Das Geheimnis von Claydon Manor - Selina Wilhelm - E-Book
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Das Geheimnis von Claydon Manor E-Book

Selina Wilhelm

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Beschreibung

Ein Geheimnis, verborgen in einer Seele … 1855 Ohne Erinnerung an ihr vergangenes Leben tritt Sophia eine Stelle als Gouvernante für die fünfjährige Tochter von Adrian Moore, dem Earl of Claydon Manor, an. Sofort wird die junge Frau von dem Anwesen auf beängstigende Weise angezogen. Zugleich fühlt sie sich dort geborgen und kann nur schwer ertragen, wie herzlos sich der Earl gegenüber seiner Tochter verhält. Sie versucht alles, Vater und Tochter einander näher zu bringen und verschenkt ihr Herz an den Mann, der seines vor langer Zeit verloren zu haben scheint. Niemand ahnt, wie eng ihrer aller Leben miteinander verbunden ist. Eines Tages beginnt Sophia die Stimme einer Frau zu hören, die ihr vertraut vorkommt. Sie muss sich entscheiden: Stellt sie sich ihrer Vergangenheit oder kehrt sie ihr für immer den Rücken? Band 2 "Der Fluch von Sherborne Hall" erscheint ab dem 14. Oktober im Ebook Format

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Das Buch
Über die Autorin
Widmung
Zitat aus dem Buch
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Epilog
Lieber Leser, liebe Leserin
Bisher veröffentlichte Romane der Autorin

S e l i n a W i l h e l m

 

 

 

Das Geheimnis von Claydon Manor

 

Historischer Liebesroman

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

 

Impressum

Selina Wilhelm, Soudronstr. 4, 76275 Ettlingen

© 2021 Selina Wilhelm

www.selina-wilhelm.de

[email protected]

Korrektorat:

Svenja Fieting | Lektorat, Korrektorat, Texte

E-Mail: [email protected]

Website: www.lektorat-fieting.de

Coverdesign und Umschlaggestaltung:

Florin Sayer-Gabor - www.100covers4you.com

 

Die Personen und die Handlung der Geschichte sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

 

Das Buch

 

 

 

Ein Geheimnis, verborgen in einer Seele …

 

1855

 

Ohne Erinnerung an ihr vergangenes Leben tritt Sophia eine Stelle als Gouvernante für die fünfjährige Tochter von Adrian Moore, dem Earl of Claydon Manor, an.

Sofort wird die junge Frau von dem Anwesen auf beängstigende Weise angezogen. Zugleich fühlt sie sich dort geborgen und kann nur schwer ertragen, wie herzlos sich der Earl gegenüber seiner Tochter verhält.

Sie versucht alles, Vater und Tochter einander näher zu bringen und verschenkt ihr Herz an den Mann, der seines vor langer Zeit verloren zu haben scheint.

Niemand ahnt, wie eng ihrer aller Leben miteinander verbunden ist. Eines Tages beginnt Sophia die Stimme einer Frau zu hören, die ihr vertraut vorkommt. Sie muss sich entscheiden: Stellt sie sich ihrer Vergangenheit oder kehrt sie ihr für immer den Rücken?

 

 

 

 

 

Über die Autorin

 

Selina Wilhelm, geboren im April 1989, lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern in der Nähe von Karlsruhe. Vor einigen Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Schreiben. Als Autorin schlägt ihre romantische Ader für historische Liebesromane. Ihre abenteuerliche Seite ist dem Genre Fantasy verfallen.

 

Widmung

 

 

Für meine beiden kleinen Schmetterlinge Sophia-Jolie und Emma. Ihr seid mein Leben und mein Licht, mein ganzes Glück.

 

 

 

Zitat aus dem Buch

 

 

„Manche Seelen haben einen weiten Weg zu bestreiten,

ehe sie ihren Frieden finden können.“

(Miss Grace Brown)

 

Prolog

 

 

 

 

 

Das Baby in der Wiege schlummerte friedlich. Sanft strich die Frau mit ihren Fingerrücken über die rosige Wange des Jungen.

Die Hoffnung, sie möge Zuneigung empfinden, wenn sie die zarte Haut berührte, schwand. Ließ den Kummer zurück, der ein Teil von ihr geworden war. Da war nichts. Kein Gefühl, keine Liebe, die sie aufzuhalten vermochte.

Die winterliche Nachtluft, die durch das offene Fenster drang, spiegelte die Kälte, die ihr Innerstes beherrschte. Ein letztes Mal sah sie zu dem schlafenden Jungen hinunter. Es war traurig, dass er nicht in der Lage war, sie zu retten.

Sie wandte sich von der Wiege ab und stieg auf den Fenstersims ins Freie hinaus.

Der Schnee, der sich auf der Balustrade gesammelt hatte, schmolz unter ihren nackten Füßen. Ihr weißes Nachthemd flatterte im Wind und schmiegte sich um ihre Knöchel. Sie wimmerte. Eine einzelne Träne tropfte auf ihre Zehenspitzen.

Sie sah zu ihren Füßen hinab, dabei streifte ihr Blick den Abgrund. Sie hatte keine Angst. Nein, sie sehnte sich nach der Erlösung. Dass diese unerträgliche Qual in ihrem Herzen ein Ende fand.

Sie sah zum Himmel hinauf und es schien ihr, als lächle der volle Mond ihr zu. Sie stellte sich vor, er lege seine unsichtbaren und tröstenden Arme um ihren sterblichen Leib. Es schenkte ihr Mut, den letzten Weg zu gehen und ihre Seele aus dieser Hülle von Schmerz zu befreien.

Sie schloss die Augen und machte einen Schritt nach vorne. Sie empfand keinerlei Reue, als ihre Füße ins Leere traten und ihr die Chance nahmen, ihren Sohn aufwachsen zu sehen.

 

Kapitel 1

 

 

 

 

Claydon Manor, Anfang Oktober 1855

 

Grace Brown hatte sie nicht darauf vorbereitet, was für ein Ort sie erwarten würde. Sophia hatte auch nicht danach gefragt. Nachdem man sie ohne Bewusstsein und ohne jegliche Erinnerungen auf der Straße aufgelesen hatte, war Grace bereit gewesen, sich um sie zu kümmern, ihr ein zu Hause zu geben.

Einige Wochen später hatte ihr die alte Dame zu einer Anstellung als Gouvernante verholfen. Denn obwohl sich Sophia an nichts aus ihrem vorherigen Leben erinnerte, hatte sich herausgestellt, dass sie reichlich belesen war, sich in Kunst und Musik auskannte und zwei Fremdsprachen beherrschte.

Die beste Voraussetzung für eine Anstellung als Gouvernante und weit mehr als eine respektable Lösung für jemanden wie sie.

Grace war in den letzten Wochen ihr einziger Halt, ihre Festung gewesen. Sich von ihr zu trennen, um von nun an allein diesen neuen, ungewissen Weg zu beschreiten, bereitete Sophia Unbehagen.

Trotz der Dankbarkeit, die sie gegenüber ihrer Gönnerin empfand, war ihr die Trennung von Grace schwergefallen. Es hatte all ihre Überwindung gekostet, in die Postkutsche zu steigen, die sie weit fort von dem Menschen brachte, den sie liebgewonnen hatte.

Nach Claydon Manor.

Hier stand sie jetzt, vor diesem imposanten Anwesen und fragte sich, ob die Dunkelheit, die ihre Vergangenheit ausfüllte, jemals wieder von Licht erfüllt sein würde.

Da sie über kaum nennenswertes Reisegepäck verfügte, war es für sie kein Problem, das letzte Stück zu Fuß zurückzulegen. Die einzige Tasche, die sie bei sich trug, war mit zwei einfachen Kleidern und einem Paar Schuhe zum Wechseln gefüllt. Ihr besseres Kleid, genäht aus dunkelblauem Baumwollstoff, hatte sie am Morgen angezogen. Sie wollte einen halbwegs passablen Eindruck hinterlassen.

Gefühlt eine Ewigkeit hatte sie damit zugebracht, vor dem Spiegel der Gaststätte zu stehen, in der sie übernachtet hatte, und ihr widerspenstiges, blondes Haar ordentlich nach hinten zu stecken. Da ihr Haar nicht glatt war und die Angewohnheit besaß, sich zu kräuseln, war ihr das nicht so einwandfrei gelungen, wie sie erhofft hatte.

Der Baumwollmantel, den Grace ihr überlassen hatte, schützte sie vor dem frostigen Oktoberwind und dem Regen, der sich seit Tagen unaufhörlich über die Landschaft ergoss. Nur heute schien ihr das Wetter wohlgesonnen. Der Regen verharrte in den dicken grauen Wolken, die über ihrem Kopf hinweg zogen. Sophia hoffte inständig, dass der Wolkenbruch auf sich warten ließ, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

Vor ihr erstreckte sich eine gepflegte und ausladende Gartenanlage. Die Rosenbüsche, die den Kiesweg säumten, waren akkurat geschnitten. Der Weg von jeglichem Laub befreit, wie man es von einem herrschaftlichen Anwesen wie diesem erwartete.

Als sie ihren Blick vom Garten auf das Herrenhaus richtete, musste sie schlucken. Das drei Stockwerke hohe Haus überragte die Landschaft der dahinter liegenden großflächigen Wälder und Wiesen. Die Abendsonne strahlte in den hunderten Fenstern, als träfe sie auf unzählige Spiegel.

