Scheiß auf Optimismus - Ole Wolf - E-Book

Scheiß auf Optimismus E-Book

Ole Wolf

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Beschreibung

Du kriechst so lange beim Optimismus unter, bis du enttäuscht zum Pessimisten wirst. Dann bemühst du dich, deinen Optimismus zu erneuern. Alles nur, weil du die Ungewissheit deines Lebens nicht erträgst. Dabei kann sie es sogar steigern. Weit weg vom Geschrei des "Du kannst alles schaffen!" oder "Wird eh nix!" und von Alles-ist-gut-/schlecht-Predigten entwirft Ole Wolf eine neue praktische Philosophie: Wie kann man mit der Ungewissheit leben, also jenseits von Optimismus und Pessimismus? Was ist dann Wahrheit, was Sinn und wie lässt sich mit dem Leiden umgehen? Dieses Buch gehört zum Gesamtwerk von Ole Wolf, das als Sammelband mit dem Titel "Du musst dein Leben steigern" gebündelt erhältlich ist.

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Du kriechst so lange beim Optimismus unter, bis du enttäuscht zum Pessimisten wirst. Dann bemühst du dich, deinen Optimismus zu erneuern. Alles nur, weil du die Ungewissheit deines Lebens nicht erträgst. Dabei kann sie es sogar steigern.

Weit weg vom Geschrei des „Du kannst alles schaffen!“ oder „Wird eh nix!“ und von Alles-ist-gut-/schlecht-Predigten entwirft Ole Wolf eine neue praktische Philosophie: Wie kann man mit der Ungewissheit leben, also jenseits von Optimismus und Pessimismus? Was ist dann Wahrheit, was Sinn und wie lässt sich mit dem Leiden umgehen?

INHALT

AUFRISS

Optimismus, Pessimismus, Ungewissheit

SINN

Resonanz mit dem Ganzen

Resonanz mit dem Einzelnen

LEIDEN

Umgang mit dem Leiden

Scheitern

Ich gegen den Rest

Vergänglichkeit

WAHRHEIT

Alles relativ, aber nicht gleichwertig

AUFRISS

Optimismus, Pessimismus, Ungewissheit

Angenommen, du weißt nie, was das Leben zu welchem Zeitpunkt an Gutem und Schlechtem für dich bereithält und wie du beides überhaupt sicher erkennst; du kannst dich auf nichts verlassen, nichts kontrollieren, nicht einmal dich selbst. Niemals darfst du behaupten, dass deine Ähre dem Himmel objektiv auch nur einen Millimeter näher ist als eine beliebige andere auf dem weiten Feld der dünnen Halme. Das Dasein ist das Ungeheure, dem Grund der Abgrund nie fern. Leben ist fundamental und total ungewiss, unsere Werte, unsere Beschreibungen. Zustände wälzen sich immer wieder um. Der Wechsel, alles Prozesshafte, das Tragische dominiert: Nichts muss entstehen, alles kann vergehen.

Ungewissheit betrifft auch diese Schrift – um mir direkt zu Beginn selbst mit einer Paradoxie ins Wort zu fallen: Sogar Ungewissheit ist ungewiss. Vielleicht gibt es Gewissheiten, die ich nicht als solche erkenne, weil ich verrückt bin.

Außerdem angenommen, du musst dein Leben exakt so, wie es war, ist und sein wird, nicht nur ein einziges Mal, sondern unendliche Male durchstehen, jeden einzelnen Moment, Höhenflüge und Abstürze, eine ewige Wiederkehr des Gleichen, für immer nach dem Tod von vorn. Du weißt jederzeit um die unbegrenzt vielen bevorstehenden Durchläufe und erinnerst dich an die zurückliegenden.

Wie könntest du mit der Situation befreundet bleiben und sie rückhaltlos bejahen?

