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Selflove? Warum? Wenn jeder nur an sich denkt, ist an niemanden gedacht. Wir müssen das individuelle Wohl wieder stärker in Beziehung zum Wohl der Allgemeinheit setzen und Armut, Glück, Klimakrise und Demokratie mehr denn je zu politischen Kampfzonen erklären. Für ein gutes Leben für alle. Jean-Philippe Kindler ist auf der Suche nach neuen gesellschaftlichen Konzepten. Er geht mit sich, seiner Generation und den Linken genauso hart ins Gericht wie mit den Konservativen und dem Kapitalismus – ein wütendes, inspirierendes, langersehntes Buch. «Auf den ersten Blick scheinen junge Menschen ungemein politisch zu sein. Sie sind sprachsensibel, sie sind rassismuskritisch, sie geben bußfertig Beichte über ihre unverdienten Privilegien ab. Sie sind laut Tinder-Biografie äußerst empathisch und kennen ihren Persönlichkeitstyp, sie ernähren sich vegan und verzichten aufs Fliegen ... Jene Konzepte individueller Glücksmaximierung scheinen aber nur auf den ersten Blick ein kulturelles Gegenprogramm zur neoliberalen Anforderung der Selbstoptimierung zu sein. Denn auch in den unzähligen Aufforderungen sich selbst und den unperfekten Körper zu lieben, seine Mitmenschen korrekt und sprachsensibel anzusprechen, sich nachhaltig und emissionsarm zu verhalten, blitzt die Obsession mit dem eigenen Selbst ganz deutlich auf.» Jean-Philippe Kindler
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Seitenzahl: 126
Jean-Philippe Kindler
Eine neue Kapitalismuskritik
Selflove? Warum? Wenn jeder nur an sich denkt, ist an niemanden gedacht. Wir müssen das individuelle Wohl wieder stärker in Beziehung zum Wohl der Allgemeinheit setzen und Armut, Glück, die Klimakrise und unsere Demokratie mehr denn je zu politischen Kampfzonen erklären. Für ein gutes Leben für alle und nicht nur für eine kleine reiche Clique. Jean-Philippe Kindler ist auf der Suche nach neuen gesellschaftlichen Konzepten. Er geht mit sich, seiner Generation und den Linken genauso hart ins Gericht wie mit den Konservativen und dem Kapitalismus – ein wütendes, inspirierendes, langersehntes Buch.
«Auf den ersten Blick scheinen junge Menschen ungemein politisch zu sein. Sie sind sprachsensibel, sie sind rassismuskritisch, sie geben bußfertig Beichte über ihre unverdienten Privilegien ab. Sie sind laut Tinder-Biografie äußerst empathisch und kennen ihren Persönlichkeitstyp, sie ernähren sich vegan und verzichten aufs Fliegen … Jene Konzepte individueller Glücksmaximierung scheinen aber nur auf den ersten Blick ein kulturelles Gegenprogramm zur neoliberalen Anforderung der Selbstoptimierung zu sein. Denn auch in den unzähligen Aufforderungen, sich selbst und den unperfekten Körper zu lieben, seine Mitmenschen korrekt und sprachsensibel anzusprechen, sich nachhaltig und emissionsarm zu verhalten, blitzt die Obsession mit dem eigenen Selbst ganz deutlich auf.» Jean-Philippe Kindler
Jean-Philippe Kindler, geboren 1996 in Duisburg, ist Satiriker und Moderator. Für seine Bühnenprogramme erhielt Kindler viele Auszeichnungen, u. a. den Prix Pantheon und den Deutschen Kabarettpreis. Kaum jemand schafft es so wie er, das Politische scharf, humorvoll und zugleich berührend darzustellen. Der Autor sorgt auf Instagram unter @jeanphilippekindler immer wieder für erregte Gemüter. Aktuell tourt er mit seinem Bühnenprogramm «Klassentreffen» durch Deutschland.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung zero-media.net, München
ISBN 978-3-644-01798-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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www.rowohlt.de
Widmung
Motto
Einleitung
Kapitel 1 Armut repolitisieren!