Sophia atmete tief ein. Vor ihrem inneren Auge malte sie sich aus, wie dieser Ort im Frühjahr erstrahlen würde, wenn die Blüte eingesetzt hatte. Die Rosenbüsche, die mit ihren in kräftigem Rot schimmernden Blättern alle anderen Blumen in den Schatten zu stellen versuchen würden. Der Anblick der blühenden Kirschbäume und der Duft des Flieders, der abseits des Weges wuchs. Es musste ein Ort sein, der zum Verweilen einlud. Dennoch verspürte sie eine ungeahnte Traurigkeit. Sie ließ ihren Blick über die Gemäuer gleiten. Da war ein Gefühl, tief im Inneren ihrer Brust, das sie zögern ließ, ihren Weg fortzusetzen.

Es war der Ort, an dem Grace Brown vor langer Zeit als Gouvernante des jetzigen Earls gearbeitet hatte. Um die Erziehung von dessen Tochter sollte sich von nun an Sophia kümmern.

Der Earl, Lord Moore, musste wahrhaftiges Vertrauen in seine ehemalige Gouvernante haben, wenn er ihrer Empfehlung nachkam und jemanden in seine Dienste nahm, ohne diese Person zuvor kennengelernt zu haben.

Grace hatte in ihrem Schreiben an den Earl zwar erwähnt, dass Sophia sich nicht an ihre frühere Vergangenheit erinnern konnte, doch selbst diese nicht alltägliche Gegebenheit hatte ihn nicht davon abgeschreckt, sie einzustellen.

Dieses Vertrauen wollte Sophia in keiner Weise erschüttern. Nach dem, was sie Grace zu verdanken hatte, wäre das unverzeihlich und kaum mit ihrem Gewissen zu vereinbaren. Also ignorierte sie tapfer das Bedürfnis kehrtzumachen und setzte ihren Weg in Richtung des Herrenhauses fort.

Der Eingang war von beiden Seiten durch jeweils zwei Pilaster umrahmt. Die imposanten Wandpfeiler liefen über der Tür in ein Dreieck zusammen, in deren Mitte Rosenknospen eingemeißelt waren.

»Du wirst sehen, mein Kind. Schon bald wirst du deinem Schicksal gegenüberstehen. Jeder hat seinen Platz auf dieser Welt und auch du wirst den deinen finden.« Nachdem Graces Abschiedsworte in ihrem Kopf verhallt waren, griff sie nach dem schweren Türklopfer.

»Sie müssen Miss Sophia sein.«

Erschrocken ließ Sophia den Türklopfer los und fuhr herum. Auf dem Weg zum Eingang war ihr niemand aufgefallen.

Ein hochgewachsener Mann mit weißem Haar, das unter seiner Mütze hervortrat, und mit sonnengegerbten Gesicht stand ihr gegenüber. Die Falten um seine Mundpartie und den blauen Augen verrieten, dass er jemand war, der das Leben genoss und gerne lachte.

»Guten Abend, Sir. Ja, das bin ich.«

Der Mann nahm seine Stoffmütze ab und trat einen Schritt auf sie zu. Seine Kleidung war mit Erde beschmutzt und seine langen Stiefel voll mit Schlamm.

»Ich bin erleichtert, dass Sie hier sind. Wir hatten bereits heute Mittag mit Ihrer Ankunft gerechnet.«

Dass sie gleich an ihrem ersten Tag mit Unpünktlichkeit glänzte, war kein guter Anfang. »Es tut mir leid. Die Radachse der Postkutsche ist gebrochen und ich musste mir eine anderweitige Mitfahrgelegenheit suchen.«

»Oh, bitte«, lenkte der Mann freundlich ein. »Sie müssen sich nicht entschuldigen. Wir haben uns nur Sorgen gemacht. Gerade wollte ich jemanden losschicken, Ihnen entgegenzureiten. In letzter Zeit gab es hier einige Überfälle, müssen Sie wissen.«

»Oh«, entfuhr es Sophia, die überrascht war von dieser ehrlichen Fürsorge gegenüber einer Fremden.

»Bitte verzeihen Sie.« Der Mann streckte seine Hand aus, zog sie jedoch sogleich zurück, als er bemerkte, dass sie voller Erde war. »Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Mr. Turner, der Gärtner. Ich hoffe, Sie haben das Unglück unversehrt überstanden?«

»Mir ist nichts geschehen, vielen Dank.«

»Da bin ich aber erleichtert.« Mr. Turners Blick wanderte zu der Tasche, die sie vor sich hielt und er runzelte die Stirn. »Ist das alles, was Sie dabeihaben?«

»Ja.«

Wenn Mr. Turner ihre Verlegenheit registrierte, so ließ er es sich nicht anmerken. »Sie müssen verzeihen, wenn ich Sie das frage, aber Sophia ist nicht ihr Familienname, oder?«

»Nein«, entgegnete sie mit einem Lächeln. Die Herzlichkeit dieses Mannes nahm ihr ein Stück der Anspannung, welche sie seit dem Morgen verspürt hatte.

»Dann verzeihen Sie bitte meine unhöfliche Ansprache, leider hat man mir Ihren Familiennamen nicht mitgeteilt.« Mr. Turner griff nach ihrer Tasche, um sie ihr abzunehmen.

»Oh nein, bitte entschuldigen Sie sich nicht. Es ist so, dass ich keinen …« Nachnamen habe, wollte sie den Satz beenden, wurde aber unterbrochen, weil hinter ihr die Tür aufging.

Sie wirbelte herum, sodass Mr. Turner keine Gelegenheit mehr bekam, ihr die Tasche abzunehmen und er ins Leere griff.

Eine stämmige Frau mit kurzen, roten Haaren, die mit vielen grauen Strähnen durchsetzt waren, trat aus der Tür.

Für einen Augenblick befürchtete Sophia, diese Frau würde ihr nicht die gleiche Herzlichkeit entgegenbringen, wie es bei Mr. Turner der Fall war. Dann aber stahl sich ein aufrichtiges Lächeln auf ihr Gesicht. »Miss Sophia, nehme ich an?«

»Ja.«

»Ich bin erleichtert, wir wollten schon einen Suchtrupp nach Ihnen ausschicken. Ich bin Mrs. Turner, die Hausverwalterin.«

Überrascht drehte sich Sophia halb herum zu Mr. Turner, bevor sie sich wieder zurück an Mrs. Turner wandte, welche eifrig nickte.

»Ganz recht, Mr. Turner ist mein Ehemann«, sagte diese und Stolz schwang in ihrer tiefen Stimme mit. »Er ist der beste Gärtner weit und breit, das kann ich wohl sagen. Aber …« Ihr Blick glitt auf Sophias Tasche und sie zog die Stirn kraus, als sie daraufhin tadelnd ihren Mann ansah. »… du hast heute wohl deine Manieren vergessen. Warum nimmst du dem Fräulein nicht endlich das Gepäck ab?« Es war mehr ein liebevolles Tadeln als eine ernst gemeinte Rüge. Ihre Stirn legte sich erneut in Falten: »Ist das alles, was Sie dabeihaben?«

Das war das zweite Mal innerhalb weniger Minuten, dass man ihr diese Frage stellte. Verlegen senkte Sophia den Blick. Es war anzunehmen, dass Lord Moore seine Angestellten nicht über ihre Lage informiert hatte.

»Ja, mehr besitze ich leider nicht«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

»Nun.« Mrs. Turner bedachte sie mit kümmerndem Blick. »Das ist nicht weiter tragisch. Hier auf Claydon Manor haben wir alles, was Sie brauchen. Wenn Seine Lordschaft auch recht eigensinnig sein mag, an der ordnungsgemäßen Kleidung seiner Angestellten spart er keineswegs.«

Eigensinnig. Sophias Gedanken überschlugen sich bei der Überlegung, was das zu bedeuten hatte. Ihr Unbehagen musste ihr ins Gesicht geschrieben sein.

Mrs. Turner legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Keine Sorge. Seine Lordschaft lebt sehr zurückgezogen, wenn er hier verweilt. Das meinte ich mit eigensinnig. Wir bekommen ihn kaum zu Gesicht. Es ist, als wäre er überhaupt nicht anwesend. Aber jetzt erst einmal rasch hinein mit Ihnen. Das Oktoberwetter dieses Jahr ist besonders scheußlich, finden Sie nicht auch?«

Mr. Turner trat neben Sophia und streckte seine Hand wiederholt nach ihrer Tasche aus. Sophia übergab sie ihm lächelnd und folgte seiner Frau in die Eingangshalle. Ein untersetzter Mann mit schwarzen Haaren kam ihnen entgegengeeilt. Er stellte sich als Mr. Jones vor, der Butler des Anwesens und der Kammerdiener des Earls.

»Sie sind ziemlich jung«, bemerkte er mit hochgezogener Augenbraue, nachdem er sie in Augenschein genommen hatte. »Wie alt sind Sie?«

Das war eine weitere Frage, der sie bevorzugt aus dem Weg gehen wollte. Denn wer sich an nichts erinnerte, konnte ebenso schlecht wissen, wie alt er war. Grace schätzte sie auf irgendetwas zwischen fünfundzwanzig und achtundzwanzig Jahre. Zu alt, um nicht verheiratet zu sein. Höchstwahrscheinlich – denn schließlich konnte sie sich nicht erinnern – galt sie allgemeinhin wohl eher als alte Jungfer.

»Nun löchern Sie Miss Sophia doch nicht gleich mit derart intimen Fragen, Mr. Jones«, lenkte Mrs. Turner zu ihrer Erleichterung ein. »Es ist doch egal, wie alt sie ist. Hauptsache, sie wird sich gut um unser kleines Fräulein kümmern. Und ich bin sicher, das wird sie.« Mrs. Turner zwinkerte Sophia zu. »Ich schlage vor, Sie kommen zunächst mit in die Küche. Das Personal speist zur Stunde, dann muss ich Sie nicht jedem Einzelnen vorstellen.«

Auf dem Weg in die Küche erzählte Mrs. Turner, dass das herrschaftliche Anwesen über mehr als hundert Zimmer verfügte, nicht mitgezählt die Gemächer der Angestellten, die im dritten Stock wohnten. Sophia sollte aber nicht wie die anderen im Diensttrakt untergebracht werden, sondern in einem Zimmer direkt neben Emilia, der fünfjährigen Tochter des Earls.