Diese große Frage beantwortet das kleine Buch ohne den Anspruch, jedem Leser Brauchbares mitzuteilen. Zu eklatant ist die Vielfalt unter den Menschen. Philosophien lese ich als individuelle Reaktionen auf Erfahrungen; in ihnen sprechen sich ihre Urheber aus und teilen mit, was sie aus sich und gelegentlich dem Rest der Welt machen wollen. Ihre allgemeinen Aussagen über richtiges und falsches Leben, Glück und Unglück, Sinn und Unsinn zeigen eines zuverlässig an: die Grenzen ihrer Phantasie. An irgendeiner Stelle der großen Wand des Daseins muss man den Nagel einschlagen, um die eigene Philosophie zu befestigen. Da baumelt sie dann neben anderen als weiteres Beispiel des menschlichen Potenzials und als Inspiration für Nachahmungstäter. Wenn Leute für ihre Erörterungen dieser Sujets universelle Geltung beanspruchen, stelle ich mir die Milliarden Menschen vor, die bereits da waren, derzeit da sind und, auf Holz geklopft, noch da sein werden: Für alle will jemand das gelingende Leben erfassen oder vorschreiben? Der kennt die ja nicht mal. Und was, wenn der weise Verkünder samt Lehre ungehört dahinscheidet? Dann wissen die armen Gauner gar nicht, worum es in ihrem Leben wirklich geht! Ironie beiseite. Nein, wir sprechen beim Philosophieren immer nur von uns zu ähnlich verdrahteten anderen Menschen – das gilt, erneut paradoxerweise, vielleicht sogar für genau diese meine Vorstellung, dass gelingendes Leben individuell verschieden ist. Spricht sie dich an? Dann sind wir zu zweit. Ich kenne aber eben auch gegenteilige, aus meiner Sicht mehr schädliche als nützliche Exemplare unserer Spezies, die die Vorstellung leitet, dass auf diesem Feld weitgehende Allgemeingültigkeit zu erlangen ist. Weil dies aber weniger erfreulich ist, möchte ich die Idee, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll, denn doch – letzte paradoxe Pointe – universalisieren, obwohl ich keine Gewissheit habe, dass das gut ist. Womit wir wieder beim Thema sind.

Manche Menschen leugnen bereits die Möglichkeit des oben geschilderten Startpunktes, andere kommen mit der Ungewissheit auch so zurecht, andere nicht, benötigen allerdings abweichende Kommunikationsstile oder Ansätze. Was dem einen Menschen größter Schatz, ist dem anderen läppisch, kitschig, peinlich, und will man einigen etwas Bedeutendes geben, muss man den Mut aufbringen, viele zu befremden. Für manche da draußen wird die hier dargelegte Philosophie einen ähnlichen Glanz entfalten wie für mich seit meiner Jugend, und genau ihnen ist diese Schrift zugedacht. Von dem Buch kann man auch dann profitieren, wenn man ihm nicht bis in seine zweifellos vorhandenen Extreme folgt. Es genügt, wenn die Ungewissheit so weit ins eigene Dasein funkt, dass sie als lästig empfunden wird. Vielen Menschen zeigt sie sich allerdings erst in der Rückschau, wenn wider Erwarten (bei Optimisten) Schlimmes eingetreten ist. Ich hoffe, dass mein Buch auch ihnen etwas sagt. Einen Blick riskieren sollten jedenfalls jene, die mit der Ungewissheit des Lebens ebenso hadern wie mit den Behauptungen von Gewissheit, die nicht selten – und am deutlichsten beim Optimismus in seinen verschiedenen Phänotypen – die Form hilfloser Forderungen und Selbstermahnungen annehmen.

