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Kreaturen, dunkel wie die Nacht und leise wie Schatten.
London 1851
Fürchtest du dich vor der Dunkelheit?
Seit ihrem siebten Lebensjahr kann Mirabelle diese Frage mit einem aufrichtigen Nein beantworten. Damals war sie ihr zum ersten Mal begegnet: der wahren Finsternis. Augen, schwarz wie die Nacht, durchbrochen von lodernden Flammen, und Klauen, die mühelos in der Lage wären, ihr das Herz aus dem Leibe zu reißen.
Und da kamst du auf mich zu. Ohne Furcht. Obwohl ich dir offenbart hatte, was ich wirklich bin.
Kaleigh erfüllt seit Jahren die Pflicht, die jeher auf den Schultern seiner Familie lastet: Um jeden Preis muss er das Portal beschützen, hinter dem sich die seelenlosen Schattenkreaturen verbergen. Zur gleichen Zeit wird London von grausamen Morden in Atem gehalten. Ein alter Feind rückt näher und will nicht bloß die Straßen der Stadt mit Blut tränken, sondern trachtet auch nach dem Leben jener Frau, die ihn einst gerettet hat.
Dieses Flüstern; es nähert sich mir, gefolgt von dem Schatten, der mich zu verschlingen droht.
Hallo, ich bin es, Kaleigh Walsh, der Marquess von Stonebroke. Und ich bin ein Monster. Das ist keineswegs im übertragenen Sinne gemeint. Ich bin in der Lage, dein Innerstes nach außen zu kehren – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Du willst mir nicht im Dunkeln begegnen. Und ganz sicher willst du mich nicht zu deinem Feind. Die Geschichte, in die ich dich entführe, ist düster, kalt und blutig. Auf singende Feen und tanzende Kobolde wirst du verzichten müssen. Auch wenn du dir romantische Auftritte von irgendwelchen Lords und Ladys aus der Londoner Gesellschaft erhoffst, muss ich dich enttäuschen. Es erwarten dich mächtige Hexen, nervtötende Sirenen und eine Gefahr, die alles bedroht, was du liebst. Du bist neugierig auf das geworden, was ich zu erzählen habe? Dann folge mir, aber sei dir eines gewiss: Vertrauen ist eine Eigenschaft, die du dir in meiner Welt nicht leisten kannst.
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Schattenwalzer
Die Finsternis und ihre Beute
Die Tränen der blauen Götter
(Band 1)
von
Selina Wilhelm
Selina Wilhelm, An der Anhaide 18, 76744 Wörth
Copyright © 2024 Selina Wilhelm
Korrektorat:
Svenja Fieting | Lektorat, Korrektorat, Texte
E-Mail: [email protected]
Website: www.lektorat-fieting.de
Coverdesign und Umschlaggestaltung:
Florin Sayer-Gabor www.100covers4you.com Unter Verwendung von Grafiken von Adobe Stock: Tanarch, Photop, Africa Studio, Tarzhanova, Hanna, Bilge; Dreamstime: Oskanov; Canva: kong magics
Innengestaltung:
Charakterillustration: Mila Rosgeber Art, Canva: Gomolach
Die Personen und die Handlung der Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
London 1851
Fürchtest du dich vor der Dunkelheit?
Seit ihrem siebten Lebensjahr kann Mirabelle diese Frage mit einem aufrichtigen Nein beantworten. Damals war sie ihr zum ersten Mal begegnet: der wahren Finsternis. Augen, schwarz wie die Nacht, durchbrochen von lodernden Flammen, und Klauen, die mühelos in der Lage wären, ihr das Herz aus dem Leibe zu reißen.
Kaleigh erfüllt seit Jahren die Pflicht, die jeher auf den Schultern seiner Familie lastet: Um jeden Preis muss er das Portal beschützen, hinter dem sich die seelenlosen Schattenkreaturen verbergen. Zur gleichen Zeit wird London von grausamen Morden in Atem gehalten. Ein alter Feind rückt näher und will nicht bloß die Straßen der Stadt mit Blut tränken, sondern trachtet auch nach dem Leben jener Frau, die ihn einst gerettet hat.
Selina Wilhelm, geboren im Frühling 1989, lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen Töchtern in Wörth am Rhein.
Ihrem Prinzen ist sie 2013 begegnet und wenn sie nicht gerade mit ihren beiden Prinzessinnen Drachen besiegt und mit Miniaturfiguren einer bekannten Hundebande spielt, diskutiert sie mit den Protagonisten ihrer Romane über das Schicksal, dass sie ihnen auferlegt hat.
Für alle, die fantastische Kreaturen lieben, davon träumen auf atemberaubenden Bällen zu tanzen und die Dunkelheit nicht scheuen.
ich bin es, Kaleigh Walsh der Marquess von Stonebroke.
Und ich bin ein Monster.
Das ist keineswegs im übertragenen Sinne gemeint. Ich bin in der Lage, dein Innerstes nach außen zu kehren – und das im wahrsten Sinne des Wortes.
Du willst mir nicht im Dunkeln begegnen. Und ganz sicher willst du mich nicht zu deinem Feind.
Die Geschichte, in die ich dich entführe, ist düster, kalt und blutig.
Auf singende Feen und tanzende Kobolde wirst du verzichten müssen. Auch wenn du dir romantische Auftritte von irgendwelchen Lords und Ladys aus der Londoner Gesellschaft erhoffst, muss ich dich enttäuschen.
Es erwarten dich mächtige Hexen, nervtötende Sirenen und eine Gefahr, die alles bedroht, was du liebst.
Du bist neugierig auf das geworden, was ich zu erzählen habe? Dann folge mir, aber sei dir eines gewiss: Vertrauen ist eine Eigenschaft, die du dir in meiner Welt nicht leisten kannst.
Als Schatten gelangten sie einst in die Welt der Menschen:
Kreaturen, dunkel wie die Nacht. Seelenlos fielen sie über die Geschöpfe der Erde her. Kannten weder Mitgefühl noch Erbarmen.
Gelenkt von unstillbarer Gier nach dem Tod hinterließen sie einen Pfad gepflastert aus Blut und Leid.
Eines Tages begegnete eine von ihnen einer Hexe. Bei dem Anblick dieses wunderschönen Wesens widerstand die Schattenkreatur ihrem Blutrausch.
Zum Dank, dass sie ihr Leben verschont hatte, schenkte ihr die Hexe eine Seele.
Ende des 6447. Sonnenjahres nach Beginn der Aufzeichnungen durch die gelehrten Hexen Valsorims
(Zur gleichen Zeit wird in der Welt der Menschen das Jahr 1833 geschrieben).
Die Stadt Tiruza
Tapfer hielt sie den Blick geradeaus, versuchte, nicht auf die Berge von Leichen zu blicken, die zu ihrer Seite aufgetürmt lagen. Darauf wartend, dass man sie wegkarrte wie den Mist der Reittiere.
Sie würde die Gefühle nicht an sich heranlassen, die der Anblick der entstellten Körper in ihr hervorrief:
Mitleid für diese armen Geschöpfe.
Furcht, dass das erst der Anfang gewesen sein könnte.
Abscheu für jenen, der das Leid verursacht hatte.
Trauer, da dies nur geschehen war, weil ihre Eltern nicht mehr am Leben waren.
Wut, weil sie Eleen mit ihm allein gelassen hatten.
Zu vielen von Tiruzas Bewohnern hatte Eleen beim Sterben zusehen müssen.
Selbst jetzt, nachdem ihre Seelen schon lange ins Reich auf der anderen Seite geglitten waren, waren ihre Gesichter gezeichnet von dem Schmerz der Verätzungen, die der Regen auf ihren Körpern hinterlassen hatte.
Niemals würde Eleen ihre gequälten Schreie vergessen. Das Winden ihrer Leiber, während ihre Haut sich aufgelöst hatte und ihre Muskeln und schließlich die Knochen zum Vorschein gekommen waren.
Doch der Regen war nicht schuld an ihrem Tod.
Das war ganz allein ihr Bruder.
Nachdem Cirdec sie gezwungen hatte, den Hinrichtungen beizuwohnen, hatte er ihr nicht länger Beachtung geschenkt. Stattdessen war er dabei, jene zu bestrafen, die versucht hatten, dem letzten Willen ihrer Eltern Folge zu leisten: zu verhindern, dass er der neue Herrscher über Tiruza wurde.
Sie beschleunigte ihre Schritte und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort.
Mama. Papa.
Sie waren jetzt tot. Ermordet von ihrem Sohn, der noch keine sechzehn Jahre alt war.
Und er würde auch sie, seine kleine Schwester, töten, wenn sie ihm zu lästig werden würde.
Davon war sie überzeugt.
Vielleicht sollte ich einfach verschwinden, dachte sie und nahm den Weg zwischen den Bäumen des Waldes, der unterhalb der Klippe lag, auf der Tiruza thronte.
Es war verboten, diesen Wald zu betreten.
Doch niemand hatte ihr Beachtung geschenkt, als sie aus der Stadt hinausgelaufen war. Fort von dem Elend, in dem diese versank.
Das Sonnenjahr näherte sich dem Ende und Eleen graute es vor der ersten Mondnacht ohne ihre geliebten Eltern. Vor dem, was mit ihrem Bruder als Herrscher auf sie und die Bevölkerung zukommen würde.
Und so lief sie immer weiter in den Wald hinein. Der Chor der Tiere kam einer traurigen Melodie gleich, die ihr Herz noch schwerer werden ließ.
