Du musst dein Leben steigern - Ole Wolf - E-Book

Du musst dein Leben steigern E-Book

Ole Wolf

0,0

Beschreibung

Das überarbeitete Gesamtwerk von Ole Wolf in einem prall gefüllten, großformatigen Band. Witzig, pointiert, ein intellektuelles Vergnügen. An Friedrich Nietzsche anknüpfend, zeigt Wolf, wie wir mit den leidvollen Seiten des Daseins umgehen und die Ungewissheit nutzen können, um unser Leben zu steigern. Dabei plädiert er für die Bejahung des tragischen Weltspiels und feiert die radikale Freiheit des Menschen, einen eigenen Sinn und eigene Werte zu schaffen. Ebenso beschreibt Wolf den notwendigen politischen und mentalen Wandel, um die Freiheit gesellschaftlich zu verankern. Das Polemisieren gegen die Feinde der Selbstbestimmung vergisst er dabei nicht. Reichlich ausgestattet mit kritischen Betrachtungen des Zeitgeists, avanciert Wolfs Buch auch zu einem Sittenbild Deutschlands. All das unterhaltsam und anregend illuminiert durch einen Formenmix aus Essays, Gedichten und Prosa-Miniaturen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 463

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

ESSAY

1. Scheiß auf Optimismus. Und auf Pessimismus sowieso

Aufriss

Optimismus, Pessimismus, Ungewissheit

Sinn

Resonanz mit dem Ganzen

Resonanz mit dem Einzelnen

Leiden

Umgang mit dem Leiden

Scheitern

Ich gegen den Rest

Vergänglichkeit

Wahrheit

Alles relativ, aber nicht gleichwertig

GEDICHTE

2. Leicht entflammbar

3. Zurück im Spiel

MINIATUREN

4. General Bierbein hängt sich für Sie rein

5. General Bierbein superkompensiert

ESSAY

6. Freispruch fürs Individuum. Das bedingungslose Grundeinkommen und seine Feinde

SCHEISS AUF OPTIMISMUS

Und auf Pessimismus sowieso

Du kriechst so lange beim Optimismus unter, bis du enttäuscht zum Pessimisten wirst. Dann bemühst du dich, deinen Optimismus zu erneuern. Alles nur, weil du die Ungewissheit deines Lebens nicht erträgst. Dabei kann sie es sogar steigern.

Weit weg vom Geschrei des „Du kannst alles schaffen!“ oder „Wird eh nix!“ und von Alles-ist-gut-/schlecht-Predigten entwerfe ich eine neue praktische Philosophie: Wie kann man mit der Ungewissheit leben, also jenseits von Optimismus und Pessimismus? Was ist dann Wahrheit, was Sinn und wie lässt sich mit dem Leiden umgehen?

AUFRISS

Optimismus, Pessimismus, Ungewissheit

Angenommen, du weißt nie, was das Leben zu welchem Zeitpunkt an Gutem und Schlechtem für dich bereithält und wie du beides überhaupt sicher erkennst; du kannst dich auf nichts verlassen, nichts kontrollieren, nicht einmal dich selbst. Niemals darfst du behaupten, dass deine Ähre dem Himmel objektiv auch nur einen Millimeter näher ist als eine beliebige andere auf dem weiten Feld der dünnen Halme. Das Dasein ist das Ungeheure, dem Grund der Abgrund nie fern. Leben ist fundamental und total ungewiss, unsere Werte, unsere Beschreibungen. Zustände wälzen sich immer wieder um. Der Wechsel, alles Prozesshafte, das Tragische dominieren: Nichts muss entstehen, alles kann vergehen.

Ungewissheit betrifft auch diese Schrift – um mir direkt zu Beginn selbst mit einer Paradoxie ins Wort zu fallen: Sogar Ungewissheit ist ungewiss. Vielleicht gibt es Gewissheiten, die ich nicht als solche erkenne, weil ich verrückt bin.

Außerdem angenommen, du musst dein Leben exakt so, wie es war, ist und sein wird, nicht nur ein einziges Mal, sondern unendliche Male durchstehen, jeden einzelnen Moment, Höhenflüge und Abstürze, eine ewige Wiederkehr des Gleichen, für immer nach dem Tod von vorn. Du weißt jederzeit um die unbegrenzt vielen bevorstehenden Durchläufe und erinnerst dich an die zurückliegenden.

Wie könntest du mit der Situation befreundet bleiben und sie rückhaltlos bejahen?

Diese große Frage beantwortet das kleine Buch ohne den Anspruch, jedem Leser Brauchbares mitzuteilen. Zu eklatant ist die Vielfalt unter den Menschen. Philosophien lese ich als individuelle Reaktionen auf Erfahrungen; in ihnen sprechen sich ihre Urheber aus und teilen mit, was sie aus sich und gelegentlich dem Rest der Welt machen wollen. Ihre allgemeinen Aussagen über richtiges und falsches Leben, Glück und Unglück, Sinn und Unsinn zeigen eines zuverlässig an: die Grenzen ihrer Phantasie. An irgendeiner Stelle der großen Wand des Daseins muss man den Nagel einschlagen, um die eigene Philosophie zu befestigen. Da baumelt sie dann neben anderen als weiteres Beispiel des menschlichen Potenzials und als Inspiration für Nachahmungstäter. Wenn Leute für ihre Erörterungen dieser Sujets universelle Geltung beanspruchen, stelle ich mir die Milliarden Menschen vor, die bereits da waren, derzeit da sind und, auf Holz geklopft, noch da sein werden: Für alle will jemand das gelingende Leben erfassen oder vorschreiben? Der kennt die ja nicht mal. Und was, wenn der weise Verkünder samt Lehre ungehört dahinscheidet? Dann wissen die armen Gauner gar nicht, worum es in ihrem Leben wirklich geht! Ironie beiseite. Nein, wir sprechen beim Philosophieren immer nur von uns zu ähnlich verdrahteten anderen Menschen – das gilt, erneut paradoxerweise, vielleicht sogar für genau diese meine Vorstellung, dass gelingendes Leben individuell verschieden ist. Spricht sie dich an? Dann sind wir zu zweit. Ich kenne aber eben auch gegenteilige, aus meiner Sicht mehr schädliche als nützliche Exemplare unserer Spezies, die die Vorstellung leitet, dass auf diesem Feld weitgehende Allgemeingültigkeit zu erlangen ist. Weil dies aber weniger erfreulich ist, möchte ich die Idee, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll, denn doch – letzte paradoxe Pointe – universalisieren, obwohl ich keine Gewissheit habe, dass das gut ist. Womit wir wieder beim Thema sind.

Manche Menschen leugnen bereits die Möglichkeit des oben geschilderten Startpunktes, andere kommen mit der Ungewissheit auch so zurecht, andere nicht, benötigen allerdings abweichende Kommunikationsstile oder Ansätze. Was dem einen Menschen größter Schatz, ist dem anderen läppisch, kitschig, peinlich, und will man einigen etwas Bedeutendes geben, muss man den Mut aufbringen, viele zu befremden. Für manche da draußen wird die hier dargelegte Philosophie einen ähnlichen Glanz entfalten wie für mich seit meiner Jugend, und genau ihnen ist diese Schrift zugedacht. Von dem Buch kann man auch dann profitieren, wenn man ihm nicht bis in seine zweifellos vorhandenen Extreme folgt. Es genügt, wenn die Ungewissheit so weit ins eigene Dasein funkt, dass sie als lästig empfunden wird. Vielen Menschen zeigt sie sich allerdings erst in der Rückschau, wenn wider Erwarten (bei Optimisten) Schlimmes eingetreten ist. Ich hoffe, dass mein Buch auch ihnen etwas sagt. Einen Blick riskieren sollten jedenfalls jene, die mit der Ungewissheit des Lebens ebenso hadern wie mit den Behauptungen von Gewissheit, die nicht selten – und am deutlichsten beim Optimismus in seinen verschiedenen Phänotypen – die Form hilfloser Forderungen und Selbstermahnungen annehmen.

Optimismus und Pessimismus, verstanden als Gewissheit, dass etwas gut beziehungsweise schlecht ist oder wird, sind gleichermaßen lächerlich, wenn man die fundamentale, totale Ungewissheit ernstnimmt. Gewissheit kennt hier keine Grade, etwas kann in der auf diesen Zeilen verwendeten Wortbedeutung nicht mehr oder weniger gewiss sein. Gewissheit meint absolute Sicherheit, und wo diese nicht vorliegt, ist per definitionem keine Gewissheit gegeben. Der Beginn meiner Überlegungen ist, dass sie niemals vorliegt. Ungewissheit, das sei also betont, ist Axiom meiner Gedanken. Ich unterfüttere die Behauptung umfassender Ungewissheit nicht mit Beispielen oder bemühe mich um einen Beweis. Um Missverständnissen entgegenzuwirken: Ich votiere nicht gegen die Erfolgseinschätzung und allgemeine Bewertung von Situationen und Optionen mit daraus folgendem Handeln. Sondern gegen den unerschütterlichen Glauben an ihre absolute Richtigkeit und gegen die Notwendigkeit eines solchen Glaubens, gegen seine Nützlichkeit. Ich lege sogar nahe, dass er schadet. Ich beziehe diese Position, obwohl wir uns immer wieder unter erdrückend oder euphorisierend hohen Wahrscheinlichkeiten bewegen, die dicht an einer Gewissheit liegen mögen. Es ist eine freundliche, devote Geste zahlreicher Teile der Welt, sich so zu verhalten, dass wir, Regeln erkennend, brauchbare wissenschaftliche Theorien schmieden können, mit denen wir uns gegen Zumutungen wappnen und aus dem Schlammloch robben, als das unsere Existenz sich bisweilen zeigt. Die persönlichen Belange unseres dahinplätschernden Lebens hingegen sind offensichtlicher und ergreifender auf Ungewissheit gebettet, sind in jede Richtung erschütterbarer selbst bei ferneren Explosionen. Meine Erfahrung jedenfalls drängt mich zu diesem Schluss.

