Schizoidie und schizoide Persönlichkeitsstörung -  - E-Book

Schizoidie und schizoide Persönlichkeitsstörung E-Book

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Beschreibung

Schizoid personality disorder is one of the most interesting, but also one of the least well known personality disorders. The concept of schizoidism has had a varied history, starting with schizophrenia and touching on other clinical problem areas such as schizotypy, autism spectrum disorders, avoidance of attachment, and lack of empathy in psychopathy. People with schizoidism are extremely reluctant to engage in intensive interpersonal relationships and to experience stronger emotions, and instead place strong importance on their own independence, rationality and ego functions. In addition to presenting the origins of the concept and findings from empirical research, this volume focuses on differential diagnoses, on the psychodynamics of schizoid patients and their often impressive creativity in a case-related way, as well as on the psychotherapeutic options and treatment difficulties.

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Die Herausgeber

PD Dr. med. Dr. h.c. Dipl.-Psych. Dipl.-Soz. Gerhard Dammann ist Ärztlicher Direktor und Spitaldirektor der Psychiatrischen Dienste Thurgau (Akademisches Lehrkrankenhaus) und der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, Schweiz. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker (DPV, SGPsa/IPV) und hat Lehraufträge an den Universitäten Salzburg, Zürich, St. Gallen und Czernowitz.

Prof. Dr. med. Dr. h.c. mult. Otto F. Kernberg ist Direktor des Personality Disorders Institute des New York Presbyterian Hospital, USA, und Professor für Psychiatrie an der Cornell Universität und Lehranalytiker am Center for Psychoanalytic Training and Research der Columbia Universität. Er war Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.

Gerhard Dammann Otto F. Kernberg (Hrsg.)

Schizoidie und schizoide Persönlichkeitsstörung

Psychodynamik – Diagnostik – Psychotherapie

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033467-0

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-033468-7

epub:     ISBN 978-3-17-033469-4

mobi:     ISBN 978-3-17-033470-0

Die Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«

 

 

 

Der psychotherapeutische Ansatz gewinnt gegenwärtig in der Psychiatrie und Psychosomatik neben dem dominierenden neurobiologischen und psychopharmakologischen Modell (»Biologische Psychiatrie«) wieder zunehmend an Bedeutung. Trotz dieser Renaissance gibt es noch vergleichsweise wenig aktuelle Literatur, die psychiatrische und psychosomatische Störungsbilder unter vorwiegend psychotherapeutischem Fokus beleuchtet.

Die Bände dieser neuen Reihe sollen dabei aktuelle Entwicklungen dokumentieren:

•  die starke Beachtung der Evidenzbasierung in der Psychotherapie

•  die Entwicklung integrativer Therapieansätze, die Aspekte von kognitiv-behavioralen und von psychodynamischen Verfahren umfassen

•  neue theoretische Paradigmata (etwa die Epigenetik oder die Bindungstheorie und die Theorie komplexer Systeme in der Psychotherapie)

•  aktuelle Möglichkeiten, mit biologischen Verfahren psychotherapeutische Veränderungen messbar zu machen

•  die Entwicklung einer stärker individuellen, subgruppen- und altersorientierten Perspektive (»personalisierte Psychiatrie«)

•  neu entstehende Brücken zwischen den bisher stärker getrennten Fachdisziplinen »Psychiatrie und Psychotherapie« sowie »Psychosomatische Medizin« und »Klinische Psychologie«

•  eine Wiederentdeckung wichtiger psychoanalytischer Perspektiven (Beziehung, Übertragung, Beachtung der konflikthaften Biografie etc.) auch in anderen Psychotherapie-Schulen.