Erst als sich vor ihr der Strand auftat und das Geräusch der Wellen die Melodie vertrieb, fühlte sie sich ein wenig leichter.
Zwar war es ebenso verboten, diesen verfluchten Strand zu betreten wie das Waldstück, aber sie hatte mehr Angst vor ihrem Bruder.
Die Strahlen der kleinsten der drei Sonnen kitzelten ihr Gesicht und sie zog sich die Schuhe aus.
Die ermüdenden Lichter ließen die blauen Pigmente im Sand wundersam glitzern, als liefe sie über unzählige Millionen winziger Diamanten.
Er war angenehm warm und sie vergrub ihre Zehen darin.
Es fühlte sich an wie eine Umarmung.
Hier war es ruhig. Keine Schreie. Kein Gestank nach verätztem Fleisch. Kein Angstschweiß, der die Haut der Bewohner von Tiruza benetzte, weil sie fürchten mussten, die nächsten zu sein.
Kein Cirdec.
Hier war sie allein …
Sie stutzte.
Nein, da lag sie wohl falsch. Dort vorne – am Wasser –stand jemand.
Eleen legte die Hand vor die Augen, um gegen das Sonnenlicht sehen zu können. Wer auch immer das war, er war groß. Sehr sogar.
Langsam ging sie auf die seltsame Gestalt zu, als eine Wolke vor die Sonnen zog und das blendende Licht erlöschen ließ.
Ein Mann.
Zumindest dem Umriss und dem breiten Oberkörper nach zu urteilen.
Alles andere …
Eine Einbildung, ja, das musste es sein. Sie kniff die Augen zusammen und öffnete sie dann vorsichtig wieder.
Er war noch da.
Und jetzt wandte er sich ihr sogar zu.
Sein Oberkörper war mit einer Art Schuppen bedeckt und von der Statur her dem der Landmänner ähnlich. Doch er schimmerte bläulich wie der Sand unter ihren Füßen. Sein Haar war kein Haar. Es war von fester Konsistenz und verlief wie ein flackerndes, blau leuchtendes Feuer über seinen Kopf. Seine Iriden waren von einem intensiven Blau, das geradewegs aus einem Azurit gemeißelt zu sein schien.
Mehr fasziniert als verängstigt blieb Eleen stehen.
Er war so groß, dass sie selbst aus dieser Distanz ihren Kopf in den Nacken legen musste, um weiter sein Gesicht bestaunen zu können. Die Linien um seine Mund- und Kinnpartie waren kantiger, als sie je gesehen hatte, und seine spitzen Wangenknochen verliehen seiner Erscheinung einen nicht mehr menschlichen Zug.
An diesem Strand war seit Jahrhunderten niemand mehr gesehen geworden.
Und ganz gewiss kein … Gott.
Aber selbst ein Geschöpf wie sie, das in ihrem Leben bereits Dinge gesehen hatte, die kein Kind von sechs Jahren sehen sollte, war von dem Anblick verzaubert.
Was konnte einen blauen Gott hierher, zurück aufs Land, verschlagen haben?
Eleen legte den Kopf schief. Das war wirklich seltsam. Würde er sie überhaupt verstehen, wenn sie mit ihm spräche?
»Warum bist du hier?«, erkundigte sie sich, ohne über die möglichen Konsequenzen nachzudenken.
Der Gott musterte sie skeptisch, doch keineswegs feindselig. »Warum bist du hier?«, fragte er stattdessen. »Dieser Strand ist für deinesgleichen verboten, soweit mir bekannt ist.«
Also, er verstand sie auf jeden Fall und sprach auch ihre Sprache. Eleen bohrte ihre nackten Zehen tiefer in den Sand und schluckte. Wären ihre Eltern noch am Leben, wäre es anders. Dann wäre sie niemals hierhergekommen.
»Es interessiert niemanden, wohin ich gehe.« Ihr Bruder würde es vermutlich nicht einmal bemerken, wenn sie nie wieder auftauchte.
Der Gott lupfte eine blaue Augenbraue. »Ist das so?«
Eleen zuckte mit den Achseln. »Mein Bruder ist jetzt der Herrscher über dieses Land. Er interessiert sich bloß dafür, Angst und Schrecken zu verbreiten, aber nicht für mich. Also, was machst du hier?«
Ein Zucken an seinem linken Mundwinkel ließ sich als ein Schmunzeln verstehen, aber ebenso konnte sie sich auch irren.
»Den Sand unter meinen Füßen genießen«, entgegnete er.
Eleen starrte auf ihre eigenen Zehen hinab. Sie musste kichern. »Das fühlt sich toll an, nicht wahr?«
Als sie wieder aufsah, musterte dieser Gott sie, sagte aber nichts weiter.
»Wie heißt du?«, fragte sie stattdessen. Sie war schließlich ein Kind und die waren bekanntlich ganz schön neugierig.
Es fehlte nur noch, dass er die Hände vor der Brust verschränkte. »So klein und schon so wissbegierig.«
Eleen glaubte schon, er würde ihr seinen Namen nicht verraten und dass sie wirklich zu neugierig gewesen war.
»Aruzir. Mein Name ist Aruzir.«
Hätte sie nicht so weit weggestanden, hätte sie ihm ihre Hand entgegengestreckt. »Ich bin Eleen.« Ob dieser Fluch auch bei direkter Berührung mit einem der Götter Bestand hatte? »Ich dachte, seit jenem Tag hättet ihr dem Land abgeschworen.«
Aruzir musterte sie weiterhin, ehe er einen Schritt auf sie zukam. Eleen überlegte kurz, ob sie zurückweichen sollte. Sterben wollte sie nämlich nicht, auch wenn ihre derzeitige Situation ihr ohnehin keine allzu lange Lebensdauer voraussagte.
»Du weißt sehr viel für einen kleinen Winzling wie dich.«
Wollte der Gott sie wirklich beleidigen? Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte böse. »Ich bin kein Winzling.«
Eleen wusste nicht so recht, wie sie diesen Gott einschätzen sollte.
Aber Angst hatte sie definitiv nicht vor ihm.
Was wahrscheinlich ziemlich dumm war.
»Habt ihr nicht genug Sand auf dem Meeresboden?«, fragte sie, um auf seine Bemerkung von eben zurückzukommen.
Dieses Mal war es mit großer Sicherheit ein Schmunzeln. »Dieser hier ist von den Sonnen geküsst.«
»Du hast eine komische Art, dich auszudrücken.« Sie runzelte die Stirn. »Du siehst nachdenklich aus.«
»Ich denkenach.«
»Worüber?«
»Wie es hätte sein können, wenn …« Finsternis, wie in dem Moment, wenn die Mondnacht einkehrte, tauschte seinen Platz mit der Leichtigkeit, die eben noch auf seinen Zügen gelegen hatte. »Du solltest heimkehren«, meinte er schließlich.
Eleen dachte überhaupt nicht daran, das zu tun.
»Bist du der Gott, der uns verflucht hat?«
Ein Zucken ging durch seinen Körper, ehe er die Spannung einer Bogensehne annahm. »Nein.«
»Ist dieser Gott noch da, dessen Kind von dieser Hexe Abigail getötet wurde?« Sie sollte wirklich langsam aufhören, diese Fragen zu stellen. Doch wer wusste schon, ob sie jemals wieder die Gelegenheit bekommen würde, mit einem von den Göttern zu sprechen.
»Ja. Er ist schließlich unsterblich. Ich dachte, du weißt alles, Winzling?«
»Na, ich meinte auch nicht, dass er gestorben ist, aber ich weiß, dass man vor Kummer vergehen kann, und ein Kind zu verlieren würde das auch mit einem Gott machen, oder nicht? Mama hat gesagt, ihr habt eine Seele und ein Herz wie wir. Dass wir uns gleichen würden, außer dass wir eines Tages sterben müssten.«
Eine Traurigkeit überschattete das Gesicht des Gottes und Eleen erwischte sich bei dem Gedanken, ihn trösten zu wollen. Er wirkte wirklich sehr stark und die Schuppen, die seinen Körper bedeckten … Jede Einzelne davon sah aus wie die Spitze eines scharfen Dolches.
»Kennst du ihn, diesen einen Gott?« Wer wusste schon, wie viele es von ihnen da draußen gab. Niemand hatte je das Ende dieses Meeres besegelt, auch nicht, als es den Fluch noch nicht gegeben hatte.
»Er ist mein Vater.«
Sie trat noch einen Schritt an ihn heran. Diese Antwort hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Aber das erklärte den Kummer in seinem Blick. »Ist er noch sehr traurig?«, erkundigte sie sich nun vorsichtig.
»Er ist … ein anderer.«
»Ich verstehe es.«
»Was verstehst du, Winzling?«
Wollte der Gott sie etwa trotz dieses betrüblichen Themas ärgern? »Dass er das getan hat. Ich meine, dass er die Landbewohner hasst und uns diesen Fluch auferlegt hat. Meine Mama sagte immer, dass Unsterblichkeit niemals die Liebe zu den eigenen Kindern herabsetzen sollte. Diese böse Hexe hat es nicht anders verdient, weil sie ihr gemeinsames Kind getötet hat. Aber sie ist fort, für immer. Warum könnt ihr den Fluch dann nicht aufheben?«
Der Gott blickte zurück aufs Meer, das unruhig geworden war. »Flüche kann man nicht einfach so aufheben. Und selbst wenn ich dir zustimmen würde … Mein Vater verzeiht nie jemandem irgendetwas.«
Eleen folgte dem Blick des Gottes zum Horizont hinaus. »Aruzir?«, fragte sie leise. »Was verbirgt sich dort hinten, wo das Meer endet?«
Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen, doch wagte nicht, ihn anzusehen. »Die andere Seite.«
Eleen schluckte. »Dort, wo man nach dem Tod hingeht?«
»Dort, wo ich niemals hingelangen werde.« Die Stimme des Gottes klang seltsam bedrückt.