Die Haushälterin plapperte fröhlich weiter, bis sie durch die geräumige Küche in ein angrenzendes Zimmer traten. An einer langen Tafel saßen die Bediensteten, die sich angeregt miteinander unterhielten. Die Gespräche verstummten augenblicklich, als sie den Neuankömmling bemerkten. Unsicher blieb Sophia im Türrahmen stehen.

Mrs. Turner bugsierte sie in den Raum hinein und gab ihr einen Platz neben einer blonden, jungen Frau. Die Hausverwalterin stellte sie als Anna Williams vor. Neben ihr saß ihr Mann Mr. Daniel Williams. Anna Williams arbeitete als Zimmermädchen. Sie hatte bisher, zusammen mit Mrs. Turner, die Betreuung der kleinen Emilia übernommen. Auf ihrem und Mr. Williams Schößen saßen zwei Jungen, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen. Es waren die vierjährigen Zwillinge des Dienstpaares. Rupert und Jason. Ohne der eingekehrten Stille Beachtung zu schenken, schaufelten sie die Pfannkuchen in ihre Münder, die vor ihnen auf den Tellern lagen.

Dann gab es da noch die zwei Zimmermädchen Mirabelle und Sara, den Stallmeister Mr. Thomas und die Küchenhilfe, ein junger Mann namens Pepper.

Sobald jemand Sophia Fragen stellte, lenkte Mrs. Turner geschickt ein, sodass sie nicht auf die Fragen antworten musste. Langsam erweckte das bei ihr den Verdacht, dass die Hausverwalterin doch über ihre Geschichte informiert worden war.

»Wann werde ich die kleine Miss Moore kennenlernen?«, fragte Sophia, nachdem die Vorstellungsrunde zu Ende war. Die meisten von den Angestellten hatten ihre Mahlzeit beendet, auch die Zwillinge hatten genug von ihren Pfannkuchen. Einer von ihnen gähnte ohne vorgehaltene Hand. Dabei fielen ihm fast die Äuglein zu.

»Heute ist es zu spät. Anna hat das Fräulein vor einer Stunde zu Bett gebracht. Aber gleich morgen früh werde ich Sie einander vorstellen. Die Kleine war die letzten Tage ganz aufgeregt. Kaum zu glauben, was?« Mrs. Turner schmunzelte ungläubig. »Die Kinder der feinen Herrschaften möchten doch am liebsten Reißaus nehmen, wenn ihnen eine Gouvernante in Aussicht gestellt wird. Ich bin recht froh, dass Sie keines dieser biederen Geschöpfe sind, die nicht fähig sind, ein Lächeln zustande zu bringen.«

»Ich habe gehört, Sie sind auf Empfehlung der alten Grace Brown hier«, warf Mr. Jones ein, der sich zu ihnen gesellt hatte. »Ich hatte das Vergnügen, diese Dame kennenzulernen, ehe sie in den Ruhestand entlassen wurde.« Etwas in seinen Worten ließ sie vermuten, dass sich die beiden nicht sympathisch waren.

Sophia konnte sich gut vorstellen, wie Grace mit einem hochgestochenen Herrn, der Mr. Jones zu sein schien, umgegangen war.

»Ja, das stimmt«, erwiderte sie. »Bevor ich hierher kam, habe ich eine Zeit lang bei ihr gelebt.«

»Sie haben bei ihr gelebt?« Mr. Jones hob verblüfft seine Augenbrauen an. »Sind Sie denn mit ihr verwandt?«

Mrs. Turner schnaufte. »Mr. Jones, was habe ich Ihnen vorhin über diese Fragerei gesagt? Nun lassen Sie die Miss doch erst einmal bei uns ankommen, ehe Sie sie mit Fragen befeuern wie Napoleon die Österreicher mit Kanonen.«

Gleich darauf nahm Mrs. Turner Sophia zur Seite. »Sie müssen die vielen Fragen verzeihen. Wir sind eben allesamt ein neugieriges Völkchen, müssen Sie wissen«, erklärte sie schmunzelnd. »Seine Lordschaft hat mich über Ihre unglückliche Lage in Kenntnis gesetzt. Ansonsten weiß natürlich niemand davon und das wird auch so bleiben, wenn Sie es wünschen.«

Sophia war froh, dass Mrs. Turner über ihre Situation informiert war. Und sie war erleichtert, dass Mrs. Turner diesbezüglich keinerlei Skepsis ihr gegenüber zu hegen schien.

»Ich war verunsichert, wie man auf meine Lage reagieren würde, denn ich möchte nicht lügen, wenn man mir Fragen nach meiner Herkunft stellt.«

»Ach, darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wir alle hier sind wie eine große Familie und jetzt gehören Sie auch dazu. Wir halten zusammen. Und jetzt hole ich Anna, sie zeigt Ihnen Ihr Zimmer. Sie müssen erschöpft sein von der langen Reise.«

Schlaf klang verlockend.

Mrs. Turner nahm Mrs. Williams den Jungen ab, der mittlerweile auf ihrem Schoß eingeschlafen war, während der andere auf dem Schoß seines Vaters saß und schlaftrunken an seinem Daumen nuckelte.

Sophia folgte Mrs. Williams zurück in die Eingangshalle. Von dort aus führte eine schwungvolle Treppe in den ersten Stock hinauf.

»Als Gouvernante von Emilia ist es Ihnen natürlich gestattet, die Hauptwege zu benutzen«, erklärte Anna, während sie die ausladenden Treppenstufen hinaufgingen.

Bei der Hälfte des Aufgangs teilten sich die Stufen nach links und rechts. Mrs. Williams verharrte einen Moment vor dem Porträt, das bei der Gabelung an der Wand hing. Sophia warf einen raschen Blick darauf.

Auf dem Gemälde war eine brünette Frau zu sehen. Sie saß auf einem Stuhl. Ihre Hände hatte sie um ihren gewölbten Bauch gelegt. Das warme Lächeln, welches ihr Gesicht erstrahlen ließ, traf Sophia unvermittelt. Sie stolperte über ihre eigenen Füße. Ihr Atem geriet ins Stocken. Die dunkelbraunen Augen der Frau sahen sie an, als schauten sie direkt in ihre Seele.

In dem Moment ging Mrs. Williams weiter und mit ihr das Licht des Kandelabers. Das Gemälde wurde wieder in Dunkelheit gehüllt und ließ Sophia mit klopfendem Herzen zurück.

Kapitel 2

 

 

 

 

Claydon Manor, Anfang Oktober 1855

 

Der Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte, weckte Sophia vor Sonnenaufgang. Eine unruhige Nacht lag hinter ihr. An ihrem neuen Bett lag es nicht. Es war bequem, die Decken fühlten sich weich an und im Kamin glühten die Reste der heruntergebrannten Holzscheite.

Mit dem Erwachen kam die gewohnte Einsamkeit, die über sie hinwegrollte wie eine tosende Welle. Ihr wurde bewusst, dass da nichts war, dass da niemand war. Dieses Gefühl zog sie jeden Morgen zu Boden. Manchmal wollte sie überhaupt nicht aufstehen, sich am liebsten unter ihrer Decke verstecken.

»Tief in deinem Inneren weißt du, wohin du gehörst. Folge deinem Herzen, dann wirst du es eines Tages verstehen«, hatte Grace einmal zu ihr gesagt. Sie hatte Sophia ihre Hand gegen die Brust gelegt. »Manche Seelen müssen einen weiten Weg bestreiten, ehe sie ihren Frieden finden.«

Es war Grace, die sie daran erinnert hatte, dass sie nach vorne blicken musste, dass sie niemals die Hoffnung verlieren durfte.

Doch Grace war nicht hier.

Sophia fehlte der morgendliche Geruch nach Kräutertee mit dem Hauch von Zitrone, den es immer zum Frühstück gegeben hatte. Auf Graces vor sich Hinsummen, das bis in ihr Zimmer drang, wartete sie vergebens. Es war still bis auf den Regen, der unaufhörlich gegen die Scheiben schlug.

Diese Ungewissheit, nicht zu wissen, wer sie war, wohin sie gehörte, war furchteinflößend. Jeden Tag stellte sie sich die Frage, ob es da draußen jemanden gab, der sie vermisste und nach ihr suchte. Sophia trug keinen Ring, also war sie nicht verheiratet, aber vielleicht hatte sie noch Eltern oder Geschwister.

Sie tastete nach der Münze, die sie an einem feinen Lederband um ihren Hals trug. Diese Bronzemünze war das Einzige, dass ihr von ihrem alten Leben geblieben war. Das einfache, aber für sie bedeutende Wort Familie, war um das Loch herum hineingraviert. Grace hatte ihr erzählt, dass sie die Münze in einer Tasche ihres Kleides gefunden habe.

Irgendwo da draußen musste es diese Familie für sie geben. Die Vorstellung, dass diese Menschen nicht mehr existierten, dass Sophia sie verloren hatte, war unerträglich.

Sie lauschte weiter dem Regen und verspürte die unbändige Sehnsucht nach dem einzigen zu Hause, an das sie sich erinnerte. Die Abende mit Grace, an denen sie gemeinsam vor dem Kamin saßen und bei einer Tasse Tee Blumen in Taschentücher stickten oder einfach nur plauderten.