Kapitel 2 Glück repolitisieren!
Kapitel 3 Klimakrise repolitisieren!
Kapitel 4 Demokratie repolitisieren!
Kapitel 5 Linkssein repolitisieren!
Kapitel 6 Das gute Leben repolitisieren!
Danksagung
Für E.
«Es ist unmöglich, sich Stalinismus oder Faschismus ohne Propaganda vorzustellen – aber der Kapitalismus kann sehr gut, sogar weitaus besser, einfach immer weitermachen, ohne dass jemand für ihn Partei ergreift.»
Mark Fisher
Wenn man in politischen Kontexten das Recht auf ein gutes Leben für alle fordert, wird man für diesen Utopismus gerne freundlich belächelt. Als «linke Soziallyrik» werden solche Programme bezeichnet, gar als «Wunschzettelpolitik». Die konservative Diffamierung einer Politik des guten Lebens als naiv bis dümmlich, stets verbunden mit dem Verweis auf eine in Wahrheit ja viel kompliziertere Realität, trägt Früchte: Linke sind sehr gut darin zu sagen, was sie schlecht finden, und trauen sich kaum mehr zu sagen, was sie gut finden, wofür sie streiten und was sie erkämpfen wollen. Es ist diese utopische Verlegenheit, die es Konservativen und Neoliberalen so einfach macht, linke Konzepte, die auf die Maximierung des Gemeinwohls zielen, rhetorisch abzuwerten und ins Reich ideologischer Phantasmen zu verbannen. Eine klassische Diskursschablone ist dabei der Verweis auf die vermeintliche «Alternativlosigkeit» kapitalistischer Produktions- und Gesellschaftsverhältnisse. Ich erlebe dies bereits sehr häufig auf Podiumsdiskussionen, wenn meine Kritik an kapitalistischen Produktionsverhältnissen damit gekontert wird, dass mein Gegenüber fragt: «Und was ist die Alternative? Sozialismus? Da wissen wir doch, dass das nicht funktioniert!» Auf diese Weise werden kapitalistische Verhältnisse im öffentlichen politischen Diskurs naturalisiert, der gesellschaftliche Konsens ist der folgende: «Ja, der Kapitalismus hat seine Tücken, aber das System ist immer noch das Beste, was wir haben.» Nicht zufällig erinnert diese Rhetorik an Winston Churchills legendären Satz: «Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von all den anderen.» Der Kontext, in dem Churchill diesen Satz sagte, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Er benutzte diese Formulierung zu einer Zeit, in der die Nationalsozialisten auf europäischem Territorium Millionen von Menschen industriell ermordeten und die Demokratie als Regierungsform zum Bollwerk gegen faschistoide Bewegungen aufgebaut wurde. Dennoch zeigt sich auch an der häufig reproduzierten Aussage Churchills, dass gemeinhin angenommen wird, dass Demokratie und Kapitalismus zwar nicht immer optimal sind, aber eben alternativlos. Und das ist nicht etwa das gemeinsame Credo der konservativ-bürgerlichen Mitte, auch viele Linke scheinen sich mit der Alternativlosigkeit einer marktwirtschaftlich organisierten, liberalen Demokratie längst abgefunden zu haben und üben sich in tarifpartnerschaftlicher Schadensbegrenzung. In den allermeisten öffentlich ausgetragenen linken Diskursen geht es im Kern um kosmetische Forderungen: Hier ein paar Prozent mehr Gehalt, dort eine Frauenquote für Großkonzerne. Vielen Akteurinnen scheint es bloß mehr ein Anliegen zu sein, ihren alternativlosen Kapitalismus möglichst diskriminierungsfrei