Scheidung mit dem Beil - Jan Wiechert - E-Book

Scheidung mit dem Beil E-Book

Jan Wiechert

3,8

Beschreibung

1777 gerät Maria Dorothea Huther in den Verdacht, ihren Mann, den Schmierbrenner Peter Huther, ermordet zu haben. In langwierigen Verhören berichtet sie vom Leben am Rande der Gesellschaft, ihrer unglücklichen Ehe und dem Kampf gegen ein vorgezeichnetes Schicksal. Sie eröffnet den Blick auf einen außergewöhnlichen Lebensweg im 18. Jahrhundert: den Weg einer Frau, die sich gegen das Unausweichliche zur Wehr setzte - und zur Mörderin wurde.

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Jan Wiechert

Scheidung mit dem Beil

Das Schicksal der Maria Dorothea Huther – Ein Kriminalfall des 18. Jahrhunderts

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Redaktion / Lektorat: Anja Sandmann

Layout / Herstellung: Susanne Lutz

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

unter Verwendung eines Fotos von © DirkRietschel, istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-5876-7

Widmung

Für Dinah

Dramatis Personae

Die Beamten und Bediensteten

Christian Albrecht Zeitler: Amtmann in Langenburg

Georg Heinrich Eisenmenger: Stadtschreiber von Langenburg

Carl Heinrich Zeller: hohenlohischer Hofrat

Johann Friedrich Düncher: Registrator und Protokollant, Soldat in hohenlohischen Diensten

Georg Casimir Dinkel: Dragoner-Leutnant, hohenl. Soldat

Ludwig Schmittwolff: Landhusar, hohenl. Soldat

Johann Georg Stang: Gefreiter, hohenl. Soldat

Georg Friedrich Koch: Hofprediger und ein Cousin des Amtmanns Zeitler

Johann Ludwig Koch: Amtsskribent, ein weiterer Cousin

Heinrich Friedrich Koch: Hofverwalter, noch ein Cousin

Johann Jacob Lorenz Thieringer und Johann Leonhard Waldmann: Mediziner

Hans Melchior und Johann Georg Michael Fuchs: Vater und Sohn, Scharfrichter in Langenburg

Leonhard Michael Dörzmann: Amtsknecht in Langenburg

Anna Maria Barbara Dörzmann: seine Frau

Kasimir Häfner: Hofbauer auf dem Neuhof

Johann Georg Gogel: Schäfer auf dem Neuhof

Johann Gottlieb Grötsch: markgräflich-brandenburgischer Amtskastner in Gerabronn

Franz Joseph Rosenecker: katholischer Priester aus Mulfingen

*

Familie Huther und Konsorten

Michael Huther senior: ein Schmierbrenner aus Obrigheim

Maria Eva Huther: seine Ehefrau

Peter Huther, Adam Huther und Michael Huther junior: die Söhne bzw. Stiefsöhne des Paares, allesamt Schmierbrenner, einer tot

Maria Dorothea Huther: Peter Huthers Frau

Jacob Antoni Huther: sein Sohn

Eine Witwe: wohnt bei Huthers zur Miete

Franz: ein Korbmacher und Tagelöhner der Familie Huther

Catharina: ledige Schuhmacherstochter und Magd Peter Huthers, vielleicht auch mehr

*

Die Nachbarn der Familie Huther

Andreas Domink Emmert: Bäcker in Obrigheim

Philipp Conrad Reu: Einwohner in Obrigheim

Georg Reu: Schmierbrenner und Halbbruder Philipp Conrad Reus

Johann Melchior Freund: erst Schmierbrenner, dann Soldat

Adam Weiß: Schäfer in Obrigheim

Joseph Leonhard: sein Knecht

*

Die hohenlohischen Zeugen

Johann Michael Praz: Schultheiß in Atzenrod

Georg Andreas Stier: lediger Wirtssohn in Atzenrod

Johann Georg Spörer: Tagelöhner in Raboldshausen und Gelegenheitsbote der hohenlohischen Kanzlei

