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Ein Monster, dass nur sie erlösen kann 1855 Nach einem Unfall findet sich Willow auf Bleak Castle wieder, wo sie eine Stelle als Gärtnerin antritt. Der idyllische Ort am Meer mit den herzlichen Bewohnern bietet der jungen Frau einen Neuanfang, von dem sie nicht zu träumen gewagt hat. Doch sie trägt ein Geheimnis mit sich, dass sie unter allen Umständen zu verbergen versucht. Auch vor ihrem Retter, Lord William Thornton, dem Herzog des Anwesens. William hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Seit einem tragischen Kindheitserlebnis leidet er unter Alpträumen und führt ein zurückgezogenes Leben. Die Begegnung mit Willow ist für ihn Fluch und Segen zugleich. Bei dem Klang ihrer Stimme empfindet er auf eine seltsame Weise Frieden und Geborgenheit. Doch wenn er sie ansieht, erinnert er sich stets an den Traum, der ihn nachts um den Schlaf bringt. Es ist aber nicht nur Willow, die auf Bleak Castle ein neues Zuhause findet. Auch Grace Brown, eine ehemalige Gouvernante, stößt zu ihnen: Ihr Geheimnis wird schon bald zwischen Leben und Tod entscheiden. Dies ist der dritte und letzte Teil der Grace-Reihe Du kannst diesen Band unabhängig von den beiden anderen lesen. Es gibt aber Rückblenden, die dich spoilern könnten, falls du die anderen Bänder im Nachhinein lesen möchtest. Alle Bände dieser Reihe: Teil 1: Das Geheimnis von Claydon Manor (1849/1850) Teil 2: Der Fluch von Sherborne Hall (1823) Teil 3: Das Monster von Bleak Castle (1855)
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S e l i n a W i l h e l m
Das Monster von
Bleak Castle
Historischer Liebesroman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Impressum
Selina Wilhelm, An der Anhaide 18, 76744 Wörth
© 2023 Selina Wilhelm
Korrektorat:
Svenja Fieting | Lektorat, Korrektorat, Texte
E-Mail: [email protected]
Website: www.lektorat-fieting.de
Coverdesign und Umschlaggestaltung:
Florin Sayer-Gabor -www.100covers4you.com
Die Personen und die Handlung der Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Das Buch
Ein Monster, dass nur sie erlösen kann
1855
Nach einem Unfall findet sich Willow auf Bleak Castle wieder, wo sie eine Stelle als Gärtnerin antritt. Der idyllische Ort am Meer mit den herzlichen Bewohnern bietet der jungen Frau einen Neuanfang, von dem sie nicht zu träumen gewagt hat. Doch sie trägt ein Geheimnis mit sich, dass sie unter allen Umständen zu verbergen versucht. Auch vor ihrem Retter, Lord William Thornton, dem Herzog des Anwesens.
William hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen. Seit einem tragischen Kindheitserlebnis leidet er unter Alpträumen und führt ein zurückgezogenes Leben.
Die Begegnung mit Willow ist für ihn Fluch und Segen zugleich. Bei dem Klang ihrer Stimme empfindet er auf eine seltsame Weise Frieden und Geborgenheit. Doch wenn er sie ansieht, erinnert er sich stets an den Traum, der ihn nachts um den Schlaf bringt.
Es ist aber nicht nur Willow, die auf Bleak Castle ein neues Zuhause findet. Auch Grace Brown, eine ehemalige Gouvernante, stößt zu ihnen: Ihr Geheimnis wird schon bald zwischen Leben und Tod entscheiden.
Über die Autorin
Selina Wilhelm, geboren im April 1989, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in der Nähe von Karlsruhe. Vor einigen Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben. Als Autorin schlägt ihre romantische Ader für historische Liebesromane. Ihre abenteuerliche Seite ist dem Genre Fantasy verfallen.
Zitat aus dem Buch
»Ich werde meinen Fehler wiedergutmachen.«
(Miss Grace Brown)
Prolog
»Bitte, bitte, erzähl uns die Geschichte von den Sternen!« Emilia ließ sich auf die Matratze fallen und kuschelte sich mit ihrem kleinen Bruder in das flauschige Kissen.
Die hellblauen Vorhänge des Himmelbettes blähten sich nach außen auf. Das Zimmermädchen richtete rasch die Decken und ging.
Auf ihren Gehstock gestützt trat Grace heran. Sie nahm den Vorhang beiseite und ließ sich auf der Bettkante nieder.
Erwartungsvoll sahen die Kinder sie an.
»Meine liebe Emilia, du kannst die Geschichte doch auswendig«, sagte Grace mit einem Lächeln.
»Aber ich höre dir so gerne zu. Mami sagt, wenn sie dir zuhört, erinnert sie das immer an den Wind.«
Grace betrachtete für einen Moment dieses zauberhafte Geschwisterpaar. Emilia war zehn Jahre alt geworden und ihr kleiner, vierjähriger Bruder Jacob strotzte vor Energie. Er kam zweifellos nach seinem Vater Adrian, obwohl er die gleichen blauen Augen wie seine Mutter Sophia besaß.
»Nun gut, ich erzähle euch die Geschichte, aber dann wird geschlafen, ja?«
Beide nickten eifrig und kuschelten sich dann tiefer n die Kissen.
Grace lehnte sich vor.
»Es waren einst vor sehr, sehr langer Zeit drei Sterne. Eines Nachts, der Himmel war so klar wie heute, fielen sie auf die Erde hinab. Sie zerbrachen in unzählige Splitter und wurden vom Wind über die ganze Welt zerstreut.
Jeder, der mit ihnen in Berührung kam, ob Mensch oder Tier, nahm einen Teil ihrer Kräfte in sich auf. Die meisten dieser winzigen Funken Magie erloschen daraufhin, aber einige erblühten in ihren neuen Körpern. Ihre Kraft wuchs heran und wurde an all jene weitergegeben, die das gleiche Blut miteinander teilten.«
»Das ist eine schöne Geschichte.« Jacob rieb sich die Augen. »Mami hat gesagt, sie ist einem dieser Sterne begegnet. Du auch?«
»Ach, Jacob, du Dummerchen«, meinte Emilia. »Grace ist doch einer dieser Sterne.«
Grace lachte. »O nein, meine liebe Emilia. Ich bin gewiss kein Stern. Aber meine Vorfahren haben dieses Geschenk erhalten und es an mich weitergegeben.«
»Und wir dürfen das niemals jemandem erzählen, richtig?« In Emilias Augen funkelten Neugierde und die Begeisterung, die Kinder nun mal empfanden, wenn es um ein Geheimnis ging.
»So ist es.« Grace warf einen Blick auf Jacob, der zurück in sein Kissen gesunken war. Seine Augenlider flatterten noch einige wenige Male auf, dann war er eingeschlafen.
Emilia kuschelte sich an ihn. Sie blickte zu Grace. »Ich hab dich sehr lieb, Grace.«
Grace unterdrückte ein Tränchen. Sie tätschelte Emilias Hand. »Und ich habe dich sehr lieb. Ich wünsche dir wundervolle Träume.« Sie erhob sich und lief zur Tür.
Die Eltern der beiden standen im Türrahmen und sahen ihnen zu. Sophia lehnte mit dem Rücken gegen ihren Adrian und dieser hatte seinen Arm um sie gelegt.
Sie beide sahen zufrieden und glücklich aus.
Und das waren sie.
So sollte es sein.
»Sie wissen noch nicht, dass ich bald gehen werde.«
Sophia wirkte traurig. Sie sah kurz zu Adrian hoch. »Wir haben es noch nicht übers Herz gebracht. Sie sind vernarrt in dich, das weißt du.«
Grace stützte sich auf ihrem Stock ab. Seit einiger Zeit fühlte sie sich seltsam alt. So alt sie eben war mit ihren fünfundsiebzig Jahren. »Ich werde die Wirbelwinde vermissen.« Aber eine letzte Reise musste sie noch wagen, ehe diese Qual einen neuen Anfang fand. Dieses Leben war anders gewesen. Sie hatte zugelassen, zu fühlen … sich zu verlieben.
Ach, Heather! Es war schon so lange her und dennoch konnte sie ihre Umarmung spüren, wenn sie die Augen schloss. Sie hatten gemeinsam gelacht, getanzt …
Ihr Verlust musste ein Teil ihrer Strafe sein.
Sie hatte geliebt und war geliebt worden. Es hatte sie erfüllt, wenngleich es sie niemals zu heilen vermocht hatte.
»Du solltest Eowyn schreiben.« Sophia wusste, dass es ein Abschied für immer sein würde. Grace würde nicht zurückkehren, weder nach Claydon Manor noch nach Antony House.
Sie spürte, dass ihre Zeit, dass dieses Leben sich dem Ende neigte.
Und sie bedauerte es. Wirklich.
Sie schloss die Augen und nahm den Geruch von Salzwasser wahr. Sie fühlte den feinen Sand unter ihren Füßen. Das Rauschen der Wellen mischte sich mit jenem Lachen, das sie vor Sehnsucht zu zerreißen drohte.
Ihre letzte Reise würde am Meer enden.
Ihre letzte Chance auf Erlösung.
Kapitel 1
Keuchend erwachte Willow.
Eine Schweißperle rann ihre Stirn hinab. Aufrecht im Bett sitzend schnappte sie nach Luft.
Sie starrte nach vorne und presste das Bettlaken gegen ihre pochende Brust. Nur das Mondlicht, das durch die Fenster drang, gab die Umrisse ihres Zimmers preis.
