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Dieses eBook: "Schau heimwärts, Engel!" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Thomas Wolfe versuchte in seinem Roman "Schau heimwärts, Engel!" hinter die Geheimnisse des Lebens zu kommen. Dieses stark autobiographische Zeugnis ist der bedeutenste Roman von Thomas Wolfe. Der Titelheld Eugene Gant wächst in der amerikanischen Kleinstadt Catawba auf. Doch der Schein des häuslichen Lebens trügt... Thomas Wolfe (1900-1938) war ein amerikanischer Schriftsteller. In dem expressionistischen Dichter Hans Schiebelhuth fand er für seine ersten beiden Romane einen kongenialen Übersetzer, der dazu beitrug, dass Wolfe sich zeitweise in Deutschland höher geschätzt fühlte als in seiner Heimat. In Amerika gehörte William Faulkner, in Deutschland Hermann Hesse zu seinen Bewunderern. Aus dem Buch: "Gant schob seine schwere Reisetasche mit dem Knie vor sich her, stellte sie einen Augenblick hin, ehe er das Stück bergab zu seinem Haus ging. Die Straße war ungepflastert, die lehmige Erde war in Klumpen gefroren. Der Weg war abschüssiger, kürzer, näher als Gant gedacht hatte. Nur die Bäume sahen groß aus. Gant sah, wie Duncan in Hemdsärmeln die Morgenzeitung von seiner Veranda hereinholte ... Werde ihn später sprechen. Jetzt dauert's zu lang ... Ganz wie er erwartet hatte, stieg eine dicke Rauchsäule aus dem Schornstein des Schotten, aber sein Schornstein rauchte nicht."
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Klassiker der amerikanischen Literatur
Übersetzer: Hans Schiebelhuth
»Einst war die Erde wahrscheinlich ein weißglühender Ball wie die Sonne.«
Für A. B. »Then, as all my soules bee, Emparadis 'd in you (in whom alone I understand and grow and see), The rafters of my body, bone Being still with you, the Muscle, Sinew, and Veine,
... ein Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür; von einem Stein, einem Blatt, einer Tür. Und von all den vergeßnen Gesichtern.
Nackt Und allein gerieten wir in Verbannung. Im Dunkel ihres Schoßes kannten wir unsrer Mutter Angesicht nicht. Aus dem Gefängnis ihres Fleischs sind wir ins deutungslose Gefängnis dieser Erde geraten.
Wer unter uns hat seinen Bruder gekannt? Wer unter uns hat in seines Vaters Herz gesehn? Wer unter uns ist nicht immer unterm Druck des Kerkers geblieben? Wer unter uns ist nicht immer ein Fremdling und allein?
O Öde aus Verlust: in heißen Wirrsälen verloren; unter hellen Sternen auf dieser müden, lichtlosen Schlacke verloren. Verloren! Uns wortlos erinnernd suchen wir die große vergeßne Sprache, das verlorne End eines Feldwegs in den Himmel, einen Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür. Wo? Wann?
O verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!
... ein Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür; von einem Stein, einem Blatt, einer Tür. Und von all den vergeßnen Gesichtern.
Nackt und allein gerieten wir in Verbannung. Im Dunkel ihres Schoßes kannten wir unsrer Mutter Angesicht nicht. Aus dem Gefängnis ihres Fleischs sind wir ins deutungslose Gefängnis dieser Erde geraten.
Wer unter uns hat seinen Bruder gekannt? Wer unter uns hat in seines Vaters Herz gesehn? Wer unter uns ist nicht immer unterm Druck des Kerkers geblieben? Wer unter uns ist nicht immer ein Fremdling und allein?
O Öde aus Verlust: in heißen Wirrsälen verloren; unter hellen Sternen auf dieser müden, lichtlosen Schlacke verloren. Verloren! Uns wortlos erinnernd suchen wir die große vergeßne Sprache, das verlorne End eines Feldwegs in den Himmel, einen Stein, ein Blatt, eine nicht gefundne Tür. Wo? Wann?
O verlornes, vom Wind gekränktes Gespenst, kehre zurück!
Ein Schicksal, das Engländer und Pennsylvania-Deutsche zusammenbringt, ist schon sonderbar genug. Eines aber, das von Epsom in den Quäkerstaat, und von dort – am sanften Lächeln eines Engels aus Stein vorbei – in das Gebirg führt, das Altamont über dem stolzen, korallenroten Hahnenschrei umragt, dunkelt vom Wunder jenes Waltens, das die staubige Welt neu verzaubert.
Jeder von uns stellt alle Stimmen dar, die er nicht zusammengezählt hat. Versetze uns in Nacht und Nacktheit zurück, und Du wirst erkennen, daß die Liebe, die gestern in Texas endete, vor viertausend Jahren auf Kreta begann.
Der Same unseres Verfalls wird in der Wüste blühen, am Fels wächst das Heilkraut, und unsre Leben werden von einer Schlampe aus Georgia heimgesucht, weil ein Beutelabschneider in London ungehenkt blieb. Jeder Augenblick ist die Frucht von vierzigtausend Jahren. Die Tage, an Minuten ermessen, sind Fliegen, die sich totsummen. Jeder Augenblick ist ein Fenster, das auf alle Zeit hinausweist.
Hier ist so ein Augenblick:
Ein Engländer namens Gilbert Gaunt (was er später in Gant änderte, vermutlich ein Zugeständnis an die Aussprache der Yankees) war im Jahre 1837 auf einem Segler von Bristol nach Baltimore gekommen. Den Wert eines Gasthauses, das er sich gekauft hatte, ließ er seine unfürsorgliche Kehle hinunterrollen. Dann wanderte er westwärts nach Pennsylvanien. Sein karges Brot erwarb er auf gefährliche Weise. Er reiste mit Zuchthähnen, die er auf den Höfen gegen die Champions der Ortschaften kämpfen ließ. Oft entkam er nur nach einer im Dorfgefängnis verbrachten Nacht, seinen Hahn tot auf dem Felde zurücklassend, ohne einen klingenden Heller in der Tasche; manchmal trug er die Spuren einer derben Farmerfaust im verwegenen Gesicht. Stets aber entkam er. Er gelangte schließlich unter die Pennsylvania-Deutschen. Es war Erntezeit. Die Fülle des Landes tat es ihm so sehr an, daß er dort vor Anker ging. Im Lauf eines Jahres heiratete er eine handfeste Witwe mit einer sauberen Farm. Das Air des Vielgereisten, das ihn umgab, seine grandiose Art zu reden, besonders wenn er Hamlet in der Manier des großen Edmund Kean vorspielte, gefiel allen Frauen dort sehr. Er hätte Schauspieler werden müssen, sagten die Leute.
Der Engländer zeugte Kinder – eine Tochter und vier Söhne –, lebte angenehm und ohne Sorgen und ertrug das barsche, aber gerechtfertigte Gekeif seiner Frau mit Geduld. Jahre vergingen. Der Engländer ging mit dem Schlürfschritt des Gichtkranken; seine starren Augen wurden trüb und versackten. Eines Morgens, als seine Frau ihn aus dem Bett herausschelten wollte, fand sie ihn tot, vom Herzschlag gerührt. Er hinterließ fünf Kinder, eine Hypothek und – in seinen seltsamen dunklen Augen, die nun glasig starrten, etwas, das nicht mit ihm gestorben war: einen obskuren, leidenschaftlichen Hunger nach Reisen.
Mit diesem Vermächtnis verlassen wir diesen Engländer und beschäftigen uns von jetzt ab mit dem Erben, dem er es hinterließ, seinem zweitgeborenen Sohn, einem Burschen namens Oliver. Dieser Bursch stand an der Landstraße, als staubbedeckt die Truppen der Aufständischen auf dem Marsch nach Gettysburg in der Nähe der Farm vorüberzogen. Wenn er den großen Namen Virginia hörte, wurden seine Augen dunkler. Als der Bürgerkrieg endete, war er fünfzehn.
Eine längere Geschichte ist, wie er einmal in Baltimore eine Gasse entlang ging und in einer kleinen Werkstatt polierte granitne Grabmale sah, Lämmer und Cherubim, und auf kalten, abgezehrten Füßen schwebend einen Engel mit dem Lächeln sanfter Blödheit aus Stein. Die kalten, seichten Augen des Burschen wurden dann dunkler von dem obskuren, leidenschaftlichen Hunger, der in den Augen eines Toten gelebt hatte. Als Oliver den großen Engel mit der Lilie anschaute, überkam ihn eisig eine namenlose Erregung. Die langen Finger seiner großen Hände schlossen sich fest zusammen. Er spürte auf einmal, was er wolle. Mehr als alles in der Welt wollte er mit gelenkem Meißel in Stein schneiden, wollte er etwas Dunkles, Unsägliches aus dem kalten Block herausholen, wollte er das Haupt eines Engels aushauen.
Oliver Gant trat in die Werkstatt ein und fragte den stämmigen, vollbärtigen Mann mit dem Holzhammer um Arbeit. Er wurde Steinmetzlehrling. Fünf Jahre Arbeit, dann war er Steinmetz. Als seine Gesellenzeit um war, war er ein Mann.
Er erreichte es nie. Er lernte nie, das Haupt eines Engels aus Stein zu hauen. Taube, Lamm, gefaltete Totenhände, schöne feine Buchstaben, das lernte er. Aber den Engel nicht. Diese Jahre der Arbeit und wüsten Trunks hatten eine verheerende Nachwirkung auf den Steinhauer. Dazu kam der Einfluß des Theaters von Booth und Salvini, denn er lernte den hochtrabenden Schwulst, den er dort hörte, bis auf den Akzent auswendig. Murmelnd, mit großen ausdrucksvollen Händen gestikulierend, schritt er durch die Straßen. So tappen und tasten wir blind in unsrer Verbannung, so zeigt sich der Hunger, wenn wir, uns wortlos erinnernd, die große vergeßne Sprache suchen, das verlorne End eines Feldwegs in den Himmel, einen Stein, ein Blatt, eine Tür. Wo? Wann?