zu gestalten. Radikale Ideen, die das Allgemeinwohl betreffen, stehen immer im Verdacht, träumerisch, zynisch oder gar pervers zu sein. Denn auf die Revolution des Proletariats, sagen sie, könne man ja lange warten und zudem würde der deutschen Bevölkerung linke Politik stets als fundamentale Bedrohung der demokratischen Ordnung verkauft. Würden wir es so machen, wie Linke es wollen, dann würden wir unsere Wirtschaft zerstören und umgehend in der DDR landen. Statt des großen Wurfs sollte man also eher für die kleinen Veränderungen kämpfen, die für die Menschen im Alltag eine konkrete, sofortige Verbesserung ihrer Lebenslage bedeuten. Ersetzt werden also kollektivistische, ideologiekritische Ideen oftmals von Politikkonzepten, die am Glück des Einzelnen ansetzen: In der Gesellschaft der Singularitäten[1] sind diejenigen Ideen telegen und instagramabel, die das Individuum betreffen: Wie bekomme ich mein Burn-out weggeatmet? Wie möchte ich angesprochen werden? Dürfen Weiße Dreadlocks tragen? Habe ich ADHS? Ist meine Ex-Freundin eine pathologische Narzisstin? Bin ich Rassist, wenn ich kein schwarzes Quadrat auf Instagram teile? Ich will diese Selbstbefragungen vornehmlich junger Menschennicht pauschal abwerten oder polemisieren. Identitätspolitische Fragestellungen transportieren wichtige politische Anliegen, und dieses Buch versteht sich nicht als Beitrag zu einem zynischen «Anti-Wokism»[2], der auch innerhalb der Linken immer beliebter zu werden scheint. Es ist für mich nur eine bemerkenswerte Gegebenheit linksliberaler Diskurse, dass es eine bis ins ärgste Detail ausgefeilte Vorstellung davon gibt, wie das gute Leben des Einzelnen auszusehen hat, und zeitgleich eine so große Lücke klafft, wenn es um Konzeptionen kollektiver Allgemeinwohlmaximierung geht. Selbst Linke haben jegliches Interesse am «Wir» verloren, vielleicht auch, weil einem solchen «Wir» von vielen Akteurinnen nicht zu Unrecht misstraut wird. So ist doch mit dem bürgerlichen «Wir», welches so häufig in politischen Reden beschworen wird, zumeist die Mehrheitsgesellschaft gemeint, nicht aber diejenigen, von denen man verlangt, sich an das, was manche «Deutschsein» nennen, bedingungslos anzupassen. «Deutschsein», das bedeutet hier das Gemeinsamkeitsangebot, trotz aller Unterschiede ein und derselben Nation anzugehören, die damit verbundenen kulturellen Werte zu teilen und von denen, die Teil dieser Nation werden wollen, zu verlangen, ebenjene Wert- und Kulturvorstellung ebenso bedingungslos zu teilen. In konservativen Kreisen nennt man eine solche Anforderung an Migrantinnen gerne «Integration», wobei dieser Begriff etwas andeutet, was nicht ist, nämlich eine Form des Heimischwerdens durch Begegnung, durch ein Aufeinanderzugehen. Mit Integration ist dann doch aber in den allermeisten Fällen eigentlich eine Anpassungsanforderung gemeint, besser bekannt als «Assimilation». Skepsis gegenüber dem «Wir» ist demnach angebracht, vor allem in einem Land, in dem die Konstitution eines «Wir» in der Vergangenheit stets ein zu bekämpfendes «Ihr» hervorgebracht hat. An dieser Stelle zeigt sich schon das Tückische einer Politik der Identität: Es gibt kein Gemeinsamkeitsangebot ohne Abgrenzungsaufforderung.