Es war zu ihrem Vorteil, dass heute Vollmond war, denn ein Licht zu entzünden, konnte sie nicht riskieren.
Nachdem sie sich beruhigt hatte, kroch sie aus dem Bett und eilte, in die Decke eingewickelt, zu der Verbindungstür. Sie presste das Ohr gegen das dunkelbraune Holz und lauschte.
Sie wagte erst wieder zu atmen, als sie das leise Schnarchen von der anderen Seite hörte.
Du schaffst das, versuchte sie sich Mut zu machen.
Sie lief zur Waschschüssel, die mit frischem Wasser gefüllt war, und benetzte sich das Gesicht. Wer wusste schon, wann sie das nächste Mal die Gelegenheit bekommen würde, sich zu waschen? Sie kniete sich vor das Fußende ihres Bettes und holte die Stofftasche hervor, die sie darunter versteckt hatte.
Ihre Hände zitterten, als sie den dicken, dunkelgrünen Umhang sowie einen kleinen Beutel und das einfache Baumwollkleid herauszog, das sie sich heimlich aus alten Vorhangresten zusammengenäht hatte. Sie legte ihn und den Beutel, der mit Äpfeln, einem Trinkschlauch, Brot und Käse gefüllt war, auf das Bett und schlüpfte dann rasch in das Kleid. Dann legte sie sich den Umhang um. Er war mit einer übergroßen Kapuze versehen und konnte vorne am Hals mit einem Knopf geschlossen werden.
Danach lief sie zu dem runden Kommodenspiegel, der mit einem golden verschnörkelten Rahmen verziert war. Sie nahm ihr langes Haar und versteckte es, so gut es ging, unter der Kapuze. Mit ihren roten Haaren erregte sie Aufmerksamkeit und das war das Letzte, das sie gebrauchen konnte.
Sie öffnete die oberste Schublade der Kommode, in der ihre Bänder lagen. Willow schob sie beiseite, bis sie den kleinen Lederbeutel zu fassen bekam. Ein paar Münzen klapperten darin. Es war nicht viel, was sie hatte zur Seite legen können, aber es musste genügen.
Sie verstaute die Münzen mit dem Proviant in der Stofftasche und eilte dann zur Zimmertür.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie davor stehen blieb und auf das Schlagen der Uhr wartete.
Ihre Nägel krallten sich fest in die Tasche, während ihre Anspannung mit jedem Atemzug stieg.
Bimm, Bamm.
Bimm, Bamm.
Bimm, Bamm.
Der Gong hallte in ihrer Brust wider.
Jetzt war es 3:00 Uhr in der Früh.
In den letzten Wochen hatte sie die Gewohnheiten der Bediensteten und die ihres Mannes genauestens studiert.
Es war nicht einfach gewesen, ein Zeitfenster zu finden, in dem sie ihr Vorhaben umsetzen konnte.
Ihr Mann ging kaum vor 1:00 Uhr ins Bett oder hielt sich bis in die frühen Morgenstunden in einem seiner bevorzugten Salons auf.
Der Butler war stets bis 2:00 Uhr oder 3:00 Uhr wach, bevor er sich zurückzog, und um 4:00 Uhr standen die ersten Dienstmädchen und der Koch auf.
Sie hatte nur diese eine Stunde.
Nachdem die Uhr verstummt war, wartete Willow eine Weile, dann wagte sie es, die Türklinke hinunterzudrücken und in den Flur hinauszuschlüpfen.
Langsam, um ja kein Geräusch zu verursachen, schloss sie hinter sich die Tür wieder.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Das war ihre einzige Chance.
Es durfte nichts schiefgehen.
Sie presste die Tasche, in der sich alles befand, was sie in ihr neues Leben begleiten würde, an ihre Brust und schlich den Flur entlang.
Es war ein breiter Flur, versehen mit einem Marmorboden, auf dem ein roter Teppich lag. An den Wänden hingen Gemälde der Verwandten ihres Mannes, die sich in der Dunkelheit schemenhaft von der Wand abzeichneten. Die meisten von ihnen waren lange tot. Während sie daran vorbeilief, hatte Willow das Gefühl, die Verstorbenen würden sie abschätzig dabei beobachten, wie sie den Flur entlangschlich.
Drei Türen weiter hielt sie inne. Sie holte tief Luft und huschte in das Zimmer.
Sofort beruhigte sich ihr abgehackter Atem, als sie das friedliche Schnaufen ihrer Tochter vernahm.
Ihr Bettchen lag auf der linken Seite, vor dem ein brauner Teppich lag.
Um das Leben, das Willow hier führte, wurde sie von vielen Frauen beneidet. Ihr Mann John Stone war nicht bloß ein Herzog, er war auch einer der vermögendsten Männer in Southampton und darüber hinaus einer der angesehensten und mächtigsten.
Aber was brachte das alles, wenn er über eine kaltherzige Seele verfügte, die keine Liebe zu empfinden in der Lage war? Nicht einmal gegenüber seiner eigenen Tochter?
Rasch eilte sie zum Kleiderschrank auf der anderen Seite. Sie öffnete ihn und zog Avas unauffälligstes Jäckchen heraus. Sie nahm zwei warme Kleidchen und stopfte sie in die Tasche. Währenddessen beschleunigte sich ihr Herzschlag wieder.
Sie lief zum Bettchen. Dabei empfand sie eine nie dagewesene Angst, gemischt mit der panischen Vorstellung davon, was geschähe wenn sie erwischt würden.
Willow hob ihre Hände vor das Gesicht. Sie zitterten wie Espenlaub. Entschlossen ballte sie sie zu Fäusten, ehe sie auf ihre friedlich schlafende Tochter hinabsah.
Sanft schob sie dann ihre Hände unter sie und hob Ava in ihre Arme.
Avas Gesicht verzog sich der Störung wegen unleidlich.
»Pscht, pscht«, flüsterte Willow. »Ich bin es, Mama. Wir machen einen kleinen Ausflug.« Es gelang ihr, Ava den Mantel überzuziehen, ohne dass ihre Tochter wach wurde. Dann presste sie sich die Tasche unter den Arm und hob Ava auf ihre Arme, wo diese unbeirrt weiterschlief.
Ihre gelockten, braunen Haare kitzelten Willow unter dem Kinn. Sie schob Ava die Kapuze ihres Mäntelchens über den Kopf, um sie vor der Kälte zu schützen, der sie beide gleich für einige Zeit ausgesetzt sein würden.
Es war zwar bereits Ende April, aber die Nächte waren noch frostig.
Jetzt kam der problematischste Teil.
Ungesehen aus dem Haus und von dem Anwesen zu verschwinden.
Zurück auf dem Flur horchte Willow noch einmal angestrengt in die Dunkelheit, ehe sie es wagte, auf die Treppe zuzulaufen, die hinunter in die Eingangshalle führte.
Die Haupttür zu nehmen, war zu riskant, also huschte sie durch die Halle in den kleinen Salon, der ihr zu ihrer alleinigen Benutzung zur Verfügung stand.
Durch das französische Fenster gelangte man in den hinteren Garten hinaus. Die Bäume dort würden ihr hoffentlich ausreichend Schutz bieten. Bei einem ihrer Spaziergänge hatte sie ein Loch in der Hecke ausmachen können, durch das sie schlüpfen wollte. Wenn sie das geschafft hatte, war es bis zum angrenzenden Wald nicht mehr weit.
Das war ein Detail, das ihr von großem Vorteil war: Stoke House lag abseits von Southampton. Willow musste sich mit Ava nicht erst durch unzählige Straßen und Gassen kämpfen.
Sie hatte noch keinen Fuß ins Freie gesetzt, ihre Flucht stand am Anfang, da waren ihre Arme von Avas Gewicht bereits müde geworden. Ihre Tochter war drei Jahre alt. Sie den ganzen Weg durch den Wald tragen zu müssen, würde ein Kraftakt werden.
Einen, den sie für ihre Tochter jederzeit in Kauf nahm.
Kurzerhand legte sie Ava auf der Chaiselongue ab und hing sich die Stofftasche über den Rücken.
So war es besser.
Dann nahm Willow sie wieder auf den Arm und schlüpfte auf die Veranda hinaus.
Spätestens, wenn die Kinderfrau um 7:00 Uhr nach Ava sah, würde ihr Verschwinden bemerkt werden.
Das hieß, sie hatten rund vier Stunden, um sich so weit wie möglich von Stoke House zu entfernen.
Zu Fuß war das nicht viel Zeit. John würde sofort seine Männer aussenden, um sie zu suchen — zu Pferd.
Bis es so weit war, musste sie bei Betty sein; ihrer Freundin, dem einzigen Menschen, dem sie hier vertrauen konnte.
Dem einzigen Menschen, von dem John nichts wusste.
Der kalte Nachtwind zerrte an ihrem Umhang, als sie an den mannshohen Pflanzenkübeln vorbeiging, welche die Veranda säumten, und in denen fein akkurat geschnittene Buchsbäume wuchsen.
Nach wenigen Metern führte eine schmale Steintreppe hinunter auf die Wiese.
Am Wegesrand sprossen die ersten Krokusse und kündigten den baldigen Frühling an.
Willow konnte den hübschen Blümlein, die sich dem Mondlicht emporstreckten, keine Beachtung schenken.
Sie hatte zu viel Angst, denn wenn sie erwischt würde, wenn ihre Flucht misslänge, dann … Sie wollte nicht daran denken.
Ihr Plan durfte nicht scheitern!