Matthäus Barthelmäs: Tagelöhner in Raboldshausen

Johann Michael Schenkel: Bäcker in Raboldshausen

Maria Barbara Schenkel: seine Frau

Andreas Bullinger: Wirt in Raboldshausen

Anna Maria Götz: Metzgerswitwe in Langenburg

Johann Georg Walther: Wirt in Billingsbach

Johannes Enderlein: Soldat in hohenlohe-bartensteinischen Diensten

*

Die brandenburgischen Zeugen

Johann Georg Hachtel: Wirt in Oberweiler

Georg Leonhard König: Schmied in Gerabronn

Maria Catharina Steigleder: Maurersgattin in Gerabronn

Georg Caspar Ziegler: Tagelöhner in Rechenhausen

 

 

1

Langenburg ist eine überaus charmante Kleinstadt von knapp 2.000 Einwohnern im fränkisch geprägten Nordwesten Baden-Württembergs. Besonders in der warmen Jahreszeit zieht das historische Ambiente zahlreiche Besucher an, die über die Hauptstraße flanieren, das Schloss besichtigen und von der Terrasse eines Cafés in das tief eingeschnittene Jagsttal hinabblicken. Oldtimerfreunde werden sich das Automuseum im fürstlich-hohenlohischen Marstall nicht entgehen lassen, Literaturliebhaber können auf den Spuren Carl Julius Webers wandeln oder nach dem Gärtchen suchen, in dem Agnes Günther vor mehr als hundert Jahren an ihrem Bestseller »Die Heilige und ihr Narr« schrieb. In den Abendstunden treten die meisten Touristen als zufriedene Neubesitzer einer grünen Schachtel Echte Langenburger Wibele, dem Traditionsgebäck der Stadt, den Heimweg an.

Aus einiger Distanz, etwa von Bächlingen aus, ist die exponierte Lage Langenburgs gut zu erkennen. Mehr als 150 Meter erhebt sich der schmale Bergsporn über das Jagsttal, auf dessen Rücken sich das Städtchen ausbreitet. Rechter Hand kann man den Rundturm des oberen Tores entdecken, das das Stadtgebiet in historischen Zeiten nach Osten hin abgrenzte. Einen Fingerbreit links davon ragt der etwas höhere Turm der Stadtkirche empor. Lässt man den Blick weiter schweifen, so folgt eine Reihe gepflegter Hausfassaden, dann das langgestreckte Dach des Marstalls und schließlich das Schloss. Der wehrhaft anmutende, hell getünchte Bau mit seinen mächtigen runden Ecktürmen nimmt die äußerste Spitze des Bergsporns ein und überragt den Rest der Stadt.

Auf Schloss Langenburg, das im Rahmen einer Führung besichtigt werden kann, lebt bis zum heutigen Tag ein waschechter Fürst samt Fürstin und Kindern. Seine Familie ist mit allen großen Adelsgeschlechtern Europas verbandelt. Die Hohenzollern und Romanows, das Königshaus Württemberg und das großherzogliche Haus von Baden gehören, um nur einige Beispiele zu nennen, zum verästelten Familiengeflecht der Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg. Und natürlich die Windsors! Immerhin steht der amtierende Fürst – Stand 2018 – auf Platz 167 der englischen Thronfolge. Momentan deutet allerdings nichts darauf hin, dass die 166 Männer und Frauen, die vor ihm an die Reihe kommen, samt und sonders ausfallen werden. Also wird der Fürst wohl nicht in Buckingham Palace einziehen, sondern im beschaulichen Langenburg bleiben, wo vor ihm schon eine lange Reihe seiner Ahnen lebte und wirkte.

Als castrum et oppidum, also Burg und Stadt, im 13. Jahrhundert durch Aussterben der Herren von Langenberg an die Hohenloher übergingen, lag die Fürstenwürde noch in weiter Ferne. Immerhin gelang es den Edelherren aus dem Taubergrund, ihr Einflussgebiet stückweise in Richtung Kocher und Jagst auszudehnen. Durch ihren guten Draht zum Kaisergeschlecht der Staufer kamen nach und nach Städte wie Öhringen, Waldenburg und Neuenstein, die heute als ur-hohenlohisch gelten, unter ihre Kontrolle. Indes blieben die Hohenloher bis zum Ende des Mittelalters nobilis vir, also Edelherren. Den Reichsgrafenstand erlangten sie erst im 15. Jahrhundert.