Er erreichte es nie. Er fuhr über den Kontinent in die Südstaaten der Wiederaufbaujahre: ein sonderbarer wilder Kerl, sechs Fuß vier Zoll hoch, mit alten unbehaglichen Augen, einer großzinkigen Nase. Sein Redestrom rollte hochstaplerisch und verrückt, formvollendet wie klassische Zitate. Trotz des leichten Grinsens um die Winkel seines dünnlippigen, kläglichen Mundes nahm er diese pathetische Ausdrucksweise völlig ernst.
In Sidney, der Hauptstadt eines der mittleren Südstaaten, machte er ein Geschäft auf. Er lebte nüchtern und fleißig unter den aufmerksamen Augen der Bevölkerung, die noch vom verlornen Krieg und von Feindseligkeit wund war. Er machte sich einen guten Namen, fand Zutritt, heiratete eine hagere, lungensüchtige, auf die Ehe erpichte Jungfer. Cynthia war zehn jähre älter als er; sie hatte etwas Geld. Achtzehn Monate Ehestand verwandelten ihn wieder in einen tobsüchtigen Trinker. Sein Geschäft ging in die Brüche, während er sich in den Schenken räkelte. Cynthia, deren Leben er – so meinten die Mitbürger – nicht verlängern half, starb plötzlich nachts an einem Blutsturz.
So war wieder alles dahin: Cynthia, die Werkstatt, die schwer erkämpfte Nüchternheit, das Haupt des Engels. Er strich nachts durch die Straßen und verfluchte die Südstaaten und ihre Trägheit in gellen, pathetischen Flüchen. Angekränkelt von Angst, vom Verlust, von Reue, zermürbt von den tadelnden Blicken der feindseligen Stadt, fiel er vom Fleisch; und war überzeugt, daß Cynthias Geißel ihn strafend heimsuchte.
Er war erst knapp über dreißig, sah aber viel älter aus. Sein Gesicht war gelb und hohl. Seine großzinkige, wächserne Nase wirkte wie ein Vogelschnabel. Sein langer, brauner Schnurrbart hing traurig herab. Das wüste Trinken hatte seine Gesundheit untergraben. Er war spindeldürr geworden und hustete ständig. Er war einsam, er dachte an Cynthia. Ihm wurde angst. Er glaubte, er sei schwindsüchtig und müsse bald sterben.
Allein und abermals verloren, da er nirgends in der Welt Ordnung und Bleibe gefunden hatte, da ihm der Boden unter den Füßen entzogen war, nahm er sein zielloses Streunerleben wieder auf. Er wandte sich westwärts gegen das große Gebirg, denn er wußte, daß jenseits der Berge sein übler Ruf unbekannt war. In den Bergen hoffte er Einsamkeit, neues Leben und seine Gesundheit wieder zu finden.
Seine Augen wurden wieder dunkler. Wie in seiner Jugend.
Den ganzen Tag unter einem verregneten grauen Oktoberhimmel fuhr Oliver westwärts durch den großen Staat Catawba. Er blickte traurig zum Fenster hinaus auf das riesige, ungeordnete Land. Die paar armseligen Farmen schienen ihm vergeblich in diese Wildnis gepflanzt. Sein Herz wurde kalt und wie Blei. Er dachte an die mächtigen Scheuern Pennsylvaniens, an das goldne, reife, geneigte Korn, an die Fülle, die Ordentlichkeit, das reinliche Auskommen der Menschen dort. Er dachte daran, wie er selbst ausgezogen war, um Auskommen und Bleibe für sich zu finden. Er dachte an das Wirrsal seines Lebens, seine vergeudete Jugend, die Spur der Jahre.
Bei Gott, dachte er, ich werde alt. Warum hier?
Die verschollenen Jahre zogen gespenstisch in seinem Hirn um. Er sah plötzlich, daß eine Kette von Zufällen sein Leben bestimmt hatte: ... ein Lied von Armageddon, das ein verrückter Rebell sang ... Hörner und Maultiergetrappel der Armee auf der Landstraße ... das alberne weiße Gesicht eines Engels in einer verstaubten Werkstatt ... die wippenden Schinken einer vorüberstreifenden Strunze ... Das hatte ihn aus Wärme und Fülle in diese Öde getrieben. Als er zum Fenster hinaus auf die fahle unbebaute Erde starrte, das große kahle Massiv des Piedmont, das schmutzige Ziegelrot der Landstraßen, die verschlampten Menschen, die gaffend auf den Stationen herumlungerten – einen dürren Farmer, der unsicher auf dem Kutschbock schwankte, einen torkelnden Neger, einen zahnlosen Farmtölpel, ein blasses verhärtetes Weib mit einem schmierigen Balg auf dem Arm –, da packte ihn die Furcht vor der Fremdheit des Geschicks. Was hatte er hier zu suchen? Wie kam er hierher? Aus dem ungetrübten Behagen seiner Jugend hierher in dieses endlose, verlorne, verkrümelte Land?
Der Zug klapperte vorwärts. Es regnete ständig. Der Grund roch stark. Ein Bremser kam und leerte einen Kroppen Kohle in den Ofen am Ende des Abteils. Es zog. Zwei blöde Kerle, die mit ihm in dem mit schmutzigem Plüsch bezogenen Abteil saßen, brachen in ein leeres, hohes Gelächter aus. Die Glocke der Lokomotive bimmelte kläglich über dem Rädergerassel. Am Fuß des Gebirges war ein Bahnknotenpunkt. Dort stand der Zug eine unendliche, dröhnende Weile lang still. Dann ging die Fahrt weiter über die leere rollende Erde hin.
Es wurde düster. Riesige Bergmassen traten vag aus dem Dunst. In den Hütten auf den Hängen gingen kleine blakende Lichter an. Der Zug schwankte über schwindelnde Gerüste, die sich hoch über geisterhaft strudelnden Wassern spannten. Jäh in der Höhe, jäh in der Tiefe hingen kleine Spielzeughäuser an den Ufern, den Schlüften, den Abhängen. Zäh und langsam arbeitete sich der Zug durch Einschnitte ins rote Erdreich in die Höhe. Es war dunkel, als Oliver in der Kleinstadt Old Stockade, der armseligen Endstation der Bahnlinie, ausstieg. Die letzte Bergwand lag ungeheuer vor ihm. Als er in das fettige Funzellicht eines ländlichen Landes starrte, hatte Oliver das Gefühl, daß er – ganz wie ein großes Tier, das sich zum Verenden in die Wildnis zurückzieht – sich dem Tod entgegen in den Ring dieser Berge schleppe.
Am nächsten Morgen reiste er mit der Postkutsche weiter. Sein Ziel war die kleine Stadt Altamont, vierundzwanzig Meilen entfernt, tief im Gebirg gelegen. Als die Pferde auf der steilen Straße anzogen, wurde Oliver etwas vergnügter. Es war ein graugoldner Spätoktobertag, hell und windig. Die Höhenluft wehte frisch und scharf. Die Berge ragten über ihm, ganz nah, ungeheuer, unfruchtbar, unbegangen. Bäume, beinah laublos, hoben sich klar und mächtig ab. Der Himmel trieb mit weißen Wolkenfetzen. Ein dichter Nebelschwaden wogte langsam eine Steilhalde hinab.
Tief unten schäumte ein Bach. Oliver sah, ganz winzig, einen Trupp Arbeiter, die an dem Schienenstrang, der sich über die Bergkette nach Altamont winden sollte, arbeiteten. Die Kutsche kam übers Joch. Die Gäule schwitzten. Ringsum schwangen königlich die Bergketten, verschwammen in blaurotem Dunst. Der Abstieg zu dem Hochplateau, auf dem Altamont liegt, begann.
In die geisterhafte Ewigkeit der Berge eingebettet, über hundert kleine Hügel und Senken gebreitet, fand Oliver eine Stadt von viertausend Einwohnern.
Hier war Neuland. Ihm wurde leicht ums Herz.
Diese Stadt Altamont war kurz nach dem Befreiungskrieg gegründet worden. Sie war damals ein bequemer Halteplatz für Viehtreiber und Farmer auf dem Weg von Tennessee nach Süd-Carolina. Bereits ein paar Jahrzehnte vor dem Bürgerkrieg war sie Sommeraufenthalt modischer Leute aus Charleston und von den heißen Plantagen des Südens. In den Jahren, als Oliver Gant dort ankam, hatte ihr Ruf als Kurort für Lungenkranke gerade begonnen. Ein paar reiche Herren aus dem Norden hatten Jagdhütten im Gebirg. Einer von ihnen hatte große Landstrecken aufgekauft und baute nun mit einer Armee von Zimmerleuten und Maurern unter einem Stab importierter Architekten das größte Landhaus in den Vereinigten Staaten – so ein Ding aus Kalkstein mit spitzen Schieferdächern und einhundertdreiundachtzig Zimmern, nach dem Vorbild des Schlosses von Blois. Außerdem gab es ein großes neues Hotel aus Holz, eine kostspielige Riesenscheuer, die protzig-behaglich auf einer gebietenden Anhöhe über der Stadt thronte.
Aber weitaus die Mehrzahl der Einwohner war alteingesessen; stammte aus dem Gebirg; ein Menschenschlag schottisch-irischen Blutes: hinterwäldlerisch, fleißig, handfest, intelligent.
Oliver hatte aus dem Zusammenbruch von Cynthias Vermögen zwölfhundert Dollar gerettet. Er mietet einen kleinen Schuppen an einer Ecke des Stadtplatzes, kaufte ein paar Marmorblöcke auf Lager und fing sein Geschäft an. Zu tun hatte er die erste Zeit wenig. Einsam und trübselig hing er seinen Todesgedanken nach. Während des bittern Winters wurde der lange dürre Yankee, diese wandelnde Vogelscheuche, die murmelnd durch die Straßen strich, zum Stadtgespräch. Alle Leute im Boarding-House wußten, daß er nachts in seinem Zimmer mit großen Schritten wie ein Raubtier im Käfig auf und ab ging, und daß er im Schlaf tief aufstöhnte. Er sprach mit niemandem.
