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Die Schematherapie ist ein Standardverfahren in der Behandlung von Persönlichkeitsstörungen und eine der wichtigsten Entwicklungen der Verhaltenstherapie der letzten 20 Jahre. Erst durch die Integration der kontextuellen Perspektive der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) wird die Schematherapie jedoch zu einem modernen Verfahren der 3. Welle der VT, das behavioristische, tiefenpsychologische, humanistische und achtsamkeits-/akzeptanzbasierte Techniken sinnvoll und vor dem Hintergrund neurobiologisch fundierter Prinzipien verbindet. Dieses Buch wurde als praktischer Leitfaden für die psychotherapeutische Arbeit konzipiert und bietet neben theoretischen und technischen Grundlagen einen "Navigationsplan" mit klarer Behandlungsstruktur: von der Diagnostik bis zur Rückfallprophylaxe. Auf die unterschiedlichen Phasen der Behandlung bezogen werden Therapieziele und -foki, konkretes Vorgehen, spezifische Techniken sowie die Art der Beziehungsgestaltung dargestellt. 50 ausführliche "Schritt für Schritt"-Übungsanleitungen, zahlreiche Fallbeispiele, Abbildungen und Demonstrationsfotos vermitteln ein anschauliches Bild der Praxis der Schematherapie.
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Seitenzahl: 400
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Der Autor Matias Valente
Psychologiestudium (1997–2002) an der Universidad del Salvador (Buenos Aires), Promotion zum Doktor der Humanwissenschaften (Dr. sc. hum.) an der Medizinischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (2009–2015). Ausbildung zum Psychologischen Psychotherapeuten am SZVT Stuttgart, Fachrichtung Verhaltenstherapie bei Erwachsenen und in Gruppen (2004–2009). Approbation 2010. Ausbildung in Schematherapie am IST-Frankfurt (2007–2011). 2011 Zertifizierung als Trainer und Supervisor für Schematherapie, 2017 Zertifizierung als Trainer und Supervisor für Schematherapie mit Paaren (Internationale Gesellschaft für Schematherapie ISST). Dozent und Supervisor für Verhaltenstherapie (Landespsychotherapeutenkammer BaWü). Weiterbildungen in Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), Akzeptanz- & Commitment-Therapie (ACT), Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT).
Von 2005 bis 2019 in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums am Weissenhof in Weinsberg tätig, darunter langjährig als leitender Psychologe. Aufbau des dortigen Schematherapie-Behandlungsprograms für Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. Seit 2010 in eigener Praxis für Verhaltenstherapie niedergelassen (seit 2019 im vollen Umfang mit Kassenzulassung).
Seit 2014 Co-Leitung des Instituts für Schematherapie Stuttgart gemeinsam mit Yvonne Reusch. 2020 Co-Gründung der ersten Deutschen Online-Akademie für Schematherapie.
Zahlreiche Publikationen zu Persönlichkeitsstörungen und Schematherapie.
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-038740-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-038741-6
epub: ISBN 978-3-17-038742-3
Zugegeben: Es gibt schon eine ganze Reihe von Büchern zur Schematherapie. Was soll ich jetzt noch in ein Geleitwort für ein weiteres Buch zu diesem Thema schreiben? Zumal es sich noch nicht einmal mit einer bestimmten Thematik bzw. einem speziellen Störungsbild befasst! Und – Hand aufs Herz: Auch in diesen Büchern steht mehr oder weniger immer dasselbe drin, nicht wahr?
Bei einer genaueren Betrachtung ist das aber keine Überraschung, sondern liegt in der Natur der Sache, denn die Schematherapie ist konzipiert als ein Diagnosenübergreifender Ansatz. Entsprechend erfolgt die Anwendung des Modells und der Beziehungsgestaltung immer in ähnlicher Weise, wobei die Techniken den jeweiligen Symptomen angepasst werden. Die eigentlichen störungsspezifischen Interventionen sind und bleiben die Domäne der Verhaltenstherapie. Wir verstehen die Schematherapie in diesem Sinne als eine Erweiterung der Verhaltenstherapie, um schwierigen interaktionellen Verhaltensmustern der Behandelten besser begegnen zu können. Die Interaktion im Therapieraum ist dabei gewissermaßen die Blaupause für die Interaktionsmuster der Behandelten in anderen Kontexten. Das ist ja gerade die Idee der Schemata, dass diese sich sozusagen in alle aktuellen Interaktionen unerkannt »hineinschieben«. Diese maladaptiven Interaktionsmuster sollen sich in der Therapie inszenieren können und dadurch bearbeitbar werden.
Ein Schwerpunkt des Buchs, das Sie gerade in der Hand halten (oder auf Ihrem Bildschirm sehen) sind daher eine große Anzahl von Übungen, mit deren Hilfe ein Verständnis der Interaktionsmuster gewonnen und dasselbe dann ggf. modifiziert werden kann, damit die Behandelten eine »korrigierende emotionale Erfahrung« in der Therapie machen können. Auch in Schematherapien wird noch zu viel »über die Dinge geredet«. Mit den 50 Übungen, die in diesem Praxisbuch enthalten sind, können Sie das ändern! Die Stärke der Schematherapie liegt gerade in diesen erlebnisaktivierenden Übungen. Diese verbinden die Erlebenstiefe der Gestalttherapie mit einem Orientierung gebenden (Störungs-)Modell, wie wir es aus der Verhaltenstherapie kennen. Gerade diese Verbindung macht die Stärke der Schematherapie aus! In diesem Buch finden Sie die Übungen dazu.
Neben der Emotionsfokussierung erweitert das Buch den Blickwinkel der Therapierenden in Richtung auf eine kontextuelle Perspektive. Man kann die Funktion des gesunden Erwachsenenmodus eigentlich nur differenziert verstehen, wenn man sich mit den funktionalen Prozessen der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) vertraut gemacht hat – ob die nun so expliziert werden oder nicht. Der Autor ist in dieser Methode ausgebildet und sie fließt organisch in dieses Buch ein. Und das ist wirklich neu – zumindest in dieser Intensität und Praxisnähe. Hier zeigt sich das kreative und integrative Potenzial der Schematherapie, die einen hervorragenden Bezugsrahmen zur konzeptuellen Integration sehr verschiedener Techniken und Perspektiven schafft. In der Sprache der Computerwelt ist sie sozusagen das »Linux« der Betriebssysteme: Sie ist transparent, vom Grundkonzept her leicht zugänglich und verständlich und so offen, dass sie mühelos anschlussfähig ist an andere Konzepte und Techniken. Dadurch kann das grundlegende Modell der Schematherapie immer besser an die verschiedenen Erscheinungsformen von sogenannten Persönlichkeitsstörungen und deren unterschiedliche symptomatische Ausdrucksformen angepasst werden.
Dabei bleibt das Modell aber immer übersichtlich. Denn auch das ist ein besonderes Merkmal dieses Buchs: Es baut nicht auf einer zunehmend kleinteiliger werdenden Systematik aller möglicher Modi auf, sondern es arbeitet mit einem grundlegenden dimensionalen Modell. Damit greift es bereits den immer populärer werdenden Ansatz des »alternativen Modells« des DSM-5 auf. Auch das in der Schematherapiewelt nicht selbstverständlich, sondern innovativ.
Und noch etwas ist wichtig: Die Integration der Akzeptanz- und Commitment-Therapieperspektive beschränkt sich nicht nur auf die Einbeziehung der funktionalen Prozesse. Auch die Akzeptanz-orientierte Grundhaltung wird integriert. Sie ist – besonders in der zweiten Hälfte der Therapie – ein wichtiger Ausgleich der veränderungsorientierten Nachbeelterungshaltung und stellt eine sanfte Art der empathischen Konfrontation dar. Bekanntlich neigen Schematherapierende stark zur Nachbeelterung. Aber bei vielen Behandelten sind (aus inneren oder äußeren Gründen) die Ressourcen zur Veränderung begrenzt. Dieser Begrenzung müssen wir wohlwollend begegnen können. Dabei ist Akzeptanz und die Einnahme einer Haltung der sogenannten »kreativen Hoffnungslosigkeit« eine wichtige Erweiterung unseres therapeutischen Repertoires im Sinne von Marsha Linehans Modell der dialektischen Wippe zwischen Veränderung und Akzeptanz. Damit wird Schematherapie zu einer wirklichen Therapie der sogenannten »dritten Welle« der Verhaltenstherapie, ohne ihre Emotionsfokussierung zu verlieren. Die therapeutische Beziehungsgestaltung wird nur noch flexibler und »breiter« in der Anwendung, gerade bei den »schwierigen Fällen«. Viele dieser Chronifizierten haben über die Jahre einen »Therapieroutine-Modus« entwickelt, in den sie sich in der Therapie zurückziehen. Um mit diesen Menschen auch in Phasen der Stagnation effektiv weiter arbeiten zu können, bietet der Fundus der in diesem Buch enthaltenen Übungen ein schier unerschöpfliches Repertoire.
