Schiffsnovelle - Herr Cassirers Reise zum Olivenbaum - René Träder - E-Book

Schiffsnovelle - Herr Cassirers Reise zum Olivenbaum E-Book

René Träder

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Beschreibung

Wer sind wir und was können wir über uns und die Welt wissen? Mit dieser Frage im Gepäck besteigt ein deutscher Professor während des Zweiten Weltkrieges ein Schiff Richtung New York; mit der festen Absicht, seine Heimat für eine lange Zeit, vielleicht sogar für immer, hinter sich zu lassen. Dabei begegnet er zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Der eine – ebenfalls Professor – ist ein jüdischer Flüchtling ohne gültige Papiere, der andere ein Nazi-Offizier. Was als Reise ins sichere Exil begonnen hat, droht eine Fahrt in den sicheren Tod zu werden. Bei der Novelle handelt es sich um eine fiktive Erzählung, die inspiriert ist von der Überfahrt Ernst Cassirers im Jahr 1941 und seiner Philosophie der symbolischen Formen.

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René Träder

Schiffsnovelle - Herr Cassirers Reise zum Olivenbaum

Eine philosophisch-psychologische Erzählung nach wahren Motiven.

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Schiffsnovelle

Danksagung

Impressum neobooks

Widmung

Schiffsnovelle

„Damals, vor der großen Flut, aßen und tranken die Menschen, sie heirateten

und wurden verheiratet – bis zu dem Tag, an dem Noah in die Arche ging.

Sie ahnten nichts davon, bis die Flut hereinbrach und alle umbrachte.

So wird es auch bei der Ankunft des Menschensohnes sein.“

- Matt 24,38-39 -

„Nicht Neptun, sondern die Nazis müssen Sie fürchten“, sagte der Kapitän als alle Passagiere an Bord waren.

„Dies wird keine Ferienfahrt. Wir befinden uns im Krieg, meine Herrschaften.“

Da der Krieg zu diesem Zeitpunkt schon lange ging, war diese Feststellung für niemanden an Bord eine Neuigkeit; und doch fuhr es so manchem durch Mark und Bein, als er das hörte. Es wurde ausgesprochen, was man schon lange nicht mehr sah, nicht mehr bewusst wahrnahm, was so sehr zum Leben dazugehörte, dass alles andere wie eine Fiktion schien. Der Krieg war Alltag geworden. Das Schießen überhört man irgendwann, so wie das morgendliche Krähen des Dorfhahns. Und die Meldungen in den Zeitungen lesen sich wie Geschichten, die ganz woanders passieren; weit weg. Ereignisse, die man nicht glauben will, nicht kann und vergessen möchte. So ziehen die Jahre ins Land und lassen das Unnormale normal erscheinen, das Außergewöhnliche zur Gewohnheit werden. Auge und Ohr haben sich angepasst, drohen abzustumpfen.

Sie alle hatten sich für diese Überfahrt entschieden, um ihr Leben zu retten, doch nun setzten sie es genau dadurch aufs Spiel.

Der Kapitän erklärte noch einmal ausführlich den Seeweg, ging auf schwimmende Minen, Stürme, gefährliche Strömungen und Piraten ein. Er wusste, wovon er sprach: Die Reederei hatte ihn aus dem Ruhestand geholt. Jahrelang war er auf den Meeren unterwegs gewesen, kannte sie inzwischen besser als seinen Heimatort. Schon vor einigen Jahren hatte er aber das Ruder gegen einen Platz an einem Fenster in seinem Haus eingetauscht. Fast täglich schaute er nach dem Frühstück in die Ferne und blätterte in alten Seekarten. Meile um Meile erlebte er dabei die Routen vom Sessel aus, umschiffte den Wohnzimmertisch und warf abends seinen Anker vor der maroden Matratze ab. Er vermisste die See, und die See würde ihn vermissen, da war er sich sicher. Daher musste er auch nicht lange überlegen, als eines Tages ein junger Mann vor seiner Tür stand, den die Reederei geschickt hatte. Fast wortlos bekam er einen Brief überreicht, in dem er gebeten wurde, diese Überfahrt durchzuführen. Seine Frau flehte ihn immer wieder an, die Entscheidung zu überdenken, doch er sagte schließlich: „Lieber geh ich mit dem Schiff unter, anstatt als Landratte weggebombt zu werden.“