Als aber der wunderbar grün-goldne Bergfrühling mit kurzen heftigen Windstößen, mit dem Zauber und Duft der Blüten, mit lauen balsamischen Brisen kam, begann die große Wunde in Oliver zu verheilen. Seine Stimme ward wieder vernommen. Purpurn leuchteten die alte Beredsamkeit, das alte Ungestüm in ihm auf.
Eines Apriltages, als er frischerweckter Sinne vor seine Werkstatt trat, um das flimmernde Leben auf dem Stadtplatz zu beobachten, hörte er hinter sich die Stimme eines Mannes, der gerade vorüber ging. Und diese seichte, träge, langgezogne Stimme rührte wie ein Lichtstrahl an ein Bild, das zwanzig Jahre in ihm geschlummert hatte.
»Er kommt! Er muß kommen! Meiner Berechnung nach trifft er am 11. Juni 1886 ein.«
Oliver wandte sich um und erblickte die freundlich-feiste Gestalt eines Wanderpredigers, die er zum letztenmal gesehn hatte, als sie auf der staubigen Marschroute entschwand, die nach Gettysburg und Armageddon führt.
»Wer ist das?« fragte er jemanden.
Der Mann guckte und grinste.
»Das? Bacchus Pentland«, sagte er. »Ein Original. Seine Leute leben hier in der Gegend.«
Oliver leckte seinen großen Daumen. Dann fragte er dünn lächelnd:
»Ist Armageddon jetzt gekommen?«
»Er erwartet das täglich«, sagte der Mann.
Dann traf Oliver Eliza. Eines Frühlingsnachmittags lag er auf dem Ledersofa in seiner Bude und lauschte auf die hellen, pfeifenden Geräusche vom Platz. Ein heilsamer Friede brütete über seiner langausgestreckten Gestalt. Er dachte an mulmige schwarze Erde, über die das junge Licht der Blumen flackert, an kühles, perlendes Bier, an des Pflaumenbaums fallende Blüten. Da hörte er Frauenschritte auf die Werkstatt zukommen, schnell sprang er auf. Er zog gerade seinen wohlgebürsteten schwarzen Rock an, als sie eintrat.
»Ich wünscht, ich wär ein Mann«, begann Eliza mit vorwurfsvollem Spott, »und hätt den ganzen Tag nichts zu tun, als auf einem bequemen Sofa zu liegen.«
»Guten Nachmittag, Madam«, sagte Oliver. Er verbeugte sich umständlich. Ein mattes Lächeln spielte um seine schmalen Mundwinkel. »Sie haben mich in der Tat beim Mittagsschlaf überrascht. Ich schlafe tagsüber eigentlich selten, aber meine Gesundheit ist in letzter Zeit ein wenig angegriffen. So bin ich nicht imstand, die Arbeit zu leisten, die ich früher tat.«
Er schwieg einen Augenblick und ließ traurig den Kopf hängen. »Ach Gott, ich weiß wirklich nicht, was noch aus mir werden wird.«
»Ei was!« wandte Eliza schnell und verächtlich ein. »Meiner Meinung nach fehlt Ihnen gar nichts. Sie sind ein Mordskerl von einem Mann und stehn in den besten Jahren. Gut zur Hälfte ist die Sache gewiß nur Einbildung. Vor drei Jahren hielt ich Schule in Hominy Township und bekam die Lungenentzündung. Kein Mensch glaubte, daß ich durchkäme. Aber ich hab's doch geschafft. Ich erinnere mich, da lag ich eines Tags da ... ich glaub, man nennt das rekonvaleszieren ... ja! ... Der Grund, wieso mir das jetzt einfällt, ist der: der alte Doktor Fletscher war gerade dagewesen, und als er wegging, sah ich, wie er zu meiner Kusine Sally den Kopf schüttelte. ›Aber Eliza, um Himmels willen!‹ sagte Sally zu mir, sobald er zum Haus draußen war. ›Er sagte mir, daß Du Blut spuckst, so oft Du hustest. So sicher, wie ich hier steh: Du hast die Schwindsucht!‹ – ›Ei was!‹ hab ich gesagt, und ich lachte so laut heraus, wie ich nur konnte. ›Kein Wort glaub ich davon!‹ Und ich dacht mir: ›Nur nicht nachgeben, ich werd sie alle mal rein zum Narren halten.‹ (Hier nickte Eliza und rollte die Lippen) ... ›und außerdem, Sally‹, hab ich gesagt, ›einmal kommen wir alle dran. Unsinn, sich deswegen Gedanken zu machen. Was kommt, kommt. Es kann morgen sein, es kann später sein. Aber kommen muß es gewiß.‹«
»Ach Gott«, sagte Oliver und nickte traurig, »ein wahreres Wort ist nie gesagt worden.«
Barmherziger Heiland! dachte er verzweifelt. Wie lange wird sie daherreden? Aber ein hübscher Kerl ist sie, todsicher. Er sah wohlgefällig ihre aufrechte, gutgebaute Figur an. Er bemerkte die milchweiße Haut, die schwarzbraunen Augen mit dem drolligen Kinderblick, ihr tiefschwarzes glänzendes Haar, das von der hohen weißen Stirn glatt zurückgekämmt war. Sie hatte die Angewohnheit, vorm Sprechen stets die Lippen zu rollen. Sie sprach langatmig und kam stets erst über nie endende Abschweifungen und Seitenpfade, über alle Wegenden der Erinnerung zur Sache, so, als müsse sie zunächst erst bei allen Dingen, die sie je getan, gefühlt, gedacht, gesehn, erlebt hatte, mit egozentrischem Entzücken verweilen.
Als er sie so anblickte, brach sie plötzlich mitten im Satz ab, legte ihre nett behandschuhte Rechte ans Kinn und starrte mit nachdenklich gerolltem Mund ins Leere.
»Also!« sagte sie. »Falls Sie sich hier erholen und einen Teil Ihrer Zeit liegen müssen, dann brauchen Sie etwas, was Sie geistig beschäftigt.« Sie öffnete das kleine lederne Handköfferchen, das sie trug, und nahm eine Visitenkarte und zwei dicke Bände heraus. »Mein Name«, sagte sie gewichtig und mit langsamem Nachdruck, »ist Eliza Fentland. Ich vertrete die Verlagsanstalt Larkin and Company.«
»Barmherziger Heiland!« dachte Oliver. »Wie würdig und stolz sie das sagt! Eine Buchagentin also!«
»Wir offerieren«, sagte Eliza und öffnete ein mit phantastischem Buchschmuck aus Speeren, Fahnen, Lorbeerreisern ausgestattetes Werk, »eine poetische Blütenlese, betitelt Juwelen in Vers für Herd und Heim und außerdem Larkins Handbuch Arzt und Arznei zum Hausgebrauch, ein Werk, das Kuren und Vorbeugungsmittel für mehr als fünfhundert Krankheiten enthält.«
»So ...« sagte Gant, heimlich grinsend, und leckte seinen großen Daumen. »Da könnte auch ich wohl herausfinden, was mir fehlt.«
»Ei gewiß!« versicherte Eliza mit entschiedenem Kopfnicken. »Sie lesen sozusagen die Poesie zum Besten Ihrer Seele und den Hausdoktor zum Wohl Ihres Leibs.«
»Gedichte mag ich sehr gern«, gestand Oliver, drehte ein paar Seiten um and hielt bei dem Abschnitt Sänge von Säbel und Sporn interessiert inne. »Als ich noch ein Bub war, konnte ich stundenlang rezitieren.«
Er kaufte die Bände. Eliza packte die Muster ein, richtete sich auf und sah sich neugierig in der verstaubten Bude um.
»Geht das Geschäft gut?« fragte sie.
»Nicht daß ich sagen könnte«, gestand Oliver. »Es kommt gerade genug dabei heraus, um Leib und Seele zusammenzuhalten. Ich bin fremd in der Stadt.«
»Ei was!« sagte Eliza fröhlich. »Sie sollten mehr unter die Leute gehen. Sie brauchen etwas, was die Gedanken ablenkt. Wenn ich Sie wäre, dann würde ich mal dran gehn, mich um die fortschrittliche Entwicklung dieser Stadt zu bekümmern. Wir haben hier alles Zeug zu einer Großstadt: Landschaft, Klima, Bodenschätze. Da wäre was zu machen. Wenn ich ein paar tausend Dollar hätte, wüßte ich genau, was ich mit ihnen anfangen würde.« Sie blinzelte ihm lustig zu und begann mit sonderbar männlichen Gebärden: den Zeigefinger ausgestreckt, die Faust lose geballt: »Betrachten Sie mal das Baugrundstück hier an der Ecke, dieses hier, auf dem Ihre Werkstatt steht. Es wird in den nächsten paar Jahren seinen Wert verdoppeln. Und dort –« sie deutete mit einer weiten Armbewegung –' »dort wird eines Tages eine Straße laufen, so sicher, wie ich hier steh ...»– sie rollte nachdenklich die Lippen – »und dann wird dieses Grundstück schweres Geld wert sein.« Sie fuhr fort, versonnen-hungrig über Baugelände zu reden. In ihrer Vorstellung war die Stadt ein ungeheurer Blaupausplan; ihr Gedächtnis war mit Zahlen und Schätzungen vollgepfropft; sie wußte, wer ein Grundstück besaß, wer es verkauft hatte; sie kannte den Kaufpreis, den faktischen und den Spekulationswert; sie verstand sich auf erste und zweite Hypotheken.