Nicht um ihretwillen, sondern um Avas willen.
Sie begann zu rennen. Über den Rasen, nicht über den Kiesweg. Sie lief von einem Baum zum nächsten, riskierte ab und an einen Blick die Steinmauer empor zu den Fenstern, um sich zu vergewissern, dass sie niemand beobachtete. Dass sich kein Vorhang verdächtig bewegte.
Die Erleichterung trieb ihr die Tränen in die Augen. Endlich hatte sie den Teil der Hecke erreicht, durch den hindurch sie in die Freiheit schlüpfen konnten.
Sie schob Ava die Kapuze tiefer ins Gesicht, um sie vor den Zweigen zu schützen, während sie sich durch das schmale Loch quetschte.
Auf der anderen Seite angekommen, fühlte es sich wie ein kleiner Sieg an.
Der keiner war. Denn sie hätte kaum eine Chance, falls ihr Verschwinden schon bemerkt worden sein sollte.
Jetzt musste sie gut dreihundert Meter einen Ackerweg entlanglaufen, dann über ein Stoppelfeld, das bis an den Wald grenzte. Diesen musste sie durchqueren, um ungesehen in das nächstgelegene Dorf zu gelangen.
Als sie den Wald erreichte, schmerzten ihre Arme und ihr Rücken. Ava schlief noch immer seelenruhig. Trotz der zunehmenden Schmerzen verzichtete Willow darauf, ihre Tochter kurz abzusetzen und sich eine Pause zu gönnen. Sie musste jede Minute, jede Sekunde nutzen, um die Distanz zum Anwesen zu vergrößern.
Im Wald fühlte sie sich zwar ein wenig sicherer, jedoch war es hier stockfinster. Der Mond hatte kaum eine Chance, durch das dichte Geäst der Bäume bis zum Boden hindurchzudringen. Der einzige Orientierungspunkt, der sich Willow bot, war das Plätschern des kleinen Baches, der direkt ins Dorf führte.
»Mami.« Sie waren noch nicht lange unterwegs. Äste knackten bei jedem ihrer Schritte unter ihren Füßen. »Mami.«
»Alles ist gut, mein Liebling.« Willow gab ihrer Tochter einen sanften Kuss auf die Wange.
»Gehen wir spazieren?« Verschlafen blickte Ava zu ihr hoch. »Es ist dunkel.«
»Du brauchst keine Angst zu haben. Ich passe auf dich auf.«
»Ich habe keine Angst.« Ava schlang die Arme um Willows Hals.
»Du bist das mutigste Mädchen, das ich kenne.« Ihre tapfere kleine Ava.
»Hast du Aua, Mami?«
Willow kniff die Zähne zusammen. Sie wollte ihrer Tochter gegenüber nicht zugeben, dass sie tatsächlich heftige Schmerzen hatte. »Mir geht es gut.«
Ava schmiegte sich an Willows Schulter.
»Schlaf ruhig noch ein bisschen«, murmelte Willow.
Sie spürte das Nicken von Avas Köpfchen und lief eisern weiter, kämpfte gegen ihre schwindende Kraft an.
Nach einer Weile breitete sich eine wohlige Wärme in ihren Armen und dem Rücken aus. Ein Kribbeln befiel ihren Körper, dann ließen die Schmerzen langsam nach.
Willow presste Ava enger an sich und unterdrückte die Tränen. Dann ging sie tapfer weiter, bis sich der Wald schließlich lichtete und sie auf das angrenzende Feld gelangten. Weiter hinten waren die Umrisse der ersten Häuser zu erkennen
Es war noch immer stockfinster, was bedeutete, dass sie schnell genug vorangekommen war. Wieder ging sie querfeldein über einen umgepflügten Acker. Auf der anderen Seite gelangte sie auf einen Feldweg. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte einige Meter entfernt, unter einem Baum, einen Zweispänner.
Aufgeregt beschleunigte Willow ihre Schritte. Sie stockte instinktiv, als sie eine Bewegung wahrnahm; jemand, der sich von dem Kutschbock erhob und hinuntersprang.
»Willow«, hörte sie eine Stimme gedämpft ihren Namen sagen.
Erleichtert atmete sie aus: Betty!
Jetzt rannte sie auf den Zweispänner zu.
Betty fiel ihr um den Hals.
»Geht es euch gut?«, erkundigte sich diese besorgt und betrachtete Willows Gesicht eingehend.
Betty war einige Jahre älter als sie. Sie hatte zwei erwachsene Kinder, die bei ihr in der Bäckerei arbeiteten.
Willow nickte. »Ja, keine Sorge, es ist alles in Ordnung.« Den Umständen entsprechend, fügte sie im Stillen hinzu.
Betty nahm Willow an der Schulter und warf einen Blick auf Ava, die wieder eingeschlafen war.
»So ein zauberhaftes Mädchen.« Es war das erste Mal, dass ihre Freundin Ava sah.
Die beiden Frauen kannten sich, seit Ava ein Jahr alt gewesen war. Willow hatte öfter einen Spaziergang ins Dorf unternommen und hatte die Bäckerin bei ihrem ersten Besuch in deren Bäckerei kennengelernt. Sie liebte ihre Brötchen und die süßen Teilchen.
Von denen Betty ihr nun eine Tüte entgegenhielt. »Zur Stärkung. Komm, wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich habe alles vorbereitet.« Ihre Freundin klappte den hinteren Teil des Anhängers hinunter, auf dem ansonsten Kisten mit Brot oder Säcke mit Weizen transportiert wurden. »Es wird holprig werden.«
Willow beugte sich zu Betty und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich danke dir.« Sie bettete Ava auf dem Kutschbock, der mit einer warmen Decke gepolstert war, und legte sich dann neben sie.
»Alles wird gut werden«, versprach Betty, ehe sie die beiden mit der Plane bedeckte. »Wir werden einige Stunden unterwegs sein. Am besten versuchst du, ein wenig zu schlafen.«
Der Anhänger senkte sich, als sie vorne auf den Kutschbock stieg. Kurz darauf setzte sich der Wagen in Bewegung.
Willow legte ihren Arm um Ava und zog sie zu sich. Ganz nahe, bis sie ihren Herzschlag spüren konnte. Es dauerte nicht lange, da siegte die Müdigkeit und sie sank in einen traumlosen Schlaf.
Kapitel 2
So wie das stetige Holpern Willow in den Schlaf gewogen hatte, so brachte sie das plötzliche Stoppen jener Bewegung augenblicklich in die Wirklichkeit zurück.
Sofort war sie in Alarmbereitschaft. Sie riss die Lider auf und blickte geradewegs in die großen, runden Augen ihrer Tochter, die sie immer an die Farbe von dunklem Ton erinnerten.
Sonnenstrahlen drangen durch die lichtdurchlässige Plane, mit der sie zugedeckt waren.
»Mami«, flüsterte Ava, als wüsste sie, dass sie leise sprechen musste. »Ich hab Hunger.«
In jenem Moment wurde das Verdeck fortgerissen. Eine strahlende Betty lehnte sich zu ihnen. Über ihr schien die Mittagssonne. Willow kniff die Augen zusammen, weil das Licht schrecklich blendete.
»Willkommen in Abingdon!«, verkündete Betty fröhlich.
Willow brauchte einen Augenblick, dann setzte sie sich aufrecht hin und Ava krabbelte auf ihren Schoß.
Ein wenig verschüchtert schmiegte sie sich an ihre Mutter und warf Betty einen scheuen Blick zu.
»Das ist meine Freundin.« Willow drückte Ava einen dicken Kuss auf den Schopf und fuhr mit den Fingern durch ihr Haar. »Es tut mir leid, mein Liebling, dass du so lange still liegen musstest. — Gab es Schwierigkeiten?«, fragte sie dann an Betty gewandt.
»Nein. Es war ruhig. Es kamen weder Reiter, die auf der Suche schienen, noch passierte sonst irgendetwas Ungewöhnliches.«
»Es ist Mittag. Jetzt wissen sie es auf jeden Fall.« Willow sah sich um. Sie standen abseits von Abingdon auf einem Feldweg. Einen langen Moment starrte sie auf den Horizont, hinter dem der Pfad verschwand.
Weit und breit keine Reiter. Nur hier und da ein einsamer Apfelbaum, der am Wegesrand wuchs. Weiter in der Ferne pflügte ein Bauer sein Feld. Doch selbst das fröhliche Trällern der Vögel konnte Willow die Anspannung nicht nehmen.
»Du hast einen guten Vorsprung. Die Kutsche in Richtung Northampton geht um 13:00 Uhr«, meinte Betty. »Die solltet ihr nicht verpassen.«
Willow schob Ava vorsichtig von ihrem Schoß. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ihre Beine zu bewegen.
»Mami«, quengelte sie erneut.
Willow griff nach dem Stoffbeutel und holte eines der Brötchen heraus. »Und wenn du dann noch Hunger hast, bekommst du einen leckeren Apfel.«
Betty bedachte die beiden liebevoll mit einem Hauch Sorge.
»Es ist besser, wenn du mir nicht sagst, wohin du nach Northampton möchtest. Für alle Fälle.«
Willow lächelte matt und stieg von dem Zweispänner herunter. »Das weiß ich ja selbst noch nicht.«
Ihre Beine waren etwas wackelig. Sie griff nach der Hand ihrer Freundin. »Ich weiß nicht, wie ich dir das je danken kann.«
»Ach, Unsinn. Versprich mir nur, dass du gut auf dich und die Kleine achtgeben wirst.« Die beiden Freundinnen umarmten sich zum Abschied.