Sie sehen, es gibt doch einige gute Gründe, warum dieses Buch geschrieben wurde – und ich habe gerne dieses Geleitwort beigesteuert. Nun wünsche ich Ihnen viel Freude beim Lesen. Vielleicht überträgt sich die Begeisterung des Autors etwas auf Sie. Und vor allem: Probieren Sie die Übungen wirklich aus! Mit den konkreten Anleitungen in diesem Buch ist das gar nicht so schwer. Außerdem gibt es ja auch noch die Videos dazu, auf die der Autor im Laufe des Buches immer wieder hinweist. Viel Erfolg dabei!
Eckhard Roediger
Frankfurt, im Juni 2021
Als mein Kollege und Freund Dr. Matias Valente mir über sein Buchprojekt »Schematherapie: Ein Leitfaden für die Praxis« erzählte, freute ich mich sehr. Daraus resultierte ein ausführliches Werk, das auf wunderschöner und sehr praktischer Art und Weise die Anwendung der evidenzbasierten Schematherapie nach Dr. Jeffrey Young für die Arbeit mit sehr komplexen und herausfordernden Patienten in der Psychotherapie darstellt.
Dr. Valente führt den Leser sehr bedacht in Richtung eines tiefen Verständnisses der Schematheorie und zeigt die konkrete Anwendung diagnostischer Instrumente und strategischer Interventionen. Er vermittelt uns systematisch eine sorgfältige Betrachtung des Narrativen des Patienten unter Berücksichtigung von dessen unbefriedigten emotionalen Grundbedürfnissen, Beziehungstraumata und lebenslangen Lebensfallen, welche vor uns im Behandlungszimmer ans Licht kommen. Dem Autor gelingt es, zahlreiche Techniken und Strategien sehr lebendig in die Schematherapie zu integrieren, und zeigt dem Leser die Wichtigkeit eines integrativen Vorgehens, um sehr früh erworbene dysfunktionale Erlebnismuster unserer Patienten effektiv zu korrigieren, neu zu organisieren und letztendlich zu heilen.
Das vorliegende Buch bietet dem Behandler einen sehr anwenderfreundlichen und gut zugänglichen Wegweiser für die Arbeit mit Persönlichkeitsstörungen und anhaltenden destabilisierenden klinischen Symptomen. Dr. Valente ist nicht nur ein sehr talentierter Kliniker und Psychotherapeut, sondern auch ein Experte der Schematherapie und ein erfahrener Trainer und Supervisor. Er zeigt uns, wie effektiv die Kombination aus einer sicheren nachbeelternden Beziehung, einer gut formulierten Fallkonzeptualisierung mit entsprechenden Veränderungszielen sowie der strategisch-zielgerichteten Anwendung zahlreicher Techniken zur Reduktion dysfunktionaler Schemaaktivierungen, intensiver Emotionsregulationsstörungen und verinnerlichter selbstkritischer »Botschaften« führen kann. Pathologische kognitiv-emotionale Muster und Bewältigungsreaktionen werden dann allmählich durch gesunde und adaptivere ersetzt.
Ich fühle mich geehrt und möchte meine Unterstützung und meine Begeisterung für dieses Buch zum Ausdruck bringen, das eine Bereicherung für jeden klinisch Tätigen darstellt.
Wendy T. Behary
New York, im Mai 2021
Geleitworte
Bevor wir beginnen …
Der Kampf der Titanen
Das SORK-Schema als Rückkoppelungsmodell der Verhaltenssteuerung
Interpersonelle Rückkoppelungskreise: »SORK im Kontext«
Warum Schematherapie?
Der Aufbau dieses Buches und die praktische Anwendung
Teil I: Theoretische Grundlagen
1 Emotionale Grundbedürfnisse
1.1 Die dimensionale Perspektive: Bindung und Selbstbehauptung
1.1.1 Wieso eine dimensionale Perspektive?
1.1.2 Wie interagieren Bindung und Selbstbehauptung?
1.2 Emotionale Grundbedürfnisse sind keine konkreten Wünsche
1.3 Fazit
2 Emotionsgeneration und -regulation
2.1 Basisemotionen
2.2 Neurobiologische Grundlagen
2.2.1 Komplexe neuronale Netzwerke (»large scale brain networks«)
2.3 Akzeptanz als Emotionsregulationsstrategie
3 Das Schemakonzept
3.1 Die Lerntheorie der Schemaentstehung
3.2 Frühe maladaptive Schemata
3.2.1 Emotionale Entbehrung
3.2.2 Verlassenheit und Instabilität
3.2.3 Misstrauen und Missbrauch
3.2.4 Unzulänglichkeit und Scham
3.2.5 Soziale Isolation und Entfremdung
3.2.6 Abhängigkeit und Inkompetenz
3.2.7 Verletzbarkeit
3.2.8 Verstrickung und Unentwickeltes Selbst
3.2.9 Versagen/Erfolglosigkeit
3.2.10 Anspruchshaltung/Grandiosität
3.2.11 Unzureichende Selbstkontrolle
3.2.12 Unterordnung/Unterwerfung
3.2.13 Selbstaufopferung
3.2.14 Streben nach Zustimmung und Anerkennung
3.2.15 Emotionale Gehemmtheit
3.2.16 Überhöhte Standards
3.2.17 Negatives Hervorheben
3.2.18 Strafneigung
3.3 Schemata als »O-Variable« in der SORK-Analyse
3.4 Unkonditionale und konditionale Schemata
3.5 Schema-Bewältigungsoperationen
3.5.1 Das Problem mit dem Konzept von Bewältigungsstilen
3.6 Relevanz des Schemamodells in der klinischen Praxis
4 Das Modusmodell
4.1 Das Modusmodell in der »gesunden Persönlichkeit«
4.2 Kindmodi
4.2.1 Verletzbares Kind
4.2.2 Ärgerliches/wütendes Kind
4.2.3 Undiszipliniertes und impulsives Kind
4.2.4 Glückliches Kind
4.3 Kritische Modi (früher »Elternmodi«)
4.3.1 Reale Eltern und die Entstehung kritischer Modi
4.3.2 Fordernder Modus (»Antreiber«, früher »Fordernder Elternmodus«)
4.3.3 Strafender Modus (»Kritiker/Bestrafer«, früher »Strafender Elternmodus«)
4.4 Bewältigungsmodi
4.4.1 Unterwerfung (Folgen)
4.4.2 Vermeidung (Erstarren, passive Vermeidung und aktive Flucht)
4.4.3 Überkompensation (Kämpfen/Dominieren)
