum geht es doch gar nicht … Gott, Gott, ohhhhhhhhh, Chang, fahr ran, fahr ran, bitte fahr ran!“

Der Fahrer gehorchte. Der Trenchcoat-Mann lag Sekunden später in einem Vorgarten. Chang stieg aus und stützte ihn.

„Mein Gott, was habe ich nicht alles getrunken.“

„Geht es wieder?“

„Wir fahren weiter“, keuchte der Mann. „Es geht wieder.“ Die Stimme des Fremden klang jetzt klarer. „Chang?“, fragte er ins Licht der entgegenkommenden Autos.

Chang riskierte wieder einen Blick in den Rückspiegel. „Ja?“

Der Trenchcoat-Mann klopfte auf die Rückenlehne. „Wenn du noch alle Sinne beisammen hast, dann lässt du mich sofort aussteigen. Am nächsten Motel. Und dann packst du deinen Koffer. Sofort. Du brauchst viele Lebensmittel, verdammt viele Lebensmittel, warme Kleidung, und dann ab mit dir in die Rocky Mountains oder sonst wo hin, wo niemand wohnt. Und wenn du eine Waffe hast, dann nimm auch sie mit.“

„Ich verstehe nicht, Mister.“ Sie waren wieder auf dem Highway und brausten viel zu schnell durch die Dunkelheit.

„Ich heiße Ken, Chang!“

„Warum sollte ich so etwas tun, Ken?“

Der Fremde lachte wieder sein betrunkenes Lachen und beugte sich nach vorne. „Weil hier in ein paar Tagen die Post abgeht! In ein paar Tagen geht auf der ganzen Welt die Post ab, Mann! Weißt du, wo Sibirien liegt, kleiner Mann?“

„In etwa“, gab Chang zurück. „Hören Sie …“

„Sehr gut, sehr gut!“, rief Ken, jetzt ganz in seinem Element. „Im Juni 1908 hat es da mächtig geknallt, mein Freund. Die Menschen in Russland erzählen sich noch heute davon. Als es damals vom Himmel fiel, hat es im Umkreis von Kilometern alle Bäume umgelegt, Chang. Ganze Wälder! Die haben uns jahrzehntelang verkauft, das sei ein Meteorit oder so etwas gewesen, Chang. Du weißt doch, was ein Meteorit ist?“ Der Fremde stöhnte. „Das Ding hat sich beim Aufschlag einen Kilometer tief in die Erde gebohrt, und viele Jahre haben die Russen danach gegraben, streng geheim, während sie die Welt glauben ließen, sie wüssten von nichts!“

Chang nickte und schielte auf seine Armbanduhr.

Der Fremde sprach unbeirrt weiter. „Alles Unsinn, was sie uns erzählt haben. Chang, du weißt das, ich weiß das. 1986 haben sie das Ding schließlich im Boden gefunden, in fast tausend Meter Tiefe, unversehrt, ohne einen Kratzer. Sie haben das Kernkraftwerk in der Ukraine damals absichtlich den Bach runtergehen lassen, ein paar Tage später, um die Welt von der Geheimoperation in Sibirien abzulenken und ihre Leute zu decken.“

„Es war kein Meteorit, den sie gefunden haben?“

Ken schwieg. Zunächst zumindest. „Das Ding, das sie in Sibirien aus dem Boden geholt haben, ist kugelrund und sehr robust. Wir kennen das Metall nicht, wir kennen die Legierung nicht. Selbst ihr Chinesen kennt das Zeug nicht. Was wir wissen, ist, dass es ein überaus starkes Signal von sich gibt. Einen Puls. Und das nicht erst seit gestern, Chang. Wir haben das allmählich begriffen. Zu Fuß sozusagen.“

„Eine Sonde? Soll das heißen, die Russen haben im Boden eine Sonde gefunden?“

Ken war außer sich. „Der Kandidat gewinnt den Hauptpreis, Leute! Chang bekommt den Hauptpreis, ja, ja, ja! In der Tat, eine Art Spionagesonde, mein Freund, und dieses Ding kam von sehr weit her. Fast achtzig Jahre lang lag sie im Bauch von Mutter Erde, bevor ein Mensch sie zu Gesicht bekommen hat.“ Wieder hustete der Fremde bedrohlich. „Es hat lange gedauert, bis die Russen uns ran gelassen haben. Sie lassen nur jemanden ran, wenn sie wirklich