Sie sehnte sich nach dem behaglichen, in die Jahre gekommenen, aber urgemütlichen Cottage. Dem Geruch der getrockneten Heilpflanzen, die Grace überall aufgehängt hatte. Dem Garten, der mit seinen wild gewachsenen Pflanzen und Kräutern an ein Märchen erinnerte.

Sophia hatte viele Stunden darin zugebracht, Unkraut gezupft und liebevoll Setzlinge gepflanzt.

Bis Grace eines Tages mit dem Brief von Mrs. Turner in der Hand heimgekehrt war. Worin Lord Moore ihre Bewerbung als Gouvernante für seine Tochter akzeptiert hatte und sie unverzüglich darum gebeten hatte, die neue Stelle anzutreten.

Sie hatte diese Chance Grace zu verdanken. Grace war es gewesen, die ihr stets Hoffnung geschenkt hatte. Daran musste sie denken, wenn sie von der Dunkelheit überschattet wurde, die sie heimsuchte.

Mit neu gefasstem Mut schwang sie die Beine aus dem Bett und schlüpfte in die Pantoffeln, die ihr Anna am Abend zuvor hingestellt hatte.

Nachdem sie sich gewaschen und angekleidet hatte, nahm sie den Kerzenleuchter von ihrem Nachttisch und begab sich auf den Weg in die Küche. Am vergangenen Abend hatte sie vor Aufregung keinen Hunger mehr verspürt, dafür grummelte ihr Magen jetzt entsetzlich.

Trotz der Dunkelheit fand sie sich erstaunlich gut zurecht und gelangte in die Küche, ohne sich in einem der vielen Flure zu verlaufen, die im Dunkeln alle gleich aussahen.

Von weitem drang ihr der Geruch nach Eiern und gebratenem Speck in die Nase. Wie auf ein Stichwort meldete sich erneut ihr leerer Magen zu Wort.

Als sie die Küche betrat, sah Mr. Williams knetend von einem Brotteig auf. Seine Wangen waren leicht gerötet unter der Anstrengung und der Hitze des Ofens, die sich in der Küche ausgebreitet hatte. Er schenkte ihr ein freundliches Grinsen.

Alle waren so nett hier, selbst der reservierte Butler Mr. Jones war ihr sympathisch.

Als sie in das angrenzende Speisezimmer trat, war Mrs. Turner gerade dabei, einem der Zwillinge auf einen Stuhl zu helfen. Sie schob den Stuhl an den Tisch und der Junge nahm, noch etwas ungelenk, die Gabel in die Hand. Sophia musste schmunzeln, als er begann, das Rührei auf seinem Teller aufzuspießen und verärgert den Mund verzog, wenn es nicht gleich gelang.

Anna hatte den anderen Jungen auf dem Schoß und fütterte ihn.

»Sie sind schon auf?« Mrs. Turner eilte um den Tisch herum auf Sophia zu.

»Ja, ich konnte nicht länger schlafen. Außerdem …« In diesem Moment gab ihr Magen ein lautes Knurren von sich, was ihr vor Verlegenheit die Hitze in die Wangen steigen ließ. »… bin ich es gewohnt, früh aufzustehen.«

Bei Grace war sie stets vor Sonnenaufgang aufgestanden. Jetzt käme sie sich faul und nichtsnutzig vor, wenn sie weitergeschlafen hätte.

Mrs. Turner lächelte herzlich. »Ich kümmere mich darum, dass Mr. Williams Ihnen ein ordentliches Frühstück bringt.« Sie lief zur Tür und streckte ihren Kopf in die Küche.

»Mr. Williams!«, rief sie. »Bereiten Sie unserer Sophia bitte einen ordentlichen Teller Rührei zu, sie verhungert uns sonst noch.« Sie drehte sich zu Sophia herum. »Sie essen doch Ei, oder?«

»Das klingt fantastisch«, erwiderte sie mit einem verlegenen Lächeln.

Mrs. Turner bedeutete ihr, sie möge neben einem der Zwillinge Platz nehmen. Nachdem sie sich gesetzt hatte, beäugten die Jungen sie voller Neugierde.

»Bist du jetzt Emilias neue Mama?«, fragte einer der beiden. Sophia konnte unmöglich sagen, ob es Rupert oder Jason war.

»Jason«, ermahnte Anna nachsichtig und warf Sophia über den Tisch hinweg ein entschuldigendes Lächeln zu. »Miss Sophia ist hier, um dafür zu sorgen, dass Emilia hier weiterhin gut aufgehoben ist und nicht in ein Internat muss, so wie James.«

»James? Hat Seine Lordschaft denn noch einen Sohn?« In dem Brief hatte nichts von einem weiteren Kind gestanden.

Anna schüttelte den Kopf. »Nein. James ist der Neffe Seiner Lordschaft. Der Sohn seiner verstorbenen Schwester. Seit vier Jahren lebt er auf einer Jungenschule in Nothingham. Er kommt uns leider nur zu Weihnachten und im Sommer für ein paar Wochen besuchen. Emilia freut sich immer sehr auf ihn.«

Sophia war gespannt auf das kleine Mädchen, für das sie von nun an verantwortlich sein sollte, aber es machte ihr auch ein wenig Angst, die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen.

»Wie ist Emilia denn so?«, fragte sie vorsichtig in die Runde.

Nun war es an Mrs. Turner, das Wort zu ergreifen, und sie strahlte dabei über das ganze Gesicht. »Emilia ist ein wahrer Engel«, lobte sie.

»Ja, und das, obwohl ihr Vater sie regelrecht ignoriert«, fügte Mr. Turner, der am Ende des Tisches saß, kopfschüttelnd hinzu. »Die Kleine tut alles, um ein wenig Aufmerksamkeit von ihrem Vater zu bekommen.«

»Mr. Turner«, fauchte Mr. Jones pikiert. »Das gehört nicht hierher.«

»Warum denn nicht?«, ließ Mr. Williams verlauten, der soeben aus der Küche hereinkam und Sophia einen vollen Teller vor die Nase stellte.

»Miss Sophia kann ruhig wissen, dass Seine Lordschaft keinerlei Interesse an seiner Tochter hegt. Es grenzt an ein Wunder, dass er auf Ihren Vorschlag eingegangen ist und eine Gouvernante für sie eingestellt hat. Statt sie in ein Mädcheninternat zu stecken. Weit fort von hier.«

Mrs. Turner seufzte und ließ sich auf einen freien Stuhl sinken. »Der Ärmste hat den Tod seiner Frau nicht verkraftet. Gott allein weiß, warum er seine Tochter nicht an sich heranlässt.«

»Unsinn«, murmelte Mr. Turner. »Er hat seine Frau nicht geliebt. Ignoriert hat er sie, so wie er jetzt seine Tochter ignoriert. Das arme Ding tut mir leid.«

»Benjamin«, schimpfte seine Frau. »Seine Lordschaft sorgt stets gut für uns. Du solltest nicht so herablassend über ihn reden. Außerdem hat er sie sehr wohl geliebt.«

»Seine Frau?« Mr. Williams zog überrascht die linke Augenbraue hoch.

Mrs. Tuner nickte eifrig. »Ich weiß, dass ihr mir das nicht glaubt. Doch ich weiß es und würde mein letztes Hemd dafür verwetten.«

Mr. Jones gab ein genervtes Stöhnen von sich und Mrs. Turner bedachte ihn mit einem niederschmetternden Blick. »Jemand wie Sie, Mr. Jones, der stets mit halb geöffneten Augen durchs Leben geht, kann so etwas natürlich nicht erkennen.«

Mr. Jones schnaubte und verließ den Raum, ohne Mrs. Turners Anschuldigung zu kommentieren. Diese beugte sich zu Sophia hinüber, die der hitzigen Diskussion gespannt gefolgt war. Diese Beschreibung Seiner Lordschaft passte so überhaupt nicht zu den Schilderungen von Grace über den lebhaften Jungen, der ihr im Lausbubenalter stets Streiche gespielt hatte.

»Seine Lordschaft hat es bis zum Tod seiner Frau vermutlich selbst nicht gewusst. Aber spätestens dann muss es ihm klargeworden sein und das hat ihm den Boden unter den Füßen weggerissen, das sag ich Ihnen. Ich kann mich noch genau an jenen Tag erinnern, als er mit ihrem leblosen Körper in seinen Armen zurückkehrte, nachdem er stundenlang auf der Suche nach ihr gewesen war.«

Sophia war schockiert. Sie stellte sich einen vermögenden Gentleman vor, der seine tote Frau in den Armen hielt.

»Was ist passiert?«, fragte sie und hoffte, nicht zu neugierig zu wirken. Mrs. Turner aber schien geradezu ereifert, ihr die Geschichte zu erzählen.

»Niemand weiß das so genau. Lady Moore ist am Morgen mit der kleinen Emilia spazieren gegangen. Am Nachmittag fand Seine Lordschaft sie. Tot. Sie musste gestürzt sein und hatte sich ihren Kopf auf einem Stein aufgeschlagen.«

Sophia schluckte. Sie begann zu frösteln, als habe man ihr gerade eine Gruselgeschichte erzählt.