4.5 Der integrative Modus des gesunden Erwachsenen
4.5.1 Der Erwachsenenmodus als Beobachter
4.5.2 Die aktive Rolle des Erwachsenenmodus
5 Kontextuelle Schematherapie und die 3. Welle der Verhaltenstherapie
5.1 Schemamodi in der SORK-Analyse
5.2 Das dimensionale Verständnis des Modusmodells
5.2.1 Internalisierende Dynamik
5.2.2 Externalisierende Dynamiken
5.3 Das Modell der Acceptance and Commitment Therapy (ACT)
5.4 Der Erwachsenenmodus aus einer kontextuellen Perspektive
Teil II: Behandlungsgrundlagen und spezifische Techniken
6 Behandlungsziele
6.1 Allgemeine Behandlungsziele entlang der SORK-Analyse
6.1.1 Stimulus
6.1.2 Organismus
6.1.3 Emotionale Reaktion
6.1.4 Kognitive Reaktion
6.1.5 Sichtbare Handlungen
6.1.6 Konsequenzen
6.2 Das Behandlungsrational der Schematherapie
6.3 Störungsspezifizität und prozessorientiert-transdiagnostisches Vorgehen
6.4 Grundsätzliche »modusbezogene« Therapieziele
6.4.1 Reduktion dysfunktionaler Bewältigung
6.4.2 Entmachtung kritischer Modi
6.4.3 Selbstfürsorglicher Umgang mit Kindmodi
6.4.4 Stärkung des gesunden Erwachsenen
7 Therapeutische Beziehung
7.1 Begrenzte elterliche Fürsorge
7.2 Empathische Konfrontation
7.3 Die Balance zwischen Bindung und Selbstbehauptung in der therapeutischen Beziehung
8 Übungen in der Schematherapie
8.1 Interventionsspektrum
9 Imaginationstechniken
9.1 Praktische Empfehlungen
9.1.1 Die besondere Sprache der Imagination
9.1.2 Sitzposition
9.1.3 Perspektiven in der Imaginationsarbeit
9.2 Gezielte emotionale Aktivierung
9.3 Stabilisierung und Ressourcenaktivierung
9.4 Imaginatives Überschreiben (imagery rescripting)
9.5 Imaginative Modus-Arbeit und Training des GE-Modus
10 Übungen mit Stühlen
10.1 Ziele der Arbeit mit Stühlen
10.2 Praktische Empfehlungen
10.2.1 Die besondere Sprache der Modus-Dialoge
10.2.2 Emotionale Validierung: »Ich verstehe dich« vs. »Ich sehe dich«
10.2.3 Arbeit mit Symbolen, Modus-Karten und echten Fotos
10.3 Zwei-Stühle-Technik
10.4 Komplexe Übungen mit drei und mehr Stühlen
11 ACT-Strategien und das Training des Erwachsenenmodus
11.1 Der Erwachsenenmodus als Beobachter
11.1.1 Achtsamkeit für das Hier und Jetzt: Gegenwärtigkeit
11.1.2 Die Metaebene: Selbst-als-Kontext
11.2 Der Erwachsenenmodus und die Freiheit von innerer aversiver Kontrolle
11.2.1 Emotionale Akzeptanz
11.2.2 Kognitive Defusion
11.3 Der Erwachsenenmodus und tatkräftiges Handeln
11.3.1 Übungen zu Werteklärung
11.3.2 Engagiertes Handeln und Commitment
12 Verwendung von Arbeitsblättern, kognitive Interventionen und behaviouristische Techniken
12.1 Selbstbeobachtungsprotokolle
12.2 Spezifische Arbeitsblätter
12.3 Klassische kognitive Umstrukturierungstechniken
12.4 Verhaltensbezogene Interventionen
Teil III: Leitfaden für die Praxis
13 Behandlungsstruktur
13.1 Ist eine Stabilisierungsphase notwendig?
13.2 Flexibilität bei geringerem Störungsgrad
14 Kombinierte Behandlung von Persönlichkeits- und Achse-I-Störungen
15 Konkretes Vorgehen und Sitzungsaufbau
15.1 Inhalts- und Prozessebene
15.2 Emotionale Aktivierung und Toleranzfenster
15.2.1 Herunterregulation bei Übererregung
15.2.2 Aktivierung bei Untererregung
15.3 Komplementäre Beziehungsgestaltung
15.4 Audioaufnahmen während der Sitzungen
15.5 Kommunikation via E-Mail und SMS
16 Diagnostik und Fallkonzeption
16.1 Die therapeutische Haltung während der diagnostischen Phase
16.2 Psychoedukation und Vermittlung des Modells
16.2.1 Verschiedene Metaphern und das »2-Beine-Modell«
16.3 Anamnese, klinische Diagnostik und wichtigste Problembereiche (»Lebensfallen«)
16.4 Lebensgeschichte und prägende biografische Bilder
16.5 Prägende Beziehungserfahrungen
16.6 Arbeit mit spezifischen Fragebögen
16.6.1 Auswertung
16.6.2 Besprechung der Ergebnisse mit dem Patienten
16.7 Grafische Darstellung des Modusmodells
16.7.1 Deskriptive Modelle
16.7.2 Dynamische Modelle
16.8 Erstellung eines individualisierten Modusmodells mit dem Patienten
16.8.1 Fokus auf biografische Entwicklung: »Es war einmal ein kleines Kind…«
16.8.2 Fokus auf aktuelle Aktivierungen
16.9 Umgang mit Schemaaktivierungen während der diagnostischen Phase
16.10 Training spezifischer Fertigkeiten während der diagnostischen Phase
16.10.1 Aktivitätsaufbau bei reaktiver Depressivität und Rückzug
16.10.2 Stresstoleranz, Spannungsregulation und Aufmerksamkeitslenkung
16.10.3 Achtsamkeit und Akzeptanz
17 Die erste Therapiephase: Vergangenheitsbewältigung und Entwicklung von Modus-Bewusstsein
17.1 Die therapeutische Haltung während der ersten Therapiephase
18 Schemabehandlung durch Vergangenheitsbewältigung
18.1 Imaginatives Überschreiben (ImRs)
18.1.1 Sexueller Missbrauch
18.1.2 Körperliche Misshandlungen durch Familienangehörige
18.1.3 Unerbittliche Kritik und Mangel an emotionaler Unterstützung
18.1.4 Zu strenge Behandlung oder Bloßstellung durch Lehrer u. Ä.
18.1.5 Mobbing und Gewalt durch Gleichaltrige
18.1.6 Soziale Isolation und Ausschluss
18.1.7 Verlust wichtiger Menschen
18.2 Schwierige Situationen während ImRs
18.2.1 Beschützeraktivierung
18.2.2 Dissoziation
18.2.3 Schwierigkeiten bei der Konfrontation/Entmachtung
18.2.4 Schwierigkeiten bei der Tröstung
18.3 Historische Rollenspiele
18.4 Unterstützende Hausaufgaben
18.5 Abschied und Schuldgefühle
19 Klärende Modusarbeit im Hier und Jetzt und Training des GE-Modus während der ersten Therapiephase
19.1 Modusarbeit mittels Stühle-Übungen (Zwei-Stühle-Technik)
19.1.1 Stühle-Übungen mit Bewältigungsmodi
19.1.2 Stühle-Übungen mit kritischen Modi
19.1.3 Stühle-Übungen mit Kindmodi
19.2 Modusarbeit mittels Imaginationsübungen
19.2.1 Bewältigungsmodi imaginativ umgehen
19.2.2 Kritische Modi imaginativ entmachten
19.2.3 Kindmodi imaginativ wahrnehmen, ernstnehmen und trösten
19.3 Training des GE-Modus mittels ACT-Fertigkeiten
19.3.1 Kognitive Defusion bei Kritikersätzen
19.3.2 Akzeptanzübungen im Umgang mit Modusaktivierungen
19.3.3 Gezielte emotionale Akzeptanzübungen
19.4 Modusarbeit anhand von Arbeitsblättern
19.4.1 Selbstbeobachtungsprotokolle
19.4.2 Modus unter der Lupe
19.4.3 Schema-Memo
20 Training des GE-Modus im Hier und Jetzt
20.1 Therapeutische Haltung und Sitzungsgestaltung
20.2 Komplexe situationsbezogene Stühle-Übungen
20.2.1 Stühle-Übungen bei internalisierender Modusdynamik
20.2.2 Stühle-Übungen bei externalisierender Modusdynamik
20.2.3 Auflösung innerer Konflikte auf Stühlen
20.2.4 Stühle-Übung vor dem Ganzkörperspiegel
20.2.5 Förderung von Empathie bei Überkompensation
20.2.6 Training von Selbst-als-Kontext auf Stühlen
20.3 Schwierigkeiten bei komplexen Stühle-Übungen
20.3.1 Aktivierung von Bewältigungsmodi während der Arbeit auf der hinteren Bühne
20.3.2 Geringe emotionale Aktivierung auf Kindstühlen
20.3.3 Zu starke emotionale Aktivierung
20.4 Imaginationsübungen
20.4.1 ImRs während der 2. Therapiephase
20.4.2 Imaginatives GE-Training, Erprobung neuer Strategien und Modusarbeit
20.4.3 Positive Imaginationsübungen: Das Kind glücklich machen
20.4.4 Interpersonelle Balanceübungen in der Imagination
20.5 Modusarbeit während Expositionsübungen und Verhaltensexperimenten
20.6 Ermittlung von Werten und konkrete Umsetzung
20.7 Therapiethema: Partnerschaft, Sexualität und Intimität
20.7.1 Sexualität
20.7.2 Partnerlosigkeit
20.7.3 Promiskuität
20.7.4 Paargespräche
20.8 Therapiethema: Freundschaften und Familie
20.8.1 Zu wenige soziale Kontakte
20.8.2 Kontakt zur Ursprungsfamilie
20.9 Therapiethema: Freizeit, Hobbys und Selbstfürsorge
20.10 Therapiethema: Beruf
21 Behandlungsbeendigung: Von der Mikro- zurück zur Makroebene
21.1 Therapeutische Haltung während der letzten Therapiephase
21.2 Spezifische Techniken
22 Therapiephasenübergreifende schwierige Situationen
22.1 Konflikte in der therapeutischen Beziehung
22.2 Zu geringe Veränderungsmotivation
22.3 Aggressivität und Entwertungen
22.4 Suizidalität
22.5 Verliebtheit
22.6 Selbstfürsorge im Umgang mit schwierigen Patienten
Bevor wir zum Ende kommen…
Literatur
Stichwortregister
ÜbungTechnikSeite
Wenn Sie diese Zeilen lesen, dann haben Sie möglicherweise dieses Buch bereits erworben – wofür ich mich zunächst einmal von Herzen bedanken möchte! Oder vielleicht schauen Sie gerade rein, um herauszufinden, ob sich der Kauf lohnt. Dann hoffe ich, die Leseprobe gefällt Ihnen! In den nächsten Seiten möchte ich Ihnen zunächst etwas über meinen persönlichen Hintergrund, meine Erfahrungen mit Schematherapie und den Aufbau dieses Buches erzählen.