Optimismus und Pessimismus, verstanden als Gewissheit, dass etwas gut beziehungsweise schlecht ist oder wird, sind gleichermaßen lächerlich, wenn man die fundamentale, totale Ungewissheit ernstnimmt. Gewissheit kennt hier keine Grade, etwas kann in der auf diesen Zeilen verwendeten Wortbedeutung nicht mehr oder weniger gewiss sein. Gewissheit meint absolute Sicherheit, und wo diese nicht vorliegt, ist per definitionem keine Gewissheit gegeben. Der Beginn meiner Überlegungen ist, dass sie niemals vorliegt. Ungewissheit, das sei also betont, ist Axiom meiner Gedanken. Ich unterfüttere die Behauptung umfassender Ungewissheit nicht mit Beispielen oder bemühe mich um einen Beweis. Um Missverständnissen entgegenzuwirken: Ich votiere nicht gegen die Erfolgseinschätzung und allgemeine Bewertung von Situationen und Optionen mit daraus folgendem Handeln. Sondern gegen den unerschütterlichen Glauben an ihre absolute Richtigkeit und gegen die Notwendigkeit eines solchen Glaubens, gegen seine Nützlichkeit. Ich lege sogar nahe, dass er schadet. Ich beziehe diese Position, obwohl wir uns immer wieder unter erdrückend oder euphorisierend hohen Wahrscheinlichkeiten bewegen, die dicht an einer Gewissheit liegen mögen. Es ist eine freundliche, devote Geste zahlreicher Teile der Welt, sich so zu verhalten, dass wir, Regeln erkennend, brauchbare wissenschaftliche Theorien schmieden können, mit denen wir uns gegen Zumutungen wappnen und aus dem Schlammloch robben, als das unsere Existenz sich bisweilen zeigt. Die persönlichen Belange unseres dahinplätschernden Lebens hingegen sind offensichtlicher und ergreifender auf Ungewissheit gebettet, sind in jede Richtung erschütterbarer selbst bei ferneren Explosionen. Meine Erfahrung jedenfalls drängt mich zu diesem Schluss.

Sich in Ungewissheit einzuüben bedeutet, den offenen Verlauf zu bejahen, sich sogar von ihm beflügeln zu lassen. Im illusionslosen, tatkräftigen, gerne berauschten Versuchen liegt das Ideal, das ich in diesem Buch zeichne. Leiden verhindern, beseitigen, nutzen oder ohne Wunschdenken tragen und sich immer wieder ins leidenschaftliche Leben einklinken, in die große Schönheit, die das Schreckliche einschließt – das ist das Ziel. Ob du es erreichst, weiß niemand.

Das Buch stört die Totenruhe der Sonntagsphilosophen, die Rückzug, Abkehr, Enthaltsamkeit predigen; die Müdigkeit weise und Schlaf Erlösung nennen. Ein halb narkotisiertes Gemüt mit streng modulierten Amplituden steht in der Geistesgeschichte fast immer im Ruf eines Ideals und kann daher einen Kontrapunkt gut verkraften. Um Ungewissheitskompetenz zu steigern, zieht dieses hoffentlich ermutigende Buch die tragischen, meist leidvollen Seiten des Daseins nahe heran. Das Leben ist zu brutal, als dass ein Schwacher es ganz zu schätzen wüsste. Die hübscheste Lösung, falls man von zu geringer Stärke betroffen ist, liegt nun nicht im Optimismus. Sondern im Kraftzuwachs durch Konfrontation.

Optimisten gehen über die Tragik hinweg, Pessimisten stoßen sie von sich weg, indem sie alles von sich wegstoßen. Dem Optimisten fehlt das Bewusstsein vom Abgrund, dem Pessimisten der ansteckende Schwung. Optimisten sind feige (oder dumm), Pessimisten verzagt. Optimisten droht nach ausreichend vielen, von ihnen provozierten Enttäuschungen Totalresignation in Sinnlosigkeit, Pessimisten brauchen dafür nicht einmal Enttäuschungen. Optimismus kann enorme psychische Betriebskosten verursachen. Pessimismus würgt jeden Betrieb von vorn herein ab. Pessimisten erwecken mein Mitleid wie die Made im Speck, die nicht einmal testweise zubeißt, weil sie ihn für Gummi hält. Optimisten rühren mich wie die emsige, bescheuklappte Ameise, kurz bevor jemand sie aus Versehen oder mit voller Absicht plattlatscht, sodass sie, invalide, fassungslos über der Gesamtsituation verzweifelt oder meint, dass doch alles super ist und noch viel besser wird. Umschiffen möchte ich beides.