Die Bücher sind eng verbunden mit einer Tagungsreihe, die wir in Münsterlingen am Bodensee durchführen. Die 1839 gegründete Psychiatrische Klinik Münsterlingen, die heute akademisches Lehrkrankenhaus ist, hat, in der schweizerischen psychiatrischen Tradition stehend, eine starke psychotherapeutische Ausrichtung und in den letzten Jahren auch eine störungsspezifische Akzentuierung erfahren. Hier entwickelten und entdeckten der Psychoanalytiker Hermann Rorschach um 1913 den Formdeutversuch und der phänomenologische Psychiater Roland Kuhn im Jahr 1956 das erste Antidepressivum Imipramin.

Die Bände der Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik« sollen jedoch mehr als reine Tagungsbände sein. Aktuelle Felder aus dem Gebiet der gesamten Psychiatrie und Psychosomatik sollen praxisnah dargestellt werden. Es wird keine theoretische Vollständigkeit wie bei Lehrbüchern angestrebt, der Schwerpunkt liegt weniger auf Ätiologie oder Diagnostik als klar auf den psychotherapeutischen Zugängen in schulenübergreifender und störungsspezifischer Sicht.

Gerhard Dammann, Bernhard Grimmer und Isa Sammet

Inhalt

 

 

 

Die Reihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik«

Vorwort der Herausgeber

Teil I Konzeptuelle, psychiatriegeschichtliche und differentialdiagnostische Aspekte