»Weil du nicht sterben kannst?«, fragte sie und überlegte, ob ihre Eltern jetzt wohl dort waren und sie über die unruhige See hinweg dabei sehen konnten, wie sie mit einem Gott sprach.
Aruzir antwortete nicht. Doch anstatt glücklich darüber zu sein, dass er niemals sterben musste, wirkte er von Kummer ergriffen, begleitet von einer tiefen Sehnsucht, die auch sie erfasste.
Der Schatten und sein Licht
Niemals werde ich das Gefühl deiner wärmenden Hand vergessen, als du die meine zum letzten Mal hieltest.
England, das Anwesen Lower Park
Spätsommer 1835
Sie blickte von der Hand ihres Vaters, die ihre fest umschloss, zu dem monströs wirkenden Anwesen, das sich vor ihnen erstreckte.
Auf dem mit Kies ausgelegten Weg, den zu skurrilen Figuren geschnittene Hecken säumten, gingen sie geradewegs darauf zu. Links und rechts neben dem Eingang ragten massive Steinsäulen in die Höhe, die einen darüberliegenden Erker hielten. In den Fenstern spiegelte sich das Licht der untergehenden Sonne und ließ das Herrenhaus aus Mirabelles Sicht noch schauderhafter erscheinen.
Einen halben Tagesritt hatte die Fahrt mit der Kutsche bis hierher nach Lower Park gedauert.
Das Fehlen jeglicher Blumen und Farben ließ die Gärten um das Anwesen herum karg und lieblos erscheinen, obwohl sich der Gärtner sichtlich Mühe mit dem Schneiden der Hecken gegeben hatte – auch wenn seine Kunstwerke durchaus Platz in einem Gruselroman gefunden hätten.
Umgeben war das Grundstück von einem dichten Wald, der selbst in den Sommermonaten die Wärme von diesem Fleckchen Erde fernzuhalten schien.
Mirabelles Vater, Mr. Michael Lewis, hatte darauf bestanden, die Kutsche vor den Toren des Anwesens abzustellen, anstatt, wie es üblich war, bis direkt vor den Eingang zu fahren.
Mirabelle war aufgefallen, dass er seit der Abreise aus ihrem bescheidenen Londoner Stadthaus nervös wirkte. Während der Fahrt hatte er beinahe ununterbrochen aus dem Kutschenfenster gestarrt. So in sich gekehrt hatte sie ihn selten erlebt. Zum Beispiel, wenn er an seine verstorbene Frau – Mirabelles Mutter – dachte, an die sie selbst sich nicht mehr erinnern konnte.
Der Kies knirschte unter ihren Stiefeln und sie spürte den Druck seiner Finger, der sich verstärkte, je näher sie dem Eingang kamen. Seit einigen Jahren arbeitete Mr. Lewis als Anwalt für den Duke of Lower Park Lord Callum Kingston. Das Einkommen reichte aus, um das Mädcheninternat zu bezahlen, auf das sie ging, und eine anständige Mitgift für ihr Debüt, das noch elf Jahre in der Zukunft lag, beiseitezulegen. Ihre Kleider waren ordentlich und nicht verschlissen, aber sie besaß dafür lediglich ein halbes Dutzend davon. Und zwei paar Schuhe. Und einen entzückenden Hut, den sie auch jetzt trug, obwohl die Sonne bereits hinter ihren Rücken unterging. Sie liebte die bunten Federn, die an der Seite mit einem Band zusammengebunden waren, und die feinen Perlen. Wenn sie ihn trug, fühlte sie sich schon wie eine richtige junge Dame.
Sie besuchte ihren Vater immer den Sommer über und gemeinsam verbrachten sie die meiste Zeit bei ihrer Tante Penelopé. Sie verwöhnte Vater und Tochter mit allerlei Köstlichkeiten.
Mirabelle konnte es kaum erwarten, diesen furchteinflößenden Ort wieder hinter sich zu lassen und in das kleine Cottage zu fahren, in dem Penelopé lebte.
Schuld daran, dass ihr Vater dieses Jahr einen Umweg machen musste, war, dass sie einen Tag eher aus dem Internat heimgekehrt war. Ansonsten hätte Mr. Lewis seine Tochter nicht mit nach Lower Park genommen.
Mirabelle rief sich seinen entsetzten Gesichtsausdruck in Erinnerung, als sie plötzlich vor ihm gestanden hatte. Dabei hatte sie ihn mit ihrer früheren Ankunft überraschen wollen. Seine Reaktion hatte ihre Freude ein wenig getrübt. Aber nur, bis er sie stürmisch in die Arme geschlossen und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt hatte.
Die ersten Schatten legten sich auf die Fassade des Herrenhauses und kündigten den Abend an. Mirabelle lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Bisher hatte sie ihren Vater nie bei den Reisen zu seinen Mandanten begleitet. Er hatte immer dafür gesorgt, dass er seine geschäftlichen Termine auf die Zeiten legte, in denen sie im Internat war. Von seinen Erzählungen wusste sie aber, dass es ihn nicht gerade freute, wenn mal wieder ein Besuch auf Lower Park bevorstand.
Jetzt gewann sie auch eine vage Vorstellung davon, warum das so war.
Es war beängstigend.
Und als hätte sie geahnt, dass an diesem Tag etwas geschehen würde, das ihr Leben für immer veränderte, blieb eine kalte Spur auf ihrer Hand zurück, als ihr Vater sie losließ und vor ihr die wenigen Stufen hochging, die zu dem doppeltürigen Eingang führten.
Bevor er den übergroßen Messingring in die Hand nahm, an dessen unterem Ende die Fratze einer grässlichen Kreatur – zumindest sah es für Mirabelle wie eben eine solche aus – prangte, drehte er sich zu ihr um. Er nahm seinen Zylinder ab und lächelte sie liebevoll an.
»Morgen Abend essen wir zusammen die leckeren Pfannkuchen von Penelopé.«
Darauf freute sie sich seit Wochen. Und die freudige Erwartung, die sie daraufhin im Gesicht ihres Vaters ablesen zu können glaubte, verdrängte für einen Moment das schlechte Gefühl in ihrem Bauch. Die Sommermonate bei Penelopé waren wie ein Gedicht. Ein Gemisch aus duftender Schokolade, Waldbeeren und Minztee.
Der Gedanke daran, barfuß über die Wiesen zu rennen und mit ihrem Vater durch die Wälder zu streifen, um Vögel und andere Tiere zu beobachten, ließ ihr Herz vor Aufregung schneller schlagen.
Der dumpfe, laute Knall, den der Türknauf verursachte, dämpfte diese Vorfreude rasch wieder. Das beunruhigende Gefühl in ihrer Magengegend kehrte zurück.
Mirabelle rieb sich die Arme, als sie die Treppenstufen ebenfalls hinaufstieg.
Die Tür ging auf.
Klamme Kälte strömte ihr entgegen, noch bevor ein hochgewachsener und hagerer Butler zu ihnen hinaustrat und erst ihren Vater, dann sie in Augenschein nahm.
Ob ihr Vater sie ebenfalls bemerkt hatte, diese Veränderung der Luft? Oder war es lediglich Mirabelles Einbildung und der Tatsache, dass ihr dieses Anwesen Furcht einjagte, geschuldet, dass sie etwas wahrzunehmen glaubte, das nicht existierte?
Falls ihr Empfinden nicht ihrer Fantasie entsprang, ließ sich ihr Vater zumindest nichts anmerken. Er grüßte den Mann freundlich.
»Mr. Lewis, Sie werden bereits erwartet.« Auf dem Gesicht des Butlers war keinerlei Gefühlsregung zu erkennen. Höchstens ein Hauch von Arroganz. Mirabelle wusste schon jetzt, dass sie ihn nicht mochte. Aber das spielte wohl kaum eine Rolle, da sie ihm nach diesem Tag bestimmt nicht noch einmal begegnen würde. Sie würden sich hier nicht lange aufhalten, hatte ihr Vater ihr versprochen.
Sie verkniff sich, dem Butler die Zunge herauszustrecken. Stattdessen murmelte sie, wie es sich für ein wohlerzogenes Mädchen gehörte, ein zaghaftes »Guten Abend, Sir«, bevor sie sich dichter an ihren Vater stellte.
Während der Butler dem Gast Hut und Gehstock abnahm, drehte sich Mirabelle noch einmal herum.
Die Sonne war dabei, hinter den Spitzen der Nadelbäume zu verschwinden. Der Himmel in ihrer unmittelbaren Nähe färbte sich blutrot.
War das Rot bei Sonnenuntergang immer so intensiv?
»Mirabelle.«
Sie erschrak, als sie ihren Namen zu hören meinte. Herangetragen von der seichten Brise, die in diesem Moment durch ihr Haar streifte.
Sie stolperte nach hinten und stieß gegen ihren Vater, der dem Butler gerade hineinfolgte.
»Entschuldige, Papa«, haspelte sie rasch.
Das seltsame, bedrückende Gefühl in ihr wuchs. Eine plötzliche Kälte erfasste sie und ließ sie am ganzen Leib frösteln.