Oliver dachte an Sidney. Als sie fertig war, bemerkte er mit Nachdruck:
»Ich hoffe, ich werde nie wieder in meinem Leben Immobilien besitzen; außer einem Wohnhaus natürlich. So was lastet wie ein Fluch auf einem, und am Ende kriegt doch der Steuereinnehmer alles.«
Eliza sah ihn verdutzt an, als hätte er sich zu einer verdammenswerten Irrlehre bekannt.
»Na, aber hören Sie! Das wollen Sie doch nicht im Ernst behaupten! Sie werden sich doch auch etwas für die magern Jahre zurücklegen wollen?«
»Ich befinde mich mitten in den magern Jahren«, sagte er düster. »Was ich an Grund und Boden benötige, sind acht Kubikfuß Erde für ein Grab.«
Dann aber redete er von freundlichern Dingen und geleitete sie zur Tür. Er sah ihr nach, wie sie lustig über den Stadtplatz davonging. Er beobachtete, daß sie im Rinnstein ihren Rock mit damenhafter Artigkeit ein wenig hob. Dann wandte er sich zu seinen Marmorblöcken. Eine Freudigkeit regte sich in ihm, die er für immer verloren geglaubt hatte.
Die Familie Pentland, der Eliza angehörte, war eine der sonderbarsten Sippen, die dies Gebirg je hervorgebracht hatte. Ihr Anspruch auf den Namen Pentland war strittig. Ein Schotte dieses Namens, Bergbauingenieur von Beruf, Großvater des derzeitigen Haupts der Familie, war nach dem Befreiungskrieg auf der Suche nach Kupfer in die Gegend gekommen, hatte dort einige Jahre mit einer der Pionierfrauen gelebt und mehrere Kinder gezeugt. Als er verschwand, nahm die Frau für sich und die Kinder den Namen Pentland in Anspruch.
Derzeitiger Stammeshäuptling war Elizas Vater, Bruder des Propheten Bacchus, ein Major Thomas Pentland. Ein andrer Bruder war im Bürgerkrieg gefallen. Major Pentland hatte seinen militärischen Rang ehrlich aber unauffällig erworben. Während Bacchus, der es nie weiter als zum Korporal brachte, sich bei Shilo Blasen an die Hände feuerte, verteidigte der Major an der Spitze von zwei Landsturmkompagnien das heimatliche Gebirg. Diese natürliche Festung war zwar während des ganzen Feldzugs nicht bedroht, aber in den letzten Tagen vorm Waffenstillstand hatten die freiwilligen Wehrmannen, gut hinter Fels und Baum verschanzt, drei Salven auf ein verirrtes Detachement aus Shermans Armee abgegeben und sich dann stillschweigend zum Schutz ihrer wartenden Weiber und Kinder gedrückt.
Die Pentlands waren so alt wie irgendeine andere Familie in der Stadt. Sie waren immer arm gewesen und spielten sich nur selten als Patrizier auf. Durch Heirat und Versippung konnten sie sich naher Beziehung zu einigen Großen im Lande rühmen. Die Familie hatte den Durchschnitt an Idioten und Geisteskranken hervorgebracht; aber da sie an Intelligenz und Fiber den anderen Sippen der Gegend offensichtlich überlegen war, wurde ihr ein solider Respekt eingeräumt.
Die Pentlands hatten einen ausgeprägten Typ. Gruppenabzeichen waren breitangesetzte Nasen mit fleischigen, tief eingebuchteten Flügeln, sinnliche Lippen, gleichviel grob und delikat, die sich beim Nachdenken mit erstaunlicher Gewandtheit verziehen konnten; breite intelligente Stirnen und tiefe, flache, ein wenig hohle Wangen. Die Männer hatten im allgemeinen – obschon es auch eine leichenblasse Variation gab – hochrote Gesichter. Sie waren mittelgroß, untersetzt, schwer.
Major Thomas Pentland war Vater einer zahlreichen Familie. Die einzig überlebende Tochter war Eliza. Eine jüngere Schwester war ein paar Jahre zuvor an einer Krankheit gestorben, die die Familie wehmütig als »die Skrofeln unsrer armen Jane« bezeichnete. Von den sechs Buben war Bascom, der Älteste, nun dreißig, Will sechsundzwanzig, Jim zweiundzwanzig, waren Crockett, Elmer und Greeley der Reihenfolge nach achtzehn, fünfzehn, elf. Eliza war vierundzwanzig.
Die Kindheit der vier Ältesten war in die Hungerzeit nach dem Bürgerkrieg gefallen. Die Entbehrungen dieser Jahre waren so furchtbar gewesen, daß keins von den vieren je davon sprach. Sie hatten Wunden davongetragen, die nie ganz vernarbten. Die Folgen waren bei allen eine krankhafte Anlage zum Geiz, eine unersättliche Besitzgier und die Sucht, so bald wie möglich aus dem Haus des Majors hinauszukommen.
»Papa«, sagte Eliza mit damenhafter Artigkeit, als sie Oliver zum erstenmal ins Wohnzimmer des Elternhauses führte, »darf ich Dir Mister Gant vorstellen?«
Major Pentland erhob sich gemächlich vom Schaukelstuhl am offenen Kamin, klappte das Messer zusammen und legte den Apfel, den er gerade geschält hatte, auf den Kaminsims. Bacchus, der gerade an einem Stock geschnitzt hatte, sah wohlwollend auf. Will, der wie gewöhnlich an seinen Fingernägeln herumschnipselte, grüßte den Besuch mit einem komischen Zwinkern. Die Herren pflegten sich mit ihren Taschenmessern zu amüsieren.
Major Pentland, ein stämmiger, wohlbeleibter Fünfziger mit hochrotem Gesicht und einem Patriarchenbart, ging langsam auf Gant zu.
»Sie sind W. O. Gant? Nicht wahr?« fragte er mit öliggedehnter Stimme.
»Ja«, sagte Oliver.
»Na, nach dem, was mir Eliza erzählt hat«, sagte der Major und gab seiner Zuhörerschaft ein Zeichen, »müßten Sie L. E. Gant heißen.«
Das Zimmer schallte vom feisten, selbstgefälligen Lachen der Pentlands.
»Schäm Dich, Papa!« rief Eliza und legte die Hand an die Nase. Gant grinste mit geheuchelter Heiterkeit.
»Elender alter Racker«, dachte er, »diesen Kalauer hast Du bestimmt seit einer Woche auf Lager.«
»Will hast Du zuvor getroffen«, sagte Eliza.
»Zuvor und zunach«, blödelte Will.
»Und dies, sozusagen«, sagte Eliza, »dies ist Onkel Bacchus.«
»Tschawoll«, sagte Bacchus strahlend, »ganz wie er leibt und lebt.«
Will spottete gutmütig über seinen beleibten Onkel. Major Pentland riß einen alten Kalauer. Gant, mit frostigem Grinsen, war entschlossen, das Schlimmste über sich ergehn zu lassen. Die Tür ging auf, und ein Trupp Pentlands kam herein; Elizas Mutter, eine einfache, verblühte Frau, schottischen Typs, – Jim, ein sonnverbrannter Bursch, seinem Vater aus dem Gesicht geschnitten, – Thaddäus, braunäugig, braunhaarig, gutmütig, kälbern, – Greeley, der Jüngste, der unter idiotischem Schmunzeln kleine Quietschlaute hervorbrachte, über die die ganze Gesellschaft lachte. Er war elf, degeneriert, schwächlich, skrofulös; seine weißen, schweißigen Hände wußten der Violine ungelernte, überirdische Musik zu entlocken.
Da saßen sie dann in der warmen Wohnstube, im Geruch mürber Äpfel. Der Wind brauste von den Bergen herunter, sauste in den kahlen Föhren, so daß die Äste aneinanderschlugen. Und während sie schälten oder schnitzten oder schnipselten, glitt das Gespräch von Ulk und Blödelei hinweg. Die Rede war vom Tod und vom Sterben. Dumpf, eintönig, mit feistem Behagen schwatzten sie vom Geschick, sprachen sie von kaum begrabnen Leuten. Und indessen das Gespräch kein Ende nahm, heulte draußen der geisterhafte Wind. In Gant wurde es finster. Seine Seele sank in Nacht. Er spürte, daß er immer ein Fremdling auf Erden bleiben werde, er spürte, daß er, ein Fremdling, sterben müsse, er spürte, daß alle sterben müssen – nur diese triumphierenden Pentlands, die sich schmatzend am Tode gütlich taten, nicht.
Wie einer, der in Polarnacht untergeht, dachte er an die üppigen Wiesen seiner Jugend: die Maisfelder, den Pflaumenbaum, das reife Korn. Warum hier? O verloren!
Oliver heiratete Eliza im Mai. Sie machten eine Hochzeitsreise nach Philadelphia und zogen dann in das Haus an der Woodson Street, das er ihr gebaut hatte.
Mit seinen großen Händen hatte er Fundamente gelegt, tiefe Keller ausgegraben, Wände mit glattem, warm-braunem Mörtel verkleidet. Er hatte sehr wenig Geld, dies Haus aber ward zum Spiegelbild seiner reichen Phantasie. Schließlich stand es – mit behaglichen Stuben im Innern, in denen er nach Laune auf und ab gehen konnte – mit einer großen weitbauchigen Veranda nach außen – an der Berglehne, nahe bei der hügeligen Straße. In der mulmigen Erde des Vorgartens legte Oliver Blumenbeete an; das kurze Stück Wegs zur Veranda pflasterte er mit viereckigen Buntmarmorplatten; er errichtete einen Staketenzaun zwischen seinem Heim und der Welt.