1 Das Schizoidie-Konzept im Lauf der Psychiatriegeschichte

Hans-Peter Kapfhammer

1.1 Einleitung

1.2 Schizoidie und Autismus

1.3 Schizoidie und Schizothymie

1.4 Schizoidie und Desintegration der Persönlichkeit

1.5 Schizoidie und Grundstruktur des Erlebens

1.6 Schizoidie und Schizotypie

1.7 Schizoidie und ihre operationalisierte Umsetzung in DSM-III und Folgeversionen

1.8 Epidemiologische Befunde zur Schizoidie nach DSM

1.9 Genetische Befunde zur Schizoidie nach DSM

1.10 Umweltbezogene biologische und psychosoziale Befunde zur Schizoidie nach DSM

1.11 Neurobiologische und neuropsychologische Befunde zur Schizoidie nach DSM

1.12 Schlussbemerkungen

2 Die schizoide Persönlichkeitsstörung – eine psychodynamische Perspektive

Gerhard Dammann

2.1 Existentielle Einsamkeit

2.2 Das »Schizoide« in der Schizophrenie

2.3 Bedeutungswandel

2.4 Ernst Kretschmers Konstitutionspsychologie

2.5 Schizoidie und Schizophrenie – heute

2.6 Phänomenologie und interpersoneller Stil

2.7 Probleme der deskriptiven Diagnose

2.8 »Sonderlinge«

2.9 Prävalenz und empirische Forschungslage

2.10 Spezifische Diagnostik

2.11 Differentialdiagnosen

2.12 Schizoide Kinder

2.13 Fairbairn und die Objektpsychologie

2.14 Psychodynamische Aspekte der Schizoidie

2.15 Mutterbeziehung

2.16 Geschlechtsunterschiede und weibliche Schizoidie

2.17 Partnerschaft, Liebe und Sexualität

2.18 Körpererleben

2.19 Schizoidie bei Delinquenten

2.20 Berühmte Persönlichkeiten mit schizoiden Zügen

2.21 Therapeutische Aspekte

2.22 Zusammenfassung

3 Neue Autismus-Theorien – Bedarf es noch des Schizoidie-Konzepts?

Helene Haker Rössler

3.1 Einleitung

3.2 Was verstehen wir heute unter Autismus

3.3 Das Autismus-Spektrum in der Erwachsenenpsychiatrie

3.4 Eine integrative Sicht auf Schizoidie und Autismus

4 Emotionen und Schizoidie

Cord Benecke, Miriam Henkel und Steffen Müller

4.1 DSM-5/ICD-10 versus Psychodynamik

4.2 Einige empirische Daten

4.3 Ein Fallbeispiel

4.4 Fazit

5 Die distanzierte Bindungsrepräsentation und schizoide Erlebniswelten

Anna Buchheim

5.1 Einleitung

5.2 Forschungsbefunde

5.3 Klinische Implikationen

5.4 Einzelfallstudie

5.5 Fazit

Teil II Psychodynamik schizoider Phänomene

6 Henri Reys Überlegungen zu schizoiden Zuständen und das agora-klaustrophobe Dilemma des Borderline-Patienten

Heinz Weiß

6.1 Einleitung

6.2 Reys Beschreibung des agora-klaustrophoben Dilemmas

6.3 Die Entfaltung des inneren Raumes und die Entstehung der agora-klaustrophoben Situation

6.4 Die Konkretheit der Erfahrungen des schizoiden Patienten

6.5 Klinisches Beispiel

6.6 Zusammenfassung

7 Die Vermessung der Welt: Die inneren Objekte schizoider Menschen und das Ringen um eine gemeinsame Perspektive

Corinna Wernz

7.1 Krankengeschichte Herr F.

7.2 Spezifische Schwierigkeiten in der Therapie schizoider Patienten

7.3 Behandlungsprinzipien bei Patienten mit schweren schizoiden Zügen auf Borderline-Strukturniveau

7.4 Fazit

8 Die paranoid-schizoide und die depressive Position: Wechselnde Funktionsniveaus im Verlauf einer Psychotherapie

Bernhard Grimmer

8.1 Die paranoid-schizoide Position

8.2 Die depressive Position

8.3 Die Entstehung der paranoid-schizoiden Position: Der Schatten des Objekts oder unbewusste Phantasien?

8.4 Unterschiedliche Strukturniveaus oder wechselnde Positionen?

8.5 Falldarstellung

8.6 Schluss

9 Die Psychodynamik und Behandlung der schizoiden Persönlichkeitsstörung

Otto F. Kernberg

9.1 Der Fall Jennifer

9.2 Der Fall Sarah

9.3 Der Fall Robert

9.4 Psychodynamische Überlegungen und Behandlung

9.5 Weitere Anmerkungen zur Behandlung

Teil III Spezialfragen der Schizoidie

10 Schizoidie bei schwerer Delinquenz

Fritz Lackinger

10.1 Persönlichkeitspathologie und Delinquenz

10.2 Schizoide Faktoren

10.3 Der schizoide Faktor und die Delinquenz

10.4 Fall Georg R.

10.5 Fall Theodore Kaczynski

10.6 Fall Joel Rifkin

10.7 Fall Sebastian S.

10.8 Schizoide Gewaltdynamik

10.9 Fall Lenny

11 Schizoidie und Verbindungslinien zur Alexithymie und zur pensée opératoire

Harald Gündel

11.1 Einleitung

11.2 Der Begriff der Schizoidie

11.3 Der Begriff der Alexithymie

11.4 Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Schizoidie und Alexithymie

12 »Ich bin bange einen Körper zu haben, ich bin bange eine Seele zu haben« – Zur schizoid-weiblichen Weltverweigerung

Benigna Gerisch

12.1 Geschlecht, Gender und Schizoidie

12.2 Psychodynamische Aspekte zur geschlechtsspezifischen Ausgestaltung der Schizoidie

12.3 Falldarstellungen

12.4 Weibliche Selbstverweigerung in der Belletristik

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Stichwortverzeichnis

Vorwort der Herausgeber

 

 

 

Unter den relevantesten Störungen der Persönlichkeit ist die schizoide Persönlichkeitsstörung die unbekannteste. Dies hat vielleicht mit der Schizoidie selbst zu tun, der etwas Verschlossenes und Verborgenes anhaftet. Schizoide Menschen suchen nur vergleichsweise selten Therapien auf und haben die Vorstellung, dass sich Beziehungen und die damit verbundenen Gefühle und Aufgaben letztlich nicht lohnen. Während in den letzten Jahren sehr viel für eine bessere Behandlung von emotional instabilen Borderline-Störungen und von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen erreicht werden konnte, gibt es vergleichsweise wenig Literatur und Forschung zur schizoiden Persönlichkeitsstörung, die in diesem Buch zusammengefasst wird.