»Und Emilia?«

»Emilia fand man wenige Stunden zuvor vor unserer Tür. Jemand hatte sie einfach dort abgelegt. Seine Lordschaft war sofort aufgebrochen, seine Frau zu suchen.« Mrs. Turner schüttelte fassungslos den Kopf, als lägen die Ereignisse erst wenige Tage zurück. »Das alles war zu viel für Seine Lordschaft. Einige Jahre zuvor war seine jüngere Schwester gestorben. Die beiden waren als Kinder unzertrennlich gewesen. Da die Eltern der beiden bereits zu ihren Kindertagen verstorben waren, hat Seine Lordschaft den Sohn seiner Schwester aufgezogen.«

»Er hat dem Jungen jeden Wunsch von den Augen abgelesen«, fügte Mr. Turner hinzu. »Deshalb kann ich nicht verstehen, wie er ihn so plötzlich in eine alberne Jungenschule schicken konnte.«

Mrs. Turner nickte zustimmend. »Es kommt einem so vor, als würde er seit dem Tod seiner Frau alles und jeden, das und den er liebt, von sich fernhalten wollen. Das ist traurig.«

»Das ist egoistisch.« Mr. Williams setzte sich neben seine Frau und hielt ihre Hand. Sophia fiel auf, dass Anna die Einzige war, die die ganze Zeit über nichts gesagt hatte. »Seine Lordschaft ist alles, was James und Emilia noch haben und er schert sich nicht um sie. Das ist nicht richtig.«

»Womöglich fürchtet er sich davor, erneut jemanden zu nah an sich heranzulassen. Zu lieben, lässt einen verletzlich werden und das kann beängstigend sein.«

Erst, als alle ihre Blicke auf sie richteten, realisierte Sophia, dass diese Worte aus ihrem Mund gekommen waren. Zu lieben. Hatte sie selbst denn überhaupt jemals geliebt? Und doch saß da tief im Inneren ihrer Brust so ein stechendes Gefühl, das ihr sagte, dass sie sehr wohl wusste, was es bedeutete zu lieben.

Mrs. Turner unterbrach die Stille und die Schockstarre, in die Sophia gefallen war.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung und deshalb muss man ihm endlich begreiflich machen, wie sehr er seine Tochter liebt und auch die Distanz nichts daran ändern wird. Er quält damit nur sich selbst und Emilia.«

Mr. Turner lächelte seine Frau nachsichtig an. »Das ist dir bisher ja auch wunderbar gelungen.« Der Zynismus in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Mrs. Turner schnaubte. »Du wirst schon sehen. Seine Lordschaft kann seine Gefühle nicht ewig hinter einer Mauer aus Eis verbergen. Eis hat die Angewohnheit zu schmelzen, wenn die Sonne darauf scheint.«

»Eine wunderbare Metapher, Frau. Aber wer sagt dir, dass für ihn jemals wieder die Sonne scheinen wird?«

»Niemand kann ewig im Dunkeln leben.«

Mr. Turner seufzte. »Hoffen wir, dass du Recht behältst.« Mit diesen Worten erhob er sich und verließ das Zimmer.

Sophia war sich uneins, ob sie für den Lord Mitleid empfinden oder ob sie Mr. Turners und Mr. Williams‘ Meinung teilen und ihn für egoistisch halten sollte. Früher oder später würde sie ihn persönlich kennenlernen und sich ihr eigenes Bild von dem Mann machen, der so vieles verloren hatte, aber auch noch so vieles besaß.

»Weilt Seine Lordschaft derzeit hier auf Claydon Manor?«, fragte sie an Mrs. Turner gewandt.

Diese schüttelte den Kopf. »Nein, vor einigen Tagen erhielt ich einen Brief, dass er noch einige Zeit in London bleiben wird. Vermutlich wird er nicht vor Ende nächster Woche hier eintreffen.«

Sophia stocherte in ihrem Rührei herum, das mittlerweile kalt war. Es fiel ihr schwer, einen Bissen hinunterzubekommen.

 

Kurze Zeit später begleitete Mrs. Turner Sophia zu den Gemächern der kleinen Emilia.

»Das Fräulein frühstückt um neun und Lunch gibt es um eins«, erklärte die Hausverwalterin, während sie die Treppen hinaufgingen. »Seine Lordschaft hat nichts dagegen, dass sie mit den Zwillingen spielt. Emilia ist ein richtiger Wirbelwind und liebt es, mit den beiden Jungen durch die Flure zu toben. Sie hat hier ja auch sonst niemanden. Mein Mann und Mr. Williams haben schon recht, Seine Lordschaft ist in keinster Weise bemüht, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen, dabei wünscht sie es sich so sehr. Es bricht einem das Herz.«

Seine Eltern, seine Schwester und dann noch seine Frau zu verlieren, das waren Verluste, die es zu verkraften galt und die tiefe Narben hinterlassen hatten. Auch wenn Sophia sich nicht erinnerte, trug sie das Gefühl mit sich herum, dass es auch in ihrem Leben etwas oder jemanden gab, den sie verloren hatte. Wenn sie hörte, was so ein Verlust aus dem Leben eines Mannes wie den Earl gemacht hatte, war es dann nicht besser, sich nicht zu erinnern?

Die Gelegenheit, darüber nachzusinnen, blieb aus. Sie waren an Emilias Schlafgemach angekommen.

Sophia war nervös, als sie in das Zimmer des Mädchens traten. Es verfügte über ein großes Himmelbett, das mit hellblauen Vorhängen geschmückt war, die an den Seitenpfosten zusammengebunden waren. Viele, bunte Kissen lagen auf der Matratze und luden dazu ein, eine Kissenschlacht zu veranstalten. Eine Puppenwiege stand neben dem Bett. Sie war leer, nur eine rosafarbene Decke hing darüber. Durch eine Tür gelangten sie in ein angrenzendes Zimmer. Ein Puppenhaus und eine Sitzgelegenheit für Kinder standen in der Ecke. Auf dem kleinen Tisch lud ein Teeservice zum Spielen ein und ein Bär mit einer roten Schleife um den Hals saß auf einem Stuhl.

Das musste der Traum eines jeden jungen Mädchens sein, dachte Sophia.

Emilia saß ihnen mit dem Rücken zugewandt auf dem Teppich, welcher mitten im Raum lag. Ihr langes, kastanienbraunes Haar war zu einem Zopf geflochten, der unten mit einer blauen Schleife zusammengehalten wurde. Das Mädchen war vertieft in ein Gespräch mit ihren Puppen und bemerkte ihr Eintreten zunächst nicht.

»Fräulein Emilia«, verkündete Mrs. Turner fröhlich.

Das Mädchen drehte sich herum. Es war nicht die frappierende Ähnlichkeit zu ihrer Mutter auf dem Porträt, die Sophia den Atem stocken ließ. Es war die Art und Weise, wie Emilia zu strahlen begann, als sie Sophia ansah. Ein Gefühl, dass sie nicht zu beschreiben in der Lage war, ergriff von ihr Besitz. Ehe sie sich wieder im Griff hatte, sprang das Mädchen auf, lief auf sie zu und schlang seine Arme um ihren Leib.

Hilflos hielt Sophia ihre Arme in der Luft. Mit so einer vertrauensvollen und stürmischen Begrüßung hätte sie niemals gerechnet. Zärtlich legte sie ihre Arme um den Rücken des Mädchens.

»Endlich bist du da.« Emilia flüstert so leise, dass Sophia nicht sicher war, ob sie richtig verstand.

War es hier denn so schlimm, dass sie sich derart über das Erscheinen einer Fremden freute? Das konnte sich Sophia nur schwerlich vorstellen, nachdem sie zuvor Mrs. Turner und die anderen Bediensteten kennengelernt hatte.

Sie warf Mrs. Turner einen hilflosen Blick zu. War das Mädchen womöglich immer so zutraulich? Doch Mrs. Turner schaute so erstaunt, wie Sophia sich fühlte.

»Na, das habe ich jetzt nicht erwartet«, erklärte Mrs. Turner schmunzelnd. »Ich sehe, ihr werdet euch prächtig verstehen.« Die Erleichterung war der Hausverwalterin anzusehen.

Sophia fühlte sich ein wenig mit der Situation überfordert.

»Möchtest du mit Mary und Prinzessin Poppy spielen?«, fragte Emilia fröhlich und zeigte auf die beiden Puppen, die hinter ihr auf dem Teppich lagen.

Von Sophia wich etwas von der Anspannung. »Ich möchte deine Freundinnen sehr gerne kennenlernen.«

Und schon hatte Emilia sie an der Hand genommen und führte sie zu dem Teppich. Sophia warf einen Blick über die Schulter, doch Mrs. Turner war bereits verschwunden.

Als sie auf dem Boden neben Emilia Platz nahm und diese ihr eine der Puppen in die Hand drückte, hatte sie das erste Mal das Gefühl, am richtigen Ort angelangt zu sein.

Kapitel 3

 

 

 

 

Claydon Manor, Mitte Oktober 1855

 

Die nächsten zwei Wochen vergingen wie im Flug. Emilia malte liebend gerne und sie mochte es, wenn Sophia ihr vorlas. Natürlich durfte eine ordentliche Teemahlzeit mit dem hübschen Kinderservice nicht fehlen, die sie zusammen mit ihren beiden Puppenfreundinnen Prinzessin Poppy und Mary veranstalteten. Zu Sophias Erstaunen konnte Emilia schon etwas Klavier spielen, was sie ihr eines Abends auf dem Piano im Speisesalon vorführte.

Eines Nachmittags drängte Emilia, Sophia das Fohlen zu zeigen, dass eine der Stuten wenige Tage zuvor geboren hatte.

Während sie zu den Stallungen liefen, hüpfte Emilia ausgelassen an Sophias Hand. Es kam ihr vor, als sei sie schon lange Zeit Emilias Gouvernante. Da hatte es kein zaghaftes Herantasten gegeben, keine Zurückhaltung, was sie von einem Kind ihres Alters erwartet hätte.

Sie hatten die Stallungen fast erreicht, da näherte sich ihnen ein Reiter. Sophia erkannte sofort an der fein geschnittenen, dunkelblauen Garderobe und dem Zylinder, dass es sich um einen Gentleman höheren Ranges handeln musste.

»Papa«, rief Emilia aufgeregt. Sie ließ Sophias Hand los und lief auf den Reiter zu.