Vergleichsweise spät, 1556, führte die Grafschaft Hohenlohe die Reformation ein. Während man überzählige Söhne zuvor mit geistlichen Ämtern versorgt hatte, mussten sie nun am Erbgang beteiligt werden, was eine zunehmende Zersplitterung des Herrschaftsgebietes in weitgehend souveräne Teilherrschaften mit sich brachte. Nach dem Tod des Grafen Wolfgang II. von Hohenlohe im Jahr 1610 fiel Langenburg an seinen Sohn Philipp Ernst, der die ererbte Burg zum Renaissanceschloss ausbaute und Langenburg zu einer kontinuierlichen Residenzstadt machte. Ein paar Grafen später, im Jahr 1699, erfolgte die letzte Erbteilung der Herrschaft Hohenlohe-Langenburg. Graf Al-brecht Wolfgang behielt den Stammsitz und musste die Gebiete Hohenlohe-Kirchberg und Hohenlohe-Ingelfingen an seine jüngeren Brüder abtreten. Binnen vier Generationen war aus dem stattlichen Territorium des Grafen Wolfgang ein Klecks auf der Landkarte geworden, zu dem außer der Residenzstadt und Anteilen an der Exklave Ohrdruf in Thüringen nur mehr einige Dörfer, Weiler und Einzelhöfe gehörten. Um einer weiteren Zersplitterung seines Herrschaftsgebietes vorzubeugen, führte Wolfgang Albrecht die Primogenitur, also das alleinige Erbrecht des Erstgeborenen, ein. Schließlich und endlich war es dann sein Sohn Ludwig, der 1764 durch Kaiser Franz I. in den Reichsfürstenstand erhoben wurde. Ihm folgte 1769 Fürst Christian Albrecht, der Ur-ur-ur-ur-ur-Großvater des heutigen Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg.

 

Schloss und Stadt Langenburg in der 1648 erschienenen »Topographia Franconiae« von Matthias Merian

Im Jahr 1777 konnte Fürst Christian Albrecht auf 51 Lebens-, acht Regierungs- und nicht zuletzt 16 Ehejahre zurückblicken, in denen ihm seine Gattin Caroline vier Prinzen und drei Prinzessinnen geschenkt hatte. Im kleinen Langenburg ging alles seinen gewohnt gemächlichen Gang. Weder der Fürst noch sonst jemand konnte ahnen, welche Stürme schon bald über Hohenlohe, das Heilige Römische Reich, Europa und den ganzen Erdball hereinbrechen würden. Wer vermochte schon vorauszusehen, dass die ruhigen Fahrwasser des Zeitenlaufs trügerisch waren und die althergebrachte Ordnung schon sehr bald in Scherben gehen würde? Sicherlich, im Vorjahr hatten diese verrückten Kolonisten jenseits des Atlantiks, die seit Jahr und Tag gegen die britische Krone opponierten, ihre Unabhängigkeit erklärt. In Europa jedoch war 1777 noch alles beim Alten. In Wien hielt Maria Theresia das Heft des Handelns noch in Händen, von Potsdam aus regierte ihr Erzrivale Friedrich II. das aufstrebende Königreich Preußen und in Versailles herrschte mit ihrem Schwiegersohn Ludwig XVI. ein etwas schüchterner, kurzsichtiger Jüngling von 23 Jahren als absolutistischer Monarch von Gottes Gnaden. Der Gedanke, dass dieser König in 16 Jahren seinen Kopf unter der Guillotine verlieren könnte, wäre 1777 wohl bestenfalls belächelt worden. Und wer konnte ahnen, was einmal aus dem siebenjährigen Drei-, vielleicht auch nur Zweieinhalbkäsehoch werden würde, der im korsischen Ajaccio die Schulbank drückte? Wer konnte ahnen, dass er in opferreichen Kriegszügen halb Europa an sich reißen, die alte Ordnung des Heiligen Römischen Reiches zerschlagen und neue Staaten und Grenzen auf die Landkarte werfen würde? Dass der Emporkömmling Bonaparte im Jahr 1806 auch der souveränen Herrschaft der Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg ein Ende bereiten und ihre Territorien dem Königreich Württemberg zuschlagen würde?

All diese Ereignisse lagen 1777 außerhalb jeglicher Vorstellungskraft. Alles blieb beim Alten. Im kleinen Langenburg ging alles seinen gewohnt gemächlichen Gang. Nur selten störte etwas Unvorhersehbares oder Unerhörtes den wohlgeordneten Lauf der Dinge. Niemand konnte die kommenden Ereignisse voraussehen, als am Morgen des 12. November zwei hohenlohische Bauern aufbrachen, um ihre Äcker umzupflügen.