Sich in Ungewissheit einzuüben bedeutet, den offenen Verlauf zu bejahen, sich sogar von ihm beflügeln zu lassen. Im illusionslosen, tatkräftigen, gerne berauschten und spielerischen Versuchen liegt das Ideal, das ich in diesem Buch zeichne. Leiden verhindern, beseitigen, nutzen oder ohne Wunschdenken tragen und sich immer wieder ins leidenschaftliche Leben einklinken, in die große Schönheit, die das Schreckliche einschließt – das ist das Ziel. Ob du es erreichst, weiß niemand.

Das Buch stört die Totenruhe der Sonntagsphilosophen, die Rückzug, Abkehr, Enthaltsamkeit predigen; die Müdigkeit weise und Schlaf Erlösung nennen. Ein halb narkotisiertes Gemüt mit streng modulierten Amplituden steht in der Geistesgeschichte fast immer im Ruf eines Ideals und kann daher einen Kontrapunkt gut verkraften. Um Ungewissheitskompetenz zu steigern, zieht dieses hoffentlich ermutigende Buch die tragischen, meist leidvollen Seiten des Daseins nahe heran. Das Leben ist zu brutal, als dass ein Schwacher es ganz zu schätzen wüsste. Die hübscheste Lösung, falls man von zu geringer Stärke betroffen ist, liegt nun nicht im Optimismus. Sondern im Kraftzuwachs durch Konfrontation.

Optimisten gehen über die Tragik hinweg, Pessimisten stoßen sie von sich weg, indem sie alles von sich wegstoßen. Dem Optimisten fehlt das Bewusstsein vom Abgrund, dem Pessimisten der ansteckende Schwung. Optimisten sind feige (oder dumm), Pessimisten verzagt. Optimisten droht nach ausreichend vielen, von ihnen provozierten Enttäuschungen Totalresignation in Sinnlosigkeit, Pessimisten brauchen dafür nicht einmal Enttäuschungen. Optimismus kann enorme psychische Betriebskosten verursachen. Pessimismus würgt jeden Betrieb von vorn herein ab. Pessimisten erwecken mein Mitleid wie die Made im Speck, die nicht einmal testweise zubeißt, weil sie ihn für Gummi hält. Optimisten rühren mich wie die emsige, bescheuklappte Ameise, kurz bevor jemand sie aus Versehen oder mit voller Absicht plattlatscht, sodass sie, invalide, fassungslos über der Gesamtsituation verzweifelt oder meint, dass doch alles super ist und noch viel besser wird. Umschiffen möchte ich beides.

Wer sich, sein Schicksal oder etwas anderes zu pessimistisch einschätzt, wird in der Regel mit optimistischen Behauptungen zu seinem eigenen schönen Potenzial und dem der restlichen Wirklichkeit therapiert: Du denkst, alles geht schief? Quatsch, alles läuft hervorragend! Oder wird es sehr bald. Du hast den Eindruck, wertlos zu sein? Nein, du bist unfassbar wertvoll! Keine Reserven mehr? Doch, doch, da ist ganz sicher noch richtig viel zu mobilisieren. Und so weiter, du kennst das. Wer kein Pessimist ist, hat Optimismus nicht nötig. Optimismus ist eine unseriöse Medizin für die ernste Krankheit des Pessimismus. Die höchste Form der Lebensbejahung besteht in einer Position jenseits von Optimismus und Pessimismus, wie sie dieses Buch formuliert. Ich nenne sie dionysisch.

Jede optimistische Behauptung hat drei Mängel: 1. Es gibt immer gute Gründe dagegen. 2. Sie erzeugt eine große Fallhöhe bei Nicht-Zutreffen. 3. Sie raubt mental anders gelagerten Zeitgenossen Energie. Für Pessimismus gilt dasselbe. Pessimisten sind (fast) genauso naiv wie Optimisten, weil wir keine Gewissheit haben, beide sie aber annehmen. Jeder Optimismus beschwört seine Theodizee herauf: Wie kann das Gute sicher sein angesichts des vielen Schlechten? Pessimismus invertiert die Theodizee: Wie kann beharrlich das Schlechte als sicher behauptet werden bei all dem vorhandenen und vorstellbaren Guten? Dionysische Weisheit hingegen verlangt weit weniger Glaubenskompetenz als ihre hierin anspruchsvollen, weil kontraintuitiv hochgerüsteten Konkurrenten aus dem optimistischen und pessimistischen Spektrum.

Darüber hinaus lautet ein Argument gegen jede Gewissheit und damit gegen Optimismus und Pessimismus: Sind wir innerlich dick wattiert und eingekuschelt oder freud- und lustlos, entgeht uns die volle Intensität des Lebens. In der geistigen und lebenspraktischen Selbstabschließung betäuben wir unseren Geschmack für den Überschwang einer abenteuerlichen Existenz. Das spricht nicht gegen Sicherheitsvorkehrungen, wohl aber gegen das Anstreben oder die Illusion von Gewissheit in allen Lebensbereichen. Die Ungewissheit ist das Loch in der Kuppel unseres Behagens. Sie befreit den Blick, weitet unseren Gesichtskreis und öffnet das Leben für Spannendes. Doch ab und zu fliegt eine Bombe hinein und reißt uns weg.

Das letzte Argument ist rein ästhetisch: Inwiefern ist ein Mensch groß, wenn er das Leben nur in optimistischen oder pessimistischen Gewissheiten erträgt? Wie erwachsen ist jemand, der geistig im sicheren Schoß verbleibt? Die Größe des Menschen sehen Dionysiker darin, auch beim schlimmsten Leiden nicht in metaphysisches Süßschwafeln oder in ein generelles Aufgeben zu flüchten und stattdessen bewusst an Abgründen zu tanzen – manchmal auch in ihnen. Der Optimist tut es unbewusst, er blickt nicht hinein oder erklärt sie für inexistent. Und der Pessimist tanzt nicht, sondern glaubt sich schon am Boden zerschellt. Die hier eingenommene Haltung unterscheidet sich von selbsternannten Realisten. Sie sind zwar keine pauschalen Optimisten oder Pessimisten, begreifen sich jedoch als situationsadäquate. Einen gänzlichen Verzicht auf feste Zuver- und Schwarzsicht leisten sie nicht. Dionysiker brauchen keine Gewissheitsillusion, um zu entscheiden und zu handeln. Sie rufen: „Versuchen wir’s! Ich habe mich bemüht und nach meinem Ermessen führt hier entlang ein Weg und nicht dort. Lasst uns sehen, wo wir landen, sei’s auch im Grab. Da endet es früher oder später ohnehin.“ Optimisten reicht ein „Versuchen wir’s“ nicht aus, sie müssen sich mit Bildern von gigantischem Erfolg besaufen, um Energie aufzubringen. Geringeres als ein frommes Bekenntnis zum blindblöden Rosarot-Paradies zieht sie emotional herunter. Pessimisten winken bei jedem „Versuchen wir’s“ von vorn herein ab, sie müssen die Apokalypse als alternativlose Realität sehen, um ihre Lethargie zu verteidigen. Ihnen ist ein „Versuchen wir’s!“ schon viel zu viel.

Das glatte Gegenteil der dionysischen Philosophie ist Religion, zumindest in ihren gängigen Spielarten. Ihr fundamentaler, totaler Optimismus besteht im Versprechen, dass die größte existierende und denkbare Macht (Gott) von außen das richtige Leben vorschreibt und segensreich leitet, auf Erden etwas geheimnisvolles Gutes mit jedem Menschen vorhat, im Leid beisteht, höchsten Sinn gibt, letzte Wahrheit offenbart, jeden liebt (aber auch mal bestraft) und nach dem Tod meistens ewiges, unbeschreibliches Glück beschert, wenn man ihr und keiner anderen Macht kritiklos gehorcht und sich unterwirft. Ein paar Opfer sind auch immer gerne gesehen. Oft zielen Religionen auf eine Entwertung des Weltlichen ab, auf eine Entwöhnung von vitalen diesseitigen Regungen, um mit einem beliebigen Jenseits als dem Eigentlichen zu verschmelzen.