Das war also der Moment, in dem sie Seine Lordschaft persönlich kennenlernen würde. Angespannt sah sie mit an, wie Emilias Vater das pechschwarze Pferd in Richtung der Stallungen lenkte, anstatt auf seine Tochter, die ihm entgegenrannte.

Ohne ihr einen Blick zurückzuwerfen, sprang er vom Pferd und führte es in den Stall hinein.

Emilia indes ließ sich nichts anmerken. Strahlend blickte sie zu Sophia zurück. »Jetzt wirst du meinen Papa kennenlernen.« Dann rannte ihr Schützling auf das Tor zu.

Sophia hastete hinterher.

Lord Moore war dabei, sein Pferd Mr. Thomas zu übergeben.

»Die Kutsche mit meinem Gepäck trifft später ein.«

Er drehte sich zu den beiden herum. Für die Dauer einer Sekunde ließ er den Blick auf seiner Tochter ruhen, ehe er ihn wieder abwandte und Sophia ansah.

Sie kannte Emilia nun beinahe zwei Wochen und schon war ihr das Mädchen ans Herz gewachsen. Es bereitete ihr Schmerzen, mitansehen zu müssen, wie der Earl an seiner Tochter vorbeilief, als wäre sie nicht da.

Sie sah in die traurigen Augen des Mädchens, ehe sie den Blick auf ihren Dienstherrn richtete, der vor ihr stehen geblieben war. Und was sie da sah, erschütterte sie. Sie sah die gleiche Traurigkeit in den dunkelgrünen Augen des Earls und da war noch mehr. Eine innere Zerrissenheit.

»Sie sind Miss Sophia, nehme ich an.« Er nahm seinen Zylinder vom Kopf. Dunkelblondes und mittellanges, ein wenig zerzaustes Haar kam zum Vorschein.

»Ja, Mylord«, erwiderte sie rasch mit einem Knicks.

Er schien sich unwohl zu fühlen, was Sophia daran erkannte, dass er den Zylinder in seinen Händen hin- und herschob. Dabei wanderte sein Blick zur Seite, als ob er sich danach sehnte, sich zu seiner Tochter herumzudrehen.

»Wie ich sehe, haben Sie ihre neue Stelle bereits angetreten.«

»Das habe ich. Ihr habt eine wirklich wundervolle Tochter.«

Lord Moore erwiderte nichts auf Sophias Worte. Keine stolze Zustimmung, kein freudiges Lächeln.

»Bitte kommen Sie morgen Vormittag in meine Bibliothek, dann können wir alles besprechen«, sagte er und wandte sich ab, um den Stall zu verlassen.

Von Sophia unerwartet, verharrte er in der Tür.

Sie sah, wie sich die Hand, mit der er seinen Zylinder hielt, zur Faust ballte und die weißen Knöchel hervortraten.

Dann drehte er sich ruckartig zu seiner Tochter herum, lief auf sie zu, beugte sich zu ihr, schlang seine Arme um sie und drückte ihr einen Kuss auf das Haupt.

Wie vom Donner gerührt wurde Sophia Zeugin dieser Szene. Es war ein Moment, der nicht lange anhielt, wohl keine fünf Sekunden. Er hatte seine Augen geschlossen, während er seinen Mund auf das volle Haar seiner Tochter drückte. Seine Stirn zog Falten, die den Anschein erweckten, er leide Qualen.

Sophia war gerührt und erschüttert in gleichem Maße. Etwas in ihrem Herzen zog sich qualvoll zusammen.

Dann, ohne seiner Tochter ins Gesicht zu blicken, wandte er sich ab und marschierte an ihr vorbei, hinaus ins Freie.

Sie sah ihm hinterher, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, ehe sie sich zu Emilia herumdrehte. Ganz verloren stand das Mädchen da und starrte zur Tür.

Was war das?

Dieser Schmerz, den sie förmlich auf sich überspringen gefühlt hatte, als sie diese Szene beobachtet hatte.

Das war kein Vater, der seine Tochter nicht liebte. Da war etwas, dass sie noch nicht zu greifen in der Lage war, etwas, dass ihr Angst machte.

Sie lief auf das Mädchen zu und ging vor ihr in die Hocke. Sie nahm Emilias zarte Schultern zwischen ihre Hände und lächelte aufmunternd.

»Du hast heute Morgen so wunderschöne Bilder gemalt. Was hältst du davon, wenn du deinem Vater auch eines malst? Er wird sich sicher sehr darüber freuen.«

Emilia nickte stumm.

»Gut, dann sollten wir gleich damit beginnen. Aber vorher besuchen wir noch Mr. Williams und lassen uns eine große Portion süße Pfannkuchen machen.«

Immerhin schaffte sie es, Emilia ein zaghaftes Lächeln zu entlocken. Sie nahm das Mädchen bei der Hand und gemeinsam gingen sie zum Haus zurück.

Das Fohlen konnten sie auch morgen noch bewundern.

 

Den Rest des Tages ging ihr das Aufeinandertreffen nicht mehr aus dem Kopf. Sie versuchte alles, Emilia so gut es ging von der Begegnung mit ihrem Vater abzulenken. Weil die Zwillinge nicht abkömmlich waren, spielte sie mit ihr im obersten Stockwerk Fangen, wobei sie einige Male beinahe mit dem Dienstmädchen Mirabelle zusammengestoßen wären, die dabei war, die Flure zu fegen.

Als Sophia Emilia am Abend ins Bett brachte, schlief diese augenblicklich ein. Mit dem Bild in der Hand, dass sie für ihren Vater gemalt hatte. Sophia nahm es und legte es auf den Nachttisch neben dem Bett.

Eine Weile betrachtete sie das Mädchen. Bevor sie selbst zu Bett ging, sah sie sich noch einmal das Porträt der Lady an, das über der Treppe hing.

Da war wieder diese Verbundenheit, die sie spürte, wenn sie in das Antlitz der Frau blickte.

Sophia war so vertieft in ihren Anblick, dass sie nicht mitbekam, wie jemand hinter sie trat.

»Sie war wunderschön, nicht wahr?«

Erschrocken fuhr sie herum.

Dort stand Anna Williams. Das Licht eines Kandelabers erhellte ihr Gesicht.

»Ich war ihre Kammerzofe. Wir kannten uns, seit wir Kinder waren«, erzählte diese.

Sophia betrachtete erneut das Bild. »Sie sieht glücklich aus.« Sie verspürte eine ungeahnte Traurigkeit über den Tod dieser ihr unbekannten Frau.

»Das war sie. Sie hatte sich sehr auf das Kind gefreut. Es ist tragisch und traurig, dass sie nur so kurze Zeit mit Emilia verbringen konnte. Wenn es einen Gott gibt, so hat er mit ihrem Tod die falsche Entscheidung getroffen.« Anna wandte sich ab, um die Stufen wieder hinabzugehen.

»Wie war ihr Name?«, fragte Sophia.

Anna drehte sich noch einmal herum. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ihr Name war Emma.«

Kapitel 4

 

 

 

 

London, 15. Mai 1849

 

Adrian hatte lange auf diese Gelegenheit gewartet. Es war daher von enormer Wichtigkeit, dass sein Vorhaben glückte. Es durfte nichts schiefgehen, da das unter Umständen seine einzige Chance bleiben würde.

Er hatte alles geplant, so gut es eben ging. Denn wenngleich er sehr gut darin war, seinesgleichen abzuschätzen, war es doch unmöglich, jegliches Handeln vorauszusehen. Dennoch war bis zu diesem Punkt alles nach seinem Plan verlaufen.

Auch, dass die Gastgeberin des heutigen Ballabends, Lady Brixton, seinem Blick folgte, den er unanständig lange auf der jungen Frau ruhen ließ, die auf der anderen Seite des Tanzsaals stand und sich mit einer Freundin unterhielt.

»Sie ist sehr hübsch«, verkündete Lady Brixton.

Adrian ließ sich seine Freude über die geglückte Strategie nicht anmerken. Er zögerte, als fiele es ihm schwer, den Blick von der jungen Frau abzuwenden, bis er sich seiner Gesprächspartnerin zuwandte und sie mit einem gekonnt überraschten Blick ansah, als wisse er nicht, wovon die Lady sprach.

Lady Brixton lächelte wohlwollend. »Die junge Miss Emma Grey«, half sie nach und ein Schmunzeln legte ihre Wangen in Falten. »Sie können Ihren Blick nicht mehr von ihr wenden, nicht wahr?«

Adrian tat, als wäre es ihm unangenehm, erwischt worden zu sein. »Bitte verzeiht mir meine Unverfrorenheit. Mir war nicht bewusst, dass ich die junge Miss angestarrt habe.«

Lady Brixton winkte ab. »Ach, papperlapapp. Sie sind ein junger, unverheirateter Mann und gewiss nicht der einzige Herr heute Abend, dem Miss Emma ins Auge fällt.«

Lady Brixton neigte sich mit vorgehaltener Hand zu ihm rüber. »Und darunter gewiss auch dem einen oder anderen verheirateten Gentleman. Miss Emma ist nicht nur außerordentlich hübsch, sie ist zudem gescheit, was man von vielen Damen ihres Jahrgangs leider nicht wirklich behaupten kann. Nicht zu verachten die Mitgift, welche sie in die Ehe mitbringen wird. Diese ist sehr reichlich, kann ich Ihnen sagen. Aber für Sie sicherlich nicht von Belang.«

Adrian musste aufgrund von Lady Brixtons offener Art schmunzeln. Aber sie hatte recht. Adrian selbst war vermögend genug, er könnte eine Bettlerin von der Straße heiraten, wenn er das wollte. Lady Brixton war eine der wenigen Damen der hohen Gesellschaft, die ihm von ihrer Persönlichkeit her sympathisch war. Man konnte sagen, sie war eine der reichsten Frauen Londons. Sie hatte sechs Kinder auf die Welt gebracht, allesamt Mädchen. Bis die Letzte von ihnen achtzehn Jahre alt war, hatte sie alle standesgemäß verheiratet und zählte heute über vierzehn Enkelkinder. Man konnte wahrlich sagen, diese Frau hatte in ihrem Leben etwas geleistet. Was man von ihrem Ehegatten nicht behaupten konnte, der vor einigen Jahren dem übermäßigen Alkoholkonsum zum Opfer gefallen war.