 

Seitenansicht eines Pflugs, wie er im 18. Jahrhundert verwendet wurde. Die Pflugsäge, auch Sech oder Pflugeisen genannt, ist auf der Zeichnung mit G markiert.

In aller Frühe verließen der 33-jährige Schultheiß Johann Michael Praz und der 21-jährige Wirtssohn Georg Andreas Stier ihr heimatliches, vor den Stadtmauern Langenburgs gelegenes Dorf Atzenrod. Obgleich der Winter bereits in spürbare Nähe gerückt war, die Tage kürzer wurden und die Temperaturen sanken, mussten die hohenlohischen Bauern noch auf ihren Äckern schuften. In einem finalen Akt des ewig gleichen Jahreszyklus galt es, den Winterweizen auszubringen, den sie im kommenden Frühjahr zu ernten hofften. Also musste ein letztes Mal in diesem Jahr zum Pflug gegriffen werden, um die Erde umzuwälzen und für die Aussaat vorzubereiten. Bereits am Vortag hatten Praz und Stier bis zum Nachmittag auf den nahe gelegenen Märzenäckern gepflügt. Weil sie die Arbeit nicht zu Ende gebracht hatten, spannten sie vor ihrer Heimkehr lediglich ihre Zugochsen aus und führten sie nach Hause. Ihre Pflüge ließen die Männer auf dem Acker zurück. Als sie am Morgen mit ihren Ochsen zurückkehrten und das begonnene Werk vollenden wollten, erwartete sie eine böse Überraschung. Irgendjemand hatte sich in ihrer Abwesenheit an den Pflügen zu schaffen gemacht und zwei Pflugsägen gestohlen. Die Bauteile, die in ihrer Form am ehesten an senkrecht nach unten gerichtete Messerklingen erinnern, waren normalerweise unmittelbar vor der Pflugschar angebracht, um in das Erdreich hineinzuschneiden, das anschließend von der Schar umgewendet wurde. Aber wieso sollte es jemand gerade auf diese Teile abgesehen haben?

Obgleich Langfinger damals wie heute edlen Metallen den Vorzug gaben, sind auch etliche Fälle von Eisendiebstahl aktenkundig. In den allermeisten Fällen wird es den Tätern nicht um den konkreten Gegenstand, sondern um den Material- und Rohstoffwert des Eisens gegangen sein. Das Diebesgut konnte preiswert an einen Schmied veräußert und unter dessen Hammer in ein neues Werkstück verwandelt werden. Die Weiterverarbeitung empfahl sich schon deshalb, weil sie eine Identifizierung durch den rechtmäßigen Besitzer unmöglich machte. Immerhin war es unter Bauern und Handwerkern nicht unüblich, Werkzeuge mit individuellen Kennzeichen zu versehen. So war in die Pflugsäge des Johann Michael Praz eine kleine Blume eingeprägt, wohingegen die des Georg Andreas Stier mit den Initialen A. S. versehen war.

Aber lag in Atzenrod überhaupt ein gewöhnlicher Eisendiebstahl vor? Warum hatte sich der Täter die Mühe gemacht, die Pflugsägen abzumontieren, aber die weit schwereren und somit wertvolleren Pflugscharen zurückgelassen? Der junge Georg Andreas Stier erinnerte sich zudem, am Vortag zwei eiserne, je zwei Pfund schwere Fortstecknägel, mit denen der Tiefgang der Pflugschar justiert wurde, unter seinem Pflug versteckt zu haben. Ganz offensichtlich hatte der Dieb sie dort gefunden, aber nicht eingesteckt, sondern achtlos neben sich auf den Acker geworfen. Stier mutmaßte in seiner Vernehmung, »daß es also dem Dieb um das Eisen nicht zu thun gewesen seyn müßte, weil er sie nicht mit fortgenommen« habe. Schultheiß Praz stimmte ihm zu. Er habe »indeßen gleich geschloßen, das müßte kein rechter Eisendieb gewesen« sein.Stier und Praz sollten recht behalten. Dass mehr als ein paar Pfund Eisen hinter dem Diebstahl steckten, wurde offenbar, als die Pflugsägen am folgenden Tag wieder auftauchten. Sie lagen neben einer Leiche.