Die Rivalität zwischen verschiedenen Methoden und »Schulen« hat eine sehr lange Tradition in der Geschichte der Psychotherapie. Bereits in den 1910er Jahren zeigte sich die Rivalität zwischen US-amerikanischen behavioristischen Forschern, insbesondere J. Watson, und den europäischen tiefenpsychologischen und analytischen Therapien. Während wir uns in der Bundesrepublik Deutschland bei der Wahl des Verfahrens vor Beginn der Psychotherapie-Weiterbildung »nur« zwischen Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch-fundierter Psychotherapie und analytischer Psychotherapie sowie (seit 2020) Systemischer Psychotherapie entscheiden müssen, werden bspw. in Österreich oder in der Schweiz 23 Methoden im Rahmen der GKV-Leistungen anerkannt. Und auch wenn die altbekannte, fast dogmatische und rigide »Rivalität« zwischen Vertretern verschiedener Therapiemethoden in den letzten Jahren und v.a. innerhalb der jüngeren Generationen von Psychotherapeuten1 mehr und mehr überwunden werden konnte, begegnet uns im Alltag – spätestens im Rahmen von Tagungen und Kongressen – immer wieder diese alte »Feindseligkeit« zwischen den unterschiedlichen Verfahren.
Lassen Sie mich kurz etwas »Selbstöffnung« üben – übrigens eine Technik, die Sie in diesem Buch später finden werden: Ich habe sehr wohl solche Kämpfe und dogmatischen Diskussionen geführt. Und das Lustige dabei? Nicht immer spielte ich bei solchen Kämpfen für die gleiche Mannschaft! Zu Beginn meines Werdeganges und insbesondere im Rahmen meines Psychologiestudiums in Buenos Aires dominierten die Psychoanalyse und verschiedene tiefenpsychologische Entwicklungen mein psychotherapeutisches Verständnis. Und ich war immer gerne an der Diskussionsfront, um Abstand zu nehmen von den »oberflächlichen, mechanistischen, extrem reduktionistischen Verhaltenstherapeuten«. Ich ließ mich vielleicht auf Gespräche mit Systemikern ein, aber auch das war nicht immer leicht, denn dabei musste ich immer wieder gewisse »Schuldgefühle« in mir spüren, als würde ich »fremdgehen« und meine Ideale missachten. Etwas später im Leben kam die große Wendung: Ich begann die Weiterbildung zum Psychotherapeuten und stellte auf einmal fest, dass man diese Kämpfe auch mit einem anderen »Trikot« führen kann. Kämpfen ist sicherlich schön und unterhaltsam, aber auf Dauer auch ermüdend.
Bereits in den 1990er Jahren beschäftigte sich Klaus Grawe (Grawe et al 1994) mit der Notwendigkeit einer »Allgemeinen Psychotherapie« und der Überwindung dogmatischen Denkens zugunsten einer evidenzbasierten Indikation und Anwendung psychotherapeutischer Verfahren, Methoden und Techniken. Was ist der gemeinsame Nenner an der Arbeit eines Psychoanalytikers und eines Verhaltenstherapeuten? Die Patienten! Es handelt sich um menschliche Wesen, und sowohl der »psychische Apparat« von Sigmund Freud als auch die »lernende Blackbox« von John Watson sind nichts anders als verschiedene Betrachtungsweisen derselben menschlichen Phänomene. Und wenn dies der Fall ist, dann können wir zumindest versuchen, ein theoretisches Verständnis menschlicher Verhaltenssteuerung und seelischen Leidens zu entwickeln, auf das wir empirisch belegte Techniken und Methoden theoretisch zurückführen können. Je besser wir in der Lage sind, neurobiologische Prinzipien hinter kognitiven Funktionen, Emotionsgenerations- und regulationsprozessen sowie der Entstehung und Steuerung motorischer Reaktionen zu verstehen, desto leichter dürfte uns diese Aufgaben gelingen.
An dieser Stelle vielleicht eine kleine Anmerkung vorab: Ich versuche hiermit nicht, die gesamte Geschichte der Psychotherapie mit zwei schönen Grafiken und einer kleinen Anleitung zu erklären! Als Praktiker brauchen wir aber ein Instrument oder Modell als orientierende Hilfe, mit dem wir verschiedene Einflüsse/Techniken miteinander kompatibel machen und sinnvoll anwenden. In meiner persönlichen Erfahrung bieten sich die SORK-Kategorien sehr gut dafür an.
Wenn Sie verhaltenstherapeutisch ausgebildet sind, dann dürfte Ihnen das SORK-Modell bestens bekannt sein. In den allermeisten Abbildungen wird das SORK-Schema für die Mikroanalyse eines Problemverhaltens in linearer Form dargestellt, was sich im Bericht an den Gutachter bei einem Psychotherapieantrag in aller Regel wiederfindet. Schauen wir uns das Beispiel einer typischen SORK-Analyse zum Verständnis agoraphobischer Vermeidung an: Unser Patient hat sich vorgenommen, heutealleine zum Supermarkt zu gehen und steht vor der Wohnungstür (S), vor dem Hintergrund ängstlicher Persönlichkeitszüge und einer erhöhten Fokussierung auf körperlicher Veränderungen (O) denkt er »Ich schaffe es nicht, es wird etwas Schlimmes passieren … mir ist es zuviel« (R-kog), er nimmt dabei Herzrasen und starke Unruhe wahr (R-phys) und fühlt Angst bis Panik (R-emot), sodass er sich umdreht und wieder im Wohnzimmer hinsetzt (R-mot), wobei er eine schnelle Reduktion von Unruhe, Herzrasen und Angst erlebt (K-kf: Ꞓ), sein negatives Selbstbild, seine dysfunktionalen Überzegungen und sein Vermeidungsverhalten werden aber langfristig gefestigt (C-). Diese lineare Darstellung SORK suggeriert ein sehr mechanistisch-reduktionistisches Verständnis von Verhaltenssteuerung.
Unser Nervensystem ist jedoch nicht als lineare Maschine, sondern als hoch anpassungsfähiges System mit ständigen Rückkoppelungsschleifen konzipiert, welches eine möglichst effektive Interaktion mit der Umwelt ermöglichen soll.
Wie würde dann eine Mikroanalyse aussehen, wenn wir das SORK-Schema nicht als Kette, sondern als ständigen Kreis darstellen würden? Der Patient steht vor der Tür (S), die für ihn bereits ein Hinweisstimulus für aversive Erlebnisse geworden ist (O), sodass sein Körper sofort mit leichter Unruhe reagiert (R-phys), woraufhin er denkt »Ich gehe nur einkaufen, was kann da schon passieren?« (R-kog) und kurz durchatmet (R-mot), was seine Unruhe für einen sehr kurzen Augenblick bremst (K-Kf), sodass er erneut die Tür anschaut (K-Lf und neuer S). Er nimmt immer noch eine leichte Unruhe wahr (R-phys), er denkt an den letzten Versuch vor einem Tag, der nicht gut endete (R-kog) und spürt leichte Angst (R-emot), woraufhin er sich selbst sagt »Ich muss das heute schaffen« (R-kog) und einen Schritt in Richtung Tür macht (R-mot), woraufhin er die Tür näherkommen sieht (K und neuer S), wobei er etwas mehr Angst und Unruhe wahrnimmt (K der Handlung und zugleich R-phys und emot)… Ich könnte vermutlich noch fünf Seiten schreiben, bis wir zu seiner Entscheidung kommen, heute nicht einkaufen zu gehen. Anschließend könnten wir aber gleich die nächste Mikroanalyse beginnen, denn nach seiner Entscheidung werden erst recht seine massiven Selbstvorwürfe und seine reaktive Depressivität bemerkbar.
Abb. 0.1: Das SORK-Modell
Das klingt zunächst sehr kompliziert. Man könnte es sogar sicherlich noch komplizierter machen, denn diese Rückkoppelungskreise sind sehr schnell und ergeben häufig eine Art Spirale (Abb. 0.1), die am Beispiel der Agoraphobie manchmal zur Vermeidung, manchmal zum Verlassen des Hauses führt, jedoch während des Prozesses immer wieder fluktuiert. Es ist in der Tat für die Psychoedukation des Patienten völlig ausreichend, eine deutlich einfachere und lineare Darstellung seiner Symptomatik zu verwenden. Beim »geleiteten Entdecken« oder auch beim Hyperventilationstest leiten wir jedoch in aller Regel unsere Patienten vielmehr im Sinne der Feedbackschleife an und befragen sie zu ihren unmittelbaren Beobachtungen, denn während der praktischen Arbeit – anders als beim Verfassen eines Therapieantrags – wird uns bewusst, dass die lineare Darstellung der Mikroanalyse der Realität einfach nicht gerecht wird.