Wer sich, sein Schicksal oder etwas anderes zu pessimistisch einschätzt, wird in der Regel mit optimistischen Behauptungen zu seinem eigenen schönen Potenzial und dem der restlichen Wirklichkeit therapiert: Du denkst, alles geht schief? Quatsch, alles läuft hervorragend! Oder wird es sehr bald. Du hast den Eindruck, wertlos zu sein? Nein, du bist unfassbar wertvoll! Keine Reserven mehr? Doch, doch, da ist ganz sicher noch richtig viel zu mobilisieren. Und so weiter, du kennst das. Wer kein Pessimist ist, hat Optimismus nicht nötig. Optimismus ist eine unseriöse Medizin für die ernste Krankheit des Pessimismus. Die höchste Form der Lebensbejahung besteht in einer Position jenseits von Optimismus und Pessimismus, wie sie dieses Buch formuliert. Ich nenne sie dionysisch.

Jede optimistische Behauptung hat drei Mängel: 1. Es gibt immer gute Gründe dagegen. 2. Sie erzeugt eine große Fallhöhe bei Nicht-Zutreffen 3. Sie raubt mental anders gelagerten Zeitgenossen Energie. Für Pessimismus gilt dasselbe. Pessimisten sind (fast) genauso naiv wie Optimisten, weil wir keine Gewissheit haben, beide sie aber annehmen. Jeder Optimismus beschwört seine Theodizee herauf: Wie kann das Gute sicher sein angesichts des vielen Schlechten? Pessimismus invertiert die Theodizee: Wie kann beharrlich das Schlechte als sicher behauptet werden bei all dem vorhandenen und vorstellbaren Guten? Dionysische Weisheit hingegen verlangt weit weniger Glaubenskompetenz als ihre hierin anspruchsvollen, weil kontraintuitiv hochgerüsteten Konkurrenten aus dem optimistischen und pessimistischen Spektrum.

Darüber hinaus lautet ein Argument gegen jede Gewissheit und damit gegen Optimismus und Pessimismus: Sind wir innerlich dick wattiert und eingekuschelt oder freud- und lustlos, entgeht uns die volle Intensität des Lebens. In der geistigen und lebenspraktischen Selbstabschließung betäuben wir unseren Geschmack für den Überschwang einer abenteuerlichen Existenz. Das spricht nicht gegen Sicherheitsvorkehrungen, wohl aber gegen das Anstreben oder die Illusion von Gewissheit in allen Lebensbereichen. Die Ungewissheit ist das Loch in der Kuppel unseres Behagens. Sie befreit den Blick, weitet unseren Gesichtskreis und öffnet das Leben für Spannendes. Doch ab und zu fliegt eine Bombe hinein und reißt uns weg.