Im Garten hinterm Haus, der vierhundert Fuß den Abhang hinauf reichte, pflanzte er Obstbäume und Reben. Was er auch anrührte, gedieh. Mit den Jahren wuchsen die Bäume – Pfirsich, Pflaume, Kirsche und Apfel – hoch und trugen schwer. Die Rebhölzer wurden zäh, schlangen, wanden und schraubten sich an den Drähten, trieben üppig in Blätter, Ranken und Trauben. Sie umzogen das Grundstück in doppeltem Spalier, klommen zur Veranda vor, umrahmten die Fenster des Obergeschosses dicht mit Laub. Die Gartenblumen wucherten in wildem Tumult: sammelblättriges Nasturtium mit hundert gelb-goldnen Farben gefleckt, Rosen, Schneeballblüten, rotkelchige Tulpen und Lilien. Dichtes Geißblatt belud den Zaun. Was auch immer Olivers große Hände berührten, gedieh.
Für ihn war das Haus ein Bild seiner Seele, ein Gewand seines Lebenswillens. Aber für Eliza war es ein Stück Hab und Gut, dessen Wert als Grundstock zu einem Vermögen sie klug einschätzte. Wie alle älteren Kinder des Majors Pentland hatte sie seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr langsam angefangen, Boden zu erwerben. Sie besaß bereits ein oder zwei Stücke Land, die sie vom Ersparten ihres kargen Verdiensts als Lehrerin und Buchagentin gekauft hatte. Sie überredete Oliver, sich auf einem dieser Grundstücke, einem kleinen Eckchen am Rand des Stadtplatzes, eine Werkstatt zu bauen. Mit eignen Händen und der Hilfe von zwei Negerarbeitern errichtete er einen Backsteinschuppen mit einer breiten Holztreppe, die von einer marmorgepflasterten Veranda auf dem Platz hinunter führte. Auf der Veranda lagerte er die Steinklötze. Neben der hölzernen Tür stellte er eine alberne, plumpe Engelsfigur aus.
Aber Eliza war mit seinem Geschäft nicht zufrieden. Am Tod war kein Geld zu machen. Die Leute stürben zu langsam, dachte sie. Sie sah voraus, daß ihr Bruder Will, der mit fünfzehn Jahren als Lehrling in den Holzhandel eingetreten war und nun bereits ein eignes Geschäft besaß, mit der Zeit ein reicher Mann werden würde. Sie überredete Gant, Will Pentlands Geschäftspartner zu werden. Nach einem Jahr jedoch ging Gants Geduld aus; sein Egoismus brach durch. Er schrie, daß Will sie alle ruinieren würde. Will, der seine Stunden im Geschäft abwechselnd damit zubrachte, mit einem Bleistiftstummel auf verschmutzte Briefumschläge Zahlen zu kritzeln, an seinen Nägeln herumzuschnipseln und blöde Witze zu reißen, kaufte stillschweigend Olivers Geschäftsanteil aus und baute weiterhin an seinem Vermögen. Gant zog sich in den einsamen Werkschuppen zu seinen verstaubten Marmorengeln zurück.
Die seltsame Gestalt Oliver Gants warf ihren Schatten durch die Stadt. Die Leute hörten, wie er früh und spät Eliza pathetisch verfluchte, sahen ihn, wie er vom Haus zur Werkstatt rannte, wie er sich über seinen Marmorblöcken beschäftigte, wie er fluchend und heulend mit leidenschaftlichem Eifer an seinem Heim baute. Sie lachten über die Großspurigkeit seiner Redensarten, seiner Fühlweise, seiner Gebärden. Sie verstummten vor der manisch-trunksüchtigen Wut, die ihn fast pünktlich alle zwei Monate befiel und zwei bis drei Tage dauerte. Stinkend und bewußtlos fanden sie ihn in der Gosse und schleppten ihn heim ... der Bankier, der Schutzmann, ein ihm ergebner, schäbiger Juwelier namens Jannadeau, ein stämmiger Schweizer, der eine kleine, ausgezäunte Ecke von Gants Grabmalschuppen gemietet hatte. Sie behandelten ihn zart und sorgfältig, sie empfanden das Seltsame, Stolze und Glorreiche in ihm. Er blieb ihnen fremd. Niemand – nicht einmal Eliza – nannte ihn je beim Vornamen. Er war und blieb für immer »Mister« Gant.
Was Eliza an Schmerz, Angst und Herrlichkeit ausstand, weiß kein Mensch. Über alles atmete Gant seine Gier, seine Wut. Wenn er betrunken war, trieb ihn ihr weißes, zusammengezogenes Gesicht mit den kleinen, langsamen Anzeichen des Mißmuts zum hellen Wahnsinn. Sie war dann tatsächlich in Lebensgefahr und mußte ihr Zimmer vor ihm absperren. Von allem Anfang an führten die beiden einen dunklen, unheimlichen Krieg miteinander. Wenn er fluchte, flennte Eliza oder blieb stumm. Auf seine hochtrabenden Reden antwortete sie mit trocknem Genörgel. Sie war nachgiebig wie eine Weide im Sturm ... und langsam, unwiderstehlich setzte sie ihren Willen gegen ihn durch. Jahr um Jahr, trotz seines brüllenden Protests, erwarben sie – er wußte nicht wie – kleine Stücke Land, zahlten die verhaßten Grundsteuern und kauften von dem übrigen Geld neuen Boden hinzu. Über die Ehefrau hinweg, über die Mutter hinaus, entwickelte sich in Eliza eine Person männischen Wesens: die Grundstücksspekulantin.
In elf Jahren gebar sie ihm neun Kinder, von denen sechs am Leben blieben. Das erste, ein Mädchen, starb im zwanzigsten Monat an Kindercholera. Zwei andre starben bei der Geburt. Die übrigen überstanden die grimmen Anfälligkeiten der ersten Lebenszeit. Das älteste, ein Junge, war 1885 geboren und wurde Steve getauft. Das zweite, fünfzehn Monate später geboren, war ein Mädchen: Daisy. Das nächste, gleichfalls ein Mädchen, kam drei Jahre später. Dann, 1892, kamen Zwillingsbuben, denen Gant, der stets Geschmack an der Politik fand, die Namen der Präsidenten Grover Cleveland und Benjamin Harrison gab. Der letzte, Luke, war zwei Jahre später, 1894, geboren.
Zweimal in dieser Zeitspanne – in fünfjährigen Intervallen – artete Gants periodische Trunksucht in wochenlang ununterbrochene Sauferei aus. Er verkam. Beide Male schickte ihn Eliza zur Kur in eine Trinkerheilstätte in Richmond. Einmal erkrankten sie und vier ihrer Kinder zu gleicher Zeit an Typhus. Während einer langwierigen Rekonvaleszenz schürzte sie die Lippe und fuhr mit den Kranken zur Erholung nach Florida.
Schwerfällig rang sich Eliza in diesen Jahren der Liebe, der Widerwärtigkeiten und des Verlusts zum Sieg durch. Sie ertrug das wilde Flackern von Gants fremdem, leidenschaftlichem Sein. Stumpf und grausam war er oft, aber sie erinnerte sich immer an das Herrliche, die ungeheure Leuchtkraft des Lebens in ihm, sie dachte stets an das Verlorne, Verschüttete in ihm, das er nicht finden konnte. Furcht und wortloses Mitleid packten sie, wenn sie manchmal beobachtete, daß seine kleinen unruhigen Augen still und dunkel wurden vom sinnlos-gierigen Hunger, der alten Qual. O verloren!
In der Prozession der Jahre, in denen die Geschichte der Familie Gant sich vollzog, sind nur wenige mit Schmerz, Schrecknis und Elend so beladen gewesen wie das, mit dem das 20. Jahrhundert begann. 1900 wurde Gant fünfzig. Er wußte, daß er halb so alt war wie das ausgegangne Jahrhundert, daß Menschen nur selten ein Jahrhundert alt werden. Eliza, die mit dem letzten Kind, das sie gebären sollte, schwanger ging, überstand ihre letzte verzweifelte Angst. In der üppigen Dunkelheit von Sommernächten, als sie ausgestreckt, die Hände auf dem verschwollenen Leib, im Bett lag, begann sie, ihr Leben für die Jahre, in denen sie nicht mehr Mutter werden würde, zu planen. Der Golf, an dessen gegenüberliegenden Küsten ihr und Olivers Leben gegründet waren, lag weit offen vor ihr. Mit unendlicher Geduld und instinktiv prophetischer Gefaßtheit spähte sie aus.
Die fast buddhistische Stille ihres Wesens, die sie weder unterdrücken noch verleugnen konnte, brachte Gant, da er sie am wenigsten verstehen konnte, am meisten in Wut. Er war fünfzig, war sich seines Alters tragisch bewußt. Er sah, daß die leidenschaftliche Fülle der Lebenskraft für ihn entschwand, und benahm sich sinnlos wie ein gereiztes Biest. Eliza hatte vielleicht mehr Grund zur Stille als er. Sie hatte von Kind auf Schweres durchgemacht, hatte in der Ehe Tod und Elend, Kinderkriegen und Krankheit überstanden. Nun war sie zweiundvierzig. Das letzte Kind regte sich in ihrem Leib. Sie war abergläubisch davon überzeugt – und die blinde Eitelkeit der Pentlands, die aller Welt Ende, nur nicht das ihrer Sippe, voraussahen, bestätigte sie hierin –, daß sie zu etwas Besonderem bestimmt sei.
Da lag sie in ihrem Bett und sah durchs Fenster einen großen Stern am Westhimmel brennen. Sie bildete sich ein, daß der Stern langsam steige. Und obschon sie unmöglich zu sagen vermocht hatte, zu welchem Gipfel ihr Leben nun führte, so sah sie doch in der ungekannten zukünftigen Freiheit die Fülle von Besitz und Wohlstand für sich. Die Lust danach brannte ihr unauslöschlich im Blut. Sie erging sich in der Vorstellung, sie schürzte die Lippe im Dunkeln, sie schaute sich selber im Geiste, wie sie im Karneval des Lebens aus den Händen der Narrheit leichthin das Gut nahm, das noch nie ein Mensch zu halten wußte.