»Ohne dich …«
»… Ich bin einfach froh, dass ich euch helfen konnte. Was auch immer dein Mann vorhat, nun wird er es nicht in die Tat umsetzen können.«
Willow hob Ava vom Wagen herunter. Sofort begann das Mädchen — mit dem Brötchen in der Hand — den Weg entlangzuhüpfen.
Betty setzte sich auf den Kutschbock, schnalzte mit der Zunge und wendete den Zweispänner.
»Ich wünsche euch von Herzen alles Gute«, rief sie. Dann sah Willow zu, wie ihre Freundin langsam aus ihrem Blickfeld entschwand.
Sie würden sich nie wiedersehen. Was Willow sehr bedauerte. Aber sie durfte keinerlei Kontakte zu ihrem alten Leben pflegen.
Vor ihr lag eine Reise ins Ungewisse. Ohne jegliche Unterstützung, ohne Rückhalt. Doch sie würde diesen Weg meistern.
Für ihre Tochter.
Mittlerweile hatte Ava ihr Brot aufgegessen und Willow hatte sie bei der Hand genommen. Bevor sie ins Dorf hineinliefen, zog sie sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Selbst wenn es unwahrscheinlich war, dass jemand sie hier kannte, musste sie auf Nummer sicher gehen.
»Möchtest du einen Apfel?«
Ava schüttelte den Kopf. »Wo gehen wir denn hin?«
»Wir erleben ein Abenteuer.« In gewisser Weise war es das auch. Und das Schicksal hatte es in der Hand, ob es glücklich oder trostlos für sie enden würde.
Während sie die ersten Häuser passierten, betrachtete sie den Ring, der in der Sonne funkelte. Kühl und schwer lag er um ihren Finger. Das Gefühl, dass er da nicht hingehörte, hatte sie schon, seit John ihn ihr angesteckt hatte.
Kurzerhand nahm sie ihn ab. Sie wollte ihn fortwerfen, als sie innehielt. Selbst wenn sie alles, was sie an John erinnerte, loswerden wollte, wäre es dumm von ihr, ihn einfach auf der Straße zu entsorgen.
Pures Gold. Das war sicher einiges wert und sie konnte jeden Penny gebrauchen. Also verstaute sie ihn in einer kleinen, eingenähten Tasche ihres Kleides. Das war ihre Notreserve, sollte das Geld, das sie hatten, nicht ausreichen.
***
Mit einer halben Stunde Verspätung kam die Postkutsche, die sie weiter nach Northampton bringen würde.
Willow wusste nur, dass sie in Richtung Norden reisen wollte. So weit weg wie möglich von Southampton und von John. Wenn sie das Geld, das sie gesammelt hatte, gut einsetzte, würden sie ein paar Wochen davon leben können; aber dann …
Die Aussicht auf eine Zukunft in Armut versetzte Willow in Angst. Der Gedanke, Ava müsse Hunger leiden oder frieren, war kaum zu ertragen. Die Alternative, weiter bei John zu bleiben, wäre jedoch noch furchtbarer.
Willow stammte zwar aus einer wohlhabenden Familie, aber sie war tüchtig. Sie würde jede Art von Arbeit annehmen, die sich ihr bot. Sie war gesund und mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch jung. Ja, sie war optimistisch, dass sie etwas finden würde, dass ihnen beiden das Überleben sicherte. Wenngleich bei weitem nicht auf so komfortable Art.
Gegend Abend kam die Kutsche an einer Pension im Northampton an, in der Willow ein Zimmer mietete. Ava war mächtig aufgeregt wegen der Reise. Sie brauchte lange, bis sie eingeschlafen war. Willow selbst versuchte erst gar nicht, überhaupt an Schlaf zu denken. Die ganze Nacht über starrte sie aus dem Fenster. Bei jeder Kutsche, bei jedem Reiter, der sich der Pension näherte, pochte ihr Herz schneller.
Früh am Morgen, der Tau lag noch auf den Wiesen und Feldern, brach die nächste Postkutsche in Richtung Nottingham auf. Danach fuhren sie nach Doncaster und schließlich landeten sie am fünften Tag in York, wo Willow kurzerhand beschloss, eine Kutsche nach Bridlington zu nehmen.
Bridlington war eine kleine Hafenstadt, die an der Nordsee lag. Willow wollte fort von den Großstädten und dachte darüber nach, mit dem Schiff auf den Kontinent überzusetzen, sobald sie genügend Geld angespart hatten.
In einer Hafenstadt würde es außerdem sicherlich Arbeit für sie geben. Sie würde Fische ausnehmen, wenn es nötig sein sollte. In einer Pension zu arbeiten und bestenfalls dort auch zu wohnen wäre aber die wünschenswerteste Option, sollte ihr das Glück vergönnt sein, wählen zu dürfen.
***
Es dämmerte bereits, als die Kutsche anrollte und ein Gewitter bahnte sich an.
Nach fünf Tagen, die sie größtenteils sitzend zugebracht hatten, sank nun langsam auch Avas Laune. Sie verzog unleidlich das Gesicht, als Willow sie in die Kutsche hineinhob. Bevor Willow selbst einsteigen konnte, fielen die ersten Regentropfen. Sie blickte zum Himmel hinauf. Über das Dämmerlicht hatten sich dunkelgraue Wolken geschoben. Schlagartig war es finster.
Ein seltsames, nicht zu greifendes Gefühl machte sich in ihr breit. Sie zog die Kapuze tiefer in ihr Gesicht und stieg ein. Sie setzte sich und hob Ava auf ihren Schoß.
Eine ältere Dame saß ihnen gegenüber.
»Guten Abend«, grüßte Willow die Mitreisende mit dem ergrauten, streng nach hinten gebundenem Haar. Der Mantel, den sie trug, war abgenutzt und sie stützte ihre Hände auf einen Gehstock auf, den sie zwischen den Beinen hielt.
Mit einem gutmütigen Ausdruck in den alten Augen zog sie ihre Lippen nach oben, sagte jedoch kein Wort.
Ansonsten saß niemand in der Kutsche.
Auf dem Weg von Nottingham nach Doncaster waren sie zu sechst gereist, Ava nicht mitgezählt. Das war die reinste Tortur gewesen. Ganz zu schweigen von den Ausdünstungen des Mannes, der zu nah an sie herangerutscht war. Er hatte gerochen, als hätte er die Nacht zuvor in einem Bierfass zugebracht.
Willow schüttelte sich innerlich und hoffte, dass keine weiteren Gäste mehr einsteigen würden.
Als der Kutscher mit seiner Zunge schnalzte und sich das Gefährt mit dem nächsten Donnergrollen in Bewegung setzte, war sie erleichtert.
Die tagelange Reise zerrte an Willows Nerven. Außerdem kosteten die Fahrten und die Übernachtungen in den Pensionen mehr, als sie angenommen hatte.
In York hatte sie den Ring gegen fünf Pfund eingetauscht. Ob sie damit ein gutes Geschäft gemacht hatte, vermochte sie nicht zu beurteilen. Sie war nur froh darüber gewesen, ihren Beutel wieder füllen zu können, der auf ein paar armselige Pence geschrumpft war.
Das Prasseln des Regens auf dem Dach war zermürbend und beruhigend zugleich.
»Ich bin müde, Mami.« Ava schmiegte sich enger an Willows Brust.
»Setz dich neben mich und leg deinen Kopf auf meine Beine.« Willow hob sie herunter und bettete dann Avas Kopf auf ihren Schoß. Von Sorge erfüllt strich sie ihrer Tochter durch das Haar. Es dauerte nicht lange, da war Ava eingeschlafen.
»Wir schaffen das«, murmelte Willow leise. Erschöpft ließ sie ihren Kopf gegen die Rückenlehne sinken und schloss die Augen.
Sie hatte keine Kraft mehr, sich darüber Gedanken zu machen, wo sie schlafen sollten, wenn sie mitten in der Nacht in Bridlington ankamen. Sie sog tief die Luft ein, als ihre Lippen zu beben begannen und sich die Tränen ihren Weg bahnten.
Leise atmete sie aus.
Reiß dich zusammen.
»Auf schlechte Tage werden wieder gute folgen.«
Willow öffnete ihre Augen und hob den Kopf vom Polster.
Es war gerade hell genug in der Kutsche, dass sie das Gesicht der Fremden gegenüber erkennen konnte.
Für einen Moment sahen sie und die alte Frau sich schweigend an.
Ganz bewusst nahm Willow das Gewicht von Ava wahr. Das Heben und Senken ihres Brustkorbs.
Sie hoffte inständig, dass die Frau mit ihren Worten recht behalten würde.
»Das werden sie«, erwiderte Willow. Ganz bestimmt. »Ich danke Ihnen.«
Die Frau runzelte die Stirn. »Für was, mein Kind?«
»Für Ihre aufmunternden Worte … und dass Ihnen aufgefallen ist, dass ich sie gebraucht habe.«
Die Frau neigte sich auf dem Gehstock gestützt leicht zu ihr nach vorne.
Es ist doch bloß eine ältere Frau, sagte sich Willow. Sie brauchte keine Angst zu haben. Also nahm sie die Kapuze herunter. »Sind Sie auf dem Weg nach Bridlingten oder auf der Durchreise?«, erkundigte sie sich. Ein wenig Plaudern würde sie vielleicht von ihren Sorgen ablenken. Bisher hatte sie es vermieden, mit anderen ins Gespräch zu kommen, und sich so unauffällig wie möglich verhalten, um keine unangenehmen Fragen gestellt zu bekommen.