Mirabelle ignorierte tapfer den Drang, am Mantelzipfel ihres Vaters zu ziehen und ihn anzuflehen, wieder zu gehen.
Sie wollte nicht hier sein: an diesem Ort.
Ein Zucken durchfuhr sie, als die Tür mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fiel. Das Geräusch hallte von den Wänden wider.
Es hörte sich endgültig an.
Trotz der Beklommenheit, die Mirabelle verspürte, drängte sich ihre Neugierde in den Vordergrund. Sie sah sich in der weitläufigen Eingangshalle um. An zwei Ecken standen mannshohe Kerzenleuchter, in denen schwache Lichter flackerten. Sie schafften es kaum, die golden umrahmten Gemälde zu beleuchten, die an den Wänden hingen.
»Bitte hier entlang«, sagte der Butler. Seine Stimme war ebenso bar jeglicher Emotion wie sein Gesichtsausdruck.
Mr. Lewis berührte seine Tochter an der Schulter, forderte sie sanft auf, dem Mann in einen dunklen Korridor zu folgen.
In der Ferne erklang der Gong einer Standuhr. Der Ton war so intensiv, dass er in Mirabelles Eingeweiden zu vibrieren schien.
Im Korridor angelangt, lief ihr Vater mit dem Butler voraus. Das Echo ihrer Schritte wurde von einem dunkelroten Teppich verschluckt. In für Mirabelles Empfinden zu großen Abständen hingen Kerzenleuchter an den Wänden, die den Weg gerade hell genug erleuchteten, dass man sah, wohin man trat.
Ein leises Quietschen ließ sie innehalten. Eine Bewegung, rechts von Mirabelle, zog ihre Aufmerksamkeit vom Rücken ihres Vaters zu der Tür, auf deren Höhe sie gerade stand.
Fahles Licht schimmerte durch den Spalt. Ein Augenpaar in einem Blau, das sie nie zuvor gesehen hatte, starrte sie direkt an.
Mirabelle rührte sich nicht, während die Männer weiter vorangingen. Zögerlich machte sie einen Schritt auf die Tür zu. Auch wenn sie nicht viel durch den Spalt erkennen konnte, musste es sich um ein Kind handeln. Einen Jungen, schätzungsweise wenige Jahre älter als sie. Er überragte sie vielleicht um einen halben Kopf. Sein Gesicht war umrahmt von Haar, so hell, dass es silbern leuchtete.
Noch nie hatte Mirabelle einen so hübschen Jungen gesehen.
Aber so anziehend seine Iriden auch auf sie wirkten, er sah traurig aus, fand sie, mit einem Anflug von Bedauern.
Sie wäre wohl auch bekümmert, wenn sie auf diesem Anwesen leben müsste.
Mirabelle war fasziniert und erschrocken zugleich.
Und erleichtert, musste sie sich eingestehen. Die Anwesenheit eines anderen Kindes nahm ihr ein wenig ihrer Beklommenheit.
Vielleicht könnten sie ja zusammen spielen, während ihr Vater seinen geschäftlichen Angelegenheiten nachging.
Sie lächelte den Jungen an, öffnete den Mund, um ein »Hallo« zu sagen, als sie auf der anderen Seite Schritte vernahm.
»Du sollst da weg!«, zischte eine weibliche Stimme. Ein Schatten huschte hinter dem Kind vorbei. Das Gesicht einer jungen Frau. Dann, mit einem Ruck, war die Tür zu.
Verdattert starrte sie auf das dunkle Holz.
»Mirabelle, kommst du?«, rief ihr Vater. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Männer bereits ein gutes Stück vorangegangen und zwei Zimmer weiter stehen geblieben waren.
Rasch schloss Mirabelle zu den beiden auf.
»Die kleine Miss kann hier warten.« Der Butler wies mit ausgestrecktem Arm in einen düsteren Salon.
»Papa?« Verunsichert sah sie zu ihrem Vater hoch. Seine Nervosität, die ihm anzusehen war, verstärkte ihr Unbehagen. Mit einem Lächeln, das ihr gewiss Zuversicht schenken sollte, kniete er sich zu ihr auf den Boden. Er nahm ihre Hände.
»Geh hinein und warte dort auf mich. Ich verspreche dir, es wird nicht lange dauern und dann lassen wir uns von Penelopé verwöhnen.« Er zwinkerte ihr zu, nahm ihr den Hut vom Kopf und fuhr ihr durch das leicht gewellte, blonde Haar.
Mirabelle brachte bloß ein Nicken zustande. Sie drückte ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und folgte dem unheimlichen Butler in das Zimmer.
Brav setzte sie sich auf einen der Stühle vor den erloschenen Kamin und blieb mit der Hoffnung zurück, das Gespräch würde nicht allzu lange dauern.
Sie lauschte den Schritten der Männer, bis sie in der Ferne verklungen waren, und konzentrierte sich dann auf ihre Füße, die in der Luft baumelten, weil sie noch nicht bis hinunter auf den Boden reichten. Der Unterrock ihres blauen Kleides bauschte sich auf, was sie dazu nutzte, die scheinbar unzähligen Falten darin zu zählen.
Es dauerte nicht lange, da verschwanden auch die letzten Lichtstrahlen und ließen Mirabelle mit dem schwachen Schein einer Öllampe zurück, die über dem Kaminsims hing.
So reich der Herr des Hauses auch sein mochte, er sparte wohl an Öl und Kerzen. Selbst ihr Vater, der zwar nicht arm, aber auch weit davon entfernt war, vermögend zu sein, sorgte für ausreichend Licht und Wärme in ihrem Zuhause.
Schatten huschten über die dunkel vertäfelten Wände hinweg.
Mirabelle ballte ihre Hände zu Fäusten und ermahnte sich, sich nicht von ihrer Fantasie ins Boxhorn jagen zu lassen.
Sie war erst sieben Jahre alt, aber ihr war natürlich klar, dass es so etwas wie Geister oder Gespenster nicht gab.
Trotzdem fürchtete sie sich.
Sie versuchte, sich die Schatten als Paare vorzustellen, die im Takt eines Walzers über eine unsichtbare Tanzfläche wirbelten.
Eine ganze Weile hielt sie es aus, fast regungslos zu verharren, bis in der Ferne ein weiteres Mal die Uhr schlug. Da wurde ihr bewusst, dass sie schon über eine Stunde hier saß.
Der Popo tat ihr allmählich weh. Sie stellte sich auf die Füße und rieb sich undamenhaft das Hinterteil.
Es war so still, dass leicht der Eindruck entstehen konnte, sie wäre mutterseelenallein auf diesem Anwesen.
Sie musste an den Jungen denken, den sie vorhin gesehen hatte.
Ein Pfeifen, als streifte der Wind durch die Korridore, drang zu ihr in den Salon.
Das Geräusch wandelte sich zu etwas, dass sich in ihren Ohren anhörte wie ein leises Wimmern.
Mirabelle erschauderte. Sie schlang die Arme um ihre Mitte und starrte die verschlossene Tür an, als müsse sie fürchten, dass jeden Moment ein Geist hereinkäme.
Entgegen ihrem Verstand, der ihr zurief, es nicht zu tun, ging sie auf sie zu.
Sie drückte ihr Ohr gegen das schwere Kirschholz und lauschte.
Da war es wieder.
Sie zögerte kurz, bevor sie die Finger um den kühlen Knauf schloss. Geräuschlos glitt die Tür auf und Mirabelle trat in den dunklen Korridor hinaus.
Der Geruch nach erloschenen Kerzen lag in der Luft und Mirabelle meinte kurz, sich das Wimmern bloß eingebildet zu haben, als es erneut zu hören war.
Dieses Mal lauter. Näher.
Mirabelle wagte nicht zu fragen, wer da sei. Stattdessen schloss sie hinter sich die Tür und schlich in die entgegengesetzte Richtung, aus der sie vorhin gekommen war.
Das war dumm von ihr und ganz bestimmt nicht das Verhalten eines wohlerzogenen Mädchens. Auf keinen Fall wollte sie ihrem Vater Ärger bereiten. Sie selbst war verblüfft, dass sie es wagte, völlig allein auf Erkundungstour zu gehen und einem Geräusch zu folgen, das ihr eine Gänsehaut bereitete.
Am Ende des Korridors lag eine Tür. Sie war nicht verschlossen. Mirabelle musste lediglich dagegen drücken und mit einem Ächzen glitt sie auf.
Das gespenstische Geräusch ließ sie einen Schritt zurückweichen, ehe sie erneut den Mut aufbrachte und in das dahinterliegende Zimmer lugte.
Nur dass es kein Zimmer war. Es war ein Treppenabgang.
Steinerne Stufen führten einen schmalen Weg hinunter.
Der Geruch, der ihr entgegenschlug, ließ Mirabelles Magen rebellieren.
Es war eine Mischung aus Moder und … Urin. Sie presste sich die Hand vor Mund und Nase und wäre wohl auch auf der Stelle umgekehrt, hätte dieses traurige Klagen, das von unterhalb der Treppe zu ihr drang, nicht ihren kleinen Beschützerinstinkt geweckt. So wie sie den Drang verspürt hatte, die Katzenjungen zu retten, die ansonsten von der Internatsleitung ertränkt worden wären.
Das Wimmern … Es hörte sich an, als käme es von einem Kind.
Das konnte sie doch nicht einfach ignorieren!
Ein schwaches Licht gab genug Helligkeit, um die Umrisse der Stufen preiszugeben, sodass sie gefahrlos hinabgehen konnte.