Dies hat auch mit der wechselvollen Theoriegeschichte dieses Konzepts in der Psychiatrie und Psychotherapie zu tun.

Das DSM-5 definiert die schizoide Persönlichkeitsstörung als eine Problematik, die durch Distanziertheit in sozialen Beziehungen und eine eingeschränkte Bandbreite des Gefühlsausdrucks im zwischenmenschlichen Bereich gekennzeichnet ist. Schnittstellen zur Schizoidie finden sich sowohl historisch zur Schizophrenie, zu den so genannten (exzentrischen) Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen, zu den Autismus-Spektrum-Störungen, zur so genannten Psychopathie, aber auch zu dem psychoanalytischen Konzept der paranoid-schizoiden Position (Melanie Klein) oder dem des agora-klaustrophoben Dilemmas (Henry Rey) und der autistischen Barrieren (Frances Tustin), zum »vermeidenden Bindungsstil« in der Entwicklungspsychopathologie, zu den psychosomatischen Konzepten der Alexithymie und der sogenannten Pensée opératoire.

Es soll versucht werden, der inneren Objektwelt dieser Patienten nachzuspüren, die sowohl von intensiver Beschäftigung mit dem anderen wie auch gleichzeitigem Rückzug und von Verneinung geprägt ist. Dabei werden die spezifischen Affektdynamiken dieser Patienten wie auch mögliche entwicklungsbedingte Geschlechtsunterschiede diskutiert werden. Diesen Schnittstellen und den damit verbundenen Differentialdiagnosen wird in dem Buch nachgegangen.

»Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält …« heißt es bei Max Frisch.1 Wie kommt es zu dieser »Geschichte« vom »einsamen Wolf«? Wie kommt es zur übermäßigen Inanspruchnahme durch Phantasien und Introvertiertheit bei gleichzeitiger Bevorzugung des Alleinseins? Was ist der Unterschied zum Narzissmus? Warum findet sich nicht selten bei diesen Menschen eine höhere Kreativität und Unabhängigkeit?

Das hier vorliegende Buch folgt einer psychodynamischen Perspektive, ist jedoch auch für Kliniker anderer Theorieausrichtungen gut lesbar. Von entscheidender Bedeutung erscheint es den Autorinnen und Autoren der Beiträge, einen tieferen Zugang zu bekommen zur inneren Objektwelt dieser Menschen und deren positiven Besetzung der »freundlichen Weiten« (Balint) und ein Verständnis für ihr interpersonelles Funktionieren in Beziehungen, im Liebesleben und in der Sexualität zu erlangen. Auch für diese Persönlichkeitsstörung gilt, dass sie auf sehr unterschiedlichen Funktionsniveaus organisiert sein kann, d. h. von hochfunktionalen und erfolgreichen Menschen mit schizoider Abwehr bis zu schwer eingeschränkten und randständig isolierten Personen reichen kann. Von größter Wichtigkeit ist es dabei, die Besonderheiten der Therapie dieser Patienten und die notwendigen Modifikationen in der Behandlungstechnik fallbezogen darzulegen.

Wir erhoffen mit dieser Veröffentlichung im Rahmen der Buchreihe »Psychotherapie in Psychiatrie und Psychosomatik« einer der interessantesten und unbekanntesten psychischen Störungen die notwendige Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, damit Therapeutinnen und Therapeuten vermehrt und mit besonderem Interesse an die spezifische condition humaine von schizoiden Menschen denken.