Das SORK-Modell ist zugegebenermaßen ein traditioneller verhaltenstherapeutischer Ansatz, sodass analytisch oder tiefenpsychologisch arbeitende genauso wie systemisch sozialisierte Kollegen zunächst etwas irritiert schauen dürften, wenn ich die SORK-Kategorien im Sinne eines Instruments zum allgemeinen psychotherapeutischen Verständnis verwende. Und das ist verständlich! Ich bitte Sie – wenn dies der Fall ist – dem Ganzen noch eine Chance zu geben. Das SORK-Modell als Darstellung ständiger Feedbackschleifen setzt keine besonderen Schwerpunkte, es wertet nicht das sichtbare Verhalten höher als die emotionalen oder die kognitiven Reaktionen. Die Wertung erfolgt innerhalb der einzelnen Theorien: Kognitive Therapeuten legen den Schwerpunkt auf kognitive Prozesse und deren Einfluss auf emotionale Reaktionen und das sichtbare Verhalten, klassische Verhaltenstherapeuten auf das sichtbare Verhalten, tiefenpsychologisch-analytische Kollegen auf die emotionalen Reaktionsanteile, Systemiker auf die Interaktionsmuster, welche in Beziehungen, Familien und Gruppen entstehen. Die Organismus-Variable spielt eine wesentliche Rolle, wenn wir die Rolle biologischer Prädispositionen und Lernerfahrungen konzeptualisieren möchten. Dort können wir unbewusste Prozesse, Triebe und Instinkte sowie assoziative Reizbeziehungen, dysfunktionale Grundannahmen oder auch regelgesteuert gelernte Bezugsrahmen einordnen. Und natürlich auch Schemata im Sinne der Schematherapie.
Wie weit kommen wir aber mit den SORK-Kategorien, wenn wir bspw. das Verhalten eines Menschen verstehen möchten, der anderen gegenüber sehr arrogant-entwertend oder sehr unterwürfig auftritt? Wie können wir versuchen, paar-, gruppen- und familientherapeutische Prozesse zu konzeptualisieren? Oder auch die Interaktion zwischen uns als Therapeuten und unseren Patienten? Das wird deutlich schwieriger, denn ein Interaktionspartner ist kein statischer Gegenstand, wie die Wohnungstür im vorherigen Beispiel!
Abb. 0.2: Das interpersonelle SORK-Modell
Sehen Sie sich Abb. 0.2 an (Abb. 0.2): Aus dem Kreis im Sinne einer ständigen Schleife wird im Prinzip eine »8« mit zwei Kreisen, welche in einem ständigen Fluss miteinander interagieren! Hier entfällt aus praktischen Gründen das Kästchen »Konsequenz«, denn die wesentliche Konsequenz des eigenen Verhaltens ist die Reaktion des Gegenübers. Selbstverständlich ist die Lernerfahrung im Sinne einer Feedbackschleife in die »O-Variable« auch relevant, aber nicht das Zentrale, wenn wir eine interpersonelle Perspektive einnehmen.
Wieso ist die interpersonelle Perspektive so wichtig? Persönlichkeitsstörungen (PS) sind primär Interaktionsstörungen (Fiedler 1995). Und genau das macht die Behandlung von PS zu einer Herausforderung: man kann mit dieser Patientengruppe nicht arbeiten, ohne selbst in irgendeiner Form persönlich und emotional involviert zu sein. Man kann natürlich einen Schritt weiter gehen und ohne diagnosebezogene Einschränkung sagen, dass man insgesamt keine Psychotherapie machen kann, ohne persönlich und emotional involviert zu sein, denn unser »Therapeuten-Dasein« und unser »Mensch-Dasein« sind nur begrenzt trennbar. Während der Arbeit mit Patienten mit PS wird das besonders deutlich, denn als Psychotherapeuten werden wir im Laufe der Behandlung zu einer wichtigen Bezugsperson für unsere Patienten und nehmen dadurch ganz anders an seiner Symptomatik teil als im Falle einer Angststörung oder Depression.
Was macht Schematherapie besonders? Die Schematherapie ist an sich ja keine wirklich neue Therapieform, sondern ein integratives, fast eklektisches Behandlungskonzept, welches explizit für die komplexe Arbeit mit Patienten mit PS konzipiert wurde. Vielleicht ist das das »Besondere«: ein sehr breites Spektrum an erlebnisorientierten Techniken, kognitiven Interventionen sowie Strategien zur Verhaltensmodifikation wird unter dem Mantel eines nicht nur neurobiologisch und lerntheoretisch fundierten, sondern auch für Patienten sehr gut verständlichen Erklärungsmodells kombiniert und zielgerichtet angewendet.
Die Punktprävalenz von Persönlicheitsstörungen unter psychiatrischen-psychotherapeutischen Patientenpopulationen scheint mit 40–60 % sehr hoch zu sein (Oldham et al. 1992; Herpertz et al. 1994; Kröger et al. 2010).
In anderen Worten: Jedem psychotherapeutisch tätigen Menschen begegnet täglich die Herausforderung, mit Patienten mit Persönlichkeitsstörungen zu arbeiten – sogar, wenn diese Diagnose nicht gestellt wurde.
Wie häufig kommen wir an unsere Grenzen z. B. bei der Anwendung von standardisierten Verfahren zur Behandlung von Achse-I-Störungen, wie etwa Konfrontationstechniken bei Angst- oder Zwangsstörungen, der Besprechung von Selbstbeobachtungsprotokollen und der stufenweisen Veränderung von Ernährungsgewohnheiten bei Essstörungen oder auch dem stufenweisen Aktivitätsaufbau bei Depressionen? Die Komorbidität mit PS ist bei all den o. g. Störungsbildern nicht gering, und das könnte eine mögliche Erklärung für den Auftritt von »Widerstand« während der Behandlung oder für negative therapeutische Reaktionen liefern. Und wenn wir noch einmal die hohe Prävalenz unter klinischen Populationen betrachten, dann sind wir als Psychotherapeuten im Grunde genommen darauf angewiesen, einen Pool an effektiven Techniken und einen konzeptuellen Rahmen für die Arbeit mit interaktionellen Problemen und PS zu haben.
Wenn Sie dieses Buch in der Hand halten und mit dem Lesen schon so weit gekommen sind, dann muss ich vermutlich nicht mehr versuchen, Sie von der Wirksamkeit und der klinischen Relevanz der Schematherapie (ST) zu überzeugen. Deswegen erspare ich uns jetzt die Aufzählung von Wirksamkeitsbelegen und Studienergebnissen und möchte mit Ihnen stattdessen meine persönlichen Gründe teilen, nach inzwischen fast 15 Jahren Schematherapieerfahrung weiterhin von ihr so begeistert zu sein:
• ST bietet uns ein sehr konkretes Instrumentarium für den Umgang mit den größten Herausforderungen in der Arbeit mit PS: Beziehungsaufbau und Umgang mit Konflikten in der Therapie, Stabilität der Therapiemotivation, Zielklärung, Arbeit mit emotionalen und kognitiven Mustern und Verhaltensmodifikation.
• ST ist auch ein Instrument zur systematischen Selbsterfahrung, denn mit dem Modusmodell lässt sich nicht nur das Verhalten eines persönlichkeitsgestörten Patienten erklären. Einerseits können wir bei der Bearbeitung interaktioneller Probleme zwischen uns und unseren Patienten »die gleiche Sprache« und die gleichen Techniken anwenden, um seine und unsere emotionalen, kognitiven und motorischen Reaktionen zu erklären sowie um den Konflikt zwischen uns zu begreifen. Andererseits bietet es sich natürlich an, auch im Kontext reiner Selbsterfahrung mit dem Modell zu arbeiten und diese Prinzipien auf uns und unsere eigenen Probleme anzuwenden.
• ST ist aufgrund ihrer transdiagnostischen, neurobiologischen und verhaltensanalytischen Fundamente hoch kompatibel mit zahlreichen anderen, nicht nur verhaltens-, sondern im Allgemeinen psychotherapeutischen Techniken und modernen Methoden.