Andere Lebensberatungsangebote sind ähnlich: Entweder legen sie die Macht ebenfalls ins Außerhalb, nennen sie jedoch anders und fächern sie auf. Oder sie verorten sie in jedem einzelnen Menschen. Mischformen kommen vor. Dass sie dabei zumeist auf postmortale Perspektiven verzichten, schmälert die Unbrauchbarkeit ihrer Postulate nur wenig.

Die meisten gelebten und fast alle angestrebten Weisheitslehren, ob explizit ausformuliert oder implizit vertreten und nur manchmal spontan verbalisiert, sind im Kern optimistisch. Sie machen das Ungeheure geheuer, das Unheimliche heimelig, das Ungewisse positiv gewiss. Sie pinseln einen Grund über den Abgrund. Der Dionysismus, den ich auf diesen Seiten propagiere, lehnt das alles ab. Er mutet dem Menschen die Schrecken des Lebens ungeschützt zu, damit er sich aufrichtet und ohne die morschen Krücken des Optimismus zu steigen und zu fallen lernt, aber auch nicht mit dem Klumpfuß des Pessimismus herumhumpelt. Auch wenn das Leben manchmal trägt, geht es doch tragisch dahin. Dionysiker transzendieren trotzdem nicht aus der Welt in eine höhere, hintere, tiefere Wirklichkeit hinaus, sondern in die Welt, die immanente Wirklichkeit hinein. Sie sehen keine gute (oder böse) Kraft am Grunde, sie feiern nach einem ihr Lebensgefühl prädisponierenden Entschluss das Weltliche trotz seiner Abgründe ohne metaphysischen Trost. Dionysiker werten das Weltliche in seiner vollen Größe auf und nicht ab als Vehikel zu etwas Besserem. Gemessen an den frohen Botschaften und gemütlichen Gewissheiten üblicher Weltanschauungen, an ihrer Verpuppung im Plüsch, ist die dionysische eine herbe Enttäuschung. Auf dem Boden ihrer Frustrationen jedoch entsteht durch die schönfärbereifreie Bejahung der Tragik aller Dinge eine heroisch heitere Gelassenheit und tiefe Daseinslust.

Nach dem Wegfall anrufbarer metaphysischer Instanzen steigt die Gefahr wuchernder Größenerwartungen an das auf die Erde zurückgesunkene Leben, das jetzt ausgenüchtert, klein und allein übrigbleibt. Dem soll mein Buch entgegenwirken, damit wir die echten Gegebenheiten zu schätzen wissen. So ist das Buch ein Vademecum für Transzendenz-Athletik im Alltag zur Stärkung des psychischen Immunsystems. Es entwirft eine weniger aus makulatorischen Blumen geflochtene denn aus Stahl geschmiedete rationale Spiritualität. Das letzte Wort im vorherigen Satz nenne ich hiermit jetzt genau einmal, dann ist es raus, und wir vergessen es lieber schnell wieder, um nicht in üblen Ruch zu geraten.

Meine auf Friedrich Nietzsche zurückgehende Philosophie hat ihren inspirativen Ursprung im alten griechischen Gott Dionysos und erfuhr eine lange kulturelle Rezeption, wurde jedoch noch nie als praktische Lebenskunst fruchtbar gemacht. Zum ersten Mal in der Geistesgeschichte verdichtet dieses kompakte Handbuch sie deshalb zu einer anwendungsfreundlichen Lehre, verschiebt dabei Akzente, verändert sie auch, entwickelt sie weiter und fügt ihr lose einige Gedanken hinzu, die sich in der Jahrtausende umfassenden Lebenskunst-Literatur bewährt haben. Es enthält in vielen philosophischen Gärten gerupfte Ideen, die in dieser Konstellation noch nie aufgetreten sind und heute mehr denn je fehlen. Das kurze Buch soll einen Rat geben, der nicht nervt und den man selten hört. Es verknüpft besagte Denktraditionen Nietzsches mit denen Richard Rortys und anderer Philosophen zu einer robusten Perspektive auf unser aller Schicksal, geboren zu sein – mit dem Ziel, eine belastbare Erfahrung auszulösen, die hilft, das Leben zu steigern, auch wenn dieses Leben dauerhaft mehr grinst als lächelt.

Zum Umgang mit diesem Buch

Ein Ratgeber-Buch einmal zu lesen, erzeugt bloß Papiergeraschel. Es ändert nichts. Man muss mit dem Inhalt arbeiten, ihn auf die tägliche Praxis übertragen und gezielt einüben, um Wirkung zu entfalten. Das philosophische Bewusstsein soll aus dem Hintergrund ins Alltagsbewusstsein strahlen. Das gelingt nur durch Regelmäßigkeit. Sofern dieses Buch dir also zusagt: Lies monatlich darin – langsam, mit voller Aufmerksamkeit und innerer Offenheit – und richte deine Handlungen und deinen Geist danach aus. Entdecke auch in den scheinbar trivialen Äußerungen die nützlichen, leicht zu vergessenden Wahrheiten. Die Bedeutung der einzelnen Passagen wird mit den Wechselfällen deines Lebens schwanken, mal verfängt diese, mal jene stärker. Meditiere zusätzlich täglich mindestens fünf Minuten über aus dem Buch entnommene Lehrsätze. Dazu zählt auch die schnelle, spontane Vergegenwärtigung von Bildern, Szenen und Gesprächen aus deinem Leben, die du durch die Brille des Dionysischen betrachtest. Suche dir außerdem Orte, an denen du allein bist, und sprich die für dich wichtigen Passagen laut aus, führe also Selbstgespräche. Halte dir Vorträge, als würdest du es jemand anderem erzählen, der geduldig zuhört.

Da es mir nicht möglich erscheint, die Ungewissheit in jedem Satz angemessen auszudrücken, ohne dass sich wiederholte Abschwächungen und Einschränkungen negativ im Stil niederschlagen, formuliere ich an zahlreichen Stellen dieses Buches so, als beträfe sie die Ungewissheit nicht. Man denke sie sich eigenständig hinzu. Andernfalls klingt vieles unerhört optimistisch (und pessimistisch), was ja nun die Grundannahme dieses Buches konterkariert.

Nachdem ich jetzt den Grundriss der dionysischen Philosophie mitsamt einem kleinen Lageplan gezeichnet habe, baue ich im Folgenden ihr Gebäude. Das nächste Kapitel zum Sinn bildet das Erdgeschoss. Im Sinn wohnen wir. Dort schildere ich Ideen, um die radikale Ungewissheit dionysisch zu bejahen und sich im Alltag auf vielversprechende Ziele zu konzentrieren. Ausgehend vom Sinn wird im anschließenden, raumgreifenden Kapitel das Leiden interpretiert und hoffentlich hilfreich angegangen. Leiden ist der Dachstuhl im Haus des Lebens, den wir immer wieder betreten. Im letzten Kapitel gehen wir unter das Erdgeschoss in das Fundament: Da Wahrheit eine komplexe Kategorie des Denkens ist, erläutere ich näher, wie sie hier aufgefasst wird.

SINN

Resonanz mit dem Ganzen

Lebenssinn speist sich im Reflexionsrahmen dieses Buches aus zwei Quellen: Resonanz mit dem Ganzen und mit dem Einzelnen. Resonanz liegt vor, wenn du auf etwas bezogen bist und einen Draht zu etwas aufbaust. Bestenfalls wirkst du darauf zurück. Wir beginnen bei der Resonanz mit dem Ganzen.

Da der Sinn des gesamten Geschehens ungewiss ist, es auf nichts Bekanntes verweist, lege ich seinen Sinn in sein Dasein. Das Vorhandene verkörpert seinen Eigen-Sinn. Es erfüllt sich im Selbstvollzug, existiert um seiner selbst willen. Das Ganze ist sich selbst genug und als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt. Die Ungewissheit aller Bewertungen und Beschreibungen darin lädt außerdem zu vielfältigen Interpretationen und mit ihnen verknüpften Seinsweisen ein. Beides zeigt den Kunstcharakter des Ganzen. Indem sein Verlauf ebenfalls ungewiss ist, offenbart es überdies seinen Spielcharakter. Alles in ihm ist ein Versuch. Das Spiel lebt von dynamischer Bewegung ohne beabsichtigtes Ende und Ziel, ein Werden von kontingenten, schöpferischen und zerstörerischen Kräften, die ich Wille nenne. Auf die Ungewissheiten des Geschehens antworte ich also mit der Deutung des Ganzen als Kunstwerk und Spiel. Unter dem Regime der Ungewissheit muss man Spieler und Künstler sein und auch jemand, der alles letztlich als Spiel und Kunst interpretiert. So geschieht Resonanz mit dem Ganzen. Dann lehnen wir Gewissheit ab, weil sie Spiel und Kunst zerstört, werfen uns in das Rauschen der Welt wie in ein gefährliches Meer und sind ganz Wille und Werden.