Geh dort nicht hinunter, schrie die Vernunft in ihr.
Doch welches Mädchen in ihrem Alter war schon vernünftig? Die Neugierde siegte, obwohl sich vor Furcht ein Schweißfilm auf Mirabelles Unterarmen gebildet hatte.
Je weiter sie nach unten kam, desto kälter wurde es.
Sie stieg die letzte Stufe hinunter. »Hallo?«, flüsterte sie zaghaft. »Ist da jemand?«
Mehrere trommelnde Herzschläge lang Stille.
Dann … ein Klirren. Es ähnelte dem Geräusch von aneinanderrasselnden Ketten, wenn sich eine Kutsche in Bewegung setzte.
Vor Angst hätte Mirabelle beinahe Pipi gemacht, so sehr erschrak sie. Sie kniff die Beine zusammen und gab sich innerlich einen Ruck.
»Hallo?« Ihre Stimme war ein leises Krächzen, das von den feuchten Wänden widerhallte.
Der Raum, aus dem das schwache Licht drang, war fensterlos. Der Gestank nach Fäkalien so stark, dass sie kaum zu atmen vermochte.
Mirabelle erkannte, dass eine Öllampe dieses schwache Licht erzeugte. Sie nahm sie hoch und wandte sich der anderen Seite des Raumes zu. Es war ihr unmöglich zu sagen, wie groß er war, da das Licht nicht ausreichte, um ihn vollends auszuleuchten.
Mit klopfendem Herzen ging sie vorwärts und mit jedem Schritt verdrängte das Licht die Schwärze.
Vor ihr tauchten Gitterstäbe auf. Zögerlich näherte sie sich, als sie ein weiteres Wimmern hörte.
Unmittelbar vor sich.
Anstatt zurückzuweichen, verkrampfte sie.
Sie wagte nicht zu atmen, während sie mit zitternder Hand die Öllampe ein wenig höher hielt.
Um Haaresbreite wäre sie ihr beinahe aus den Fingern geglitten.
Ihre Lungen verlangten nach Sauerstoff, während sie weiter regungslos verharrte und in das Gesicht starrte, das sich vor ihr abzeichnete.
Augen so düster, dass sie gänzlich schwarz zu sein schienen. Das Gesicht, zu dem sie gehörten, war blass, die Haut um die Wangenknochen eingefallen und von langem, schwarzem Haar umrahmt.
Nach Luft ringend, wich sie zurück.
Das war ein Junge, stellte sie mit Bestürzung fest.
Wer sperrte denn einen Jungen ein?
Entgegen all ihrer Vernunft trat sie wieder auf ihn zu, umfasste einen der Stäbe und brachte ihr Gesicht näher heran.
Die Hände des Jungen waren mit Eisenringen gefesselt, von denen aus Ketten hinter ihm in die Dunkelheit führten. Er trug nicht einmal einen Fetzen am Oberkörper und seine Hose war an etlichen Stellen zerrissen und schmutzig.
Das war grausam. So unartig konnte kein Kind sein, dass es das verdiente.
Mirabelle hatte schon gehört, dass manche Eltern ihre Kinder auf ihre Zimmer sperrten; manchmal bekamen sie auch den Popo versohlt, wenn sie ganz arg frech gewesen waren.
Aber das?
Der ungewöhnlich düstere Blick des Jungen verfing sich mit ihrem und wieder vergaß Mirabelle, zu atmen.
»Wie heißt du?«, gelang es ihr schließlich, zu fragen. Wobei ihre Stimme mehr dem Quäken eines frisch geschlüpften Entleins glich.
Keine Antwort.
»Warum hat man dich hier eingesperrt?«, versuchte sie es weiter.
Sie war verwirrt, bestürzt und fühlte sich ganz und gar hilflos.
Nur ihre Angst, die war verschwunden.
Der Junge blieb stumm. Mirabelle konnte nur wahrnehmen, dass er seine Kiefer aufeinanderpresste. Er drehte seinen Kopf weg. Dadurch sah Mirabelle die roten Striemen. Unzählige davon, die im flackernden Schein der Öllampe hervorstachen. Angetrocknetes Blut.
Der Anblick brannte sich in ihre bisher unbekümmerte Seele. Riss sie aus dem behüteten Leben, das sie führen durfte, und eröffnete ihr die Sicht auf eine Welt, die ihr bis zu diesem Moment verborgen geblieben war.
Natürlich hatte Mirabelle keine Ahnung vom Erwachsenenleben, doch ihr Vater hatte sie stets gelehrt, dass Gewalt nicht in Ordnung war.
Erst recht nicht bei Kindern, ganz gleich, was sie angestellt haben mochten. Auch nicht ein Klatscher auf den Popo.
Als ob es etwas brächte, begann sie an den Stangen zu rütteln, was ihr ein dunkles Leuchten seiner Augen einbrachte.
Sie hatte keine Chance, ihn da rauszuholen, erst recht nicht, ihn von diesen Ketten zu befreien.
Nein, da musste ein Erwachsener helfen.
Ihr Vater.
»Hab keine Angst«, flüsterte sie ihm zu. »Ich bin mit meinem Papa hier, er wird dich hier rausholen.« Sie zögerte, runzelte die Stirn und ihr kam ein furchtbarer Gedanke. »Bist du denn der Sohn von Lord Kingston?« Es war die Neugierde, die trotz der Situation in ihr hervorbrach. »Hat er das mit dir gemacht?«
Die dunklen Augen des Jungen weiteten sich, ehe sie sich einbildete, dass sie für den Bruchteil einer Sekunde rot aufblitzten. Dann konnte sie den Sturm an Emotionen darin wüten sehen. Wie eine mit Wasser gefüllte, pechschwarze Wolke.
Der Junge würde ihr nicht antworten und sie konnte es ihm nicht verdenken.
Mirabelle entfernte sich, glitt zurück, bis sein Gesicht in der Dunkelheit verschwunden war. Alles in ihr sträubte sich davor, zu gehen, doch sie musste Hilfe holen.
Auf keinen Fall würde sie ihn hier zurücklassen.
»Ich bin gleich wieder da, mit meinem Papa«, versicherte sie ihm, bevor sie mit zitternden Beinen die Stufen hinaufhastete.
Kaum hatte sie einen Schritt über die Schwelle getan, wurde sie von hinten gepackt. Der Schrei, der sich instinktiv in ihrer Kehle bildete, wurde von der Hand erstickt, die sich um ihren Mund legte.
Sie strampelte heftig mit den Beinen, bis ihr der Duft nach Tannenholz und einem Hauch Lavendel in die Nase stieg.
Das Rasierwasser, welches ihr Vater stets benutzte. Er hatte es auch an diesem Morgen aufgetragen.
Ihre Panik ebbte ab.
»Du musst jetzt ganz ruhig sein«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Mirabelle nickte, woraufhin er sie langsam losließ.
Sie drehte sich zu ihm herum und sah in sein bleiches Gesicht.
»Was hattest du dort unten verloren?«, fragte er und rüttelte sie dabei ein wenig zu fest.
»I-Ich habe Stimmen gehört.« Sie gab sich große Mühe, leise zu sprechen, was ihr durch die Aufregung nicht gänzlich gelang.
Mr. Lewis kniff die Lippen zusammen und führte seine Tochter dann durch den Korridor zurück in den kleinen Salon, in dem sie zuvor brav gewartet hatte. Mirabelle hatte ihren Vater keinen Ärger machen wollen. Das tat ihr nun furchtbar leid.
»Papa, dort unten … Sie haben einen Jungen gefangen. Sie haben ihm wehgetan …« Während sie ihrem Vater erzählte, was geschehen war, konnte sie nicht verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Es war so schrecklich und sie wollte ihm helfen. »Bitte, wir müssen ihn retten!«
Mr. Lewis kniete sich zu ihr hinunter und packte sie am Oberarm. »Schatz, hör mir jetzt genau zu«, begann er. »Du gehst jetzt sofort zu unserer Kutsche zurück. Warte aber nicht drinnen auf mich. Versteck dich im Wald in der Nähe und warte dort, bis ich zurück bin.«
Mirabelle wollte protestieren, doch im nächsten Moment ging die Tür auf und dieser unheimliche Butler erschien.
Plötzlich lag auf seinem Gesicht nicht länger diese Emotionslosigkeit … sondern Bosheit. Er griff in seine Hosentasche und zog ein Messer heraus. »Verräter«, zischte er und stürzte sich auf ihren Vater.
Dieses Mal erfüllte Mirabelles Schrei die Luft. Spitz wie ein Pfeil prallte er von den Wänden ab.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie nicht geahnt, wie flink und gelenkig ihr Vater war. Mühelos gelang es ihm, dem Angriff auszuweichen. Er packte den Butler von hinten, indem er ihm einen Arm um den Oberkörper schlang und mit der anderen dessen Genick umschloss.
Ein seltsam klingendes Knacken ertönte, als er den Kopf des Mannes zur Seite riss. Ihr Vater löste den Griff um den nun schlaffen Körper, woraufhin dieser vor ihm zu Boden sackte.
Die Welt um Mirabelle hatte begonnen, sich zu drehen, wie diese Karussells auf den Jahrmärkten. »Zur Kutsche, sofort!« Die eindringlichen Worte ihres Vaters stoppten die schwindelerregende Drehung. Vor Panik jedoch schnürte es ihr die Atemwege zu. Sie japste nach Luft, als sie von dem Toten zu ihrem Vater sah, der über diesen hinweg auf sie zukam.