• ST macht Spaß! Die Arbeit mit erlebnisorientierten Techniken wie z. B. Übungen mit mehreren Stühlen stellt eine hervorragende Möglichkeit dar, in verhältnismäßig wenig Zeit einem Menschen zu helfen, eigene Muster besser zu verstehen sowie mit unserer Hilfe aktiv zu intervenieren, um neue Möglichkeiten des Umgangs mit eigenen Gefühlen, Gedanken und Handlungstendezen auszuprobieren. Nicht nur ermöglichen solche Übungen sehr gezielt emotionale Aktivierung, Distanzierung und schaffen Raum für neue Interventionen, sie sind auch sehr lebendig und häufig »spielerisch-erfrischend«, was Patienten und Therapeuten motiviert. Auch das ist eine wichtige persönliche Antwort auf die Frage »Wieso Schematherapie?«: Weil sie Spaß macht! Und ganz nebenbei gesagt: Kinder lernen viel besser und effektiver, wenn sie in einer spielerischen Atmosphäre Spaß haben – wieso soll es bei uns Erwachsenen anders sein?
Dies Buch wurde als praktischer Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis konzipiert, »von der Diagnostik und Probatorik bis zur Rückfallprophylaxe«.
Teil I beschäftigt sich in Kompaktform mit den wesentlichen theoretischen Grundlagen. Neben den drei »Säulen« der Schematheorie (Emotionale Grundbedürfnisse, Schemata und Schema-Modi) finden Sie dort die Grundlagen der interpersonellen und kontextuellen Perspektive in der Schematherapie.
Im Teil II finden Sie technische Grundlagen mit einem Überblick aller wichtigen Techniken sowie allgemeine praktische Empfehlungen.
Teil III zeigt Ihnen mit sehr vielen Übungsanleitungen die konkrete Umsetzung vom Erstgespräch bis zur Rückfallprophylaxe.
Sie können das Buch natürlich in der chronologischen Reihenfolge durchlesen. Sie können aber auch gezielt nach bestimmten Techniken im Umgang mit spezifischen Situationen suchen und es als »Nachschlagewerk« verwenden.
1 Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).
Eine wichtige Annahme der Schematherapie (und möglicherweise der Psychotherapie im Allgemeinen) besteht im Postulat universeller emotionaler Grundbedürfnisse. Universell bedeutet, dass diese so tiefgreifend sind, dass sie in jedem Menschen zu finden sind. Dies schließt natürlich nicht aus, dass von Individuum zu Individuum Unterschiede in der Intensität oder sogar der Priorisierung festgestellt werden können.
Vielleicht stellen Sie sich jetzt die Frage: »Wieso soll man sich mit emotionalen und insbesondere kindhaften Bedürfnissen beschäftigen, wenn man mit erwachsenen Patienten arbeitet?« Weil sich erst durch das mitfühlende Erleben des frustrierten Kindes in seiner damaligen Lebensumwelt die nachfolgend entwickelten Bewältigungsreaktionen verstehen lassen, die sich jetzt in der Interaktion mit dem Therapeuten und anderen Personen im jetzigen Leben wieder zeigen. Das Wissen, dass sich diese Person im Inneren gerade sehr verletzbar fühlt, sich schämt oder sogar panische Angst hat, erneut entwertet oder misshandelt zu werden, kann uns helfen, mit dem vordergründig gezeigten Verhalten effektiver umzugehen und dieses weniger persönlich zu nehmen. Dies kann in der unmittelbaren Arbeit sehr hilfreich sein, z. B. wenn ein narzisstischer Patient uns entwertet oder eine emotional instabile Patientin dissoziiert. Im zweiten Schritt hilft die konkrete Frage »Was hätte dieser Mensch anstelle dessen eigentlich gebraucht«, die aktivierten Bedürfnisse jetzt in der Therapie im Sinne einer korrigierenden emotionalen Erfahrung zu befriedigen. So erleben Patienten, dass es eine Alternative gibt zu ihren automatisierten, dysfunktionalen Bewältigungsreaktionen, und können im Erwachsenenmodus lernen, heute durch funktionales Verhalten ihre ja unverändert vorhandenen Grundbedürfnisse besser zu befriedigen.
In der deutschsprachigen schematherapeutischen Literatur werden Sie vor allem zwei Systematiken finden (Tab. 1.1):
Tab. 1.1: Emotionale Grundbedürfnisse nach Young (2005) und Grawe (1998)
Grundbedürfnisse nach J. YoungGrundbedürfnisse nach K. Grawe
Das Modell von Young ist vor allem phänomenologisch-deskriptiv und beschreibt emotionale Grundbedürfnisse aus der Perspektive eines Kindes. Grawes Modell beschreibt emotionale Grundbedürfnisse aus erwachsener Sicht, weswegen ein Bedürfnis nach realistischen Grenzen hier kein direktes Korrelat findet. Dieses fehlende Bedürfnis nach realistischen Grenzen in Grawes Modell kann als »Kontrolle und Orientierung nach innen« (d. h. im Sinne von Impulskontrolle) verstanden werden (Roediger 2016). So lassen sich diese zwei Systematiken gut aufeinander beziehen.
Youngs und Grawes Systematiken sind v.a. psychologische Modelle. Emotionale Grundbedürfnisse haben jedoch ein tiefes biologisches Substrat und sind nicht nur menschliche Phänomene. Ich möchte Sie auf die Arbeit von Panksepp (2011) aufmerksam machen: Er unterscheidet auf einer physiologischen Ebene sieben fundamentale neurobiologische Motivationssysteme: Seeking (Neugier-System), Rage (Selbstbehauptungssystem), Fear (sicherheitsorientiertes Selbstschutzsystem), Lust (lustorientiertes System), Care (Versorgungssystem), Panic (Verlassenheitssystem) und Play (Spielsystem). Nach Panksepps Forschung (2011) ist bei drei Systemen das Hormon Oxytocin involviert: Care, Play und Lust (wobei das Verlassenheitssystem Panic eines Kindes mit dem Versorgungssystem auf Bezugspersonenseite interagiert). Oxytocin gilt bekanntlich als »Bindungshormon« und bildet eine biologische Grundlage von Vertrauen und bindungsbezogenem Verhalten (Kosfeld et al. 2005, Strathearn et al. 2009, Buchheim et al. 2009). Die Systeme Seeking, Rage und Fear weisen einen ganz anderen Charakter auf und zeigen eine grundsätzliche Selbstbehauptungstendenz.
Einerseits im Sinne einer maximalen Komplexitätsreduktion, andererseits aber auch aufgrund der klinischen Erfahrung in der Umsetzung schematherapeutischer Konzepte wird in diesem Buch mit den zwei vermutlich fundamentalsten, phylogenetisch bedingten Grundtendenzen gearbeitet: Bindung (d. h. liebevoll-entspannte Hinwendung zu anderen im Sinne pro-sozialen Verhaltens) und Selbstbehauptung (d. h. angespannt selbstbezogen-kontrollorientiertes Verhalten).
Die sichere Bindung zu anderen Menschen ist nicht nur aus emotionaler Sicht von hoher Bedeutung, sondern stellt auch eine Bedingung für das Überleben eines Neugeborenen dar: Im Vergleich zu anderen Tierarten werden wir Menschen sehr unreif geboren und benötigen mehrere Jahre bis zur Erreichung der notwendigen Reife, um selbstständig zu überleben. In fMRT-Studien konnte gezeigt werden, dass bei Menschen das Erleben von Isolation und Ausgrenzung zu fast den gleichen Aktivierungen in der Inselregion des Kortex führt wie das Erleben von körperlichem Schmerz (Eisenberger et al. 2003). Das Bindungsbedürfnis sorgt dafür, dass Menschen Gruppen bilden und miteinander sozialisieren und kooperieren.
Der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit und nach Kontakt zu anderen Artgenossen ist nicht nur bei Menschen basal: Säugetiere könnten im Allgemeinen ohne eine starke Bindung zwischen Mutter und Kind nicht existieren. Wie verhält es sich jedoch mit ausgewachsenen Säugetieren? Harlow wies bereits 1958 nach, dass auch bei Rhesusaffen das Bindungsbedürfnis stärker ist als das Bedürfnis nach konstanter Nahrungsaufnahme. Auch Cairns postulierte 1966 eine allgemeine bindungsorientierte Verhaltenstendenz bei Säugetieren und konnte verschiedene Faktoren herausarbeiten, die den Bindungsaufbau verschiedener Tierarten beeinflussen. Aber auch ohne eine ausführliche Literaturrecherche begegnet uns das Bindungsbedürfnis anderer Tierarten alltäglich: Wie reagiert bspw. ein Hund, wenn sein Herrchen nach vielen Stunden Abwesenheit wieder da ist?
Der Wunsch nach autonomen Handlungen ist ebenfalls nicht nur bei Menschen zu beobachten, sondern ebenso eine Regung, die Ihnen auch alltäglich begegnen wird, wenn Sie Haustierbesitzer sind – besonders wenn Ihr tierischer Mitbewohner eine Katze ist. Selbstbehauptung stellt die andere Seite dieser Polarität dar und beinhaltet alloplastisch-externalisierende Tendenzen des Organismus, die auch im physiologischen Sinne zur Aktivierung führen und einerseits selbstwirksames und zielgerichtetes, andererseits in sozialen Situationen dominantes Verhalten ermöglichen.