Seiner Frau hatten diese Worte nicht gefallen, doch war es genau diese Energie, dieser Mut, fast schon Übermut, der ihr damals gefallen hatte, als sein Haar noch voll und dunkel war. Die Zeit legt einen Schleier auf die Dinge des Lebens, auf die Erinnerungen und die Wünsche, so dass sie mit Abstand anders wirken.

So hatte die Frau noch versucht, ihn davon zu überzeugen, die Überfahrt nicht zu machen. Dass es zu gefährlich sei, hatte sie gesagt. Nicht nur wegen des Krieges, auch das Wetter sei zu dieser Jahreszeit unberechenbar.

Doch ihr Mann ließ sich nicht umstimmen.

Dass er zu alt sei, hatte sie schließlich auch gesagt, als alles nichts half.

„Alt genug, um notfalls für immer im Meer zu bleiben“, hatte er darauf geantwortet.

Die Entscheidung war also gefallen, es gab nichts mehr daran zu rütteln. So saß der Kapitän zufrieden am Fenster, so wie er alle Tage dort saß, schaute in den Garten und stopfte seine Pfeife. Ein gewohntes Bild war es für die Frau. Eigentlich ein ganz normaler Tag, wenn man nicht gewusst hätte, was gerade beschlossen worden war, dass es einer der letzten normalen Tage in diesem Haus sein sollte. Daher schaute sie genauer hin, betrachtete ihn mit anderen Augen, wollte sich das Bild einprägen, diese Alltäglichkeit. Der sonst so verhasste Pfeifengeruch störte sie nun gar nicht mehr, ganz im Gegenteil: Wenn ihr Mann auf hoher See ist, werde sie von Zeit zu Zeit sicher in diesem Sessel sitzen und eine Pfeife stopfen, den Geruch des Tabaks in sich aufsaugen und durch den Qualm das Gefühl haben, dass er anwesend ist, sich vielleicht nur kurz im Garten aufhält und gleich wieder zurückkommen wird. Und dann könnte sie sicher auch hören, wie er La Paloma pfiff. Schon immer war er etwas mehr mit dem Meer, als mit ihr verheiratet. Das ahnte sie bereits, als sie vor dem Standesamt waren, aber sie hatte ihn gewollt, diesen Seemann, und er hatte sie gewollt. Und wie oft schon hatte er im Laufe ihres gemeinsamen Lebens, immer wenn Überfahrten anstanden, gesagt: „Dein Schmerz muss vergehen und schön wird das Wiedersehen.“

Nun hatte es ihn abermals hinausgezogen auf die See. Man musste kein großer Hellseher sein, um zu wissen, was der Kapitän für ein Mensch war, wenn man ihn betrachtete. Seine Abenteuerlust war ihm ins Gesicht geschrieben, seine Stimme klang nach Ferne.

Die Frauen an Bord standen zusammen und tuschelten. Sie malten sich aus, wie der Kapitän denn wohl früher ausgehen habe. Dass er flott gewesen sei, sagten sie. Dass er einen Schmiss gehabt habe. Dass sie sich vielleicht damals in ihn verliebt hätten. Den Frauen tat das Gespräch gut, war es doch wie ein Mikroskop, das den Blick auf ein Detail richtete, so dass das ganze Drumherum für einen Moment vergessen werden konnte. Die Welt existierte nicht, nicht dieser Krieg, nicht die Nachrichten, die man erhielt, nicht das Bangen, nicht einmal die Koffer; vollgepackt mit ein bisschen Leben, die man auf das Schiff geschleppt hatte. Doch wie lange würde man sich in den verwegenen Bartstoppeln und den dunklen Augen des Kapitäns verfangen können? Mindestens zwei Wochen würde es dauern, bis man wieder Land unter den Füßen spüren würde, hatte er gesagt. Neues Land – und dann auch ein neues Leben auf dem Land; oder wenigstens wieder Leben.