Er hatte beinahe ein schlechtes Gewissen, die Lady für seine Pläne auszunutzen. Aber da sie es niemals erfahren würde, war es ohne Belang.

»Der Gentleman, der sie heiraten wird, kann sich als einen glücklichen Mann schätzen«, erwiderte er und wartete darauf, dass sein Plan aufging.

Lady Brixton neigte neugierig den Kopf. »Sagen Sie, wurden Sie und Miss Grey bereits einander vorgestellt?«

Innerlich vollführte Adrian einen Freudentanz. Das war die Frage, auf die er gehofft hatte. »Bedauerlicherweise noch nicht.«

»Nun.« Lady Brixton zwinkerte ihm zu. »Dann sollten wir dieses unentschuldbare Versäumnis rasch nachholen.«

Er nickte höflich und hakte den Arm der Lady ein, um sich gemeinsam auf den Weg zu der jungen Dame zu begeben.

»Es ist eine Schande, dass ihr Onkel Miss Grey erst diese Saison debütieren ließ. Sie ist bereits zwanzig Jahre alt. Allerdings wird das ihren Heiratschancen keinen Abbruch tun. Ich gehe davon aus, dass sie bis Ende der Saison verlobt sein wird. Sie kennen ihren Onkel, den Marquess of Milton Castle?«

Die Erwähnung des Mannes kostete Adrian erheblich mehr Kraft, seine Maskerade aufrecht zu erhalten. Seine Kiefermuskeln mahlten. »Ich habe von ihm gehört, hatte bisher aber nicht das Vergnügen, ihn persönlich kennenzulernen«, log er. »Wie Sie wissen, Lady Brixton, war ich die vergangenen Jahre nicht oft in London.«

Während sie auf die junge Dame zusteuerten, legte die Lady ihre andere Hand auf seinen Arm. »Ich kann verstehen, dass Sie sich nach all dem, was geschehen ist, aus der Gesellschaft zurückgezogen haben«, erklärte sie mitfühlend. »Das Sie sich nun entschieden haben, wieder am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, erfreut und erleichtert uns alle.«

Adrian hielt den Blick nach vorne gerichtet, auf sein Ziel, das zum Greifen nahe war. »Ja«, erwiderte er kühl. »Es wurde Zeit.«

»Meine Damen«, verkündete Lady Brixton fröhlich, als sie zu Miss Emma Grey und ihrer Freundin stießen. Da sich Adrian bestens über das Umfeld von Miss Grey informiert hatte, wusste er, dass es sich um Sarah Rushford handelte. Sie war ein paar Jahre älter als Emma und seit ihrer ersten Saison verheiratet und inzwischen mit zwei kleinen Jungen gesegnet.

Die beiden Frauen unterbrachen ihre Unterhaltung und wandten sich ihm und Lady Brixton zu.

»Darf ich Ihnen Lord Moore, den Earl of Claydon Manor, vorstellen?«

Adrian beobachtete Emmas Reaktion genaustens. Als sie seinen Namen gehört hatte, lag für einen Augenblick Überraschung in ihren Augen. Sie fasste sich jedoch rasch wieder und knickste höflich.

Er griff ihre Hand und führte sie zu seinem Mund. Ehe er einen Kuss darauf hauchte, blickte er ihr in die Augen. Sie waren braun, mit dunklen Sprenkeln durchzogen. »Es ist mir ein Vergnügen«, erwiderte er mit charmantem Lächeln und senkte seine Lippen auf ihren Handrücken.

Zufrieden stellte er fest, dass sich eine leichte Röte über ihre Wangen zog, als er ihre Hand wieder freigab.

»Erweisen Sie mir die Freude und gewähren mir den nächsten Tanz?« Er gab sich ganz und gar als der Gentleman, der zu sein von ihm erwartet wurde. Kurz glaubte er, zu eilig vorgeprescht zu sein. Vielleicht hätte er sie zunächst in eine Unterhaltung verwickeln sollen, ehe er sie um einen Tanz bat. Sie schien darüber nachzudenken, schenkte ihm aber dann ein offenes Lächeln, das ihn zu seinem Schock tief in seiner Brust traf.

»Es wäre mir eine Freude«, erklärte Emma und reichte ihm ihre in einem weißen Spitzenhandschuh steckende Hand.

Adrian konnte sein Glück kaum fassen. Er war sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst und wusste durchaus, wie er eine Dame für sich gewinnen konnte. Dennoch stand hier einiges auf dem Spiel und auch einem Mann wie ihm konnten Fehler unterlaufen.

Während sie auf die Tanzfläche zugingen, bekam er die Gelegenheit, Emma von Näherem zu betrachten. Bisher hatte er sie stets mit genügend Abstand beobachtet. Sie war in der Tat sehr hübsch. Ihr langes, dunkelbraunes Haar war locker zusammengesteckt und mit weißen Perlen verziert. Es passte perfekt zu ihren Augen und den langen dichten Wimpern. Ihre vollen, rosigen Lippen zogen sich zu einem Lächeln, als sie die Tanzfläche erreichten und sie ihre Hand in seine legte.

»Sie sind also der berühmte Earl of Claydon Manor.« Ihre Worte klangen nicht herablassend, eher neugierig. Bevor er darauf einging, erklärte er mit dem charmantesten Lächeln, das er zu bieten hatte. »Bitte, Miss Grey. Für Sie bin ich Adrian.«

Emma musterte ihn mit gerunzelter Stirn. »Gehen Sie immer so großzügig mit Ihrem Namen um?«

Er musste lächeln. »Nur bei Ihnen, Emma.« Mit Absicht sprach er sie bei ihrem Vornamen an, was seine Wirkung nicht verfehlte. Überraschung glomm in ihren großen Augen auf, gepaart mit einer verlegenen Röte, die ihre Wangen färbte.

Die Musiker spielten die ersten Takte. Adrian griff um ihre Taille und zog sie zu sich heran. »Aber nun bin ich neugierig. Weshalb bezeichnen Sie mich als berühmt? Das halte ich wahrlich für überzogen und ich bin gespannt, wem ich diese Betitelung zu verdanken habe.«

Er drehte sie im Kreis. Leicht wie eine Feder lag Emma in seinen Armen. Er stellte fest, dass sie eine sehr angenehme Tanzpartnerin war.

Es hätte ihn durchaus schlimmer treffen können, stattdessen meinte es das Schicksal großzügig mit ihm. Lady Brixton hatte recht, Emma war perfekt. Und sie war jung, zu jung, um seine wahren Absichten zu erkennen, davon war er überzeugt. Er würde sie mit seinen Schmeicheleien gefügig machen und er würde es so geschickt anstellen, dass sie bereit sein würde, alles für ihn zu tun.

»Meinem Onkel.«

Ihre Worte rissen ihn aus seinen Überlegungen. Er blinzelte, verlor für einen Sekundenbruchteil die Maske, die er aufgesetzt hatte, seitdem er den Ballsaal betreten hatte.

»Ihrem Onkel?«, wiederholte er und fand die Fassung wieder.

Sie nickte. »Was haben Sie ihm bloß angetan?« Ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern eher belustigt, dennoch wurde ihm bei diesen Worten ganz anders.

»Ihm angetan?« Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme einen eisigen Ton annahm.

Emma neigte leicht den Kopf und musterte ihn. »Er hat mich vor Ihnen gewarnt«, sagte sie. »Manchmal denke ich, dass Sie der Grund sind, warum er darauf besteht, mich auf jegliche Veranstaltung zu begleiten.« Sie runzelte die Stirn, bevor sich ein Lächeln darauf stahl. Da war wieder dieses Stechen, irgendwo in der Nähe seines Herzens.

»Heute ist der erste Abend, an dem er mich nicht begleitet und ich muss gestehen, es fühlt sich ein klein wenig wie Freiheit an.«

Adrian wirbelte sie herum, ehe er erneut seine Hand um ihre Taille legte. Er hätte damit rechnen müssen, dass Charles Grey seine Nichte vor ihm gewarnt hatte.

»Was hat Ihnen denn Ihr Onkel über mich erzählt?«, wagte er zu fragen. Sein Plan kam soeben auf gefährliche Weise ins Schwanken. Sollte ihr Onkel ihr die Wahrheit erzählt haben, hatte er keine Chance.

Emma zuckte mit den Schultern. »Was seine Beweggründe angeht, so hüllt sich mein Onkel in Schweigen. Ich habe zwar so meine Ahnung, aber dennoch habe ich gehofft, sie können mich aufklären, jetzt, da wir uns persönlich kennengelernt haben.«

Jetzt wurde Adrian neugierig. »Und was für eine Ahnung wäre das?«

Sie lächelte hinreißend. »Ich schätze, dass mein Onkel sie für einen Mann hält, der nicht immer der Gentleman ist, der er vorgibt zu sein.«

Er hatte sich wieder unter Kontrolle, voll und ganz. »Und Miss Grey, halten Sie die Warnung Ihres Onkels für begründet?«

»Darüber kann ich mir noch keine Meinung erlauben, da ich Sie doch kaum kenne.«

Er zog sie zu sich heran, legte seine Lippen an ihr Ohr. »Dann werden wir das ändern müssen, nicht wahr?« Sein Atem strich über ihre Ohrmuscheln und er konnte spüren, wie sie sich in seinen Armen versteifte.