Das letzte Argument ist rein ästhetisch: Inwiefern ist ein Mensch groß, wenn er das Leben nur in optimistischen oder pessimistischen Gewissheiten erträgt? Wie erwachsen ist jemand, der geistig im sicheren Schoß verbleibt? Die Größe des Menschen sehen Dionysiker darin, auch beim schlimmsten Leiden nicht in metaphysisches Süßschwafeln oder in ein generelles Aufgeben zu flüchten und stattdessen bewusst an Abgründen zu tanzen – manchmal auch in ihnen. Der Optimist tut es unbewusst, er blickt nicht hinein oder erklärt sie für inexistent. Und der Pessimist tanzt nicht, sondern glaubt sich schon am Boden zerschellt. Die hier eingenommene Haltung unterscheidet sich von selbsternannten Realisten. Sie sind zwar keine pauschalen Optimisten oder Pessimisten, begreifen sich jedoch als situationsadäquate. Einen gänzlichen Verzicht auf feste Zuver- und Schwarzsicht leisten sie nicht. Dionysiker brauchen keine Gewissheitsillusion, um zu entscheiden und zu handeln. Sie rufen: „Versuchen wir’s! Ich habe mich bemüht und nach meinem Ermessen führt hier entlang ein Weg und nicht dort. Lasst uns sehen, wo wir landen, sei’s auch im Grab. Da endet es früher oder später ohnehin.“ Optimisten reicht ein „Versuchen wir’s“ nicht aus, sie müssen sich mit Bildern von gigantischem Erfolg besaufen, um Energie aufzubringen. Geringeres als ein frommes Bekenntnis zum blindblöden Rosarot-Paradies zieht sie emotional herunter. Pessimisten winken bei jedem „Versuchen wir’s“ von vorn herein ab, sie müssen die Apokalypse als alternativlose Realität sehen, um ihre Lethargie zu verteidigen. Ihnen ist ein „Versuchen wir’s!“ schon viel zu viel.

Das glatte Gegenteil der dionysischen Philosophie ist Religion, zumindest in ihren gängigen Spielarten. Ihr fundamentaler, totaler Optimismus besteht im Versprechen, dass die größte existierende und denkbare Macht (Gott) von außen das richtige Leben vorschreibt und segensreich leitet, auf Erden etwas geheimnisvolles Gutes mit jedem Menschen vorhat, im Leid beisteht, höchsten Sinn gibt, letzte Wahrheit offenbart, jeden liebt (aber auch mal bestraft) und nach dem Tod meistens ewiges, unbeschreibliches Glück beschert, wenn man ihr und keiner anderen Macht kritiklos gehorcht und sich unterwirft. Ein paar Opfer sind auch immer gerne gesehen. Oft zielen Religionen auf eine Entwertung des Weltlichen ab, auf eine Entwöhnung von vitalen diesseitigen Regungen, um mit einem beliebigen Jenseits als dem Eigentlichen zu verschmelzen.

Andere Lebensberatungsangebote sind ähnlich: Entweder legen sie die Macht ebenfalls ins Außerhalb, nennen sie jedoch anders und fächern sie auf. Oder sie verorten sie in jedem einzelnen Menschen. Mischformen kommen vor. Dass sie dabei zumeist auf postmortale Perspektiven verzichten, schmälert die Unbrauchbarkeit ihrer Postulate nur wenig.

Die meisten gelebten und fast alle angestrebten Weisheitslehren, ob explizit ausformuliert oder implizit vertreten und nur manchmal spontan verbalisiert, sind im Kern optimistisch. Sie machen das Ungeheure geheuer, das Unheimliche heimelig, das Ungewisse positiv gewiss. Sie pinseln einen Grund über den Abgrund. Der Dionysismus, den ich auf diesen Seiten propagiere, lehnt das alles ab. Er mutet dem Menschen die Schrecken des Lebens ungeschützt zu, damit er sich aufrichtet und ohne die morschen Krücken des Optimismus zu steigen und zu fallen lernt, aber auch nicht mit dem Klumpfuß des Pessimismus herumhumpelt. Auch wenn das Leben manchmal trägt, geht es doch tragisch dahin. Dionysiker transzendieren trotzdem nicht aus der Welt in eine höhere, hintere, tiefere Wirklichkeit hinaus, sondern in die Welt, die immanente Wirklichkeit hinein. Sie sehen keine gute (oder böse) Kraft am Grunde, sie feiern nach einem ihr Lebensgefühl prädisponierenden Entschluss das Weltliche trotz seiner Abgründe ohne metaphysischen Trost.