Erfahre demnach das Universum, dein Leben und dich selbst als Gesamtkunstwerk des spielerischen Werdens: des Schaffens und Vernichtens, Entstehens und Vergehens. Da ist kein Endzustand; der Fluss des Geschehens mündet nicht ins feste Sein. Werden ist alles. Bejahe dieses Meer aus unterspülenden Wellen, das sich in jedem Moment selbst genügt und nichts Höherem, nichts Entfernterem zustrebt. Alles Existierende ist eine Welle im tobenden Meer aus Staub ohne Ufer und Grund. Sprudelnd quellt es immer wieder hervor und rast überschäumend mit kochender Gewalt. Die Wellen erheben sich aus dem Ganzen, steigen auf, rauschen durcheinander, rollen in den Strömen. Ein ständiges Auf und Ab, Vor und Zurück, Regeln und Chaos, dynamischer Tanz. Hier bäumt sich etwas, dort senkt es sich, klatscht gegen anderes, vermischt sich, zerteilt sich, strebt auseinander und fließt fort, gierig immer weiter in alle Richtungen und Formen. So laufen die Wellen eine Weile und gehen dann unter, kehren ins Ganze zurück, lösen sich auf. Sie begehren, verlangen, wollen immer wieder, immer weiter. Nicht lebensmüde verlöschen, sondern im Aufgeben noch das Aufgeben wollen, stoßen, stürzen, brechen wollen, gleichermaßen das Sein und das Nichts bejahend. Voran- und hinausdrängen, als Teil des Ganzen und allein, gegen alles, mit allem, für alles und nichts. Ein zweckloses Spektakel von wilder Größe. Mehr hat es mit dir und dem übrigen Universum nicht auf sich. Aber eben auch nicht weniger.

Du bist von keinem liebevollen oder bösen Wesen bewusst erschaffen worden und wirst zu nichts anderem aufsteigen. Keine wärmende Macht da draußen, die das Irdische übersteigt, interessiert sich für dich. Du befindest dich auch nicht in einem vernünftigen, guten, auf einen großen Sinn zulaufenden Weltganzen, in das sich alles harmonisch für dich fügt. Der universale Wille, der als ein fluides Kontinuum hinter allem wirkt, bringt die Dinge hervor und nimmt sie wieder in sich zurück, dich und all deine Güter und alles andere auch, unschuldig wie ein Kind, das Sandburgen aufbaut und niederreißt. Nichts steht je still, nichts fest. Du hast keinen Halt und keine Kontrolle, benötigst sie aber auch nicht. Der Wille verwandelt permanent, fügt Stoffe im Inneren und Äußeren zusammen, trennt sie wieder auf und beginnt erneut mit anderen Kombinationen. Du als Form entstammst Partikeln der Welt, die vorher für andere Formen genutzt wurden und nach dir wieder andere bilden werden. Wenn ein Stein pulverisiert, eine Traube vergärt, Holz in Feuer aufgeht, Wasser verdampft oder sich eine Pflanze in der Erde zersetzt, dann sind diese Veränderungen identisch mit den permanenten in deinem Leben bis hin zu deinem Tod. Unendlich lange existiertest du nicht, unendlich lange wirst du nicht existieren. Dein Dasein dazwischen ist ein den Flammen entsprungener, im Wind schnell verglimmender Funken. Kaum geboren, bist du schon beinahe tot, und du stirbst in jedem Moment ein bisschen. Egal, wann es zu Ende geht, dein Leben ist immer kurz. Verglichen mit dem, was schon passiert ist, gerade passiert und noch passieren wird, bist du ein beiläufiges Zwinkern im hintersten Winkel eines unbedeutenden Planeten in einem unermesslichen Universum. Das Feuer in dir: Glut, Hitze, flackerndes Licht. Später erlischt es. Es ist ausgebrannt, hat sich verzehrt. Asche bleibt zurück.

Jedes Ende ist der Beginn von etwas Neuem, jeder Beginn fußt auf einem Ende. Sein und Nichts konstituieren das Werden, sie münden ineinander. Unser Sein führt ins Nichts, von dem aus die Beschaffenheit des Seins bedeutungslos ist. Es gibt keinen Grund, unser Sein gegenüber dem Nichts zu privilegieren. Beides können wir gelassen hinnehmen: Des letzten Ernstes sind sie aufgrund ihres jeweiligen Antagonisten nicht würdig. Spielerischer Ernst ist der ideale Modus zum In-Angriff-Nehmen. Er gelingt, indem das Nichts gedanklichen Raum im Sein bekommt. In seiner Lust am Sein und am Nichts, in seiner Verausgabung für Wachstum und Niedergang, ist der Wille ewig. Eins geworden mit ihm, in ihn eingegangen, in ihm aufgelöst, in seiner Fülle und Leere, enthebst du dich der Zeit. Alles ist flüchtig, dunkel oft und unbestimmt, widersprüchlich, brutal und sanft, von skandalöser Willkür, gleichgültig gegenüber Gerechtigkeit und Glück aus Menschensicht. So leichtfertig und nebenbei, wie du eine Fliege erschlägst, erledigen andere Kräfte dich. Aus Sicht der Natur ist eine Naturkatastrophe Selbstverwirklichung. Vom Standpunkt der Krankheit ist ihre Verschlimmerung das auch. Reiz und Härte des Lebendigen ist der stetige, zerreißende Wandel im Ungewissen. An der Unbegreiflichkeit des Lebens kann man verzweifeln oder aus seinem Geheimnis, seinem unerschöpflichen Drängen Leidenschaft ziehen. Trotz allem Kontakt bleibt das Leben uns immer ungeheuer, es ist nie ganz verfügbar, und genau das hält unser Interesse aufrecht.

Der Wille belohnt nicht. Er bestraft nicht. Er bevorzugt nicht aus guten Gründen, bewertet nicht. Was es gibt und gegeben hat, das will er so, aber er hat keinen großen Plan, kein Konzept. Er will es absichtslos, Wille ist hier pure Kraft, bloße Energie, ungeplante und regellos gerichtete Bewegung. Er schafft Phänomene, um in verschwenderischer Opulenz im großen Schauspiel nur sich selbst fortzusetzen, Augenblick für Augenblick, und waltet auch in dir. Jeder Pinselstrich der Welt existiert, damit das Bild um diese Nuance reicher ist. Manches ist ethisch nicht zu rechtfertigen, aber ästhetisch zu akzeptieren aus dem schieren Zwang, sich von Gram nicht zermürben zu lassen. Alles existiert um seiner selbst willen und verweist in erster Linie auf sich, selbst noch in seinem Verweis auf anderes. Zunächst ist alles Zweck, erst danach Mittel. Das Werden ist sich immer selbst genug. Das Fremdzwecklose ist Selbstzweck. Jeder Moment und jedes Phänomen ist der vollendete Sinn des Ganzen, so auch du in all deinen Wandlungen. Du bist auch dieser Wille, bist eine der wild umhergeworfenen Figuren, Formen und Farben des Zufalls, die um ihrer selbst willen ins Leben stoßen, eine Weile streben und wieder aus ihm scheiden. Du bist ein Beispiel für das Ganze. Wir ereignen uns, wir geschehen einfach. Und fließen bald vorbei. Du bist die Frucht des Lebens, eine der gleichwertigen Erscheinungen, die da waren, sind und sein werden, ob Mensch oder etwas anderes; bist der Zweck und eine Feier des Schöpferischen und musst das nicht beweisen. Du musst dafür nichts erreichen. Du musst dich nicht rechtfertigen, nicht optimieren oder weiterentwickeln. Du hast von außen keinen Auftrag, keine Aufgabe, keine Pflicht zu Größe und Besonderheit. Du musst aus deinem Leben nichts machen. Du kannst es probieren, wenn dir danach ist. Aber du darfst auch einfach sein, darfst einfach das Leben spüren wollen bis in sein Ende hinein. Mit einem grundsätzlichen Ja zu allem, was ist, in dir und außerhalb deiner.

Resonanz mit dem Ganzen baust du auf, indem du im großen Kunstwerk zum dionysischen Spieler wirst, der selbst Ausdruck des Werdens ist. Begib dich in dieses Experiment mit ekstatischer Freude, tauche in das Ozeanische, das in Raum und Zeit über dich hinausreicht, lasse dich hineinfallen. Du bist dieses Ozeanische und hast es mit jedem anderen Teil um dich herum gemeinsam. Tief ergriffen und dankbar, dass alles einfach so da ist, schlicht vorhanden in erstaunlicher, faszinierender, frei waltender Üppigkeit, bist du mit jedem Klang der ausschweifenden Symphonie bis in sein Verstummen hinein verbunden und gleichzeitig auch von allem getrennt. Auf die Gestaltenvielfalt, auf Identisches und Verschiedenes, kannst du neugierig sein, kannst dich lustvoll in sie werfen, um sie zu entdecken, zu erfahren und dich anregen zu lassen. Du spürst dieses Leben in dir, heiligst das Diesseits aus Sein und Nichts, atmest die erhabene Nutzlosigkeit des ästhetischen Spiels, zu dem du gehörst. Genieße, als ein kleines, helles, unwahrscheinliches Licht, das Fest des bejahenden Lachens über dieses Spiel, das bald zu Ende geht. Während du erkennst und fühlst, wie gleichgültig alles ist in der Ewigkeit des Nichts. Verschmilz mit diesem blind schöpferischen und zerstörerischen Ganzen, um daraus Kraft und Lust zu ziehen und das Begehren, Verlangen, Streben, den Willen in dir und überall als Quelle des in sich kreisenden Werdens zu entdecken und diese Leidenschaft zu lieben, unabhängig vom Erreichen des Ersehnten. Kultiviere die Lust, aus dem Hafen auszulaufen und mit neuen Winden Kurs zu nehmen, immer wieder kleine und große Versuche zu starten. Du bist nicht das von dir Begehrte. Du bist das Begehren, der zum Sein und Nichts drängende Wille. Der Dionysiker will. Nicht aus Mangel. Sondern Überschuss.