Aus theoretischer Sicht hat solch ein dimensionales Verständnis mit zwei Grundpolaritäten als fundamentaler Beschreibungsebene sozialer Beziehungstendenzen eine historische Tradition und findet in zahlreichen Denkmodellen seinen Niederschlag: Der Philosoph David Bakan (1976) unterscheidet bspw. zwischen »Communio« und »Actio« und Sigmund Freud (1920) stellt im Rahmen seiner Strukturtheorie die Hypothese einer ebenso dichotomischen Zuordnung von Trieben in »Eros« (bindungsorientierte Tendenz oder »Lebenstriebe«) und »Thanatos« (selbstbehauptungs- und Individualisierungsorientierte Tendenz oder »Todestriebe«).
Das »2-Polaritäten-Prinzip« finden Sie aber auch in unserem vegetativen Nervensystem: Sympathikus (Aktivität und Energieverausgabung) und Parasympathikus (Passivität und Erholung) bilden eine solche Dimension. Die folgende Tabelle zeigt einen Überblick solcher Polaritäten entlang der übergeordneten Dimension Bindung Sebstbehauptung (Tab. 1.2).
Tab. 1.2: Die Polarität von Bindung und Selbstbehauptung im Überblick
BindungSelbstbehauptung
Die Polyvagale Theorie von Porges (2011) liefert dabei eine mögliche Antwort. Mit dem Begriff der »Neurozeption« beschreibt er einen vegetativen (unbewussten) Prozess, der nach der Wahrnehmung von Umweltreizen in der aktuell erlebten Situation (wie z. B. bei der Begegnung mit einem fremden Menschen auf der Straße) eine Einstufung dieser Situation in die Kategorien »sicher«, »gefährlich« oder »lebensbedrohlich« ermöglicht. Porges postuliert eine zentrale Funktion des Vagusnervs sowie drei Subsysteme des autonomen polyvagalen Nervensystems, wobei er von einer Hierarchisierung ausgeht. Der Organismus wählt zuerst den neuesten Komplex (ventrovagal) und greift auf den jeweiligen älteren zurück, wenn der neuere nicht funktioniert.
Das ventrovagale (parasympathische) System. Der ventrovagale Zweig des Vagusnerves ist phylogenetisch jünger, myelenisiert und kommt nur in Säugetieren vor. Dieser Zweig steht in Verbindung mit Herz, Lunge und Verdauungssystem und ist in der Lage, sympathische Aktivierungen zu hemmen (die sogenannte »Vagus-Bremse«), da diese in einer sicheren Umgebung nicht notwendig sind und soziale Interaktionen stören. Durch die Regulation sympathischer Reaktionen werden in sozialen Interaktionen Ärger und Angst reguliert und die Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Stressachse) gesenkt. Dieses System ermöglicht eine prosoziale Selbstberuhigung, bewusstes Atmen, sorgfältige Wortwahl und insgesamt bindungsbezogene Annäherung. Darüber hinaus reguliert der Vagusnerv teilweise unsere Gesichtsmuskulatur sowie Muskeln im Mittelohr und in Augenliedern sowie Muskeln beteiligt in der Bewegung des Kopfes. Durch diese Regulation von Mimik ist das ventrovagale System auch in der Lage, nicht nur sich selbst sondern auch anderen Menschen in unsere Umgebung ein Gefühl von Sicherheit und Beruhigung zu vermitteln.
Der Sympathikus aktiviert den Körper und mobilisiert ihn zu den körperlichen Reaktionen Flucht oder Kampf. Der Sympatikus ist ebenfalls myelenisiert, was schnelle Informationsübertragungen ermöglicht.
Das dorsovagale System ist ein Überlebenssystem. Der dorsale Anteil des Vagus ist nicht myelenisiert und interagiert mit dem Hirnstamm, der genetisch »programmiert« ist. Unter Lebensgefahr schaltet der dorsale Vagus unsere phylogenetisch jüngeren Hirnstrukturen über das Hormonsystem aus. Das explizite Gedächtnis wird vom Entscheidungsprozess ausgeschlossen, dadurch wird die Reaktionszeit verkürzt. Unter Lebensgefahr schaltet der dorsale Zweig des Vagusnerves Herz, Atmung und Verdauung auf Minimalbetrieb: Puls und Blutdruck sinken dabei dramatisch, man atmet kaum noch und die Stoffwechselaktivität wird praktisch eingestellt. Dies führt zu Immobilität (Freezing oder Totstellreflex).
Wir unterscheiden sehr gezielt zwischen konkreten Wünschen und Grundbedürfnissen. Unter »konkretem Wunsch« verstehen wir ein von außen gut sichtbares Geschehen im Sinne einer Szene oder einer bestimmten Handlung, wie etwa »Bitte nimm mich in den Arm« oder »Ich möchte, dass Du heute den Müll runterbringst.« Wünsche sind im Kontext dieser Unterscheidung in der Regel situationsabhängig, eher wenig flexibel und als »Du-Formulierungen« gut darstellbar. Grundbedürfnisse dahingegen sind nicht situations- oder personenabhängig und vor allem als »Ich-Formulierungen« darstellbar. Vielleicht können wir dazu eine kurze Selbsterfahrungsübung machen, einverstanden?
Wir werden eine kleine Imaginationsübung versuchen. Falls Sie bereits Erfahrung mit Imaginationstechniken haben (oder sogar an einem Seminar an unserem Institut zu diesem Thema teilgenommen haben), dann wissen Sie natürlich schon, dass es durchaus empfehlenswert ist, sich zwar bequem hinzusetzen aber sich nicht ganz in den Stuhl »fallen zu lassen«, insbesondere wenn man müde ist. Und Sie wissen auch, dass Imaginationsübungen häufig besser funktionieren, wenn der Übende mit beiden Füßen auf den Boden sitzt und dabei die Augen entweder zumacht oder – wenn dies nicht möglich ist – den Blick auf den Boden richtet. Dann können wir jetzt mit der Übung beginnen!
Zuerst werde ich Sie bitten, sich diese Frage zu stellen: Was müsste heute Abend konkret passieren, so dass ich mich freue und glücklich fühle? Ich meine tatsächlich eine konkrete Beschreibung eines Erlebnisses. Sie könnten z. B. sagen, Sie wünschen sich vor allem, dass wenn Sie von der Arbeit nach Hause kommen, Ihre Kinder oder Ihr(e) Partner(in) auf Sie warten und Ihnen sagen, wie sehr sie sich freuen, weil Sie wieder da sind. Vielleicht wünschen Sie, dass jemand für Sie ein spezielles Gericht zubereitet. Oder Sie wünschen sich einen Überraschungsbesuch durch einen engen Freund. Es gibt sehr viele Möglichkeiten. Versuchen Sie, sich für ein Bild zu entscheiden. Anschließend werden Sie versuchen, möglichst mit geschlossenen Augen, sich auf die Situation gedanklich einzulassen und diese so lebhaft wie möglich zu erleben. Vor dem inneren Auge sollte sich das Ganze wie ein Film abspielen, wobei Sie sich auf Ihr emotionales Erleben und Ihre Körperempfindungen konzentrieren werden.
Wenn Sie die Situation gewählt haben und bereit sind, dann suchen Sie jetzt die passende Sitzhaltung und machen Sie wenn möglich die Augen zu, um sich möglichst intensiv mit dem »Wunschbild« zu beschäftigen. Nehmen Sie sich dafür 3–4 Minuten Zeit und lesen Sie unten erst weiter, wenn Sie mit Teil 1 fertig sind!
Wenn Sie ein passendes Bild gewählt hatten, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Sie gerade Freude erlebten und ein angenehmes, warmes Gefühl ums Herz wahrgenommen haben. Ich muss Sie leider warnen: Mit der nächsten Aufgabe werden wir dieses schöne Gefühl leider wieder verschwinden lassen. Ich werde Sie bitten, wieder ca. 3–4 Minuten die Augen zu schließen und sich vorzustellen, dass heute Abend genau das Gegenteil dessen eintritt, was Sie sich vorhin vorgestellt haben. Auch hier versuchen Sie bitte, diese Situation möglichst konkret und lebhaft zu erleben und achten Sie erneut v.a. auf Ihr emotionales Erleben und Ihre körperlichen Reaktionen. Bereit? Dann machen Sie bitte erneut die Augen zu und lesen Sie erst weiter, wenn Sie mit Teil 2 fertig sind.