Gute drei Kilometer östlich von Atzenrod liegt der Neuhof. Im Jahr 1777 war er kein gewöhnliches Bauerngut und auch nicht mehr ganz so neu, wie sein Name es vermuten lässt. Der Neuhof wurde um 1630 von der verwitweten Gräfin Anna Maria von Hohenlohe-Langenburg (1585 – 1634) auf der Gemarkung des abgegangenen Weilers Oberrackoldshausen gegründet. Nachdem ihr Sohn, Graf Heinrich Friedrich (1625 – 1699), stets bemüht, die ererbte Schuldenlast zu mindern, den Hof 1663 für 420 Gulden an zwei Bauern verkauft hatte, gelangte er Anfang des 18. Jahrhunderts erneut in den Besitz der Herrschaft, in dem er sich 1777 nach wie vor befand. Es handelte sich also um eine Domäne oder einen herrschaftlichen Hof, der zum direkten Eigentum der Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg gehörte. Entsprechend gab es auf dem Hof keinen selbstständigen Bauern, der für sich und seine Familie wirtschaftete, sondern einen sogenannten Hofbauern, der als eine Art Geschäftsführer agierte und ein festes Gehalt aus der Landeskasse erhielt. Das Wort »Hofbauer« verweist in diesem Kontext nicht etwa auf den Bauernhof, sondern den fürstlichen Hof in Langenburg, dem der Inhaber der Stelle unterstellt war. Auch alle übrigen Beschäftigten auf dem Neuhof – 1777 waren das ein Schäfer, zwei Knechte, zwei Mägde und ein Viehhirte – waren fürstliche Angestellte. Die Lebensmittel, die auf dem Neuhof erwirtschaftet wurden, kamen zum Teil in Schloss Langenburg auf die fürstliche Tafel oder die weniger üppig gedeckten Tische der Dienerschaft. Auch Bedienstete, die nicht bei Hofe lebten, erhielten Besoldungsanteile in Form von Naturalien, die meist von den herrschaftlichen Höfen stammten. Ein etwaiger Überschuss wurde zugunsten der Landeskasse verkauft.

Im Vergleich zu einem gewöhnlichen hohenlohischen Bauerngut der Zeit war der Neuhof riesig. Im 18. Jahrhundert bestand er aus einem Wohnhaus mit Viehstall im Erdgeschoss, einem weiteren separaten Stall, einer großen Scheuer und einem Schafhaus, in dem sich auch die Wohnung des Schäfers befand. Im Ganzen konnten bis zu 54 Rinder, 200 bis 300 Schafe und 100 Hühner gehalten werden. Zumindest für den Eigenbedarf der Hofbewohner scheinen auch Schweine gemästet worden zu sein. Die zum Neuhof gehörige landwirtschaftliche Nutzfläche bestand aus 75 Morgen Acker und 25 Tagwerk Wiesen sowie mehreren Gärten und etwas Wald. Laut einer statistischen Erhebung der 1750er und 1760er Jahre wurden in einem durchschnittlichen Jahr rund 350 Malter – das entspricht rund 56 Kubikmetern – Getreide aller gängigen Arten geerntet. Hinzu kamen 36 Wagenladungen Heu, mehr als 7.000 Garben Stroh und kleinere Mengen an Erbsen, Linsen und Wicken.

 

Die Karte aus dem späten 18. Jahrhundert zeigt rechts das Gebäudeensemble des Neuhofs und links den Brühlsee, in dessen Graben am 13. November 1777 eine männliche Leiche gefunden wurde

Nur einen Steinwurf vom Neuhof entfernt, jenseits der Landstraße, die von Langenburg nach Raboldshausen führt, befand sich in früheren Jahrhunderten der künstlich aufgestaute Brühlsee, der bei normalem Wasserstand rund 15.000 Quadratmeter bedeckte. Den See gibt es schon lange nicht mehr, aber auf Karten und Satellitenaufnahmen sind die Reste des nördlichen Seedamms noch gut zu erkennen.