Dionysiker werten das Weltliche in seiner vollen Größe auf und nicht ab als Vehikel zu etwas Besserem. Gemessen an den frohen Botschaften und gemütlichen Gewissheiten üblicher Weltanschauungen, an ihrer Verpuppung im Plüsch, ist die dionysische eine herbe Enttäuschung. Auf dem Boden ihrer Frustrationen jedoch entsteht durch die schönfärbereifreie Bejahung der Tragik aller Dinge eine heroisch heitere Gelassenheit und tiefe Daseinslust.

Nach dem Wegfall anrufbarer metaphysischer Instanzen steigt die Gefahr wuchernder Größenerwartungen an das auf die Erde zurückgesunkene Leben, das jetzt ausgenüchtert, klein und allein übrigbleibt. Dem soll mein Buch entgegenwirken, damit wir die echten Gegebenheiten zu schätzen wissen. So ist das Buch ein Vademecum für Transzendenz-Athletik im Alltag zur Stärkung des psychischen Immunsystems. Es entwirft eine weniger aus makulatorischen Blumen geflochtene denn aus Stahl geschmiedete rationale Spiritualität. Das Wort im letzten Satz nenne ich hiermit jetzt genau einmal, dann ist es raus, und wir vergessen es lieber schnell wieder, um nicht in üblen Ruch zu geraten.

Meine auf Friedrich Nietzsche zurückgehende Philosophie hat ihren inspirativen Ursprung im alten griechischen Gott Dionysos und erfuhr eine lange kulturelle Rezeption, wurde jedoch noch nie als praktische Lebenskunst fruchtbar gemacht. Zum ersten Mal in der Geistesgeschichte verdichtet dieses kompakte Handbuch sie deshalb zu einer anwendungsfreundlichen Lehre, verschiebt dabei Akzente, verändert sie auch, entwickelt sie weiter und fügt ihr lose einige Gedanken hinzu, die sich in der Jahrtausende umfassenden Lebenskunst-Literatur bewährt haben. Es enthält in vielen philosophischen Gärten gerupfte Ideen, die in dieser Konstellation noch nie aufgetreten sind und heute mehr denn je fehlen. Das kurze Buch soll einen Rat geben, der nicht nervt und den man selten hört. Es verknüpft besagte Denktraditionen Nietzsches mit denen Richard Rortys und anderer Philosophen zu einer robusten Perspektive auf unser aller Schicksal, geboren zu sein – mit dem Ziel, eine belastbare Erfahrung auszulösen, die hilft, das Leben zu steigern, auch wenn dieses Leben dauerhaft mehr grinst als lächelt.

Zum Umgang mit diesem Buch

Ein Ratgeber-Buch einmal zu lesen, erzeugt bloß Papiergeraschel. Es ändert nichts. Man muss mit dem Inhalt arbeiten, ihn auf die tägliche Praxis übertragen und gezielt einüben, um Wirkung zu entfalten. Das philosophische Bewusstsein soll aus dem Hintergrund ins Alltagsbewusstsein strahlen. Das gelingt nur durch Regelmäßigkeit. Sofern dieses Buch dir also zusagt: Lies monatlich darin – langsam, mit voller Aufmerksamkeit und innerer Offenheit – und richte deine Handlungen und deinen Geist danach aus. Entdecke auch in den scheinbar trivialen Äußerungen die nützlichen, leicht zu vergessenden Wahrheiten. Die Bedeutung der einzelnen Passagen wird mit den Wechselfällen deines Lebens schwanken, mal verfängt diese, mal jene stärker. Meditiere zusätzlich täglich mindestens fünf Minuten über aus dem Buch entnommene Lehrsätze. Dazu zählt auch die schnelle, spontane Vergegenwärtigung von Bildern, Szenen und Gesprächen aus deinem Leben, die du durch die Brille des Dionysischen betrachtest. Suche dir außerdem Orte, an denen du allein bist, und sprich die für dich wichtigen Passagen laut aus, führe also Selbstgespräche. Halte dir Vorträge, als würdest du es jemand anderem erzählen, der geduldig zuhört.