Statt ihr zu antworten, schien es, als wäre die Frau zu Stein erstarrt. Ihre Augen hatten sich geweitet und sie sah Willow an, als wäre sie der Leibhaftige persönlich.
»Ist alles in Ordnung?«
Nachdem die Frau nicht reagierte, lehnte Willow sich so weit vor, wie es ihr mit Ava auf dem Schoß möglich war. Sie legte ihre Hand auf die Hände der Fremden, die übereinander auf dem Gehstock ruhten.
Plötzlich sog diese die Luft ein. So schneidend, dass Willow eine Gänsehaut bekam.
In ihren Augen glitzerte ein Schimmer. Das Leuchten, das Willow darin erkannte, erinnerte sie an die Sterne.
Es waren einmal, vor sehr, sehr langer Zeit …
»Ist das denn …«, kam krächzend über die Lippen der Frau. Willow wurde seltsam beklommen zumute.
Sie zog ihre Hand fort.
»Ist das denn …«, wiederholte die Frau mit starrem Blick.
Ein heftiges Ruckeln hob sie beide kurzzeitig von ihren Sitzen.
Die Kutsche machte einen scharfen Schlenker nach rechts. Instinktiv krallte sich Willow an ihrer Tochter fest. Dabei stieß sie mit dem Kopf gegen die Kabinenwand.
Ein dumpfer Schmerz zuckte durch ihren Schädel.
Sie kam nicht dazu, sich weiter Gedanken oder gar Sorgen über das eben Geschehene zu machen.
Der Schrei des Kutschers hallte zu ihnen, bevor das Gefährt erneut zur Seite kippte.
Dann war es ruhig. Nur der Regen prasselte unaufhörlich weiter.
»Nein! Nein! Nein! O Gott!«, hörte sie den Kutscher wieder panisch schreien. Jemand rüttelte an der Tür, doch sie ging nicht auf.
Im nächsten Moment begann sich alles zu drehen. Willow und Ava wurden auf die andere Seite des Kutschkastens geschleudert. Sie rutschten etwas hinab. Einen Abhang womöglich.
Sie umklammerte Ava und zog sie fest an ihre Brust.
Es gab einen dumpfen Schlag und dann wurde es dunkel.
***
Der Geruch nach feuchter Erde stieg ihr in die Nase.
Mit dem nächsten Atemzug nahm sie den Regen wahr, der sich über sie ergoss.
Es gelang ihr, die Augen zu öffnen.
Es war dunkel, doch sie konnte die Bäume erkennen, die um sie herum standen.
Ihre Finger gruben sich in die nasse Erde.
Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten.
»Ava.« Panik ergriff von ihr Besitz. »Ava!«
Sie schaffte es, sich auf die Seite zu drehen. Ein Blitz erhellte die Dunkelheit.
Sie entdeckte ihre Tochter. Nicht weit entfernt. Es dauerte einen Moment, bis Willow erkannte, dass sie vor der alten Frau kniete, die auf dem Boden lag.
»Ava!« Sie versuchte zu schreien, doch aus ihrem Hals kam nur ein Krächzen.
Dann: fremde Stimmen, die durch die Luft hallten.
Rufe.
Sie verlor ihre Kraft und sank mit dem Gesicht auf die Erde zurück.
Der Boden unter ihr gab nach.
Nein, jemand hob sie auf.
Mit allen Mittel versuchte sie, sich zu wehren, als ihr der Blick zu ihrer Tochter versperrt wurde. Doch es gelang ihr lediglich, ihren Arm auszustrecken.
»Ava!« Sie konnte nicht sagen, ob sie schrie oder es sich nur einbildete.
Dann spürte sie den Atem des Fremden an ihrem Ohr, begleitet von dem Duft nach Sommerregen. »Es wird alles gut werden«, hörte sie seine Stimme. »Sie sind in Sicherheit.«
Dann glitt sie zurück in die Dunkelheit.
Kapitel 3
Ein Summen. Lachende Kinder. Das Zwitschern von Vögeln. Oder war es das Schreien von Möwen?
Willow öffnete die Augen.
Mit einem Schlag war die Dunkelheit einem gleißenden Licht gewichen.
Mit der Hand vor dem Gesicht schützte sie sich vor der unerwarteten Helligkeit.
Ihr Herz schlug heftig.
Als sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, blickte sie geradewegs zu einer mit weißem Stuck verzierten Zimmerdecke hinauf. Die hervorgehobenen Linien bildeten Blätter, die in regelmäßigen Abständen durch Rosen ersetzt wurden.
Was war geschehen?
Das Kreischen der Möwen — ja, es waren definitiv Möwen — mischte sich mit einem Rauschen.
Das Meer.
Wieder das Lachen von Kindern, das aus weiter Ferne zu ihr drang.
Ava.
Mit einem Satz saß Willow aufrecht im Bett.
Panik übermannte sie. Hatte sie die Flucht nur geträumt?
Die Kutsche, die alte Frau, … der Unfall.
Sie sah sich um.
Das war nicht ihr Zimmer.
Das war nicht Stoke House.
Sonnenstrahlen drangen durch ein offenes Fenster und streiften ihre Wange. Die weißen, mit Spitze versäumten Vorhänge blähten sich in der milden Brise nach innen auf. Willow meinte, den leichten Geruch von Salz wahrzunehmen.
Während sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie an diesen Ort gelangt war, ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen.
Alles hier war in hellen Farben gehalten. Selbst die Möbel waren mit einer weißen Lasur überzogen, sodass die Maserungen des Holzes nur noch zu erahnen waren. Einzig der dunkle Dielenboden bot einen Kontrast.
Für einen Augenblick war sie geneigt, ihre Augen wieder zu schließen und den Geräuschen zu lauschen, die sie umgaben. Selbst das Kreischen der Möwen, das von draußen hereindrang, hatte eine seltsam friedliche Wirkung auf sie.
Stattdessen blickte sie an sich hinab und musste feststellen, dass sie in ein hellblaues Nachthemd gekleidet war. Der Quilt, der beim Aufsetzen an ihr hinabgeglitten war, war aus vielen verschiedenen Stoffquadraten zusammengenäht worden, auf denen sich jeweils eine wunderschöne Stickerei befand. Willow hatte so eine Decke für Ava gefertigt, nachdem sie erfahren hatte, dass sie mit ihr schwanger war.
»Ava!«
Sie schwang ihre Beine über die Bettkante.
Bevor sie jedoch einen Fuß auf den Boden setzen konnte, bemerkte sie einen Schatten zu ihrer rechten Seite.
Erschrocken fuhr sie zusammen.
Jemand trat aus einem Nebenzimmer, das durch einen offenen Zugang von ihrem Aufenthaltsraum getrennt war.
Eine junge Frau kam auf sie zu.
»Sie sind wach«, stellte sie mit einer Heiterkeit fest, die Willow ein wenig von ihrer Panik nahm.
Willow hatte noch immer keine Ahnung, wo sie war. Die Kutsche hatte einen Unfall gehabt, daran erinnerte sie sich. Auch an den Regen, den Duft nach nasser Erde. Aber was danach geschehen war …
Sie hatte keine Zeit dafür, Fragen zu stellen. Zuerst musste sie zu Ava.
»Meine Tochter.« Willows Beine fühlten sich wackelig an, als sie ihre nackten Füße auf den beigefarbenen, weichen Teppich stellte.
Sofort war die Frau bei ihr und stützte sie. Willow schätzte sie in etwa so alt wie sich selbst. Ihr pechschwarzes Haar fiel in einem Zopf bis über ihre Brust, die im Vergleich zu ihrer ansonsten zierlichen Figur recht üppig ausgefallen war.
»Bitte, wo ist meine Tochter?«
Behutsam, aber bestimmt, drückte die Frau sie zurück auf die Bettkante. Sie war einen halben Kopf größer als Willow.
»Ihre Tochter ist wohlauf«, versicherte sie ihr.
»Wo ist sie?«
»Sie ist unten und spielt mit Susanna und Jamie. Sie hingegen sollten es langsam angehen lassen.«
Die Frau setzte sich neben Willow.
»Susanna und Jamie?«
»Meine Tochter und mein Sohn. Ava ist bei den beiden gut aufgehoben.« Die Frau lächelte schief. »Sie machen gerade die Flure unsicher.«
»Ava ist nicht verletzt?«
»Nein. Ihr geht es hervorragend. Wie durch ein Wunder hat niemand schwerere Verletzungen davongetragen. Eigentlich …« Die Frau runzelte kurz die Stirn, bevor sie fortfuhr. »… hat keiner von Ihnen auch nur einen einzigen Kratzer abbekommen. Über Sie alle muss ein Schutzengel gewacht haben.« Dann lächelte sie. »Oder ein ganzes Dutzend, besser gesagt.«
Über die Maßen dankbar und erleichtert sah Willow aus dem Fenster. »Ja, ein Schutzengel«, murmelte sie.
Meine Ava.
Eine stärkere Brise drang ins Zimmer.
Die Frau erhob sich und schloss das Fenster. Dann drehte sie sich zu Willow herum.
»Durch den Regen war die Erde aufgeweicht und es gab einen Erdrutsch. Der Kutscher konnte abspringen, bevor die Kutsche den Abhang … Nur wenige Minuten später kamen glücklicherweise unser Herzog und mein Mann den Weg entlanggeritten.« Sie breitete die Arme aus. »Willkommen auf Bleak Castle!«
Bleak Castle.