Am Donnerstag, den 13. November 1777, gegen halb neun Uhr passierte ein Mann aus Brüchlingen den Straßenabschnitt zwischen dem Neuhof und dem Brühlsee. Im Vorübergehen machte der morgendliche Wanderer, dessen Namen in den Akten unerwähnt bleibt, eine grausige Entdeckung: Auf dem steinigen, trocken liegenden Grund eines zum See führenden Wassergrabens lag bäuchlings und das Gesicht dem Erdboden zugewandt die übel zugerichtete Leiche eines Mannes. Eilig und wohl in der Hoffnung, so wenig wie möglich in die undurchsichtige Angelegenheit hineingezogen zu werden, lief der Mann aus Brüchlingen zum Neuhof, um den dortigen Hofbauern Kasimir Häfner zu informieren. Nachdem er seine Schuldigkeit getan und von seinem Fund berichtet hatte, ging er seiner Wege und überließ alles Weitere den Leuten vom Neuhof. Diesen blieb nichts anderes übrig, als ihre Arbeit zu unterbrechen, zum See hinunterzugehen und sich die Sache genauer anzusehen.

Bereits auf den ersten Blick erkannten sie, dass der Kopf des Toten mehrere schwere Hiebverletzungen aufwies. Dabei war nur wenig, zu schwarzem Gallert geronnenes Blut zu erkennen. Die Kleidung wies den Erschlagenen als einfachen Mann der Landbevölkerung aus. Merkwürdigerweise trug er keine Schuhe, sondern lediglich weiße Wollstrümpfe an den Füßen. Der Hut des Toten und eine schlichte Tabaksdose fanden sich etwas abseits des Fundortes. Im Graben, unmittelbar neben der Leiche, lagen zwei eiserne Pflugsägen. In die eine war eine Blume, in die andere die beiden Buchstaben A und S eingeprägt.

Hofbauer Häfner und sein Schäfer Johann Georg Gogel machten sich daran, den Toten aus dem Graben zu heben. Gogel widersprach bei einer späteren Befragung den Gerüchten, dass der Erschlagene noch warm und »wo nicht gar noch etwas lebend, doch sehr frisch und als ob er noch lebte, angetrofen worden« sei. Tatsächlich, so Gogel, habe »der tode Cörper […] schon wie ein Holz gestarret«. Im Übrigen erkannte auch nach der Bergung keiner der Umstehenden den Toten. Der Hofbauer ließ einen Wagen anspannen und half seinen Leuten, die Leiche aufzuladen. Einem seiner Knechte befahl er, die morbide Fracht nach Langenburg zu bringen und die Umstände des Fundes bei der fürstlich-hohenlohischen Regierung zu melden.

Der 39-jährige Johann Georg Gogel arbeitete schon seit sechs Jahren als herrschaftlicher Schäfer auf dem Neuhof, aber eine so seltsame Angelegenheit war ihm in dieser Zeit wohl noch nicht untergekommen. Gemeinsam mit seinem vorgesetzten Hofbauern Häfner und anderen Bediensteten des Neuhofs blieb er noch eine Weile am Fundort der Leiche und blickte dem davonfahrenden Wagen hinterher. Gerade als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und sie sich anschickten, zum Neuhof zurückzukehren, bemerkte einer von ihnen die kleine Gestalt, die sich vom Waldrand her näherte. Gogel dachte bei sich, »es müße vielleicht Jemand seyn, der von dem toden Mann Wißenschaft habe«. Ohne diesen »Jemand« zu erkennen, wandte sich Schäfer Gogel an Häfner und meinte, »man solte sich doch bey den Leuthen erkundigen, vielleicht erfahre man, wer der Schäfer gewesen seye«. Außerdem sei es besser, wenn noch jemand den Leichentransport begleiten würde, »weil es ohne Zweifel in Ozenrod«, gemeint ist Atzenrod, »einen großen Auflauf gebe, wenn der Knecht mit dem Wagen dahin komme. Er wolle daher«, so Gogel weiter, »dem Wagen nachlaufen und zugleich sehen, wer dieser Mensch sey«. Häfner gab seinem Schäfer recht und ließ ihn ziehen. Nachdem er einige Schritte zurückgelegt hatte, stellte Gogel fest, dass es sich bei der Gestalt um einen halbwüchsigen Burschen handelte, den er noch nie gesehen hatte. Der Junge, so glaubte der Schäfer im Näherkommen zu erkennen, schien etwas zu suchen und wandte seinen Blick ein ums andere Mal der Stelle zu, an der sie vor einer Viertelstunde die Leiche geborgen hatten. »Buble was suchstu?«, fragte der misstrauisch gewordene Schäfer den fremden Jungen. Keine Antwort. »Er laße ihm keine Ruhe, bis er ihm sage, was er da umgehe«,und »er müße ihm sagen, was seine Sache sey«, forderte Gogel in strengerem Ton. Er suche, gab der Junge schließlich zurück, seinen Vater, mit dem er den Sommer über im Wald gelebt und Wagenschmiere gesotten habe. »Er sey gestern von der Hütte weg und nach Langenburg gegangen […] er sey aber die Nacht nicht wieder gekommen.« Gogel, der wohl schon ahnte, was dem Vater des Jungen widerfahren war, forschte weiter nach und fragte, welche Kleidung der Vermisste getragen habe. »Und alß er ihm geantwortet, daß er einen grünen Kittel und ein blaues Brusttuch anhabe, so habe er […] ihm gesagt, daß manso eben einen Mann in dieser Kleidung da auf diesem Plaz tod gefunden und nach Langenburg geführt habe.« Der Junge brach in Tränen aus, schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und schrie: »Herr Jesus, es ist mein Vatter!« Dann machte er kehrt und rannte zurück in den Wald, aus dem er gekommen war. Gogel ließ ihn gehen und eilte seinerseits dem Wagen mit der Leiche hinterher.