Sich niemals sicher sein, auf nichts vertrauen, auch nicht auf sich selbst, nichts kontrollieren, nichts im Griff haben, nicht einmal den nächsten Moment, keine Sichtblenden vor dem Ungeheuren hochziehen und trotzdem guten Mutes loslegen mit dem Bauen und Niederreißen von Schlössern, das Geschehene als das Notwendige ästhetisch begrüßend – das macht den souveränen Spieler. Der Dionysiker zündet, aus Lust am Absurden oder aus Trotz dagegen, inmitten des Dunkels, das jederzeit alles verschlingen kann und irgendwann wird, immer wieder kleine Lichter an. Natürlich pustet er sie ebenso gerne aus. In beiden Fällen überlegt er, welche Lichter es sein sollen. Nichts mehr anzuleuchten oder zu verdunkeln, nichts mehr zu entflammen oder zu löschen, das Licht- und Schattenspiel aufzugeben: Das hebt er sich für später auf, wenn es ans Sterben geht. Er schießt die Bälle, die fliegen sollen oder müssen, nach bestem Wissen und Können und wartet ab, wo sie landen, beharrlich im Bemühen, aber bescheiden in der Erfolgserwartung.

Am ehesten gesellt sich die dionysische Position zu den manchmal so genannten Possibilisten, die an das Potenzial, die Chance fest glauben. Dionysiker setzen auf die Chance, hoffen auf ein Potenzial, glauben aber nicht daran (und glauben auch nicht nicht daran). Ihre Hoffnung meint den Gedanken, dass es eine Chance geben kann (aber nicht muss). Sie fühlen sich nicht imstande, die Chance auszuschließen, sondern halten es lediglich für denkbar, dass keine existiert. Annehmend, dass es höchstens größte Wahrscheinlichkeiten des schlechten Ausgangs einer Situation gibt, aber keine Gewissheit, rechnet man unter erdrückender Fatalität klugerweise nicht mit einem guten Ergebnis, richtet sich aber an seiner verbliebenen Möglichkeit auf und unternimmt Versuche, es herbeizuführen. Hoffnung ist die Antwort auf die aus skeptischer Sicht sich zeigende Offenheit der Zukunft, sie bezieht aus der mutmaßlichen Ungewissheit unseres Lebens ihr Recht. Wäre unser Leben heute und in Zukunft gewiss schlecht, fehlte der Hoffnung die Grundlage. Im umgekehrten Fall bräuchten wir sie nicht, weil wir etwas Besseres hätten. Sie kann im Gegensatz zu einer Erfolgserwartung schwerer enttäuscht werden und muss daher seltener sterben. Doch auch wenn den dionysischen Spieler jede Hoffnung verlässt, bejaht er das Ganze und macht seine Züge, manchmal mit revolutionärem Mut. Denn nicht vorrangig aus einer Chance auf Zielerreichung speist sich seine Ausdauer, sondern aus dem Zelebrieren des Wollens, der Willenskraft an sich. Dionysiker probieren, Chancen zu ergreifen, aber lieben überhaupt diesen Versuch des Ergreifens selbst. Sie treffen durchaus Sicherheitsvorkehrungen, jedoch ohne sich je in Sicherheit zu wähnen. Sie bejahen alles, was geschieht, das Wohlige wie das Grauen, zuletzt an und für sich, weil sie alles bejahen und erhöhen wollen; das ist ihr Entschluss. Ihr Dasein ist ein tragikomisches Theaterstück, das sie leidenschaftlich zu spielen, lachend zu schauen und mit Gestaltungslust zu inszenieren versuchen. Sie mischen sich ins große Kunstwerk, obwohl sie mit keiner Zukunft fest rechnen.

Mit der Totalität des dionysischen Seins verbindest du dich sowohl durch das geistige Einüben dieser Perspektive als auch durch Grenzüberschreitungen, Selbstüberwindungen im Denken und Handeln. Der Rausch des Heiligen wartet besonders dort, wo du dich einer Sache öffnest, die du normalerweise nicht hereinbittest, weil sie mindestens ambivalent ist, gefährliche, schmutzige, peinliche, unziemliche, vulgäre, obszöne, allgemein abstoßende Seiten hat und deshalb für gewöhnlich ausgeschlossen ist. Suche das Verfemte. Im Tabu wartet die ekstatische Erfahrung der Selbstauflösung. Hinter deinen Grenzen, im Unbekannten, findest du Intensität. Mut zum eigenen Wahnsinn. Setze dich gezielt aufs Spiel, transzendiere dich. Indem du dich entgrenzt und aus dir heraustrittst, öffnest du dich dem ungeheuren Fließen und Strömen der Welt in einem Rausch, den du nie zu bereuen brauchst, selbst wenn du dich hinterher kaum darin wiedererkennst. Ein Triumph der Vitalität im Loslassen der Zügel der Vernunft, weg von wohltemperierten Mittellagen, in denen es sich behaglich und bequem, aber auf Dauer langweilig leben lässt.

Dass du dabei anderen nicht und dir nur in kalkulierten Maßen schaden darfst und somit, anstatt aufs Ganze zu gehen, einen im Vergleich zu deinen unumschränkten Begierden manchmal spießigen Rahmen setzt, gehört zu den Spannungen, die du aushalten musst. Die Kunst, aus dem Bescheidensten das hohe Gefühl zu gewinnen, kompensiert das halbwegs der Bürgerlichkeit verpflichtete Limit deiner Ausschweifungen. Hast du es dennoch übertrieben: Verwende es zum Bau deines Lebens wie alles andere auch.

Resonanz mit dem Einzelnen

Große Chancen, dein individuelles Leben als sinnvoll zu bewerten, hast du, wenn du Resonanz zwischen dir und einzelnen Bestandteilen der übrigen Welt herstellst und deine eigene Geschichte gezielt im Hinblick auf diese Resonanzen erzählst. Je mehr Sinn-Quellen du hast, desto stabiler bist du aufgestellt.

Resonanzen mit dem Einzelnen entstehen über drei Kanäle, die du nach deinen Interessen und Werten bespielst und gewichtest. Neben der proaktiven Ausrichtung deines Lebens auf diese drei Kanäle geht es um die reaktive Deutung deines Lebens nach ihnen. Ein Ereignis, das du, wenn auch nur zu kleinen Teilen, mindestens einem der drei Kanäle zuordnest oder als Vorbereitung auf sinnvolle Momente qualifizierst, trägt zum Sinn deines Lebens bei. So liegt die Kunst darin, in möglichst vielen Geschehnissen Sinnpartikel zu entdecken und sie sich bewusst zu machen, was manchmal viel Phantasie und Abstand erfordert.

Strebe also, bezogen auf dein Leben (nicht auf jedes einzelne Ereignis), nach einem für dich optimalen Mischverhältnis aus diesen einfachen Zutaten:

1. Freude und Genuss, sinnlich wie geistig 2. Entwicklung und Anwendung deiner Fähigkeiten 3. Dienst an einer Sache, die über dich hinaus auf das Gute und Schöne verweist

Für alle drei Kanäle gilt: Es darf gerne, aber muss nichts Großes sein. Es kann weit verbreitet und allgemein anerkannt sein oder selten und speziell, vielleicht belächelt, sogar verpönt. Raffiniert oder plump. Vorgefunden oder erfunden. Öffentlich oder privat. Hauptsache: etwas Eigenes, zu eigen Gemachtes, dir Entsprechendes. Nur für das Selbstgewählte lohnt sich das Opfer.

Ob es dir gelingt, Resonanz mit dem Einzelnen vollständig zu verwirklichen, das heißt, das Gewollte zu bekommen und tatsächlich als sinnvoll zu empfinden, kannst du nicht wissen. Deine Begehrlichkeiten solltest du daher spielerisch handhaben, wie im vorherigen Abschnitt zur Resonanz mit dem Ganzen dargestellt.

Ziele zu verfolgen und sie idealerweise zu erreichen, das ist Resonanz mit dem Einzelnen. Selbst dieser Strom zu sein und auch die schlimmen Phasen zur Größe des Lebens zu zählen, sich kraftvoll in das unerbittliche Werden der Willensstrebungen insgesamt zu werfen, mit der Ungewissheit im Gemüt den Wandel und Wechsel bejahend, versucherisch, ohne am Ersehnten zu haften, das ist Resonanz mit dem Ganzen.