Der Name passte so überhaupt nicht zu dem hellen und freundlich erscheinenden Zimmer. Geschweige denn zu der herzlichen Frau, die ihr nun die Hand entgegenstreckte.
»Ich bin Miranda.«
Willow wartete, dass Miranda ihren vollen Namen nannte, doch sie strahlte sie nur erwartungsvoll an.
Zögerlich ergriff Willow die ihr dargebotene Hand. »Willow«, entgegnete sie. Sogleich biss sie sich in die Innenseite der Wange. Wie hatte sie bloß ihren richtigen Vornamen nennen können?
»Ich möchte jetzt gerne zu meiner Tochter.«
»Natürlich. Ich habe ein paar Kleider herausgesucht, die Ihnen passen könnten. Ihre waren leider zerissen und wir mussten … Wir haben sie verbrannt.«
»Oh.«
Miranda winkte ab, als sei der Umstand nicht weiter tragisch, dass Willow nun über keinerlei Kleidung mehr verfügte. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind hier bestens ausgestattet und Ihre Tochter hat ein Kleid von Susanna bekommen. Es ist ihr zwar etwas zu groß, aber ich habe den Saum hochgesteckt und die Ärmel hochgekrempelt.«
Meine Güte, wie lange hatte sie denn geschlafen?
»Das war sehr nett von Ihnen.« Unsicher blickte sie auf ihre Zehenspitzen.
Nur für einen kurzen Moment legte Miranda ihre Hand nochmal auf die von Willow. Als wollte sie damit ohne Worte sagen: »Alles wird gut werden.«
»Schuhe haben wir auch für Sie. Es sind zwar nicht die neuesten, aber sie sind bequem.«
Miranda eilte zu dem Kleiderschrank, der auf der anderen Seite des Bettes neben einer Kommode mit Waschschüssel stand.
Sie holte ein hellgrünes Kleid heraus.
Willow erhob sich vorsichtig. Ihre nackten Füße versanken in dem weichen Teppich. Sie fühlte sich noch immer schummrig, aber ihre Beine waren nicht mehr ganz so zittrig.
Die anfängliche Panik war abgeebbt und ihr Pulsschlag hatte wieder eine Geschwindigkeit angenommen, die sie gleichmäßig atmen ließ. Ihr Bewusstsein hatte begriffen, dass John sie nicht gefunden hatte.
Miranda kam auf sie zu und hielt ihr das Kleid unter das Kinn.
Sie strahlte.
»Es passt wunderbar zu Ihren grünen Augen.« Bewundernd ließ sie ihren Blick über Willows offenes Haar gleiten. »Ich habe noch nie so leuchtende, rote Strähnen gesehen. Ich helfe Ihnen beim Ankleiden.«
»Vielen Dank.« Willow stieg aus dem Nachthemd. Sie ging davon aus, dass es Miranda oder eine andere Frau gewesen war, die sie aus- und angezogen hatte, während sie bewusstlos gewesen war.
»Ihr Mann und der Lord dieses Hauses haben uns also das Leben gerettet?«
Miranda nickte überschwänglich. »Das haben sie.«
»Wenn ich bei meiner Tochter war, möchte ich mich gerne bedanken.«
»Die beiden sind den ganzen Tag unterwegs. Aber heute Abend findet sich sicher die Gelegenheit. Mein Mann Tom hat mir erzählt, ihm sei das Herz in die Hose gerutscht, als er die zertrümmerte Kutsche gesehen hat. Er hatte geglaubt, das könne niemand überlebt haben. Aber dann hat er Ihre Tochter entdeckt, die wohlauf war. Ein Wunder, für das wir hier alle dankbar sind.«
Willow brachte ein zögerliches Lächeln hervor. »Wir hatten großes Glück.«
»Und wir freuen uns, mal wieder Gäste hier begrüßen zu dürfen. Es ist immer eine Freude, neue Gesichter kennenzulernen.«
»Wir möchten Ihnen auf keinen Fall zur Last fallen.«
»Unsinn.« Miranda half Willow, in das Kleid zu steigen. »Wir sind hier auf Bleak Castle wie eine Familie und Gäste sind uns jederzeit herzlich willkommen.« Sie drehte Willow an den Schultern zu sich herum. »Passt perfekt.«
Willow ging im Kopf durch, wo sie sich befinden mussten. Irgendwo in der Nähe von Bridlington. Das war weit fort von Southampton.
»Fühlen Sie sich kräftig genug, um hinunterzugehen?« Etwas Sorge hatte sich in den fröhlichen Gesichtsausdruck von Miranda geschlichen.
»Ich denke schon.«
»Gut.« Miranda holte die ledernen Schnürschuhe und Willow zog sie rasch an.
»Falls Sie die Kräfte verlassen sollten, haken Sie sich einfach bei mir unter.« Miranda zwinkerte ihr zu und lief dann voraus zur Tür.
Willow fragte sich, ob sie womöglich die Haushälterin des Anwesens war. Ihre Kleidung, die zwar schlicht geschnitten, aber aus gutem Stoff bestand, und durchaus als farbenfroh zu bezeichnen war, passte jedoch nicht zu einer Haushälterin. Aber andererseits … Wenn Mirandas Mann mit dem Lord des Anwesens unterwegs war, konnte dieser der Verwalter sein.
Zu fragen wagte sie nicht. Sie wollte nicht zu neugierig erscheinen, insbesondere, da sie inständig darum betete, dass man ihr selbst nicht allzu viele Fragen über ihre Herkunft stellen möge.
Zumindest, und das schenkte Willow für diesen Moment ein wenig Zuversicht, hatten sie für heute ein Dach über dem Kopf. Das Schicksal hatte sie nicht vom Regen in die sprichwörtliche Traufe geraten lassen, sondern auf ein Anwesen, das zumindest schon einmal eine sehr freundliche Person beherbergte – und einen Hausherrn, der ihnen das Leben gerettet hatte.
Ob John fremde, verunglückte Leute auch so selbstlos bei sich aufgenommen hätte?
Sie schüttelte innerlich den Kopf. Über ihren Mann wollte sie nicht nachdenken. Er sollte nicht länger Platz in ihrem Leben und dem ihrer Tochter haben.
Willow wollte ihn vergessen … Selbst, wenn das unmöglich war.
Sie begleitete Miranda in den Flur hinaus.
Dieser war noch einmal eine ganze Ecke breiter als der von Stoke House. Die Wände waren weiß gestrichen und alles wirkte, trotz nur eines einzigen Fensters am Ende des Flurs, hell und einnehmend. Keine dunklen Darstellungen mit streng blickenden Männern und Frauen. Stattdessen hingen hier Ölgemälde von Blumenwiesen und Wäldern — in einer Farbenpracht aufgetragen, dass Willow fasziniert vor einem Bild mit einer Mohnblumenwiese stehen blieb. Es machte den Eindruck, als könne man durch den Rahmen steigen und würde sich dann inmitten dieser Wiese befinden, so detailreich und echt wirkte das Kunstwerk.
Miranda war neben sie getreten und blickte ebenfalls auf das Gemälde. »Wunderschön, nicht wahr?«
»Wer hat es gemalt?«
»Unser Herzog.«
Verdutzt wandte sich Willow zu Miranda. »Der Herzog?«
Stolz funkelte in Mirandas Augen. »Seine Leidenschaft, würde ich wohl sagen. Oder Obsession«, fügte sie dann mit einem ernsten Stirnrunzeln hinzu.
»Sie sind auf jeden Fall wunderschön.« Die Gemälde erweckten in Willow die Sehnsucht, in diese Welt einzutauchen, die sich der Maler erdacht hatte, als er sie schuf.
»Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrer Tochter.«
Willow riss den Blick von dem Gemälde mit den Mohnblumen los und folgte Miranda weiter den Flur entlang.
»Wo kommen Sie und Ihre Tochter denn her und wohin sollte die Reise gehen?«
Das war eine der Fragen, die sie gefürchtet hatte.
Was sollte sie darauf antworten? Sie wollte die nette Frau nicht anlügen, aber sie durfte auf keinen Fall zu viel von sich preisgeben.
Nervös zupfte sie am Spitzensaum ihres Ärmels herum. »Wir haben kein bestimmtes Ziel«, kam leise über ihre Lippen. Zumindest war das keine Lüge, dachte sie zerknirscht.
Ein Hauch des Bedauerns huschte über Mirandas Gesicht, bevor sie ihren Blick wieder nach vorne richtete.
»Dann spricht ja nichts dagegen, wenn Sie ein paar Tage länger bleiben. Susanna wird sich freuen: Sie mag Ava schon jetzt sehr gerne.«
Damit hatte Willow nicht gerechnet. Verdutzt über dieses Angebot blieb sie stehen. Miranda ging noch ein paar Schritte weiter, ehe sie ebenfalls innehielt und sich zu ihr herumdrehte.
»Das ist wirklich sehr freundlich, aber …«
Mit einer fahrigen Handbewegung unterbrach Miranda sie. »Wir lassen niemals jemanden im Stich, der sich in Not befindet.«
In Not? Willow versuchte, ihren Schock zu verbergen. Hatte man ihre Lage etwa durchschaut?
Miranda ging auf sie zu und nahm ihre Hand. »Jetzt gehen wir erst einmal zu Ihrer Tochter. Sie haben den ganzen Tag Zeit, es sich zu überlegen. Zimmer gibt es hier zu Genüge.« Sie wandte sich wieder ab und marschierte los. »Kommen Sie.«
Miranda hatte recht. Willow musste dieses großzügige Angebot nicht sofort annehmen. Aber sie sollte es, dachte sie wenige Sekunden später. Allein um Avas willen.