»Beruhige dich, Mirabelle, du musst dich beruhigen.« Sanft strich ihr Vater ihr über den Kopf. »Es wird alles gut. Jedoch musst du jetzt tun, was ich dir sage.«
»Und der Junge?«
»Ich kümmere mich um den Jungen. Aber das kann ich nur tun, wenn ich weiß, dass du in Sicherheit bist. Hast du das verstanden?«
Sie nickte. »Sind die Leute hier böse?«
Das war das Einzige, was für sie Sinn ergab. Ansonsten hätte ihr Vater doch niemals jemanden getötet.
Mr. Lewis umfasste ihre Wange, verhinderte, dass sie ein weiteres Mal zu dem Butler sah. »Es tut mir so unfassbar leid, dass du das miterleben musstest.«
Er beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, bevor er sie zum Korridor hinausführte. Eiligen Schrittes liefen sie zu der Eingangshalle zurück. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihnen niemand gefolgt war, öffnete er die Tür und schob Mirabelle in die hereingebrochene Nacht hinaus.
»Lauf!«
Niemals wird der Schmerz vergehen, den ich empfinde, wenn ich daran zurückdenke, wie sehr du mich geliebt hast.
Und sie lief. Sie lief der Dunkelheit entgegen.
Ihre Kehle brannte, als sie schließlich unter dem Tor durchrannte, hinter dem die Kutsche stand.
Wie es ihr Vater gesagt hatte, versteckte sich Mirabelle unweit entfernt im Unterholz des angrenzenden Waldes.
Mit angewinkelten Beinen harrte sie aus, während über den Gipfeln der Bäume der Mond am Himmel aufging.
Sie horchte auf jedes Geräusch, jedes Summen. Es schien ihr, als wäre eine Ewigkeit vergangen, bis sie sich nähernde Schritte auf dem Kies vernahm.
Aber was, wenn es nicht ihr Vater war?
Sie unterdrückte den Instinkt, aus ihrer Deckung zu gehen und aufzuspringen.
Bemüht, kein Geräusch von sich zu geben, spähte sie hinter dem Baum hervor. Doch sie konnte nur eine Statur erkennen, schwach beleuchtet vom Mondlicht.
Also blieb sie weiter an Ort und Stelle stehen, bis plötzlich eine zweite Silhouette hinter der ersten auftauchte.
Kleiner als die andere.
Vielleicht der Junge?
»Mirabelle«, rief jemand leise.
Die Erleichterung trieb ihr die Tränen in die Augen.
Er musste kein zweites Mal nach ihr rufen, denn schon sprang Mirabelle hinter dem Baum hervor und fiel ihrem Vater um den Hals.
»Ich hatte solche Angst, Papa«, schluchzte sie und grub ihre Finger in seinen Mantel. Dabei merkte sie, dass sein Herz mindestens so schnell schlug wie das ihre.
Für einen flüchtigen Moment erwiderte er ihre stürmische Umarmung. »Wir müssen hier weg.« Er trat einen Schritt zur Seite und Mirabelle sah den Jungen.
Dieser war größer und älter, als sie zunächst angenommen hatte. Er war bestimmt schon fünfzehn oder sechzehn.
Und er war dünn, zu dünn, und die Schlieren an seinem Hals und seinen Armen deuteten darauf hin, dass er das schon eine Weile hatte ertragen müssen, was auch immer sie dort unten mit ihm angestellt hatten.
»Siehst du«, brachte sie hoffnungsvoll hervor. »Mein Vater hat dich gerettet.«
Der Junge blickte Mirabelle an und sagte kein Wort.
Einen verängstigten Eindruck machte er jedenfalls nicht. Er wirkte eher wütend.
Mr. Lewis zog seinen Mantel aus und legte ihn dem Jungen über die Schultern, bevor er ihn zur Kutsche führte.
»Komm, setz dich. Du musst etwas trinken.« Mirabelle sah zu, wie ihr Vater dem geschwächten Jungen hineinhalf und ihm dann einen Trinkbeutel mit Wasser überreichte, was dieser gierig bis auf den letzten Schluck austrank.
Mirabelle setzte sich gegenüber dem Jungen auf die gepolsterte Bank.
Den Blick, den ihr Vater ihr zuwarf, ehe er die Tür schloss, ließ Mirabelle mit einem bangen Gefühl zurück.
Das Gefährt neigte sich etwas nach links, als Mr. Lewis vorne aufstieg. Er schnalzte mit der Zunge und sogleich setzten sie sich in Bewegung.
Schneller als sonst.
Die beiden wurden ordentlich durchgeruckelt, als sie kurz darauf über die Landstraße holperten. Mirabelle versuchte, sich an der Seitenwand abzustützen, während sich der Junge nicht rührte.
Sie war unendlich froh, diesen Ort endlich verlassen zu haben. Doch ihr war auch klar, dass sie ihr vorheriges Leben nun nicht mehr würden fortführen können.
Ihr Vater hatte jemanden getötet.
Vielleicht würden sie nach Schottland fliehen müssen oder auf den Kontinent.
Und was war mit Tante Penelopé? Würden sie sie jemals wiedersehen?
Ihr Blick kam auf den Händen des Jungen zum Ruhen und all diese Fragen rückten in den Hintergrund.
Eine Weile sah sie zu, wie er sie aneinanderrieb. Sie mochte, nein, sie war nicht fähig, sich ansatzweise auszumalen, was er hatte durchmachen müssen.
Fest aber stand: Er brauchte dringend ein Bad. Ihm das unter diesen Umständen allerdings mitzuteilen, erschien ihr höchst unsensibel.
»Tut es arg weh?«, fragte sie ihn daher.
Der Junge hielt in seiner Bewegung inne. Anstatt sie anzusehen, starrte er dann aus dem Fenster hinaus. »Nein.«
Das war das erste Mal, dass sie seine Stimme hörte. Sie hatte einen rauen Klang, dunkler, als man für einen Jungen in seinem Alter erwartet hätte.
Kurzerhand griff Mirabelle nach ihrem Rocksaum. Sie brauchte einige Versuche, ehe sie den Baumwollstoff zum Reißen brachte.
Ohne nachzudenken, packte sie seine Hand.
Er entriss sich ihrer Berührung. »Was soll das?«
»Ich möchte deine Wunden verbinden.« Erneut griff sie nach ihm. Dieses Mal ließ er es zu. Während sie eifrig das Stück Stoff um seine Hand wickelte, spürte sie seinen Blick auf sich ruhen. Nachdem sie fertig war, war sie recht zufrieden mit dem Ergebnis.
Mit einem Lächeln sah sie zu ihm auf.
Der Junge starrte sie nur weiter an, als könne er nicht glauben, was sie da getan hatte. Schließlich knurrte er ein kaum hörbares »Danke«.
Unzählige Fragen sammelten sich in ihrem Kopf. Fragen, die sie jetzt nicht stellen konnte. Ihn jetzt zu löchern, wäre sicher keine gute Idee und ziemlich egoistisch.
Daher flüsterte sie: »Es tut mir leid, was mit dir passiert ist.« Sie lehnte sich zurück und knetete ihre Hände auf ihrem Schoß.
Ein tiefes Schlagloch hob sie aus ihrem Sitz, bevor sie unsanft auf ihrem Po landete. Erschrocken hielt sie ihre Handfläche gegen die Kutschenwand gepresst, für den Fall, dass sich das Ganze wiederholen sollte.
Als es nicht wieder geschah, ließ sie ihre Hand zurück in ihren Schoss sinken und tat es dem Jungen gleich, indem sie auch aus dem Fenster schaute.
Die Landschaft zog wirklich rasant an ihnen vorbei. Während sich zu der einen Seite Wiesen und Felder erstreckten, lag auf der anderen der Wald.
Sie betrachtete gerade den vollen Mond am Himmel, als ein Schatten unter ihm hindurchflog.
Mirabelle kniff die Augen zusammen. Für eine Wolke war er zu detailliert und für einen Vogel zu groß.
Ein Schrei erfüllte die Luft.
Markerschütternd. Sie presste sich die Hände auf die Ohren.
Der Junge spannte sich sichtlich an. Er bog den Rücken gerade durch, als hätte er Erfahrung bei der Garde gesammelt.
»Verfolgen sie uns?«, japste Mirabelle verängstigt.
Der Junge erwiderte nichts auf ihre Frage. Sie holte Luft, um ihn eindringlich anzuflehen, ihr doch zu antworten, da ertönte dieses unmenschliche Kreischen erneut.
Es hörte sich so unnatürlich an, dass ihr auch kein Tier einfiel, von dem es hätte stammen können.
Wieder hielt sie sich die Ohren zu.
Und dann sah sie sie zum ersten Mal.
Eine Kreatur, dunkel wie die Nacht, die aus Schatten gemacht zu sein schien.
Blutrot funkelten die Iriden des Jungen aus den eingefallenen Augenhöhlen. Seine Gesichtsfarbe hatte nicht länger diese kranke Blässe, sondern war von einem aschfahlen Grau. Seine Nase bestand aus nichts weiter als Knochen, blankem Knochen, und sein Mund …
Mirabelle presste sich mit dem Rücken gegen die Polster. Panik kroch durch ihre Eingeweide.
Das Monster war nicht dort draußen. Es saß ihr direkt gegenüber.
»Was …?«
Der Schrei ihres Vaters mischte sich mit dem gutturalen Kreischen, das ihre Sinne zu zerbersten drohte. Einen Sekundenbruchteil später schlug ihr Kopf gegen die Kutschenwand.