Und dennoch möchte sich dieses Buch für die Konzeption eines guten Lebens für alle starkmachen. Mir ist die Schwierigkeit dieses Vorhabens durchaus bewusst, denn es ist äußerst schwierig, innerhalb linker Grabenkämpfe gemeinsame Nenner herauszuarbeiten und Gemeinsamkeitsangebote zu entwickeln, die nicht zugleich darauf setzen, sich von anderen so radikal wie möglich abzugrenzen. Ich bin trotzdem der vollen Überzeugung, dass es sie gibt. Es sei nur so viel gesagt: Diese gemeinsamen Nenner zum obersten Ziel emanzipativer Kritik zu machen, aus der im Idealfall ein neuer Mut zu einer linken politischen Utopie entsteht, wird dem einen oder anderen ein erhebliches Maß an Kompromissbereitschaft abverlangen und fordert ganz unverwandt dazu auf, von den eigenen politischen Befindlichkeiten zumindest ein wenig Abstand zu nehmen. Der britische Philosoph Anthony Appiah bezeichnet in seinem Buch «Identitäten – Die Fiktionen der Zugehörigkeit» ebenjene Identität des Menschen als «notwendige Lüge»: Anhand der Zugehörigkeit zu einer Nation, Religion oder auch Schicksals- und Betroffenengemeinschaft täuschen Menschen über den Fakt hinweg, dass sie sich unterscheiden, vor allem um auszurufen: «Aber in diesem Punkt sind wir gleich!» Das ist die Stärke der Identitätspolitik. Dieses Buch möchte sich nicht im Grundsatz gegen ebenjene stellen, sondern bloß darauf hindeuten, dass für die Linke ein Gemeinsamkeitsangebot wieder wichtiger werden muss, weil es die allermeisten Menschen eint: Es ist die Zugehörigkeit zu einer Klasse, die nichts besitzt außer der eigenen Arbeitskraft, die man gegen Lohn eintauscht.
Margaret Thatcher, ehemalige Premierministerin Großbritanniens, die aus meiner Sicht einflussreichste neoliberale Politikerin weltweit, sagte einst einige bemerkenswerte Sätze:
«They are casting their problems at society. And, you know, there’s no such thing as society. There are individual men and women and there are families. And no government can do anything except through people, and people must look after themselves first. It is our duty to look after ourselves and then, also, to look after our neighbours.»[3]
Thatcher sagt es hier deutlich: So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Es gibt Männer und Frauen, es gibt Familien. Das ist ein absoluter Grundpfeiler neoliberaler Ideologie. Es gibt eben nur den Einzelnen und wir können als Staat nur aktiv werden, wenn sich der Einzelne in erster Linie selbst fragt: Wie bin ich in diese Misere reingeraten? Warum geht es mir schlecht? Warum habe ich keine Wohnung? Warum habe ich keine Altersvorsorge? Warum werde ich diskriminiert? Das Stichwort hierfür lautet: «Entpolitisierung», oder alternativ: «Antipolitik». Thatcher sowie alle weiteren neoliberalen Denkerinnen und Denker nach und vor ihr bemühen immer wieder die Erzählung individueller «Eigenverantwortung». Gesellschaft wird so schlicht und ergreifend zur Summe der Individuen, die sich qua des Mottos: «Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht» zu organisieren haben. Es ist hinlänglich bekannt, dass neoliberale Politikerinnen auf diese Weise über Gesellschaft nachdenken, es geht ihnen explizit um die Verknappung politischer Handlungsspielräume. Wenn Menschen in der politischen Öffentlichkeit immer wieder für unregulierte Märkte, niedrige Steuern und unternehmerische Freiheit plädieren, so haben wir es mit Akteuren zu tun, die in die Politik gehen, um Politik zu verhindern. So weit, so linker Konsens. Da möchte ich allerdings nicht stehen bleiben. Ich behaupte, dass Thatchers Gesellschaft der Gesellschaftslosen