LEIDEN

Umgang mit dem Leiden

Alles ist ungewiss, das ist die Grundannahme dieses Buches. Antworten auf folgende Fragen sind demnach nie absolut sicher: Was passiert gerade, wie geht es weiter, was soll ich tun? Und ist das gut oder schlecht? Brandet, bei aller Ungewissheit, etwas von uns für gut Befundenes heran, halten wir das meistens aus. Viele Menschen sind es nicht, die einen Ratgeber brauchen, um das Glück zu ertragen. Anders verhält es sich beim häufig vorliegenden Gegenteil. Angesichts von Ungewissheit ist es rational, sowohl das Gute als auch das Schlechte für möglich zu halten, und da vor allem aus Letzterem oft Leiden erwächst, handelt dieses Kapitel vom Verknusen der düsteren Erfahrungen unseres fragwürdigen Lebens.

Vorab sei betont: Die dargelegte Lebenskunst zielt im Wesentlichen auf eine bessere Handhabung des Leidens. Tappe nicht in die Falle, daraus einen privaten oder politischen Quietismus abzuleiten und diejenigen externen Leidensursachen, die verändert werden können, nicht mehr verändern zu wollen, weil du sie schönredest, kritisches Denken abblockst und bessere Alternativen für utopisches Gewäsch hältst. Anpassung und Gehorsam gegenüber den empörenden Umständen edler erscheinen zu lassen, als sie es verdienen, ist die große Gefahr jeder Lebenskunst. Wo Lebenskunst jagd- und politikmüde macht und unter dem verlogenen Credo des Friedens, des Positiven oder Konstruktiven eine phlegmatische Buckel-Existenz toleriert oder gar nobilitiert, ist sie ein Herrschaftsinstrument. Dionysische Weisheit weckt Kräfte, die zum Widerstand anstacheln können. Kriegerisch statt kriecherisch. Beuteverzicht ist nicht nötig. Schnappe dir einen Anteil am Glück und tritt allgemein für Gerechtigkeit ein.

Leben ist für die meisten Menschen von viel Leiden geprägt. Manches verschwindet nie ganz, einige Schatten bleiben. Sinn ist dem Leben abgerungen. Es gibt keine Evidenz für die Annahme, dass das Leben sich um ein langes, ununterbrochenes, billiges Wohlsein aller Menschen schert. Eher spricht vieles dagegen. Das Leben ist voller Grausamkeit, und jeder Versuch, sie zu leugnen oder zu parfümieren, zerschellt am Leiden der Betroffenen. Welches Leiden du auch hast: Viele andere tragen es gerade ebenfalls in sich, fühlen sich so elend wie du. Noch viel mehr deiner Artgenossen erging es bereits früher so und wird es noch so ergehen.

Lebenslust wird nur eine Chance haben, wenn wir uns mit dem unausweichlichen Leiden abfinden und lernen, in der Schwebe über dem Abgrund zu feiern, mit einer echten Akzeptanz des Leidens, keiner geheuchelten, die es mit philosophischen Sonntagsreden zukleistert und im Wohlgefallen eines possierlichen Optimismus auflöst. Sich mit dem Leiden als einem wiederkehrenden Phänomen des menschlichen Lebens aussöhnen, es annehmen als festen Bestandteil, der keineswegs anzeigt, dass etwas falsch läuft, dem Leiden Raum, ja eine Heimat bereiten und es zügiger überwinden oder mit ihm leben lernen, durch Prophylaxe wie Therapie, darum ist es mir zu tun.

Ursache des Leidens

Das in den bisherigen Kapiteln Vorgebrachte nehme ich zur Grundlage meines Nachdenkens über das Leiden. Leiden ist nicht dasselbe wie Schmerz. Leiden meint, bei aller Angreifbarkeit dieser Unterscheidung, ein psychisches Unwohlsein, Schmerz ein körperliches. Leiden kann zu Schmerz führen und umgekehrt, muss aber nicht. Es entstammt im dionysischen Kontext einem Begehren, das nicht erfüllt wurde, bei gleichzeitigem Anhaften am Begehrten. Du willst etwas, kriegst es nicht und haftest daran. Dann leidest du. Anhaften liegt dann vor, wenn du dir ein gelungenes Leben nur mit dem Erreichen des von dir Verlangten vorstellen kannst; wenn du das Verfehlen des Gewollten als Entreißen des Lebens und deiner Person empfindest. Anhaften meint: das Begehrte zu einem Teil von dir zu machen, es nur als dein Eigentum und Ewiges gelten lassen zu können, dein Selbstgefühl und deine Lebensbejahung davon abhängig zu machen, dich also darüber zu definieren, dein Dasein darauf zu gründen, zu glauben, dass nur das Begehrte dich retten kann, dir Heilung, Erlösung verspricht und dir Wert verleiht und du dich ohne das Begehrte nicht bewegen kannst oder darfst. Du haftest an etwas, wenn du dich oder dein Leben damit unverbrüchlich identifizierst. Das Problem liegt in dieser Lesart nicht darin, dass oder was du willst, sondern wie du willst.

Dieses Kapitel zeigt, wie der Dionysiker mit dem Leiden umgeht: Er spielt den zuvor dargestellten Sinn gegen das Leiden aus. Für eine Resonanz mit dem Ganzen löst er Anhaftungen, ohne den Willen zu schwächen. Wenn alles, darunter die eigene Gefühlslage, ungewiss ist, kann Anhaftung verschwinden, so plötzlich oder gemächlich, wie sie entstand, und so geheimnisvoll. Der zweite Weg ist die Förderung der Resonanz mit dem Einzelnen, trotz und sogar mithilfe des Leidens. Eine Heilsgarantie gibt es aber selbstverständlich nicht. Für das Erreichen des Gewollten, sofern es realistisch erscheint, sind andere, spezialisierte Ratgeber zuständig. Nur vereinzelt gebe ich mir plausibel erscheinende Hinweise in dieser Richtung. Indirekt, so glaube ich, tragen meine Hauptideen jedoch ebenfalls zum Erlangen des Ersehnten bei. Nach dem Sieg über die Anhaftung kommt eine heitere Souveränität, mit der sich Potenziale besser ausschöpfen lassen. Ich halte mich auch zurück (unterlasse es aber nicht ganz), dich abgeschmackt über die Nichtswürdigkeit des von dir Gewollten zu belehren, damit du das Verfehlen besser wegsteckst und auf vermeintlich weisere Ziele umschwenkst.

Optimismus und Pessimismus sind beschreibbar als Reaktion auf Anhaftung in einer spürbar ungewissen Welt. Der Optimist suggeriert sich die Gewissheit, dass das von ihm Angestrebte gut ist und er es erreichen wird. So rationalisiert er seine Anhaftung. Der Pessimist suggeriert sich die Gewissheit, dass das von ihm Angestrebte schlecht ist und/oder er es verfehlen wird. So löst er die Anhaftung auf und seinen Willen gleich mit. Der Optimist verdrängt die Ungewissheit, um überhaupt etwas anleiern zu können. Der Pessimist tut dies, um nichts mehr anleiern zu müssen. Ohne Anhaftung bräuchte man keine der beiden Positionen einzunehmen, mit Anhaftung bieten sie offenbar naheliegende Methoden, aktuelles oder potenzielles Leiden zu lindern. Wer bei einem Pessimisten Optimismus verbreiten will, möchte ihn einfach auf eine andere Strategie zur Bewältigung des Leidens an der Nichterreichung des Begehrten umschulen. Ganz anders der Dionysiker: Er haftet nicht am Begehrten und kann deshalb begehren und gleichzeitig die Ungewissheit sowie das Verfehlen des Begehrten bejahen. Jetzt schildere ich seine Herangehensweise an das Leiden.

Leiden nutzen

Sehr wahrscheinlich ist es dir nicht möglich, dich permanent vollkommen dionysisch zum Leben zu stellen, das heißt ohne Anhaftungen, in Resonanz mit dem Ganzen. Das bleibt wohl ein Ideal, dem wir uns annähern, ohne es je ganz zu erreichen. Dionysisch zu empfinden ist eine Höhe der Seele, die nicht immer und nicht von jedem erflogen wird. Wer Resonanz mit dem Einzelnen will, und das solltest du, muss deshalb voraussichtlich Leiden ertragen. Du kannst dich vom Leiden zum Sinn befreien, der größer ist als Leiden – also: Du kannst das versuchen, und wenn es nicht klappt: Du kannst versuchen, es zu versuchen. Hier ist der infinite Regress mal auf deiner Seite.