Ein stechender Schmerz zuckte durch ihren Schädel.
Was daraufhin geschah, spielte sich in Sekundenbruchteilen ab.
Die Kutsche hob vom Boden ab und Mirabelle befand sich nicht länger auf der Bank sitzend. Ihr Körper wurde in die Luft geschleudert.
In der Erwartung, gleich hart aufzuschlagen und sich sämtliche Knochen zu brechen, presste sie die Lider zu.
Der Aufschlag blieb jedoch aus. Stattdessen griff etwas nach ihr. Zu hart, als dass es hätten normale Arme sein können. Die Oberfläche einer lederartigen, warmen Haut presste sich gegen ihre Wangen.
Sie hielt die Luft an. Sie hörte das Zerschellen der Kutsche um sich herum, doch ihr selbst geschah nichts.
Dann war alles vorbei.
Mit einem gar sanften Plumps landete Mirabelle auf dem Rücken.
Sie riss die Augen auf. Der Junge, oder was auch immer es war, beugte sich über sie. Sein Gesicht – wenn man es denn überhaupt als solches bezeichnen konnte – war ihrem so nahe. Sie spürte seinen Atem ihre Kehle entlangstreifen.
Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf seinen Mund. Blutleere Lippen, die an den Seiten in Hautfetzen übergingen und die darunterliegenden, spitz zulaufenden Zähne zum Vorschein brachten.
Mirabelle unterdrückte ein Wimmern. Am liebsten hätte sie sich ganz klein gemacht, doch sie wagte nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren.
Was auch immer er war.
Er war kein Mensch.
Seine ungewöhnlich graue Haut wurde den Hals hinab immer rauer und sah um seine Brustpartie aus wie schwarzes Leder. Von seinen Schultern bis zu seinen Armen abwärts begann es, sich aufzulösen, und machte den darunterliegenden Muskeln und Sehnen Platz.
Seine Krallen gruben sich zu Mirabelles Seiten in das Holz der zerschellten Kutsche.
Vage nahm sie wahr, dass seine Gesichtszüge angestrengt wirkten. Er hob eine seiner Pranken über ihr Gesicht. Die Spitzen kratzten über ihre pochende Schläfe. Sie unterdrückte ein weiteres Wimmern, während er mit diesen glühend roten Augen ihr Gesicht absuchte, als erwartete er, etwas Bestimmtes zu finden.
Luft entwich ihren Lungen, als er diese Berührung unterbrach. Die Krallen gingen zurück, verwandelten sich in die feingliedrigen Finger des Jungen, den sie gerettet hatten.
Und dann legte er seinen wieder menschlichen Handrücken an ihre Wange.
Kälte fraß sich durch ihre Haut, dort, wo er sie berührte, während sich im Rest ihres Körpers eine fast unerträgliche Hitze aufbaute. Alles um sie herum wurde verschlungen von Schatten, bis nur noch sie beide übrig waren.
Und aus irgendeinem für sie unbegreiflichem Grund war ihr bewusst, dass sie sich nicht vor ihm fürchten musste. Ganz gleich, wie er aussah.
In der Ferne erklang ein Schuss. Zerstörte den Moment, in dem die Zeit für Mirabelle stehengeblieben zu sein schien.
Papa.
Mirabelle drehte sich auf den Bauch und kroch unter ihm hervor. Seine Hände schlossen sich um ihre Fesseln, versuchten, sie zurückzuziehen.
»Nicht«, stöhnte er angestrengt.
»Lass mich los!«, gelang es ihr, zu schreien. Doch es war nicht sein Aussehen, vor dem sie zu entkommen versuchte.
Es war die Angst um ihren Vater, die sie dazu bewegte, diesen Ort zu verlassen.
Also strampelte sie, so fest sie konnte, trat nach dem Jungen, bis er schließlich von ihr abließ.
Wimmernd robbte sie aus den Trümmern hervor.
Die kühle Nachtluft streifte ihre Wangen.
Mirabelle drehte sich auf den Rücken, während sie weiter zurückwich, die Kutsche im Blick behaltend, da sie erwartete, dass der Junge ihr folgen würde.
Doch das tat er nicht.
Wieder ein Schuss.
Mirabelle rappelte sich auf; auf die Beine, die sie vor Aufregung kaum mehr tragen konnten.
Taumelnd hastete sie auf die Böschung zu, welche die Kutsche hinuntergestürzt war. Selbst in der Dunkelheit war der Weg deutlich zu erkennen, den sich das Gefährt durch das Unterholz gebahnt hatte.
Erschüttert wandte sie sich von den Kadavern der armen Pferde ab, die diesen Sturz nicht überlebt hatten.
Mirabelle sammelte all ihre Kraft und kletterte die Böschung hinauf. Sie zog sich an Wurzeln hoch, hielt sich an Grasbüscheln fest, bis sie oben ankam.
Und plötzlich war es still.
So still. Nicht einmal das Zirpen der Grillen war mehr zu hören. Als hätten sämtliche Lebewesen um sie herum den Atem angehalten.
Und dann sah sie ihren Vater.
Er stand weiter vorne auf dem Feld, Mirabelle mit der Seite zugewandt. Das Mondlicht erhellte seine Gestalt, als wäre er der Akteur eines Theaterstücks. In seiner Hand hielt er eine Pistole auf einen Punkt weiter links gerichtet.
Die Erleichterung, die sie verspürte, nahm ein jähes Ende, als er sich plötzlich krampfhaft eine Faust gegen die Brust presste und sich zu krümmen begann. Die Pistole fiel zu Boden.
»Papa!« Mirabelle rannte.
Mr. Lewis wandte sich seiner Tochter zu. Sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht erbleichte und seine Lippen formten ein einziges, klangloses Wort:
»Lauf!«
Wie gelähmt blieb Mirabelle stehen.
Dort, vielleicht zwei Dutzend Schritte von ihrem Vater entfernt, in der Richtung, in die er zuvor die Waffe gerichtet hatte, stand eine Frau. In einen weißen Umhang gekleidet, der ihre Erscheinung wie die eines magischen Wesens aussehen ließ. Ihre Lippen bewegten sich, als sagte sie etwas, doch Mirabelle konnte ihre Worte nicht hören. In dem Moment sah sie in Mirabelles Richtung.
»Mirabelle, Lauf!«, rief ihr Vater, gefolgt von dem grellen Kreischen, das direkt über ihren Köpfen ertönte.
Mirabelle presste die Hände auf ihre Ohren und schrie, bis das Kreischen verstummt war.
Dann rannte sie los.
Mirabelle bemerkte den Schatten nicht, der sich ihr von oben näherte. Krallen streckten sich nach ihr aus.
Ein Luftzug brachte sie ins Taumeln und drückte sie in die feuchte Erde des umgepflügten Feldes.
Es gab einen dumpfen Laut, als etwas direkt neben ihr auf dem Boden aufschlug. Erdklumpen flogen durch die Luft, während sich über ihr ein weiterer Schatten erhob.
Seltsam verkrümmte Flügel ragten aus dem Erdreich empor. Wie schwarze, in Fetzen gerissene Laken sahen sie aus.
Mirabelle rappelte sich auf und rannte.
Doch nicht davon. Sie lief auf ihren Vater zu, der sie stumm anflehte, ihn zurückzulassen. Umzudrehen und zurück in den Wald zu flüchten.
Doch das konnte sie nicht.
Er war alles, was sie hatte.
Sie stürzte vor ihm auf die Knie, in dem Moment, als seine Beine nachgaben.
»Papa, Papa!« Mirabelle versuchte, ihn von der Seite auf den Rücken zu drehen, was ihr nur mit aller Kraft gelang. Panisch drückte sie die Hände auf die klaffende Wunde auf seiner Brust.
Mr. Lewis griff nach dem Handgelenk seiner Tochter, brachte sie dazu, damit aufzuhören. Sein kummervolles Lächeln brach ihr das Herz.
Sie realisierte die Bewegung hinter sich; die Kälte, die ihren Rücken hinaufkroch; die Dunstwolke, die aus ihrem Mund in den Himmel stieg. Doch sie schenkte ihr keine Beachtung.
»Bitte, lass mich nicht alleine«, flehte sie ihren Vater unter Tränen an. Er durfte sie nicht verlassen. Das durfte er einfach nicht.
Der Blick ihres Vaters wanderte zu dem, was sich hinter ihr befand, bevor er sie mit all der Liebe ansah, die ein Vater für seine Tochter empfinden konnte.
Mirabelle wusste, dass sie ihn nun für immer verlieren würde.
»Mein Schatz.« Seine Stimme war schwach, viel zu schwach. »Fürchte dich nicht vor der … Dunkelheit.« Sein Arm fiel herab und der Glanz in seinen Augen erlosch.
Mirabelle grub ihr Gesicht an seine Brust und begann zu weinen.
Eine kalte Hand legte sich auf ihre Schulter und sie schreckte nicht einmal zusammen.
Sechzehn Jahre später
Ich brauche die Aufmerksamkeit der anderen nicht.
Ich sehne mich nach deiner.
London
Auf dem Anwesen Stonebroke
Herbst 1851
Das Orchester verstummte. Die Frauen und Männer auf der Tanzfläche wechselten ihre Partner, bevor eine Quadrille einsetzte.
Die prachtvoll bestückten Kerzenleuchter an den Decken und Wänden ließen die Dekoration im Ballsaal in einem golden glänzenden Licht erstrahlen, das nicht von dieser Welt zu sein schien. Vasen mit weißen Lilien schmückten auch die abgelegeneren Bereiche, die Sitzgelegenheiten für Matronen, Mütter und Anstandsdamen boten. Oder jenen, die nicht das Glück hatten, zum Tanz aufgefordert worden zu sein.