auch im postmodernen linksliberalen Diskurs eine unhinterfragte Verankerung gefunden hat. Die Thatcher’sche Kaltherzigkeit wird dabei in den Argumentationen durch einen «empfindsamen Individualismus» ersetzt. So ist es zur moralischen Tugend vieler junger Menschen geworden, sich von «toxischen Personen» abzugrenzen, aufwendige, oftmals durchaus konsumtive «Selfcare» zu betreiben und der Fetischisierung des eigenen Selbst zu frönen. Wir nennen es «Selflove». Alles, was mich verunsichert, was mich herausfordert, was mich kritisiert, was mir, laut eigener Definition, Unrecht oder Leid antut, kann und sollte ich ohne jede Begründung ein für alle Mal aus meinem Leben verbannen, denn mein Recht auf Glück steht über dem Bedürfnis meines Gegenübers, angehört zu werden. Auch diese imaginierte Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Gesellschaftslosen, auch hier ist an jeden gedacht, wenn jeder in erster Linie an sich selbst denkt. Das durchpsychologisierte Leben wird so zum Medium grotesker Selbstverwirklichungsfantasie: Wer ist mir auf dem Weg zu meinem wahren Selbst von Nutzen und wer nicht? Welchen simplen moralischen Allgemeinplatz kann ich in pastellfarbenen Instagrambeiträgen wiederkäuen, damit meiner Peergroup die Gewissheit vermittelt wird, dass ich einer der Guten bin?
Auf den ersten Blick scheinen junge Menschen ungemein politisch zu sein. Sie sind sprachsensibel, sie sind rassismuskritisch, sie geben bußfertig Beichte über ihre unverdienten Privilegien ab. Sie sind laut Tinder-Biografie äußerst empathisch und kennen ihren Persönlichkeitstyp, sie ernähren sich vegan und verzichten aufs Fliegen, sie sind also im Allgemeinen gesprochen stets bemüht, das zu überwinden, was der Soziologe Hartmut Rosa als «Agressionsverhältnis zu Natur und Mensch» bezeichnen würde.[4]
Nun scheinen ebenjene Konzepte individueller Glücksmaximierung aber nur auf den ersten Blick ein kulturelles Gegenprogramm zur neoliberalen Anforderung der Selbstoptimierung zu sein. Denn auch in den unzähligen Aufforderungen, sich selbst und den unperfekten Körper zu lieben, seine Mitmenschen korrekt und sprachsensibel anzusprechen, sich nachhaltig und emissionsarm zu verhalten, blitzt die Obsession mit dem eigenen Selbst ganz deutlich auf. Nie wird das Wohl des Einzelnen in Beziehung gesetzt zum Wohl der Allgemeinheit. Es mangelt eklatant an ökonomischer Analyse. Dass Rassismus und Sexismus nicht bloß Phänomene sind, die sich ausschließlich zwischen Rassistinnen und Rassifizierten oder Sexistinnen und Objektifizierten abspielen, sondern eine materielle Grundlage haben, scheint die allermeisten Linken nicht mehr zu interessieren. Macht man sich gewahr, dass es vornehmlich Menschen mit Migrationshintergrund sind, die auf deutschen Spargelfeldern und in den Fleischfabriken zu menschenverachtenden Konditionen arbeiten, so wird einem überdeutlich, dass kapitalistische Produktionsverhältnisse Sektoren schaffen, in denen Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts überausgebeutet werden. Der Irrglaube, dass Diskriminierung dadurch abgeschafft werden kann, wenn der Einzelne geläutert wird und in quasireligiöser Weise eine Selbstreinigung vom internalisierten Weiß-Sein betreibt, kollidiert mit der Erkenntnis, dass Menschen mit Migrationshintergrund ein mehr als doppelt so hohes Armutsrisiko haben als die restliche Bevölkerung.[5] Ein Konzernchef kann durchaus und sogar sehr gut um seine Privilegien Bescheid wissen, und dennoch bleibt er Konzernchef. Forderungen nach Diversität und Repräsentation ergeben dennoch durchaus Sinn, weil sie