2

Der gewaltsame Tod eines Menschen stellte im Hohenlohe des 18. Jahrhunderts durchaus keine Alltäglichkeit dar. Im gesamten Zeitraum von 1700 bis 1800 wurden in der Herrschaft Hohenlohe-Langenburg sechs Tötungsdelikte gerichtlich untersucht. Dabei handelte es sich um drei Kindsmorde, zwei Schlägereien mit tödlichem Ausgang und den Fall des Erschlagenen, der 1777 im Graben des Brühlsees aufgefunden wurde. An anderen Verbrechen sind für Langenburg im 18. Jahrhundert vor allem Sexualdelikte wie Ehebruch, Inzest oder Verkehr mit Tieren sowie sehr zahlreiche Eigentumsdelikte verzeichnet. Letztere umfassten kleinere Gelegenheitsdiebstähle, Einbrüche, aber auch banden- und berufsmäßigen Raub, der mit der Todesstrafe bedroht wurde. Gelegentlich kam es zu Verfahren wegen Brandstiftung, Falschmünzerei oder dem Gebrauch der Zauberei.

Für die Ermittlungen in solchen und anderen Fällen von strafrechtlicher Relevanz war seinerzeit keine spezialisierte Organisation im Sinne der modernen Kriminalpolizei vorhanden. Stattdessen wurden gewöhnliche Beamte, meistenteils studierte Juristen, herangezogen, die sich in ihrer Alltagsarbeit mit dem ganz normalen Verwaltungs-Kleinklein der Herrschaft befassten. Eine kriminalistische Tätigkeit entfalteten sie nur im Bedarfsfall.

Der Leichenfund am Brühlsee wurde zunächst auf Amtsebene bearbeitet. Ämter stellten eine mittlere Verwaltungseinheit dar und können mit heutigen Landkreisen verglichen werden, obgleich sie flächenmäßig meist deutlich kleiner waren. Direkt über den Ämtern war die Regierungskanzlei als oberste Behörde angesiedelt, unterhalb standen die Gemeinden, in denen Schultheißen die Interessen der Herrschaft vertraten. Im Fürstentum Hohenlohe-Langenburg war die Ebene der Ämter im 18. Jahrhundert eigentlich obsolet geworden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen bestand das Herrschaftsgebiet seit der Erbteilung von 1699 nur noch aus einem Amt, dem Amt Langenburg eben. Der räumliche Zuständigkeitsbereich der Regierung und der des Amtes waren demnach annähernd identisch, wodurch auch die Handlungskompetenzen nur schwer voneinander abzugrenzen waren. Dennoch blieb die althergebrachte Behördenstruktur in ihren Grundzügen bis zum Übergang der hohenlohischen Gebiete an Württemberg im Jahr 1806 bestehen.