»Ich werd' es kriegen, ich werd' es kriegen!« dachte sie. »Will hat es. Jim hat es. Und ich bin gescheiter als sie.« Mit bitterem, peinigendem Bedauern dachte sie an Gant. »Schauderhaft! Nicht einen Nickel hätte er, wenn ich mich nicht um ihn gekümmert hätte. Um jede Kleinigkeit habe ich kämpfen müssen. Sonst hätten wir nicht einmal ein eignes Dach überm Kopf und müßten auf unsre alten Tage in Miete wohnen.« In Miete wohnen müssen aber war für sie die endgültige Schande, die Verschwender und unfürsorgliche Menschen befällt.
»Für das Geld allein, das er jährlich für Whisky ausgibt«, dachte sie weiter, »könnte man einen schönen Bauplatz kaufen. Ach, wir könnten es zu wahrem Wohlstand gebracht haben, wenn wir gleich angefangen hätten. Aber er hat immer schon den bloßen Gedanken an Besitz gehaßt. Er sagte mir einmal, er könne ihn nicht ertragen, seit er bei dem Handel in Sidney all sein Geld verlor. Wenn ich nur damals schon bei ihm gewesen wäre! Meinen letzten Dollar will ich wetten, daß die andern statt seiner verloren hätten«, fügte sie trotzig hinzu.
Da lag sie, die Frühherbstwinde fegten mit dem Rauschen ferner großer Bäume und welkem Laub ins nächtige Tal. Sie dachte an den Fremdling, der in ihrem Leib zu leben begonnen hatte, und an den anderen Fremdling, den Urheber von so viel Leid, der nun fast zwanzig Jahre mit ihr gelebt hatte. So oft ihre Gedanken auf Gant kamen, spürte sie ein schmerzlich-elementares Wundern über die wüste offne Fehde und den großen heimlichen Kampf, den ihre Habgier gegen seinen unverständlichen Haß auf Besitz führte. »Ich schwör' es«, flüsterte sie, »einen solchen Menschen gibt es nicht zweimal.« An ihrem Endsieg zweifelte sie nicht.
Gant stand dem Abklingen seiner sinnlichen Genußfähigkeit gegenüber. Er merkte, daß dem Unmaß im Essen, Trinken und Lieben nun Dämme gesetzt waren, und wußte um keinen Gewinn, der diese Einbuße aufwiegen könne. Audi er spürte den Stachel der Reue. Er hatte Kraft vergeudet. Er hatte gute Gelegenheiten – zum Beispiel die Partnerschaft mit Will Pentland, die ihm Ansehen und Reichtum gebracht hätte – verpaßt. Die besten Jahre seines Lebens waren vertan. Mehr denn je empfand er die Fremdheit und Einsamkeit unsres kleinen Abenteuers auf Erden. Er dachte zurück an seine Kindheit auf der Farm bei den Pennsylvania-Deutschen, an seine Lehrzeit in Baltimore, an seine ziellosen Wanderjahre über den Kontinent, an die auffallende Verknüpfung seines Daseins mit einer Kette von Zufällen. Die riesenhafte Tragödie des Zufalls hing wie eine graue Wolke über ihm. Klarer denn je sah er ein, daß er fremd unter Fremden in der Fremde lebte. Am fremdesten aber kam ihm seine Ehe vor, in der er Kinder, abhängiges Leben, gezeugt hatte, diese Verbindung mit einer Frau, die ihm so völlig wesensfern war.
Er wußte nicht, ob das Jahr 1900 einen Anfang oder ein Ende für ihn bedeute. Mit der bekannten Schwäche des Sensualisten beschloß er, es als ein Ende zu betrachten und die Reste der Lebenskraft in einer lodernden Flamme zu verbrennen. In der ersten Hälfte des Januar zeugte er ein Kind. Im Frühling, als Elizas Schwangerschaft offenbar war, stürzte er sich in eine heftige Whiskyorgie, mit der verglichen selbst seine sechzehnwöchige Sauferei im Jahre 1896 nichts war. Tag um Tag war er wahnsinnig besoffen, die Trunksucht artete in dauernde Raserei aus. Im Mai schickte ihn Eliza in eine Heilstätte in Piedmont. Die Kur bestand darin, daß er sechs Wochen lang schlechtes billiges Essen bekam und jeglichem Alkohol ferngehalten wurde. Er kam Ende Juni zurück, äußerlich gebessert, innerlich wütend vor Hunger und Durst.
Am Tag vor seiner Heimkehr ging die hochschwangere Eliza mit entschlossenem Gesicht in jede der vierzehn Bars im Städtchen, suchte den Eigentümer oder Schankhalter hinter der Theke auf und sprach laut und vernehmlich vor der dumpfen Gesellschaft der Gäste:
»Hören Sie, ich bin hereingekommen, um Ihnen zu sagen, daß Mister Gant morgen zurückkehrt, und ich möchte Sie alle wissen lassen, daß ich jeden, der ihm etwas ausschenkt, vor Gericht und ins Gefängnis bringen werde!«
Diese Drohung, das wußten sie alle, war hochstaplerisch. Aber das strenge weiße Gesicht, die gedankenvoll geschürzte Lippe, die männisch-gehaltene Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger verliehen der Ankündigung einen unheimlichen Nachdruck. Bierdumpf hörten die Männer sie an; höchstens daß einer oder der andre eine überraschende Zustimmung ihr nachmurmelte, während sie hinausging.
»Wahrhaftiger Gott!« bemerkte ein Mann aus dem Gebirg und sandte einen langen Kautabakspritzer aus dem Mundwinkel in den hohen Messingspucknapf, »die wär dazu imstand! Die macht Ernst.«
»Teufel auch«, sagte Tim O'Donnell und wackelte komisch mit seinem Affenkopf hinterm Schanktisch, »ich würde mich nicht trauen, dem Gant was auszuschenken, und wenn der Whisky nur fünfzehn Cents das Quart wäre und es säßen keine Zeugen dabei. Ist sie weg?«
Die Männer lachten angeheitert und laut.
»Wer ist sie?« fragte jemand.
»Will Pentlands Schwester.«
»Bei Gott, dann macht sie Ernst!« riefen mehrere, und die Bar dröhnte vor Gelächter.
Will Pentland saß in Loughrams Bar, als Eliza eintrat. Sie grüßte ihn nicht. Als sie hinausgegangen war, wandte er sich an einen der Herumsitzenden und bemerkte nach einem vogelhaften Nicken und Zwinkern:
»Ich wette, daß Sie das nicht fertigbrächten.«
Dem heimgekehrten Gant wurde in den Bars nichts ausgeschenkt. Er tobte vor Wut. Natürlich war es ihm ein leichtes, sich Whisky holen zu lassen: er schickte einen Fuhrmann, der bei ihm zu tun hatte, oder irgendeinen Neger danach. Aber er war mit den Jahren, obschon er wußte, daß sein Benehmen eine klassische Mythe für die Kinder im Städtchen war, äußerst empfindlich für jeden Hinweis auf seinen Leumund geworden. Auch schämte er sich insgeheim seiner Trunksucht, besonders wenn er verkatert war. Nun war sein Stolz aufs bitterste verletzt. Er schrie, daß Eliza ihn böswillig vor aller Öffentlichkeit herabgesetzt und gedemütigt hätte, und schimpfte maßlos mit ihr.
Den ganzen Sommer lebte Eliza in einer weißen, ahnungsvollen Stille dahin. Sie war nun schon an die Schrecken gewöhnt. Mit furchtbarer Ruhe erwartete sie allabendlich die Wiederkehr ihrer Angst. Gant, den ihre Schwangerschaft verdroß, ging jeden Abend in Elisabeths Freudenhaus in Eagle Crescent, wo er dann in später Stunde von ein paar verbrauchten und erschreckten Huren der Obhut seines ältesten Sohns Steve übergeben wurde. Steve verstand bereits, mit den Weibsleuten dieses Distrikts frech und frei umzugehen. Sie verhöhnten ihn mit vulgärer Gutmütigkeit, lachten über seine schlüpfrigen Anspielungen und machten sich nichts daraus, wenn er ihnen einen festen Klaps auf den Hintern gab und dann ihren plumpen Haschversuchen gewandt entschlüpfte.
»Junge, Junge«, sagte Elisabeth und gab Gants Kopf einen Stoß, daß er wackelte, »gib ja acht, daß Du nicht nach diesem alten Gockel gerätst. Er kann auch ganz nett sein, wenn er sich Müh gibt«, fuhr sie fort, und während sie Gant auf die Glatze küßte, ließ sie die gefüllte Brieftasche, die er ihr zuvor in heftig aufwallender Freigebigkeit geschenkt hatte, in Steves Hand gleiten. Sie nahm's mit der Ehrlichkeit sehr genau.
Steve wurde auf diesen Gängen meist von Jannadeau und dem Neger Tom Flack, einem Kutscher, begleitet. Die beiden pflegten vor dem Gattertor zu warten, bis der Radau anzeigte, daß Gant zum Aufbruch bewegt worden war. Sie brachten ihn durch die allzu stillen Stadtstraßen heim. Manchmal ging Gant schwerfällig und fluchte pathetisch auf seine Begleiter. Manchmal war er jovial und willfährig und grölte ein unanständiges Lied:
»Droben im Hinterzimmer Ja, da droben, ihr Buben Hüpfen die Wanzen und Flöh ...«
Zu Hause angekommen, ließ er sich die Verandatreppe hinaufhelfen und zu Bett bringen. Manchmal aber war er nicht zurückzuhalten; dann suchte er das abgeschlossene Schlafzimmer Elizas auf und tobte vor der Tür. Er beschimpfte sie aufs gemeinste, er bezichtigte sie sogar der Unkeuschheit, denn mit dem Abflauen der geschlechtlichen Lebenskraft stiegen dunkle, neidische Verdachte in ihm auf. Die furchtsame Daisy floh dann in eines der Nachbarhäuser, zu Sudie Isaacs oder zu den Tarkintons. Die zehnjährige Helene aber, das Kind, das er am meisten liebte, meisterte ihn. Sie löffelte ihm heiße Suppe ein, und wenn er sich störrisch anstellte, ohrfeigte sie ihn fest mit ihrer kleinen Hand.