Sie bekam nicht länger Zeit, darüber nachzudenken.
Sie erreichten die Empore.
»Wir sind hier im Südflügel«, erklärte Miranda und zeigte dann auf die andere Seite der Galerie, auf der parallel ebenfalls ein Flur verlief. »Dort hinten befindet sich der Nordflügel. Der Teil des Anwesens wird von unserem Herzog und seinem Butler Peter bewohnt.«
Vom Nord- wie auch vom Südflügel führte jeweils eine geschwungene Treppe hinunter in die Eingangshalle.
Die Größe der Halle raubte Willow zunächst den Atem. Trotz der mächtigen Pfeiler, die nach oben zur Decke reichten, strahlte dieser Ort eine Leichtigkeit aus, die sie schon im Zimmer verspürt hatte. Am unteren Ende der Treppen standen Tonvasen, die ihr bis zum Hals reichen mussten.
Ihre Aufmerksamkeit fiel auf das blaue Mosaik, das über dem Haupteingang angebracht war. Lediglich drei Sterne, die aus gelben Steinen bestanden, hoben sich von dem ansonsten einfarbigen Kunstwerk ab. Ein Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus, das sie nicht einzuordnen vermochte.
Drei Sterne.
In selben Moment liefen lachende Kinder unter der Empore entlang in die Eingangshalle.
Eines von ihnen war Ava.
Willow beugte sich über die Brüstung.
»Ava!«
Sie raffte die Röcke ihres Kleides, rannte die Treppe hinunter und fiel vor ihrer Tochter auf die Knie. Dann schlang sie ihre Arme um Ava und drückte sie fest an ihre Brust. Genoss ihre Nähe, ihren Duft.
»Dir geht es gut. Ich bin so unendlich erleichtert.«
»Mami, Mami, Susanna hat ganz viele Puppen und ich darf mit ihnen spielen, hat sie gesagt.«
Willow schob Ava ein Stück von sich weg, damit sie sie ansehen konnte. Liebevoll strich sie ihr über die Wange. Ihre Tochter so glücklich zu sehen, so ausgelassen, nach diesen auszehrenden Tagen, diesem Unglück, war wie ein Geschenk.
»Das ist lieb von deiner neuen Freundin.«
Sie bedauerte es, dass sie nicht daran gedacht hatte, für Ava eine Puppe mitzunehmen. Sie hatte es einfach vergessen.
»Mami, warum weinst du?«
Willow schniefte. »Das sind Freudentränen, mein Liebling.«
»Du bist also glücklich?«
Sie riss sich zusammen. »Ich bin so froh, dass es dir gut geht.«
Die beiden anderen Kinder rannten auf Miranda zu, die jetzt auch unten angekommen war. Das Mädchen, das Susanna sein musste, zog am Arm ihrer Mutter. »Mama, Mama, wir haben Hunger!« Ihr dunkelbraunes Haar war keck zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr über die Schultern reichten. Sie war gut einen Kopf größer als Ava. Der Junge musste nochmals ein gutes Stück älter sein. Willow schätzte ihn auf sieben oder acht Jahre. Sein Haar war kurzgeschnitten und wie das seiner Mutter rabenschwarz. Die Brille auf seiner Nase saß ein wenig schief.
Miranda strich ihm über das Haar. »Jamie, geh doch mit den Mädchen in die Küche. Ludmilla hat bestimmt eine Kleinigkeit für euch, bevor es Mittagessen gibt.« Der Junge nickte und nahm seine Schwester bei der Hand.
»Mami, darf ich mitgehen?« Ava zappelte aufgeregt.
Nach einem kurzen Blick zu Miranda, die ihr zunickte, konnte sie die Bitte ihrer Tochter nicht abschlagen. »In Ordnung.«
Schon war Ava an die Seite von Jamie geeilt und hatte seine freie Hand ergriffen.
Geschockt und gerührt zugleich über diese Szene sah Willow den Kindern nach.
War es gut oder schlecht, dass sich Ava nach wenigen Stunden hier so wohlfühlte? Sie erhob sich. Miranda trat hinter sie und legte eine Hand auf ihre Schulter.
»So ausgelassen habe ich Ava schon lange nicht mehr erlebt«, murmelte Willow.
Als sie sich herumdrehte, sah Miranda sie mitfühlend an. Dann grinste sie. »Schon aus diesem Grund sollten Sie das Angebot annehmen und für eine Weile bleiben.«
Willow musste schmunzeln. Wann war sie das letzte Mal einer so freundlichen Person begegnet?
Abgesehen von Betty.
Da fiel ihr ein: »Da war eine ältere Frau mit in der Kutsche.«
Miranda nickte. »Ja, sie ist ebenfalls hier.«
»Ihr geht es auch gut?«
»Der Arzt hat sie untersucht. Ihr scheint nichts zu fehlen. Allerdings ist sie bisher nicht aufgewacht.«
Willow erinnerte sich an den Augenblick, als wäre er eben erst geschehen. Der Blick der alten Frau, das Kribbeln, das Gefühl …
»Ich würde gerne nach ihr sehen.«
In diesem Moment meldete sich Willows Magen mit einem lauten Knurren.
Mirandas Grinsen wurde breiter. »Zuerst kümmern wir uns um Sie.«
Kapitel 4
Mit Keksen in den Händen stürmten die Kinder an ihnen vorbei, ehe Miranda und Willow die Küche erreicht hatten.
»Vorsichtig, ihr Wirbelwinde, bevor ihr noch davonfliegt!« Miranda warf Willow einen entschuldigenden Blick zu. »Sie sind manchmal etwas wild, aber sie geben stets acht.«
Willow sah ihnen nach. Ava hatte Probleme, mit den beiden Geschwistern mitzuhalten, doch das schien sie nicht zu stören. Im Gegenteil, sie quiekte vor Freude.
Bisher hatte Ava keine Gelegenheit gehabt, mit Gleichaltrigen Kindern zu spielen. John hatte alles unternommen, um sie von anderen Menschen fernzuhalten. Nicht einmal im Park hatte sie mit ihr spazieren gehen dürfen, seit …
Willow bemerkte erst, dass sie die Fäuste geballt hatte, als Miranda ihre Hand ergriff und sie in Richtung der Küche weiterzog.
Sie war ein klein wenig überrumpelt von deren überschwänglicher Art, wenngleich sie sich in ihrer Nähe wohlfühlte.
Kaum hatte Miranda die Tür aufgestoßen, drang Willow der Duft von frisch gebackenem Brot in die Nase.
Zögerlich folgte sie ihr in die Küche.
Ein lichtdurchfluteter Raum, dank der vielen Fenster, der zum Verweilen einlud.
Im Vergleich zu dem, was sie bisher von Bleak Castle gesehen hatte, wirkten die Möbel rustikal und ohne Anstrich. An der Decke über der Küchenzeile hingen Knoblauch und getrocknete Kräuter an dicken Fäden herab, sodass man jederzeit problemlos danach greifen konnte. Der lange Tisch, der an der Seite stand, schien aus einem einzigen Baumstamm gefertigt zu sein. Fenster befanden sich an der Wand dahinter und gaben den Blick auf die Einfahrt frei: auf das kurz geschnittene Gras, den breiten Kiesweg und einen Brunnen, auf dessen Rand bunte Blumen in Kübeln wuchsen. Unweit der Küchenzeile gab es eine schmale Tür. Sie war halb offen und führte ins Freie hinaus. Zwei große Servierschränke standen, direkt links und rechts neben dem Ausgang.
Eine zierliche Frau mit einer weißen Haube auf dem Kopf stand vor dem Herd. Sie drehte sich zu den beiden herum.
Ihre Wangen waren stark gerötet, vermutlich von der Hitze des Ofens. Ein Strahlen erhellte die Augen der Frau. Rasch wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab und eilte auf die beiden zu.
»Wen haben wir denn da?« Sie musterte Willow mit unverhohlener Neugierde. »Da ist jemand aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.« Unerwartet, aufgrund ihrer zierlichen Gestalt, verfügte die Frau über eine tiefe, gar rauchig klingende Stimme.
Willow schätzte sie auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Ihr haselnussbraunes, zu einem Dutt nach hinten gebundenes Haar war am Ansatz ergraut. Die Fältchen um ihre Augen- und Mundpartie deuteten darauf hin, dass sie häufig lachte.
Ein glückliches Leben, dachte Willow sehnsuchtsvoll.
Eine unbeschwerte Kindheit für Ava.
Sie würde alles dafür geben, ihrer Tochter dies zu ermöglichen.
»Darf ich vorstellen: Mrs. Taylor, unsere hinreißende Köchin.« Miranda machte eine ausladende Geste in Richtung der Frau.
Diese verzog das Gesicht. »Niemand hier nennt mich Mrs. Taylor, nicht einmal unser Herzog. Ich bin Ludmilla. Einfach nur Ludmilla.«
Willow hatte kein Problem damit, dass sich hier alle beim Vornamen zu nennen schienen. Es vermittelte eine Vertrautheit, die sonst deutlich länger brauchte, wenn man die gesellschaftlichen Förmlichkeiten beibehielt.
»Ich bin Willow.« Zögerlich reichte sie der Köchin ihre Hand.
Und es hatte den Vorteil, dass man sie nicht nach ihrem Familiennamen fragte, und sie so nicht zum Lügen genötigt wurde.