Die Untersuchungen wegen der Leiche am Brühlsee fielen zunächst dem 44-jährigen Amtmann Christian Albrecht Zeitler zu, der dem Amt Langenburg seit 1774 vorstand. Die Protokolle führte der 46-jährige Stadtschreiber Georg Heinrich Eisenmenger. Die beiden Beamten, die im Rahmen ihrer Dienstgeschäfte auch vor und nach dem Mord von 1777 regelmäßig miteinander zu tun hatten, wiesen ganz unterschiedliche Ausbildungswege, Erfahrungen und familiäre Hintergründe auf.

Christian Albrecht Zeitler übte sein Amt bereits in zweiter Generation aus. Sein Vater Johann Friedrich Zeitler, seinerseits Sohn eines Schneiders, stammte aus dem thüringischen Städtchen Tanna am Rande des Fichtelgebirges. Nachdem es Zeitler senior auf unbekannten Wegen ins Hohenlohische verschlagen hatte, diente er sich über Jahrzehnte hinweg in der langenburgischen Verwaltungshierarchie empor. 1726 nahm er, damals im Rang eines gräflichen Hofverwalters, Margaretha Koch zur Frau, wodurch er die – zweifelsohne karrierefördernde – Verbindung zu einer bedeutenden hohenlohischen Beamtendynastie herstellte. Dem Paar waren fünf Töchter und zwei Söhne beschieden. Während drei der Mädchen schon im Kindesalter starben, entwickelten sich der 1733 geborene Christian Albrecht und der ein Jahr ältere Johann Ernst prächtig. Ihr Vater bemühte sich nach Kräften um eine gute Ausbildung seiner Söhne und schickte sie zunächst auf das Gymnasium in Öhringen. Am 1. Mai 1753 schrieben sich die Brüder zum Jurastudium an der Universität Erlangen ein. Ein Jahr später wechselten sie nach Jena. Die kostspielige Ausbildung der jungen Männer wurde durch einen Zuschuss der hohenlohischen Landeskasse unterstützt. Der ältere der Zeitler-Brüder suchte sein Glück nach Abschluss des Studiums fern der Heimat; im Hessischen brachte er es bis zum Amtmann. Sein jüngerer Bruder Christian Albrecht hingegen kehrte Anfang der 1760er Jahre nach Langenburg zurück, wo es sein Vater auf das Geschickteste verstand, dem Sohn einen reibungslosen Einstieg in die Beamtenkarriere zu verschaffen. 1762 verfasste Zeitler senior ein ausführliches Memorandum an Graf Ludwig von Hohenlohe-Langenburg, in dem er den chaotischen Zustand der herrschaftlichen Gültbücher beklagte. Die Bücher, in denen der Grundbesitz der Untertanen und die daraus resultierenden Steuerpflichten verzeichnet waren, seien seit 70 Jahren nicht erneuert worden und befänden sich durch zahllose Nachträge und Besitzveränderungen in einem grauenvollen Zustand. Zeitler schlug also die Verbesserung und Abschrift der dicken Folianten vor, »um zu vermeiden, daß nicht in Folge der Zeit allerley besorgliche Verwirrungen und Unrichtigkeiten zu nicht geringem Schaden und Nachtheil hoher Landes-Herrschafft aus deßen Unterlaßung entspringen mögte«. Er wäre, fuhr der 66-jährige Zeitler fort, gerne bereit und empfände es geradezu als seine Pflicht, diese Aufgabe zu übernehmen, da seine Dienst- und Lebensjahre gezählt seien und er die Bücher seinem Nachfolger in einwandfreiem Zustand übergeben wolle. Nur könne er, wenn er sich fortan diesem Großprojekt widme, seine übrigen, alltäglichen Amtsaufgaben nicht mehr versehen und bräuchte einen Assistenten oder Stellvertreter. Und er hatte auch schon eine Idee, wer diese Stelle übernehmen könnte: »Ich bin weit davon entfernt, Eurer Hochgräflichen Excellenz gedachten meinen Sohn zu obtrudiren«, also aufzudrängen, »woferne aber Hochdieselben auf ihn zu reflectiren gnädigst belieben wollten, so würden wir es beederseits als eine höchstschätzbare Landesvätterliche Gnade erkennen und lebenswährig mit dem devotesten Danck verehren.«

Graf Ludwig folgte dem Vorschlag seines Amtmanns, dem Sohn die neu geschaffene Stelle eines Amts-Adjunkten und Kommissionssekretärs anzuvertrauen, die ausdrücklich mit der Aussicht auf das Amt des Vaters verbunden war.