Die grundsätzliche Methode des Dionysikers, mit dem Leiden umzugehen, besteht im schieren Ertragen, indem er es als Preis des menschlichen Wollens rechtfertigt und es als Gelegenheit verwendet, seine Leidensfähigkeit zu trainieren. Der Wille ist ihm zentraler Ausdruck des Lebens. Wille gleich Vitalität. Ihn wegen eines möglichen durch Anhaftung verursachten Leidens reflexartig pauschal zu verneinen, abzutöten, zu verdammen (nicht nur in streng abgewogenen Einzelfällen), gilt dem Dionysiker als schwaches Leben, feige und verzagt. Befreien vom Leiden in meinem Sinne meint nicht, es zu verhindern, indem du deinen Willen zerstörst und dich panzerst gegen jede Enttäuschung und jeden Sinn. Das wäre der Weg, dich zu schützen, was phasenweise klug sein kann, aber zu einer grundlegenden Philosophie der Lebensbejahung nicht taugt. Dein Begehren stillzulegen und dich von vorn herein um den Sinn zu bringen, weil du das bei Nicht-Erfüllung und Anhaften eintretende Leiden vermeiden willst, ist ein vorauseilender Tod: eine Glorifizierung des Absterbens zu Lebzeiten. Überlassen wir das den Pessimisten. Der Entschluss steht: Lieber mehr wollen, als weniger leiden. Daran orientiert sich der Dionysiker, lässt jedoch bei anstehenden Entscheidungen Ausnahmen zu, sofern sie Ausnahmen bleiben. Beurteilt er vorhandenes oder vergangenes Leiden, also definitives, unausweichliches, bleibt er aber eindeutig: Für den Willen nimmt er das Leiden in Kauf, da Anhaftung offenbar nun einmal vorlag oder -liegt. Er entwickelt den Mut zum Leiden, schreckt nicht zurück. Ein geducktes Leben, lauwarm und aufgeräumt in das Überschaubare, Behagliche gefügt, ist sein Gusto nicht; im allzu vorsichtigen Schleichgang auf engstem Kreis verkümmert sein Gemüt. Sein Reich soll die Welt sein mit allem, was sie enthält, kein Punkt unendlicher Dichte, auf dem er sich vor Verletzungen sicher fühlt. Der Dionysiker geht also über die bloße Toleranz des Leidens hinaus. Er begrüßt es, ohne es zu beschönigen oder gar kultisch zu verehren, da er das Leben in allen Facetten bejaht. Nicht weil es an sich bejahenswert wäre. Sondern weil er sich die Bejahung selbst auferlegt.

Das Leiden gemahnt an den Wert von Stärke, Härte und Mut. Sie schaffen Souveränität. Schwach, weich und feige sein zu wollen, ist ein krankes Ideal. Der Dionysiker will das Schicksal des eigenen Existierens überwältigen, indem er seinen Willen zur Bejahung am zunächst abstoßenden Leben prüft und steigert. Für das Wachstum seines Willens braucht er Widerstände, seine Stärke soll sich aus der Superkompensation der Lasten entwickeln. Das Einfache ist zu billig erkauft. Das Fehlen eines hindernisreichen Weges banalisiert das Erreichen des Ziels. Eine einfache Verwirklichung der eigenen Wünsche kann sich auf Dauer als teuer erweisen, weil leichte Beute langweilig wird. In diesem Szenario erhöhen vorherige, oft leidvoll empfundene Widerstände den Wert des Gewollten. Ein höherer Wert des Gewollten hebt außerdem bereits den dazugehörigen Willen auf ein neues Sinn-Niveau. Man profitiert also auch dann, wenn man das Angestrebte nicht erhascht.

Das Leben fordert dich permanent heraus, prüft deine Freiheit. Ein freier Mensch ist Krieger und Abenteurer, der mit den Kräften des Lebens gerne ringt. Er rechtfertigt das Leben mit allen Schrecken, er will sie. Das meiste im Leben entscheidet der Kampf. Je häufiger du Widerstand erfährst und je mehr Gewicht du dabei stemmen musst, desto genussreicher ist die Überwindung, und bestehe diese auch nur im lebendigen Ertragen des Schweren. Nutze jeden Gegner für eine Steigerung deiner Freiheit, deiner Macht über dich selbst. Das Ja zum Leben umfasst das Ja zum Kampf, sofern er auftritt. Da zum Kampf notwendig ein Gegner gehört, erstreckt sich das Ja auf ihn. Der Kontrahent wird auch in einem zerstörerischen Angriff auf ihn an sich akzeptiert. Er steht im Weg, aber nicht in Frage. Ziehe Stärke daraus, Stürmen und Schlägen zu trotzen, dich tief ins Leiden zu lehnen und daran zu wachsen. Richte deine Augen auf das Schreckliche und halte den Blick. An Hindernissen zeichnet man sich aus. Widerstand ist Orden-Chance. Begrüße und umarme andrängendes Leiden als eine sportliche Herausforderung, eine Aufgabe. Das tust du, indem du ihm erlaubst, dich zu biegen, um dich nicht brechen zu können. Es kann dich auch zerstören. Aber eben nicht brechen. Gehe dem Leiden entgegen. Heiße es willkommen. „Trau dich! Ich bin gespannt, ob und wie ich aus dem Schlamassel wieder herauskomme.“ In dieser Ansprache des Widerstands liegt bereits der Grundstein für seine Bewältigung. Du magst auf einem Boot der schweren See zürnen, über sie in Trauer geraten oder, etwas arg komisch, dich selbst entwerten, doch das dauert nicht lange. Schon bald nimmst du die See an. So gehe auch mit allen Angriffen auf deine Heiterkeit um. Sie sind zum menschlichen Leben notwendig gehörende Naturphänomene, einer wie der andere. Unvermeidbare Wellen, die gegen deine Bordwand klatschen, übers Deck fegen und auch mal etwas mitreißen. Eigentlich aber bist du gar nicht das Boot – eigentlich bist du, wie du weißt, selbst eine von diesen (Staub-)Wellen, die gegen andere prallen.

Die drei Kanäle der Resonanz mit dem Einzelnen lassen sich, das zeigen diese ersten Überlegungen, auch auf das Leiden und die Verfehlung des Begehrten selbst anwenden: Sinn aus Leiden ziehen, das Leiden als Sinnstifter einordnen, als etwas, das manchmal, nur manchmal tatsächlich sinnvoll ist, wenn wir es wollen. Dieser Sinn kann, wie gesagt, allgemein darin bestehen, das Leiden als Aufgabe zu interpretieren, an der unsere Fähigkeiten wachsen, indem wir es mit Größe ertragen und schließlich überwinden. Die Überwindung wiederum kann zur Quelle geistigen Genusses werden und das Nachdenken darüber anregen, wofür das Leiden über uns selbst hinaus gut sein kann.

Im tiefsten Missmut erscheint der Versuch zynisch, im Leiden einen Sinn zu sehen, insbesondere wenn dieser Vorschlag von fremden Menschen kommt, und am schlimmsten ist es, wenn diese besonders gute Laune haben und vom Glück gestreichelt sind. Was wissen die schon. Wer sich jedoch selbst darauf verpflichtet, seinen Kummer, da er ja nun einmal da ist, daraufhin zu prüfen, ob ein Sinn möglich ist, hat gute Chancen, früher oder später auf etwas Interessantes zu stoßen. Frage dich beim Eintreten des Leidens: Was ist das denn für ein Gefühl? Was sagt es mir? Was mache ich damit, was mache ich daraus? Lass jedes Leiden nach Möglichkeit erst einmal in Ruhe anreisen. Beobachte es wie etwas Fremdes, separiere es, und beobachte auch dich als Beobachter. Das Leben darf manchmal nichts anderes als eine Gelegenheit zu lachender Beobachtung und Erkenntnis sein. Schon das kühle Interpretieren hilft heilen. Das Leiden biographisch, kulturell, gesellschaftsstrukturell, politisch, historisch und futurisch zu kontextualisieren, erweitert den Blick ins Panorama und fördert erleichterndes Verständnis. Wenn das Leiden dein Wissen erweitert, so ist das ein Nutzen. Du verstehst mehr als vorher. Es lehrt dich etwas über dich, die Welt und die Menschen. Manches Leiden kann dich orientieren, es kann dir Richtungen zeigen, die du einschlagen oder meiden solltest. Du lernst etwas, um dich besser durch deine Umgebung zu manövrieren und Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Du kannst es zum Anlass nehmen, anderen Betroffenen beizustehen. Leiden lenkt deine Aufmerksamkeit auf mögliches inneres Wachstum und notwendige äußere Veränderung und kann dich, sofern du nicht verhärtest, barmherziger machen. Längst nicht jedem Leiden schließt sich eine Entwicklung an. Ohne Leiden aber gibt es nur selten eine nennenswerte Steigerung eines Menschen und der ganzen Gattung. Die Frage, welche höhere Stufe dein Leiden vorbereitet, kann sich also lohnen.

Leiden kompensieren

Das Leiden beansprucht rücksichtslos alle Aufmerksamkeit und verbrennt unsere Energie. Es duldet keine Gegenstände neben sich, weil es uns als Parasit unserer Psyche vollständig fressen will. Unser Entwischen müssen wir forcieren, indem wir uns entschlossen den uns angemessenen Sinnquellen zuwenden, anfänglich am besten solchen, die in einiger Entfernung zu den Feldern liegen, auf denen das Leiden uns heimgesucht hat. So ist das Leiden wenigstens teilweise ausgleichbar durch einen Fokus auf Sinn in anderen Bereichen. Wer in breit gefächerten Resonanzen mit dem Einzelnen lebt, erträgt Leiden besser.

Die Resonanz mit dem Einzelnen ist brüchig, doch in vielen Situationen immer noch machbar, geschehe dies auch in bescheidenem Maß. Begehren ist nicht auf ein bestimmtes Objekt oder einen Idealzustand beschränkt, du kannst es, wenigstens in begrenztem Umfang, anders ausrichten. Das, was du von einem bestimmten begehrten Objekt willst, kannst du auch von anderen Objekten seiner Klasse erhalten.