Europa hatte sich immer mehr zu einem braunen Klumpen entwickelt, der alles zu verschlingen drohte. Wie ein Bötchen, das erst ein kleines Leck hat, so dass man immer wieder den Platz wechselt, um keine nassen Füße zu bekommen. Doch kaum, dass man sich versieht, steht man knietief im Wasser.

An Löcher dachte auf diesem Schiff, das nun im schwedischen Hafen darauf wartete, losgemacht zu werden, keiner.

„3600 Tonnen sind das“, hatte der Kapitän bei seinen einführenden Worten nach der Begrüßung erklärt und schmunzelnd hinzugefügt, „ihre Kilos noch nicht mitgerechnet.“

Ein Raunen ging durch die Menge. Sicher hatte er das schon öfter genau so gesagt und sicher lachten auch bei den vorangegangen Malen die Menschen. Man wiederholte die Zahl, sagte sie ungläubig, bedächtig, bewundernd vor sich hin, nickte sich zu. Doch so recht wusste keiner, ob das nun viel oder wenig sei. Besonders groß war das Schiff ja nicht, vielleicht so breit wie ein Haus und so lang wie drei.

„Die Tiere auf der Arche Noah hatten sicher mehr Platz“, rief jemand aus der Menge.

Die Glücklichen damals wussten zudem nicht, wovor sie auf der Flucht waren, noch kannten sie die Gefahren. So ein Tier macht sich keine Gedanken, keine Sorgen. Das, was den Menschen vom Tier unterscheidet, was ihm diese Vormachtsstellung, diese Überlegenheit, diese ganze Entwicklung erst ermöglicht hat, ist gleichzeitig der Grund für so viel Grübeln, Sorgen und Leid.

„Ich möchte Ihnen die Gefahren nicht verschweigen“, sagte der Kapitän mit fester Seemannsstimme. „Das Schiff ist klein, die Überfahrt ist lang, wir haben erst Mai, da ist das Klima noch rau und für so manche Überraschung gut. Und nicht zu vergessen: der Krieg. Doch das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, meine Herrschaften“, betonte er abermals.

Er trug die Uniform, die er auch schon vor seiner Pensionierung getragen hatte. Sie saß nun enger und hatte zwei neue Knöpfe, die seine Frau vor einigen Tagen von ihrem eigenen Wintermantel geliehen hatte. Daran drehte er beim Reden manchmal wie an den Knöpfen einer Maschine.

„Schon im letzten Krieg habe ich diese Überfahrt einige Male gemacht. Schon damals war das ein enormes Wagnis. Doch, meine Herrschaften, jetzt bedeutet diese Reise das zehnfache Risiko.“

Niemand war von einer Vergnügungsreise ausgegangen, niemand hatte morgens ein üppiges Frühstück und abends einen Roulette-Tisch erwartet. Doch hatte niemand auch so klare Worte darüber erwartet, dass das Ganze keine Rettung, kein neues Leben, sondern das Ende bedeuten könnte.

Hatte Hebbel nicht einst gesagt, dass eine Reise wie ein Trunk aus der Quelle des Lebens sei? Und nun ein Kelch mit Gift? Die 18 Passagiere an Bord hatten sich die Überfahrt lange überlegt und mehr Gründe für diese Reise gefunden, als Gegenargumente. Man hatte viel aufgeben müssen, das Meiste verschenkt oder leihweise in andere Hände gegeben, eingelagert, untergestellt. Nur das Nötigste und ein paar persönlich wertvolle Sachen waren in Taschen und Koffer gedrückt worden. Und bei einigen tatsächlich auch Gift: Falls es zum Schlimmsten kommen sollte, so wollte man sein Schicksal wenigstens noch selbst in der Hand haben, den letzten kleinen Rest, der vom Schicksal noch übrig blieb.