»Was ändern?«, fragte sie stockend. In diesem Moment endete die Musik. Er gab sie frei und trat einen Schritt zurück.

»Sie müssen mich besser kennenlernen.«

Es war ein Nachteil, dass ihr Onkel sie vor ihm gewarnt hatte. Da sie jedoch keine Ahnung hatte, aus welchen Gründen dies geschehen war, musste er nur charmant genug sein, um ihre Zweifel bezüglich seines Gentleman-Daseins, oder eben dessen Fehlens, in den Wind zu schlagen.

Für heute Abend hatte er erreicht, was er wollte. Er hatte ihre Bekanntschaft gemacht und ihr Interesse an ihm geweckt. Sie war neugierig darauf, warum ihr Onkel sie vor ihm gewarnt hatte und das gab ihm auf der anderen Seite den Vorteil, dass sie herausfinden wollte, warum.

Diese Gelegenheit würde er ihr geben. Er hatte nicht viel Zeit, ehe ihr Onkel heimkehrte und wieder als ihr persönlicher Wachhund fungierte.

Eigentlich war es von Vorteil, dass dieser Mann derart Angst vor ihm hatte, dass er seine Nichte durch ihn in Gefahr glaubte. Dennoch war es ein Fehler gewesen, ihm damals gegenüber offenkundig zu äußern, sich eines Tages zu rächen. Adrian hatte geschworen, ihm alles zu nehmen, das er liebte.

Und das war Emma.

Wie es sich für einen Gentleman gehörte, begleitete er sie zurück zu Mrs. Rushford und Lady Brixton. Er erklärte, dass es ihm eine Freude gewesen sei und sich nun verabschieden müsse, da einige Verpflichtungen auf ihn warteten. Danach verließ er den Ball und begab sich geradewegs auf den Weg in sein Stadthaus.

Das war gut gelaufen.

 

Kapitel 5

 

 

 

 

London, 22. Mai 1849

 

Eine Woche später lud Lady Brixton zur alljährlichen Frühjahrsgartenfeier ein. Das Wetter stand der Lady wie jedes Jahr wohlgesonnen gegenüber. Ende Mai bestand das Risiko eines Kälteeinbruches oder tagelangen Regens. Jedoch nicht an dem Wochenende, an dem diese Feier stattfand. Darauf konnte sich jeder verlassen.

Adrians Schwester hatte dieses Fest geliebt. Es waren viele und glückliche Erinnerungen, die er mit diesem Tag verband. Dennoch waren sie für ihn schwer zu ertragen. Bliebe ihm mehr Zeit, Emma für sich zu gewinnen, hätte er die Einladung ausgeschlagen. Da er diese jedoch nicht hatte, war er der Einladung gefolgt.

Sehr zur Freude von Lady Brixton, die ihm am Abend des Balles zugeflüstert hatte, dass sie Miss Grey am heutigen Tage erwartete. Die Lady schien gefallen an der Vorstellung gefunden zu haben, dass Adrian Emma den Hof machte.

Ein Vorteil für ihn.

In dem Saal, in dem eine Woche zuvor der Ball stattgefunden hatte, waren Tische für das abendliche Dinner aufgestellt worden. Mächtige Kerzenleuchter aus Gold zierten die langen Tafeln. Lady Brixton war für ihre pompösen und zur Schau stellenden Veranstaltungen bekannt. Und sie wurde dafür geliebt und von manchem Neider gehasst.

Adrian schlenderte durch den Saal, bis zu den französischen Fenstern, durch die man in den Garten gelangte. Die Mittagssonne blendete ihn, als er ins Freie trat.

Viele der eingeladenen Gäste waren bereits eingetroffen. In diesem Jahr war es für Mai außergewöhnlich warm. Die älteren Damen der Gesellschaft saßen auf weißen Gartenstühlen und wedelten sich mit ihren Fächern frische Luft zu. Sonnenschirme gewährten ihren blassen Teints ausreichend Schutz, während ihre Töchter oder Enkelinnen sich auf der Wiese versammelt hatten und den Männern beim Krocket zusahen. Bedienstete verteilten Erfrischungen und handliche Köstlichkeiten für den kleinen Hunger.

Der Butler eilte auf Adrian zu. Der hochgewachsene, schlanke Mann mit dem lichten Haar half ihm aus seinem Gehrock. Adrian ließ seinen Blick über den Garten und die Gäste schweifen. Bei der Ansammlung plappernder Debütantinnen, die schmachtend den Herrschaften beim Spiel zusahen, fand er nicht, wonach er suchte.

Erst, als sein Blick von den Grüppchen ein Stück die Wiese hinunterglitt, sah er Emma.

Zusammen mit der Gastgeberin Lady Brixton stand sie unter einer schattenspendenden Eiche. Die beiden Damen sahen dem Krocketspiel von weitem zu und waren dabei in ein Gespräch vertieft.

Im Gegensatz zu Lady Brixton, die stets in den Farbtopf griff, was ihre Kleidung betraf, trug Emma ein dezent in hellblauen Tönen gehaltenes Kleid, das ihre schlanke Figur umschmeichelte.

Geradewegs lief er auf die beiden Damen zu. Er machte einen größtmöglichen Bogen um die Tische der Damen. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, waren Mütter, die ihm ihre heiratswilligen Töchter schmackhaft zu machen versuchten.

Lady Brixton bemerkte Adrian als Erstes. Mit ihrem freundlichen Lächeln, das jetzt mehr einem Schmunzeln glich, bedeutete sie Emma, sich herumzudrehen.

Wenn Lady Brixton nur wüsste, dass sie dabei half, ihren liebgewonnenen Gast geradewegs ins Verderben stürzen.

Schon bald würde die Lady ihm nicht mehr freundlich entgegenlächeln. Schon bald würde sie ihn mit Verachtung strafen, sollte sie jemals erfahren, was für ein kalkuliertes Spiel er hier getrieben hatte.

Emmas Anblick riss seine dunklen Gedanken in Fetzen. Sie sah zauberhaft aus. Wie auf dem Ballabend lächelte sie ihn auf diese ehrliche, unaufgesetzte Art an. Sein Mund wurde unerwartet trocken.

Als er näher kam, fielen ihm die Sommersprossen auf, die ihre Nase und Wangenpartie schmückten. In den vergangenen Tagen musste sie sich oft draußen aufgehalten haben, denn auf dem Ball war ihr Gesicht noch elfenbeinfarben wie das einer Porzellanpuppe gewesen.

Der dezent gebräunte Teint tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Im Gegenteil.

»Meine Damen.« Da es sich ziemte, zunächst der Gastgeberin seine Aufwartung zu machen, hauchte er Lady Brixton einen Kuss auf den Handrücken, ehe er Emmas Hand in seine nahm und an seine Lippen führte. »Ich hoffe ich störe nicht bei geheimen Gesprächen, die nicht für Ohren wie die meinen bestimmt sind.« Er blickte Emma mit einem gewinnbringenden Lächeln in die Augen und senkte seinen Mund auf ihren Handrücken. Er genoss, wie sie leicht verlegen den Blick senkte und eine dezente Röte ihre Wangen färbte.

»Unsinn«, erklärte Lady Brixton rasch. »Wir sehen uns das Spiel an.«

Emma entzog sich seiner Hand. »Und amüsieren uns über die Tollpatschigkeit Ihres Geschlechtes.«

Lady Brixton verschluckte sich aufgrund von Emmas Worten an ihrer Limonade.

Währenddessen ließ Emma ihren Blick neugierig auf ihm ruhen, als wartete sie gespannt, wie er auf diese herausfordernde Aussage reagieren würde. Er gab ihr nicht die Freude, sich empört zu zeigen, was sie sicherlich erwartet hatte.

»Beherrschen Sie das Spiel?«, fragte sie und deutete auf die Gruppe Männer, die dabei war, sich für eine neue Partie zusammenzustellen.

Adrian musste sich ungewollt eingestehen, dass Emma nicht bloß hübsch, sondern ihre Art auch äußerst erfrischend war. Er konnte sich kaum vorstellen, dass andere junge Damen in ihrem Alter es gewagt hätten, sein Geschlecht ihm oder einem anderen Mann gegenüber als tollpatschig zu bezeichnen.

»Ich werde mich später einer Runde anschließen, dann können Sie sich selbst davon überzeugen.«

»Das werde ich mir nicht entgehen lassen«, erklärte Lady Brixton, die sich wieder im Griff hatte. »Mr. Wilson hat schon zum dritten Mal den Ball verfehlt. Entweder ist er die Ungeschicklichkeit in Person oder er benötigt dringend eine Brille.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf, als ginge es hier nicht um ein ödes Krocketspiel, sondern darum, einen Krieg zu gewinnen. »Ich muss mich später mit seiner Frau unterhalten, das ist ja nicht mitanzusehen.«

Lady Brixton warf ihm einen vielsagenden Blick zu, ehe sie dann verkündete. »Am besten, ich mache mich gleich auf die Suche nach ihr, bevor sich ihr Mann bis auf die Fußzehen blamiert. Ich darf Miss Grey doch reinsten Gewissens Ihrer Obhut übergeben? Ihre Zofe Anna ist so großzügig und hilft meiner Köchin aus. Leider hat sich eine meiner Hilfsköchinnen den Magen verdorben.«

Perfekt. Adrian nickte zustimmend. »Ich werde Miss Grey mit meinem Leben beschützen«, versprach er und legte bedeutungsvoll eine seiner Hände flach auf sein Herz.