 

Münsterlingen und New York, im November 2018

Gerhard Dammann und Otto F. Kernberg

1     Frisch, Max (1975) Mein Name sei Gantenbein. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

 

 

 

Teil I    Konzeptuelle, psychiatriegeschichtliche und differential-diagnostische Aspekte

1          Das Schizoidie-Konzept im Lauf der Psychiatriegeschichte

Hans-Peter Kapfhammer

1.1       Einleitung

»Es läßt sich aus dem Charakter der Geistesabnormität auf die natürliche Anlage eines Individuums; sowie umgekehrt aus seiner Anlage und Bildungsstufe auf die Geistesabnormität schließen, derer ein bestimmtes Individuum fähig ist.« (Haindorf 1811, S. 425)

Der allgemeine Zusammenhang von Persönlichkeit und psychischer Krankheit begleitet die Konzeptgeschichte der neuzeitlichen Psychiatrie seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert (Janzarik 1988). Dieser Zusammenhang wird in einem fortlaufenden Diskurs thematisiert. Es gilt zunächst die Annahme, dass ein Individuum die bestimmenden Merkmale seiner Persönlichkeit subjektiv in aller Regel als synton erlebt, auch wenn diese in einer objektivierenden Außensicht als auffällig beurteilt werden. Psychische Symptome hingegen erlebt es als dyston und leidet unter ihnen. Eine frühe wissenschaftliche Frage nach dem inneren Zusammenhang zielt darauf, ob und inwieweit bestimmte Merkmale der Persönlichkeit in ihrer quantitativen Ausprägung oder in ihrem qualitativen Gesamtgefüge zu definierten psychischen Symptombildungen prädisponieren können. Unter dem klinischen Eindruck der großen psychotischen Erkrankungen, wie sie in der Gegenüberstellung von »Dementia praecox« einerseits, von »manisch-depressivem Irresein« andererseits durch Emil Kraepelin erstmals klassifikatorisch erscheinen, stellt sich diese Frage spezifischer. Gehen bestimmte Persönlichkeitsstörungen oder Störungen der Entwicklung der Persönlichkeit mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit in diese psychotischen Erkrankungen über? Und was macht diese Disposition oder Vulnerabilität der prämorbiden Persönlichkeit aus, und wie gestaltet sich der Übergang zur jeweiligen psychotischen Erkrankung? Oder aber führt die psychotische Störung selbst zu einer grundlegenden Veränderung der Persönlichkeit, handelt es sich also bei der dann imponierenden Störung der Persönlichkeit um ein sekundäres Phänomen?

Den individuellen Spielarten der Persönlichkeit wird bereits in den frühen Systematiken psychischer Krankheiten aber auch ein eigenständiger Stellenwert eingeräumt. Es wird hier nach den Bedingungen gefragt, unter denen auffällig von einer sozialen Norm abweichende Persönlichkeiten die Qualifizierung des Krankheitswertigen erhalten sollen (Kahn 1928). Kurt Schneider (1950) vollzieht in seiner Klinischen Psychopathologie hierbei zwei aufeinandergesetzte Schritte, um jene Grenze zum Krankheitswertigen klarer aufzuzeigen. In einer Orientierung an einer nicht näher bestimmbaren »Abweichung von einer uns vorschwebenden Durchschnittsbreite von Persönlichkeiten« beschreibt er zunächst sogenannte »abnorme Persönlichkeiten«. Aus dieser Gruppe kennzeichnet er dann jene näher als »psychopathische Persönlichkeiten«, die unter ihrer Abnormität leiden, oder aber unter deren Abnormität die soziale Umwelt leidet. Die Kriterien für die Beschreibung des »Psychopathischen« sind bei ihm streng psychopathologisch deskriptiv. Er entwirft so eine Reihe von prototypischen Persönlichkeitsstörungen, die im Weiteren auch Modell stehen für die Liste der Persönlichkeitsstörungen in den späteren Klassifikationssystemen ICD und DSM. Innerhalb der ICD nehmen die Persönlichkeitsstörungen bis in die aktuell noch gültige Version ICD-10 und der zukünftigen ICD-11, die 2019 durch die Weltgesundheitsversammlung (World Health Assembly, WHA) verabschiedet werden soll, einen eigenständigen Platz unter den anderen, empirisch gestützten psychischen Störungen ein. Mit dem DSM-III werden Persönlichkeitsstörungen aus den psychischen Krankheitsgruppen, die in einer Achse I aufgeführt werden, herausgenommen und separat in einer eigenen Achse II erfasst. Die Persönlichkeitsstörungen in beiden psychiatrischen Klassifikationssystemen bilden fortan den Ausgang für je eigenständige, theoretisch und methodisch sehr unterschiedliche biopsychosoziale Forschungsansätze (Lenzenweger und Clarkin 2004). Bis zum DSM-IV-TR wird in der klassifikatorischen Ordnung nach drei Clustern von Persönlichkeitsstörungen auch eine implizite Orientierung an den schizophrenen, den affektiven und den ängstlich-gehemmten psychischen Störungen unterlegt. D. h., ein inhärenter Zusammenhang von Persönlichkeit und ihren Störungen einerseits und definierten psychischen Störungen andererseits wird in einer theoretischen Perspektive von Spektrumsstörungen konzeptuell vorgegeben. Eine schematische Übersicht hierzu bietet das Spektrum-Modell der Persönlichkeitsstörungen nach Gunderson und Philipps (1995) (Abb. 1.1). Diese konzeptuelle Clusterbildung ist im DSM-5 aufgegeben (Herpertz und Bronisch 2016).