So wie Mirabelle.
Nur verspürte sie keinen Drang danach, sich hinzusetzen und hinter vorgehaltenem Fächer über die tanzenden Paare Spekulationen anzustellen oder gar über sie zu spotten.
Die Saison neigte sich dem Ende zu. Es hatte reichlich Heiratsanträge gegeben und so manches Herz war gebrochen worden. Den einen oder anderen Skandal hatte es auch gegeben, aber kaum einer davon hatte es in diesem Sommer auf die Titelseiten geschafft.
Nein, dieses Jahr waren es keine skandalösen Affären oder kompromittierenden Szenen, die London in Atem hielten.
Es war eine Gefahr, die in den Straßen Londons lauerte, die nicht bloß mit einem geschädigten Ruf endete – sondern mit dem Tod.
Und trotzdem waren sie alle hier.
Alle, die eingeladen worden waren.
Auch wenn das bedeutete, in der Dunkelheit der Nacht den Heimweg anzutreten.
Womöglich lag es an der Arroganz dieser Gesellschaftsklasse, sich einzubilden, man wäre unantastbar für das Böse.
Denn bisher hatte es nur Bürgerliche erwischt.
Mirabelle sog den Duft der Lilien ein, der sich über den Raum gelegt hatte. Dieser nahm durch die wallenden Kleider der tanzenden Frauen an Intensität zu, bevor er durch die offenen französischen Fenster fortgeweht wurde.
Hinaus in die Freiheit.
Wie gerne hätte sich Mirabelle mit ihm davontragen lassen. Sie wandte sich von den Fenstern ab, hinter denen der Nachthimmel unzählige Sterne preisgab.
Mia hatte sich mal wieder selbst übertroffen.
Obwohl der Herr dieses Londoner Anwesens allgemein als furchteinflößend galt, hofften alle begierig darauf, eine Einladung zu einem der berüchtigten Veranstaltungen im Hause des Marquess’ of Stonebroke zu ergattern.
Die Bälle, die Mia ausrichtete, vermittelten ihren Gästen stets den Eindruck, sie befänden sich in einem Traum, in einem Märchen, in dem sie die Hauptfigur spielten. Sie schwebten auf unsichtbaren Wolken und durften für einige Stunden der Realität entfliehen.
Alles versprühte eine Leichtigkeit, die Sorgen vergessen ließ und selbst dem mürrischsten Lord ein Lächeln auf das Gesicht zauberte.
Wirklich niemand kam auch nur auf die Idee, eine Einladung abzulehnen.
Mirabelle seufzte, nahm ihre Tanzkarte hervor und steckte sie gleich wieder in ihr Retikül zurück. Sie hatte kein Interesse daran zu heiraten, doch sie hätte sich sehr über die Aufforderung zu einem Tanz gefreut.
Wie jedes Mal hatte Mia darauf bestanden, Mirabelle passend zur Dekoration zu kleiden. Also trug sie an diesem Abend ein schlichtes, cremefarbenes Kleid in der Farbe der Lilien. Ein grünes Band lag um ihre Taille und ein etwas dünneres in gleicher Farbe war in ihr aschblondes Haar geflochten, dass ihre Zofe Lisbeth zu einer lockeren Frisur nach hinten gesteckt hatte.
Mirabelle spürte die Blicke der Männer auf sich ruhen. Es lag nicht an ihrem Aussehen, dass sich niemand auf ihrer Tanzkarte eintrug. Eine Schönheit war sie zwar sicherlich nicht – dafür war ihre Haut nicht ausreichend blass, ihre Nase nicht fein genug und die winzigen Sommersprossen taten ihr Übriges – aber sie war auch nicht unansehnlich.
Und selbst wenn sie eine Hakennase besäße und eine Warze am Kinn, ihre Mitgift war beträchtlich, weshalb mindestens ein halbes Dutzend der anwesenden Herren hier über diesen Makel hinweggesehen hätte, um an ihr Vermögen zu gelangen.
Nein, es gab einen anderen Grund, warum man es mied, ihre Gesellschaft zu suchen.
Aus dem sie um nicht einen Tanz gebeten wurde.
Und sie hatte sich damit abgefunden.
Außerdem: Wäre es nicht furchtbarer, wenn die heiratswilligen Männer sie nur ihrer Mitgift wegen aufforderten?
Nein, das wollte sie noch weniger.
Aber sie wollte gerne tanzen. Diese Leichtigkeit verspüren. Sie wollte sich zum Rhythmus der Musik bewegen, sie fühlen.
Einige Zeit sah sie den tanzenden Paaren zu. Zwischen den wallenden Kleidern drang eine Erinnerung in den Vordergrund, die ein Lächeln auf ihr Gesicht zauberte.
Das Klackern flinker Schritte hallte durch die Halle, während sich vor ihrem inneren Auge die Paare auflösten. Sie hörte ihr eigenes Lachen von den Wänden widerhallen.
Du brauchst nicht davonrennen, ich bin sowieso schneller als du.
Es war einer der Momente gewesen, so lange her, in denen sie ihn als unbeschwerten Jungen erlebt hatte.
Fang mich doch.
Ihr jüngeres Ich verschwand hinter der nächsten Flügeltür und mit ihm die Erinnerung, die sie mit einem unerwartet heftigen Stich in der Brust zurückließ.
Sie wandte sich von der Tanzfläche ab, als sie mit jemanden zusammenstieß.
Ein Arm legte sich um ihre Taille, hielt sie davon ab, ins Stolpern zu geraten. Mirabelle sah auf und begegnete einem ihr bekannten, amüsiert dreinblickendem Gesicht.
»Jasper.« Mit ihm hatte sie heute Abend nicht gerechnet. Erst gestern hatte er ihr gesagt, dass er heute keine Zeit haben würde, um zu kommen.
Jaspers Grinsen wurde breiter. Er führte Mirabelles Hand an seine Lippen und hauchte einen Kuss darauf. Das intensive Eisblau seiner Iriden faszinierte sie jedes Mal von neuem.
Sie erwiderte sein schamloses Grinsen mit einem Lächeln.
»Bist du gekommen, um mir den Abend zu retten?« Mirabelle mochte Jasper. Mit seinem hellen Haar, das die Farbe des Mondes und auch ein wenig das Blau seiner Augen in sich trug. Sein Anblick erinnerte sie an einen Engel.
Ein Engel, der gerne junge Witwen vernaschte, wohlbemerkt.
Aber er war ihr Freund und sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.
Er brachte sie zum Lachen.
Nun beugte er sich leicht zu ihr und legte seine Hand auf ihren unteren Rücken. »Ich bin hier, um mit dir zu tanzen«, flüsterte er an ihr Ohr.
Vor Freude vollführte ihr Herz einen kleinen Luftsprung. Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn an. »Wirklich?«
Der Schalk auf Jaspers Zügen verschwand. Sie wurden beinahe sanft, was ganz und gar nicht dem Wesen eines Wüstlings entsprach. »Ich weiß doch, wie gerne du tanzt.«
In diesem Moment wäre Mirabelle ihm am liebsten um den Hals gefallen. Doch das konnte sie nun wirklich nicht tun. Er wusste um ihre Lage. Dankbar, dass er sie so gut kannte und dass er ihr diese kleine Freude bereiten wollte, legte sie stattdessen ihre Hand in seine.
Ihr schauderte, als sie über seine Schulter hinweg die Frau mit dem pechschwarzen, hochgesteckten Haar erblickte, deren Aufmerksamkeit geradewegs auf sie beide gerichtet war.
Danielle.
Mit ihrem roten Kleid und Lippen, die dem tiefen Farbton in nichts nachstanden, erinnerte Mirabelle ihr Erscheinen an einen Tropfen Blut, der die an diesem Abend durchdachten Nuancen von Grün- und Cremeweißtönen durchbrach.
Einen höchst attraktiven Tropfen Blut, musste Mirabelle zugeben. Danielle war wohl die schönste Frau, die sie je gesehen hatte. Durch sie wurde sie ständig daran erinnert, wie wenig sie selbst zu bieten hatte.
Ihre vor der Brust verschränkten Arme und die zusammengekniffenen Augen verrieten nur zu deutlich, dass ihr nicht gefiel, was sie da sah.
Und Mirabelle war es nicht.
Um Jasper aus der Nähe ins Gesicht sehen zu können, musste sie den Kopf in den Nacken legen. »Ich fürchte, wenn Blicke töten könnten, würdest du als ein Haufen Asche zu meinen Füßen liegen.« Sie kam nicht umhin, ein Schmunzeln zu verbergen.
Niemand wusste so recht, warum Danielle Jasper nicht ausstehen konnte. Ihre Abneigung gegen ihn reichte so tief, dass die Temperatur in einem Raum schlagartig um gefühlt fünf Grad sank, wenn sich beide darin befanden.
Blanker Spott ließ Jaspers Augen leuchten.
Es machte ihm Spaß, Danielle zu reizen.
»Es passt ihr nicht, wie viel Zeit ich mit dir verbringe. Sie glaubt wohl, ich hätte einen schlechten Einfluss auf dich.«
»Und den hast du natürlich nicht«, erwiderte Mirabelle neckend. Hätte diese noch eine Mutter, würde sie es vermutlich auch nicht gutheißen, dass sie mit einem der bekanntesten Junggesellen Londons gesehen wurde.