Ludmilla schüttelte kräftig ihre Hand, was Willow ein Lächeln entlockte. »Wir alle sind erleichtert, dass es Ihnen gut geht. Ich hatte bereits das Vergnügen, Ihre Tochter kennenzulernen. Sie ist ein ganz zauberhaftes Mädchen. Überhaupt nicht schüchtern.«
Avas Verhalten überraschte Willow. Da sie bisher kaum unter fremde Menschen gekommen war, hatte sie mehr Zurückhaltung von ihr erwartet.
Sie war erleichtert, dass dem nicht so war.
Obgleich sich Willow selbst von der Situation ein klein wenig überfordert fühlte.
Erneut gab ihr Magen ein lautes Grummeln von sich.
»Dagegen werden wir jetzt etwas tun.« Eifrig kehrte Ludmilla an den Herd zurück. »Sie mögen Ei?«, fragte sie über ihre Schulter hinweg.
»Ja, sehr gerne … Aber ich möchte keine Umstände machen.« Diese ganze Fürsorge machte Willow verlegen. Natürlich hatte sie auf Stoke House wie eine Lady gewohnt. Man hatte ihr täglich Frühstück zubereitet, ihr das Bad eingelassen und ihr das Haar frisiert. Aber es war nicht aus Sorge um sie geschehen. Sie hatte kaum ein Wort mit den Bediensteten gewechselt.
Miranda beugte sich zu ihr. »Das sind keine Umstände für Ludmilla – das ist Leidenschaft!«
»Leidenschaft?«
»Kochen, backen, alles, was dazugehört.« Miranda zeigte in den Raum. »Diese Küche hier ist ihr Reich. Sie träumt sogar vom Kochen, sag ich Ihnen!«
»Ich kann dich hören, Miranda«, lachte Ludmilla, ohne sich umzudrehen.
Willow musste sich ein Glucksen verkneifen.
Die Menschen hier lebten ganz anders, obwohl sie unverkennbar in einem herrschaftlichen Anwesen wohnten.
»Das kannst du ruhig«, entgegnete Miranda mit einem Grinsen und führte Willow dann an den langen Tisch. »Kommen Sie, setzen Sie sich.«
Willow ließ sich auf einem Stuhl nieder und Miranda nahm gleich neben ihr Platz. »Hier in der Küche halten wir uns oft auf. Es ist gemütlich und das Essen ist nicht weit. Wir haben zwar noch einen großen Salon, aber den nutzen wir überwiegend in den Wintermonaten. Jetzt im Frühjahr und Sommer dient er als Klassenzimmer.«
»Klassenzimmer?«
»Ja, unser Chester unterrichtet die Kinder. Er ist quasi unsere Gouvernante und …«
Die Tür ging auf. Ein Mann in einem Rollstuhl kam herein. Willows Blick fiel sofort auf seinen Bart, der ihm bis zum Schlüsselbein reichte. Sein langes Haar hatte er nach hinten zu einem Zopf gebunden.
Im ersten Moment schien er Miranda und Willow nicht zu bemerken.
»Ludmilla, mein Sonnenschein!«, rief er fröhlich und rollte auf die Küchenzeile zu. »Dem herrlichen Duft nach zu urteilen, komme ich gerade recht.«
Ludmilla drehte sich um. »Du wirst dich mit dem Duft begnügen müssen.« Mit dem Kopf deutete sie in Richtung der Frauen. »Erst einmal sorge ich dafür, dass der Magen der jungen Lady gefüllt wird.« Dann beachtete sie ihn nicht weiter. Nacheinander schlug sie drei Eier auf. Ein Zischen erfüllte die Küche, als der Inhalt in die Pfanne gelangte.
Der Mann sah zu den beiden herüber.
»Hallo, meine Damen«, grüßte er. Jetzt erst fiel Willow auf, dass die Hose an seinem linken Knie zusammengebunden war. Er hatte die untere Hälfte seines Beines verloren.
Willow versuchte, nicht zu starren. Sie sah dem Mann in die Augen, der auf den zweiten Blick deutlich jünger wirkte, als es ihr zunächst durch den langen Bart erschienen war.
»Wenn man vom Teufel spricht.« Miranda grinste spöttisch. »Darf ich vorstellen: Das ist Chester.«
Chester nickte. »Es ist mir eine Freude.« Er rollte auf die beiden zu und ergriff Willows Hand, um sie an seine Lippen zu führen. »Sie ist genauso hübsch wie ihre Tochter.«
Miranda verdrehte die Augen und versetzte ihm mit der Faust einen Hieb gegen die Seite. »Heb’ dir deinen unwiderstehlichen Charme für Katharina auf.«
Mit einem charmanten Grinsen – soweit Willow das aufgrund seines reichlichen Bartwuchses beurteilen konnte – ließ Chester ihre Hand los. Schon kam Ludmilla herbeigeeilt und stellte ihr einen Teller voller Speck und Brot auf den Tisch.
Bei dem Duft zog sich Willows Magen krampfhaft zusammen. Bevor sie die Gabel in die Hand nahm, blickte sie auf.
Alle starrten sie erwartungsvoll an.
»Nun essen Sie, Kleines, bevor Sie uns noch vom Stuhl fallen«, sagte Ludmilla.
Willow war es ein wenig unangenehm, die Einzige zu sein, die aß. Doch die Köchin hatte recht. Wenn sie nicht bald etwas zu sich nahm, würde sie sich auf dem Boden wiederfinden.
Sie hatte wirklich großen Hunger.
Nach dem ersten Bissen hätte sie am liebsten vor Wonne laut aufgestöhnt. Das war köstlich!
Sie lächelte Ludmilla kauend an und schluckte. »Ich habe noch nie so ein leckeres Rührei gegessen.«
»Sagte ich doch«, meinte Miranda von der Seite. »Leidenschaft!«
»Und mich lässt du am ausgestreckten Arm verhungern«, jammerte Chester. Ludmilla ging auf ihn zu und schlug ihm mit der Faust auf die Schulter.
»Aua!« Er verzog die Lippen zu einem Schmollmund und rieb sich die geschundene Stelle. »Das habe ich nicht verdient.«
»Doch«, riefen Ludmilla und Miranda beinahe gleichzeitig.
Ludmilla stemmte die Hände in die Hüfte. »Du hast erst vor einer Stunde zwei solcher Teller verdrückt.«
»Weißt du, wie anstrengend es ist, den ganzen Tag die Hände benutzen zu müssen?« Er deutete auf die Räder. »Ich brauche Kraft!«
Ludmilla stieß einen langen Seufzer aus. »Du bist listig. Wie kann ich dir da irgendetwas abschlagen?« Sie wandte sich an Willow. »Geben Sie ja acht. Er sieht harmlos aus, hat es aber faustdick hinter den Ohren.«
Zufrieden rollte Chester an einen freien Platz. Er machte keinen unglücklichen Eindruck auf sie. Das fand sie bewundernswert. Dennoch kam sie nicht umhin, ihn wegen seiner Situation zu bedauern.
Sie musste daran denken, wie aussichtslos ihre Lage gewesen wäre, wäre sie auf einen Rollstuhl angewiesen gewesen. Wie hätte sie Ava dann retten können?
Chester musste ihr Starren bemerkt haben. »Das braucht Sie nicht zu erschrecken«, sagte er. »Ich lebe gut, wie ich es tue. Es ist besser, als tot zu sein, habe ich recht?«
Verlegen legte Willow ihre Gabel zur Seite. »E-Es tut mir leid, ich wollte nicht …«
Chester winkte ab. »Schon gut. Ich weiß, das ist kein besonders schöner Anblick.«
»Nein, nein, das meinte ich nicht. Ich musste daran denken …« Sie hielt inne. Jetzt hätte sie sich beinahe verplappert. »Es tut mir leid. Ich war in Gedanken.«
Sie fragte sich, was ihm zugestoßen war.
Aber ihm eine derartige Frage zu stellen, stand ihr nun wirklich nicht zu.
»Sie unterrichten die Kinder, habe ich gehört«, begann sie, um ein erfreulicheres Thema anzuschneiden. »Wie viele Kinder leben denn hier auf Bleak Castle?«
»Drei«, erklärte Chester. »Mirandas Kinder und Eleonore. Wenn Sie nichts dagegen haben, kann Ava zur nächsten Unterrichtsstunde mitkommen. Heute ist Musik an der Reihe. Sie kann Flöte spiele, Piano oder die Triangel, Susannas bevorzugtes Instrument. Da muss sie bloß draufschlagen.«
»Das ist ein wundervolles Angebot. Vielen Dank. Darüber würde Ava sich sehr freuen.«
»Dann wäre das abgemacht.« Chester beugte sich über den Teller, den Ludmilla ihm just in diesem Moment vor die Nase stellte.
»Danach möchte ich bis zum Mittag nichts mehr von dir hören. Mein Marvin kommt gleich aus dem Stall und wenn du weiter so gefräßig bist, habe ich keine Eier mehr, um ihm eine anständige Mahlzeit zuzubereiten.« Sie marschierte zur Küchenzeile zurück und warf sich ein Handtuch über die Schulter.
»Du verwöhnst deinen Sohn zu sehr«, meinte Chester kauend und erntete dafür von Ludmilla einen empörten Blick.
»Ich komme gleich mit der Bratpfanne und verwöhne deinen Hinterkopf, mein Lieber!«
Miranda musste laut glucksen und Chester verschlang ungeachtet der Drohung seine dritte Mahlzeit.
Kapitel 5
Das freudige Gelächter auf der anderen Seite der Tür ließ William innehalten.