Welches Bild kam Ihnen in den Sinn? Die Aufgabe, sich »das Gegenteil« vorzustellen, kann ja verschiedene Alternativbilder ergeben haben. Aber bevor wir wieder in die »Erklärung« gehen, möchte ich Ihnen noch diese Frage stellen: Was vermissen Sie bei der zweiten Vorstellung? Was kommt zu kurz? Was brauchen Sie wirklich? Was fehlt Ihnen? Versuchen Sie, eine Antwort darauf zu finden, bevor Sie weiterlesen!
Emotionale Grundbedürfnisse sind tiefere »Grundtendenzen«, wobei deren Umsetzung je nach Situation sehr unterschiedlich aussehen kann. Konkrete Wünsche können also als mögliche Realisierungen dieser Grundbedürfnisse angesehen werden. Und in den meisten Fällen lassen sich Alternativen finden. Deswegen ist diese Unterscheidung so wichtig!
Wieso ist also diese Unterscheidung so wichtig? Das Festhalten an konkreten Wünschen ist im Prinzip die Einladung zur Aktivierung eines Bewältigungsmodus. Und Bewältigungsmodi sind wiederum die Einladung zu Konflikten und psychopathologischen Symptomen.
Eine 24-jährige Patientin mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) wurde während der Behandlung von ihrem Freund verlassen. Ihre Ursprungsfamilie lebte weit weg in einem anderen Bundesland, und als ihr Freund sie bat, aus dessen Wohnung bald auszuziehen, versuchte die Patientin zunächst ihren Vater zu kontaktieren. Ihr Vater hatte die Familie verlassen, als sie noch ein Kind war, und war in den ganzen Jahren kaum präsent gewesen, sodass auch dieses Mal keine wirklich positive Reaktion seinerseits zu erwarten war. Und in der Tat reagierte er ablehnend und desinteressiert, was die Patientin sehr verletzte und auch wütend machte. Während der Arbeit mit mehreren Stühlen wurde klar, dass sie sich nach Bindung und Nähe sehnte, gleichzeitig aber den sehr konkreten Wunsch hatte, diese endlich von ihrem Vater zu bekommen. Dieser Wunsch war sehr unflexibel und sie zeigte große Schwierigkeiten, von diesem loszulassen. Erst im Verlauf der Übung konnte sie Kontakt mit ihrer Traurigkeit und Einsamkeit aufnehmen und feststellen, dass sie einfach Nähe und Wärme brauchte. Und dass sie diese von Freunden vor Ort und auch von ihrer Mutter sowie deren Partner bekommen konnte.
Ein weiterer »strategischer« Grund für die Unterscheidung zwischen Wünschen und Grundbedürfnissen ist auch die Erfahrung, dass sich beim Fokus auf Grundbedürfnisse viel schneller Basisemotionen erkennen und aktivieren lassen, die sich wiederum entsprechend den Kindmodi »hinter den Kulissen« zuordnen lassen. Aber das sind Konzepte, die ich Ihnen noch nicht erklärt habe. Lassen Sie uns gleich zum nächsten Kapitel gehen und weitermachen!
Es gibt zahlreiche psychologisch-deskriptive Modelle zur Konzeptualisierung emotionaler Grundbedürfnisse, wobei Youngs und Grawes Systematiken in der schematherapeutischen Literatur am Bekanntesten sind. Die Arbeit mit den Grundpolaritäten Bindung und Selbstbehauptung ersetzt keinesfalls diese Systematiken! Ihnen vertraute Modelle sowie die bereits erwähnten Systematiken lassen sich sehr gut entlang dieser Dimension platzieren und ich kann Sie nur ermutigen, dies zu versuchen, falls Sie gerne mit einem anderen Modell arbeiten. Der praktische Gewinn in der direkten Arbeit mit Patienten ist sehr groß: Es vereinfacht enorm die Psychoedukation und es ermöglicht uns eine sehr flexible/lebendige Anwendung des Modells, denn Basisemotionen, Schemata und insbesondere Modi lassen sich sehr gut entlang dieser Dimension einordnen. Die zwei Polaritäten bilden darüber hinaus die Basis für die Unterscheidung zwischen »internalisierenden und externalisierenden« Modusdynamiken (Kap. 5). Aber so weit sind wir noch nicht. Lassen Sie uns als Nächstes mit dem Schemakonzept weitermachen.
Emotionen haben aus einer biologischen und evolutionspsychologischen Perspektive einen Signalcharakter, sowohl für einen selbst als auch für die Umwelt. Einerseits liefern emotionale Reaktionen sehr wichtige »intrapsychische Informationen« für einen selbst und weisen einen darauf hin, dass Grundbedürfnisse in der aktuellen Interaktion mit der Umwelt befriedigt bzw. frustriert werden. Andererseits signalisieren emotionale Reaktionen eines Individuums und insbesondere deren Ausdruck in Mimik und Gestik der Außenwelt, wie es demjenigen geht und was er gerade braucht, vermisst oder nicht ausreichend bekommt. Darüber hinaus haben Emotionen eine verhaltensregulative Funktion, denn sie beinhalten Handlungstendenzen und beeinflussen somit unsere Verhaltensweisen und sichtbaren Handlungen.
Paul Ekman (2003) beschreibt vor dem Hintergrund der Forschung kulturunabhängiger emotionaler Ausdrücke (insbesondere Mimik) fünf Basisemotionen: Angst, Traurigkeit, Ekel, Ärger und Freude. Diese fünf Grundemotionen bilden nicht nur die Essenz zwischenmenschlicher emotionaler Reaktionen sehr gut ab, sondern ermöglichen in unserer Erfahrung eine sehr gute Differenzierung in der Psychoedukation und in der direkten Arbeit mit Patienten. Während die ersten vier Basisemotionen als »Alarmzeichen« für die Frustration emotionaler Grundbedürfnisse angesehen werden können und in engem Zusammenhang mit den anschließenden Reaktionen auf der Handlungsebene stehen, stellt die 5. Basisemotion Freude ein Zeichen der »Entwarnung« bzw. der Befriedigung emotionaler Grundbedürfnisse dar.
Es gibt mehrere kortikale und subkortikale Strukturen, die in der affektiven Verarbeitung von Stimuli und der Emotionsgeneration und -regulation involviert sind. Aktuelle Forschungsergebnisse weisen bzgl. der Emotionsgeneration insbesondere auf die zentrale Rolle von vier Regionen hin (Ochsner et al. 2012; Paus 2001; Pessoa und Adolphs 2010): die Amygdala, der Hippocampus, das ventrale Striatum und der ventromediale präfrontale Kortex (VMPFC), der die emotionale »Bedeutsamkeit« der in den ersten drei Strukturen »bottom-up« generierten emotionalen Stimuli beobachtet und bewertet. Die Amygdala ist nicht nur bei Angstreaktionen aktiv (wie früher angenommen), sondern vermutlich in komplexer Weise an der gesamten Arousalmodulation und der sozial-emotionalen Einschätzung von Stimuli beteiligt. Also auch bei belohnungsversprechenden sozialen Situationen (Damasio et al. 2000).
Insbesondere Regionen des lateralen präfrontalen Kortex (LPFC) scheinen eine zentrale Funktion bei der »top-down« Modulation der o. g. Strukturen und somit bei der Regulation emotionaler Reaktionen zu spielen: der ventrolaterale präfrontale Kortex (VLPFC) und der dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC; Ochsner et al. 2012). Der VMPFC scheint nicht nur bei der Emotionsgeneration eine wesentliche Rolle zu spielen, sondern auch zwischen DLPFC und der Amygdala während der emotionalen »Bewertung« externer Stimuli zu vermitteln und somit eine Schlüsselrolle auch in der Emotionsregulation zu spielen. Banks et al. (2007) konnten z. B. nachweisen, dass die Interaktion zwischen Amygdala (Emotionsgeneration) und diesen beiden Strukturen bei Menschen mit besserer Affektregulation signifikant höher ist.
Komplexe Prozesse im Gehirn werden in der modernen neurobiologischen Forschung weniger als Aufgabe einzelner Strukturen, sondern als das Ergebnis der funktionalen Zusammenarbeit verschiedener Strukturen verstanden. Eine Gruppe von synchron aktiven Hirnregionen wird in diesem Kontext als Netzwerk bezeichnet.
In rs-fMRI (resting state functional MRI)-Studien konnten zwei antikorrelierte Netzwerke identifiziert werden (Seeley et al. 2007), welche in Bezug auf Emotionsgeneration und -regulation von hoher Relevanz zu sein scheinen: das Ruhezustandsnetzwerk (default mode network DMN) und das exekutive Kontrollnetzwerk (executive control network ECN). Das Salienznetzwerk (salience network SN) scheint eine entscheidende Rolle beim »Wechseln« zwischen DMN und ECN zu spielen (Menon und Uddin 2010; Menon 2015).