Generell verringert innerer Reichtum wohltuend die Abhängigkeit von äußeren, noch weniger beeinflussbaren und zumeist kostspieligen, aufwendigen Reizen.

Strebe nach unspektakulärem, langanhaltendem Sinn mit einigen fulminanten Ausschlägen.

Verachte nicht den kleinen Sinn und die Mini-Abenteuer, die du ganz einfach in deinen Alltag integrieren kannst. Nimm auch das Einfache, Alltägliche und Unperfekte mit tiefstem Genuss. Entdecke im Schlichten und Kleinen das Große.

Darüber hinaus ist das Weglassen von Schädlichem für das Glück generell wichtiger, als zu versuchen, etwas Gutes hinzuzufügen – was natürlich nicht gegen das Schnappen nach Begehrtem spricht und hin und wieder kollidiert mit dem Wunsch nach Rausch.

Reduziere die Anzahl der täglichen Entscheidungen, indem du dich an Routinen bindest. Das erhält deine Willenskraft. Etabliere außerdem Rituale, sie geben deinem Leben Vertrautheit und laden zur Besinnung ein, um die Resonanz mit dem Einzelnen zu fördern. Rituale sind unpraktisch und umständlich, sie bremsen dich aus und verschwenden deine Zeit. So gewähren sie jene Momente festlicher Erhabenheit, die du brauchst, um dich aus dem Sumpf des Frustes, der Langeweile, der Sorgen und Nöte zu ziehen. Droht das Leben anschließend in Ritualen zu erstarren, überschreitest du sie, reißt sie nieder und verfolgst neue Spuren.

Leiden angreifen

Nun setze ich, wie sie mir zufallen, einige rhapsodische Impulse zur Perspektivierung des Leidens und nenne weitere Methoden, um Anhaftung erst zu lockern, dann zu lösen und so das Leiden allmählich hinter sich zu lassen. Sie sollen stichwortartig Pfade aufzeigen, die bei Gefallen zum Probelauf einladen.

Verstehe dich als Kern, den eine Hülle aus Begehrtem umgibt. Der Kern ist die Einwilligung ins Dionysische. Er ist das Dionysische. Wenn sich der Kern mit seiner Hülle verwechselt, ist die Basis für Leiden geschaffen. Restloses, sofortiges Anhaften vollzieht sich, wenn das Selbst keine Alternative findet, um sich zu konsti-tuieren. Je mehr Begehrtes erbeutet wird, desto stärker verführt es, das eigene Selbst darauf zu gründen. Der Kern zerfließt in die Hülle, das Ego bläht sich ins Grandiose. Das Haften an äußeren und inneren Gütern, die wir allesamt nicht kontrollieren können, ist der Moment, wo Ego entsteht. Das Leiden deines Egos rührt daher, dass es die Dinge nicht dionysisch sieht. Deshalb kann man sagen: Es ist immer dein Ego, das leidet und seltsame, bisweilen dumme Sachen unternimmt, um das Leiden zu verringern. Wer an etwas haftet, haftet dafür. Kleine Pointe: Das schließt das Anhaften an der begehrten Leidlosigkeit des dionysischen Selbst ein. Ein Selbst und ein Leben können auch mit Leiden gelingen, und wenn du glaubst, immer leidfrei sein zu können und zu müssen, wirst du an deinem Leiden zusätzlich leiden. Nimm das dionysische Empfinden daher als Orientierung: Du richtest dich nach ihm, bist glücklich bei seinem Erreichen, aber grämst dich nicht, wenn du es verfehlst.

Du bist nicht dein Ego, wirst aber damit leben müssen. Es dauerhaft ganz im Dionysischen aufzulösen, scheint mir, wie vorher bereits gesagt, unmöglich, deshalb will ich es dir nicht versprechen. Anhaften kannst du meiner Ansicht nach also nicht völlig verhindern, sondern überwiegend nur vor dem Eintreten des Leidens abmildern und danach langsam kurieren. Es geht um den gezielten Rückbau von einsturzgefährdeten Ich-Gewölben. Betrachte dein Ego als treuen, manchmal etwas nervigen Begleiter, der Trost, Verständnis und Mitgefühl ebenso braucht wie klare Führung. Du beachtest dein Ego, gewährst ihm Platz, zollst ihm manchmal Tribut, stellst ihm jedoch, ohne es zu verurteilen, das dionysische Bewusstsein als dein Ideal zur Seite, um es zu verändern und punktuell einzuhegen. Unterhalb auch des tiefsten Leidens solltest du einen Raum verteidigen, in den du deinen dionysischen Kern platzierst. Bleibe mit diesem Ort in dir in Kontakt, welche Anfechtungen auch immer auf dich niederprasseln. Je öfter du ihn betrittst, desto länger kannst du dich dort aufhalten und desto leichter findest du den Eingang. Lass dich stets von ihm rufen. Alles andere sei dir äußerlich. Nicht unwichtig. Aber äußerlich.

Das dionysische Selbst ist weit weniger von Demontage bedroht als das meiste andere, worauf du dich stellen kannst. Deine Heiterkeit ist robuster ins Leben gesetzt. Wer am Spiel zerbricht, hat es zu ernst genommen. Wem der Spieltrieb zerbricht, nicht ernst genug. Du hast dein Leiden. Aber du bist nicht dein Leiden. Nicht du redest, wenn du dein Leid klagst, sondern dein Leiden redet durch dich, du wirst von ihm nur als Medium benutzt. Das dionysische Selbst dient als Vorbereitung auf das Leiden, und beim Leiden fällst du darauf zurück, um einen Punkt einzunehmen, von dem aus du neu loslegen kannst.

Deine Bejahung des Daseins soll so viele Polaritäten, so viele Gegensätze wie möglich umfassen. Du sollst dir vorstellen, dass deine Existenz und jede andere exakt so, wie sie war und ist, mit all dem Schönen und all dem Schrecklichen, ewig wiederkehrt, sodass du sie noch unendliche Male durchstehen musst, und mit dieser Aussicht sollst du sie in allen Facetten bejahen und nichts anders haben wollen. Entscheide dich jeden Tag nach dem Aufwachen bewusst für das Leben, öffne dich für seine Wechselfälle, für seine Spannungen, seine Bewegung, mit einer Zustimmung zu dem Faktischen, das offenbar notwendig geschieht. Manchmal fühlst du dich am Ende. Am Ende warst du aber schon immer und wirst du immer sein. Und am Anfang zugleich. Ein nächster Schritt ist einen Versuch wert. Gehe ihn, wie klein er auch ausfällt. Liebe dein Leben notgedrungen. Und wenn du Trübsal bläst: Liebe dein Trübsalblasen.

Dein Geist gewährt dir manchmal eine erlösende Veränderung deiner Haltung zu den Dingen, wenn du die Dinge, was häufig der Fall ist, selbst nicht ändern kannst. Du beschreibst die Dinge, zu denen auch du gehörst, auf eine dir zuträgliche Weise neu. Einstmals hast du ihnen ihren Sinn und ihre Bedeutung gegeben oder du hast die der anderen Menschen übernommen. Du kannst ihnen die Bedeutung wieder entziehen und sie verändern. Ein Großteil deines Anhaftens am Begehrten resultiert aus negativen Glaubenssätzen, die dich, unbewusst als Brille für deine Wahrnehmung verwendet, zu bestimmten Interpretationen verleiten und die natürlich mit den möglicherweise ebenso verrückten Glaubenssätzen des Gegenübers zusammenknallen. Wenn du leidest, dann sprich mit deinem Ego, auch wenn das zunächst peinlich klingt: „Da hat mal wieder etwas auf die Knöpfe gedrückt, die deine kontingenten Glaubenssätze hell aufleuchten lassen und deine Empfindlichkeit aktivieren. Jetzt schickst du mir diese ganzen wilden Gedanken und das Jammern und Klagen.“

Da sich das noch ausstehende Gewollte nur in der Zukunft erreichen lässt und das verfehlte Gewollte notwendig in der Vergangenheit liegt (und sei es auch nur eine unmittelbar, bloß Sekundenbruchteile zurückliegende), endet mit der Anhaftung am Gewollten auch die an der Zukunft und der Vergangenheit. So erfährst du, obwohl du dich weiterhin in die Zukunft richtest und aus der Vergangenheit schöpfst, eine neue Qualität der Gegenwart. Nichts ist falsch am Jetzt. Du hältst inne und kontemplierst den Moment, der im Großen immer schon und im Kleinen durch deinen sich im Denken, Handeln und Funktionieren deines Organismus ausdrückenden Willen vollendet ist. Du wirst dann nicht mehr das Leben überspringen und nicht mehr um jeden Preis eine Zukunft fordern. Aus Zukunftssucht wird Zukunftsfreude. Aus umfeldblindem Fixieren wird gelassenes Anvisieren. Ebenso wenig schreitest du rückwärts in die Vergangenheit, du wünschst dir keine Zeitmaschine mehr, um dich an einen früheren Punkt zu versetzen und alles anders zu machen.