»Hier wird Suppe gegessen! Vorwärts! Geschluckt!«
So etwas gefiel ihm ungemein. Diese Tochter und er waren aus demselben Holz geschnitzt.
Manchmal nahm er überhaupt keine Vernunft an. Völlig von Sinnen, wie er dann war, schichtete er ein großes Holzfeuer im offnen Kamin des Wohnzimmers, goß Petroleum aus einer Kanne auf die lodernden Scheite und spuckte wild in die aufzischenden Flammen. Dazu sang er, bis er es müde wurde, oft dreiviertel Stunden lang, etwa dies:
»Ohe! Goddam, Goddam, Goddam, Goddam, Oho! Goddam, Goddam, Goddam, Goddam«
meist in dem langgezogenen Tonfall, in dem Uhren die ganze Stunde schlagen.
Draußen auf dem Zaun hockten wie Affen Sandy und Fergus Duncan, Seth Tarkinton ... – manchmal machten auch Ben und Grover den Spaß mit – und sangen als Gegenstrophe:
»Der alte Gant Besoffen kommt er, Besoffen kommt er, Kommt er nach Haus.«
In der guten Stube der Nachbarin weinte Daisy vor Scham und Angst. Helene aber, das kleine, schmächtige, zornige Wesen, gab nicht nach. Schließlich bequemte Gant sich in einen Sessel und nahm grinsend heiße Suppe und feste Ohrfeigen von ihr an. Droben lag Eliza mit bleichem, aufmerksam gespanntem Gesicht.
Der Sommer ging. Es war Ende September. Fern blies der Wind. Die letzten Trauben hingen in runzligen und angefaulten Perkeln an den Rebstöcken.
Eines Abends stellte der vertrocknete Doktor Cardiac beim Weggehn fest: »Morgen abend, denk ich, wird wohl die ganze Sache vorüber sein.« Eine tüchtige, ländliche Hebamme in mittleren Jahren blieb im Haus zurück.
Um acht Uhr kam Gant allein nach Haus. Steve hatte dableiben müssen, um für Eliza, falls es nötig sein würde, Botengänge zu tun. Niemand kümmerte sich um den Hausherrn; die Aufmerksamkeit galt Eliza, die in den Wehen lag.
Drunten im Wohnzimmer sang Gant mit voller Stimme Obszönitäten, so daß es bis zu den Nachbarn schallte. Als Eliza das plötzliche wilde Aufzischen der Flammen im Kamin hörte, winkte sie Steve zu sich ans Bett:
»Er wird das Haus in Brand stecken, Steve«, flüsterte sie heiser.
Sie hörten, wie unten ein Stuhl umgeschmissen wurde, und Gants Fluch. Sie hörten, wie er mit schwerem Schritt durchs Speisezimmer und über die Diele stapfte, wie die Treppenstufen knarrten und sein Körper gegen das Geländer krachte.
»Er kommt 'rauf, Steve, er kommt 'rauf! Schließ die Tür ab!«
Steve schloß die Tür ab.
»Sind Sie drinnen?« brüllte Gant und trommelte mit seinen großen Fäusten an die Tür. »Miss Eliza! Sind Sie drinnen?« heulte er. Er hatte die Angewohnheit, sie in solchen Augenblicken ironisch als »Miss« anzusprechen.
»Das hätte ich nicht gedacht ...«, fing er mit hochstaplerischer Rhetorik an, »... das hätte ich nicht gedacht, als ich Sie vor achtzehn bittern Jahren das erstemal sah, als Sie mir wie eine Schlange auf dem Bauche kriechend entgegenkamen ...« und endete lahm, »... das hätte ich nicht gedacht, daß es dazu käme.« Er wartete auf eine Antwort. Er wußte, daß sie still mit weißem Gesicht hinter der Tür lag. Er barst fast vor Wut, denn er wußte genau, daß sie ihm nicht antworten würde.
»Bist du da?« brüllte er. »Ich frage, ob Du da bist, Weib?« Er bombardierte die Tür mit Fausthieben.
Da war nichts als weiße, lebendige Stille.
»Weh mir! Weh! Weh!« stöhnte er selbstmitleidig auf. Er brach in erzwungenes, dumpfes Seufzen aus. »Gnädiger Gott«, weinte er. »Es ist furchtbar. Es ist entsetzlich. Es ist grausam. Was habe ich getan, daß Gott mich so heimsucht?«
Keine Antwort kam.
»Cynthia! Cynthia!« heulte er plötzlich auf. Er meinte seine erste Frau, jene dürre, tuberkulöse alte Jungfer, deren Leben seine Aufführung angeblich nicht verlängert hatte, deren Gedächtnis er aber nun, um Eliza zu kränken, gerne anzurufen pflegte. »Cynthia! o Cynthia! Blicke herab auf mich in dieser Stunde der Not! Sende mir Kräfte! Leihe mir Beistand! Schütze mich vor dieser Teufelin! Steige hernieder und rette mich! Ich verderbe!! Ich flehe Dich an, ich bitte Dich, ich beschwör Dich um Hilfe!«
Es blieb still.
Er nahm seine Klage wieder auf. Er variierte das Thema. »Undankbar seid ihr! Undankbarer als die wilden Tiere des Walds. Gott im Himmel wird Euch strafen. Tretet den alten Mann! Schlagt ihn! Werft ihn auf die Straße! Schleift seine müden Knochen über das Pflaster! Schickt ihn ins Armenhaus! Zum Geldverdienen taugt er nichts mehr. Ah, ah! Du sollst Deinen Vater ehren, auf daß Du lange lebest in dem Land, das Dir der Herr, Dein Gott, gibt.« Dann zitierte er pathetisch unter schnupfendumpfen, burlesken Seufzern Mark Antons Anklagerede aus Shakespeares Julius Cäsar.
In diesem Augenblick sagte die Nachbarin, Mistress Duncan, zu ihrem Gatten: »Jimmy, Du mußt rübergehen. Er rast wieder, und sie steht vor der Entbindung.«
Der Schotte Duncan schob seinen Stuhl zurück und verließ festen Schritts das warme Behagen des wohlgeordneten Familienlebens samt dem Geruch von frischgebacknem Brot. Am Gittertor vor Gants Hause traf er den geduldigen Jannadeau, den Ben geholt hatte. Sie tauschten ein paar sachliche Bemerkungen aus. Als sie im Haus ein lautes Krachen und den entsetzten Aufschrei einer Frau hörten, stürmten sie die Verandatreppe hinauf. Eliza öffnete ihnen die Haustür. Sie war im Nachthemd.
»Schnell! Schnell!« flüsterte sie.
Gant stürzte die Treppe herunter und fiel. »Bei Gott! Ich bring sie um!« schrie er. »Ich bring sie um. Ich mache Schluß mit meiner Misere.«
Er hatte einen schweren Schürhaken in der Hand. Duncan und Jannadeau packten ihn und hielten ihn fest. Der stämmige Schweizer entwand ihm den Schürhaken mit festem Griff.
Steve kam gerade die Treppe herunter. »Mutter!« rief er, »er hat sich den Kopf an der Bettstelle aufgeschlagen.« Es stimmte. Gant blutete am Kopf.
»Geh und hol Deinen Onkel Will, Steve!« befahl Eliza. Steve sauste ab wie ein Jagdhund.
»Es war ihm Ernst mit dem Umbringen diesmal«, flüsterte Eliza.
Duncan machte die Haustür zu, um die Gaffer, die sich vor dem Tor versammelt hatten, auszuschließen. »Sie werden sich erkälten, Mistress Gant«, bemerkte er.
»Lassen Sie ihn nicht an mich!« wimmerte Eliza verzweifelt.
»Sie können sich auf mich verlassen«, sagte der Schotte fest.
Schwerfällig stieg sie die Treppe hinauf. Auf der zweiten Stufe brach sie in die Knie. Die Hebamme, die sich im Badezimmer eingesperrt hatte, kam heraus und war ihr behilflich. Auf sie und Grover gestützt schleppte Eliza sich in ihr Zimmer zurück. Draußen ließ sich Ben von dem niederen Verandadach auf das Lilienbeet herunterfallen. Seth Tarkinton, der auf dem Drahtzaun saß, rief ihm vergnügt »Hallo« zu.
Gant, ein wenig verdutzt, ließ sich von den beiden Männern zu einem Schaukelstuhl führen. Er streckte alle Glieder von sich; sie zogen ihm die Kleider aus. Helene war bereits in der Küche; nun erschien sie mit kochend heißer Suppe. Ein Leuchten kam in Gants Augen, als er sie erblickte.
»Mein Lenchen«, dröhnte er und machte eine leere Armbewegung in der Luft. »Wie geht's Dir, mein Kind?« Sie stellte die Suppe nieder. Er umarmte sie. Er drückte ihren schmächtigen Körper an sich, rieb seinen borstigen Schnurrbart an ihren Wangen, blies ihr seinen faulen, widerlichen Whiskyatem ins Gesicht.
»Ach! Er hat sich geschnitten!« Die Kleine weinte fast.
»Ja, schau nur, wie sie mit mir umgegangen sind«, greinte Gant und betastete die Wunde.
Will Pentland, echtgeborner Sohn jener Sippe, die immer zusammenhält und einander nur in Zeiten von Tod, Pestilenz und Terror besucht, kam herein.
»Guten Abend, Mister Pentland«, sagte Duncan.
Will grüßte die beiden Nachbarn gutmütig. »Na, es geht zum Aushalten«, bemerkte er. Er stellte sich vors Kaminfeuer und schnipselte nachdenklich mit einem scharfen Messer an seinen stumpfen Nägeln herum. Sein Grundsatz war, daß niemand die Gedanken eines Mannes, der an seinen Fingernägeln herumschnipselt, erraten könne. Er pflegte es stets in Gesellschaft zu tun.
Wills Anblick hatte Gant sofort aus seiner Lethargie hochgerissen. Er haßte die Pentlandsippe. Er haßte ihre schnippische Gefaßtheit, ihre unaufhörliche Witzelei, ihre Geschäftstüchtigkeit.
»Bankerte aus dem Gebirg! Elendes Geschmeiß! Gemeinstes Gezücht!« brüllte er.
»Aber Mister Gant!« beschwichtigte Jannadeau flehentlich.
»Was ist los mit Dir, Schwager?« fragte Will und sah unschuldig von seinen Fingernägeln auf. »Hast Du vielleicht was Unverträgliches gegessen?« Er zwinkerte keck zu Duncan hinüber und machte sich wieder an seine Fingernägel.
»Dein elender alter Vater«, heulte Gant, »ist auf dem Stadtplatz öffentlich ausgepeitscht worden, weil er seine Schulden nicht bezahlt hat.« Dies war eine völlig aus der Luft gegriffne Behauptung, die sich irgendwie in Gants Kopf als Wahrheit festgesetzt hatte. Er brachte sie bei allen möglichen Gelegenheiten vor, vermutlich weil die Vorstellung ihm eine wahre Herzensbefriedigung war.
Will konnte es sich nicht versagen, auf diese Eröffnung einzugehn. »So? Ausgepeitscht worden ist er? Hier auf dem Stadtplatz? Ei, ei! Das müssen sie aber streng geheim gehalten haben, nicht?« Er verzog die Mundwinkel und fuhr fort, an seinen Fingernägeln zu schaben.
»Aber etwas will ich Dir von ihm sagen«, bemerkte er nach einer Weile. »Er hat seine Frau eines natürlichen Todes im Bett sterben lassen. Er hat nie auch nur den Versuch gemacht, sie umzubringen.«
»Nein! Bei Gott nein!« brüllte Gant dagegen. »Er hat sie verhungern lassen. Wenn die alte Frau je eine anständige Mahlzeit bekam, dann war es sicher hier an meinem Tisch. Sie hätte zweimal zur Hölle und zurück laufen müssen, ehe sie eine vom alten Tom Pentland oder einem seiner Söhne bekam.«
Will klappte sein Taschenmesser zusammen und steckte es ein.
»Der alte Pentland hat in seinem ganzen Leben nicht einen Tag ehrlich gearbeitet!« schrie Gant gellend.
»Ruhig, seien Sie doch ruhig! Mister Gant!« mahnte Duncan vorwurfsvoll.
»Still, still!« zischte Helene energisch. Sie trat mit der Suppe vor ihn hin und hielt ihm einen Löffelvoll an die Lippen. Gant wandte sich weg. Er wollte eine neue Beleidigung hervorstoßen und verschüttete den Löffelvoll. Sie schlug ihm fest auf den Mund.
»Hier wird Suppe gegessen! Vorwärts! Geschluckt!«
Er grinste demütig. Sein Blick ruhte lange auf ihr, während er sich die Suppe einlöffeln ließ.
Will Pentland sah Helene eine Weile aufmerksam zu. Dann warf er nickend und zwinkernd einen Blick auf Duncan und Jannadeau. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Zimmer. Er ging nach oben. Eliza lag weiß und still zu Bett.
»Nun, Eliza, wie geht's?«
Das Zimmer roch stark nach morschen Birnen. Ein Feuer aus Tannenknüppeln brannte ausnahmsweise im Kamin. Will stellte sich davor und arbeitete an seinen Fingernägeln.
Eliza brach unvermittelt in Tränen aus. »Kein Mensch ahnt auch nur, was ich durchgemacht habe.« Sie trocknete sich die Augen mit einem Zipfel der Bettdecke. Ihre breitangesetzte Nase ragte feuerrot aus dem bleichen Gesicht.
»Hast Du was Gutes zu futtern?« fragte Will gierig und zwinkerte wie ein Clown.
»Nebenan in der Kammer liegen Birnen auf dem Gestell. Vorige Woche gebrochen. Ich hob sie auf, daß sie mürbe werden.«
Er ging hinaus, kam gleich mit einer großen gelben Birne zurück, trat vors Feuer, klappte die kleine Klinge seines Taschenmessers auf.
»Das ist mehr als ich aushalten kann. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Du kannst getrost Deinen letzten Dollar wetten, daß ich das nicht mehr lang mitmach'«, sagte Eliza ruhig nach einer Weile.
Will schwieg. »Ich kann mich selbst durchschlagen«, setzte sie trocken hinzu in jenem Ton, den Will gut an ihr kannte.
Er stand im Begriff, ihr ein großzügiges Angebot zu machen. »Schau her, Eliza«, begann er, »wenn Du an Bauen denkst, da könnte ich Dir ...« – hier bremste er noch rechtzeitig und schloß: »ja, da könnte ich Dir das Baumaterial zum billigsten Preis geben.« Er schob schnell einen Birnenschnitz in den Mund.
Sie schürzte mehrmals rasch hintereinander die Lippen.
»Nein«, entschied sie, »es ist noch nicht so weit, Will. Wenn es dazu kommt, kriegst Du Bescheid.«
Das Holzfeuer im Kamin rutschte leise zusammen.
»Ja, dann kriegst Du Bescheid«, versicherte sie nochmals.
Will klappte sein Taschenmesser zu und steckte es in die Hosentasche.
»Gutnacht also, Eliza«, sagte er. »Pett wird morgen mal nach Dir gucken. Ich werde ihr ausrichten, daß es gut um Dich steht.«
Will verließ leise das Haus. Im Vorgarten traf er Duncan und Jannadeau.
»Wie geht's ihm?« erkundigte er sich.
»Tadellos jetzt«, versicherte Duncan vergnügt. »Er schläft tief und fest.«
»Den Schlaf des Gerechten?« fragte Will zwinkernd.
Der Schweizer fühlte sich durch den Spott auf seinen Titanen verletzt. »Jammerjammerschade«, gurgelte er, »daß Mister Gant trinkt. Er hätte es weit gebracht mit seinem Verstand. Wenn er nüchtern ist, dann gibt's keinen feineren Kerl als ihn.«
»So? Wenn er nüchtern ist?« Will zwinkerte im Dunkeln. »Na, und wenn er schläft?«
»Es ist alles sofort in Ordnung, sobald ihn Helene in die Hand bekommt«, sagte Duncans tiefe volle Stimme. »Erstaunlich, was das Mädel mit ihm vermag.«
»Ja, ja«, kicherte Jannadeau, »das Kind kennt sich am besten mit ihm aus.«
Helene saß im Lehnstuhl und las, bis das Feuer heruntergebrannt war. Dann schaufelte sie leise Asche auf die Glut. Gant lag auf dem Sofa in klaftertiefem Schlaf. Sie hatte ihn in einen Wollkolter eingewickelt. Nun legte sie ein Kissen auf einen Stuhl, schob den Stuhl ans Fußende des Sofas und legte seine Füße darauf. Er stank übel, nach Whisky. Er schnarchte, daß die Fenster schepperten.
Die Geburt dauerte unendlich lange.
Als Gant am nächsten Morgen kurz nach zehn aufwachte und verkatert und beschämt den heißen Kaffee schlürfte, den ihm Helene brachte, hörte er aus dem Obergeschoß ein lautes, langes, lüngiges Schreien.
»Mein Gott!« stöhnte er entsetzt und deutete nach oben. »Ist's ein Mädchen oder ein Bub, Lenchen?«
»Ich hab's noch nicht gesehn, Papa«, antwortete Helene. »Wir dürfen nicht rein. Aber Doktor Cardiac ist vorhin herausgekommen und hat gesagt, wenn wir brav wären, würde er uns ein Brüderchen zeigen.«
Auf dem Verandadach war Radau. Steve, der von dort ins Zimmer der Wöchnerin gespäht hatte, sprang wie eine Katze aufs Lilienbeet herunter. Die Hebamme schalt.
Der Hausherr brüllte: »Steve, verdammter Bengel, was hast Du dort oben zu suchen?!«
Steve kletterte über den Zaun.
»Ich hab's gesehen!« gellte er zurück.
»Ich auch! Ich auch!« jauchzte Grover, kam ins Zimmer gerannt und lief wieder hinaus.
»Wenn ich Euch Lausbuben nochmal auf dem Dach hier erwische«, keifte die Hebamme, »dann versohle ich Euch das Fell.«
Die Kunde, daß sein jüngster Erbe ein Junge sei, hatte Gant einen Augenblick lang gefreut. Nun aber schritt, er wehleidig im Zimmer auf und ab und klagte in einem fort:
»Mein Gott! Mein Gott! Muß auch das noch mich auf meine alten Tage treffen? Wieder ein Maul mehr zu stopfen! Es ist furchtbar, es ist entsetzlich, es ist grausam!« Er flennte. Plötzlich wurde er gewahr, daß niemand da war, den er mit seiner Klage rühren könne. Er ging über die Diele und blökte kläglich die Treppe hinauf:
»Eliza! Mein Weib! Verzeih mir! Verzeih!«
Unter lautem Seufzen stapfte er treppauf.
Eliza nahm ihre Kraft zusammen. »Nicht reinlassen!« stieß sie hervor.
»Sagen Sie ihm, daß er jetzt nicht ins Zimmer kann«, befahl Doktor Cardiac der Hebamme und starrte auf die Waage. »Hier gibt's ohnedies nur Milch zu trinken«, setzte er trocken hinzu.
Gant stand vor der Tür.
»Eliza, mein Weib, hab Mitleid mit mir, ich bitte Dich! Wenn ich gewußt hätte ...«