Die Gliederung nach definierten Clustern von Persönlichkeitsstörungen wird hier aber beibehalten. Ein spezieller Fokus auf das Cluster A, das die schizotypische2, die schizoide und die paranoide Persönlichkeitsstörung versammelt, soll als Ausgang dienen, um in diesem Kapitel das »Schizoidie-Konzept« der Psychiatrie seit ihren Anfängen in einer Rückschau nachzuzeichnen. Hierbei erscheint grundlegend, dass aufeinanderfolgende Positionen nicht nur Etappen einer historischen Abfolge bilden, sondern durch die jeweils gewählten theoretischen und methodischen Zugangsweisen verschiedene Konzeptbildungen resultieren, die sich entweder vielfältig durchdringen und überlagern oder aber zu neuen konzeptuellen Auftrennungen führen (Parnas et al. 2005).

Abb. 1.1: Spektrum-Modell der Persönlichkeitsstörungen (Gunderson und Phillips 1995; modifiziert nach Herpertz und Bronisch 2017, S. 2369)

1.2       Schizoidie und Autismus

Der Begriff »schizoid« dürfte erstmals von Eugen Bleuler (1908) verwendet worden sein. Bleuler bezeichnete hiermit zunächst eine allgemeinpsychologische Tendenz, die jedem Menschen natürlich innewohne, nämlich seine Aufmerksamkeit weg von der Außenwelt verstärkt auf seine Innenwelt zu richten. Eine potentiell krankhafte Ausprägung in Form einer dauerhaften Ausrichtung der Aufmerksamkeit nach innen erblickte er in der »schizoiden Persönlichkeit«. Er hob bei ihr eine Merkmalskombination von ruhig, misstrauisch, dumpf und gleichzeitig sensitiv hervor und betonte als psychologische Grundlage einen Mangel an integrierter Affektivität, eine Koexistenz von widersprüchlichen emotionalen Bestrebungen. Bleuler deckte eine empirische Häufung dieser schizoiden Persönlichkeiten im familiären Umfeld von an Schizophrenie erkrankten Personen auf. Noch näher an den Grenz- oder Übergangsbereich von psychopathischer Persönlichkeit und schizophrener Erkrankung führte seine Bezeichnung »latente Schizophrenie« heran, die bei näherer klinischer Betrachtung alle wesentlichen Merkmale der Schizophrenie quasi in Miniaturausprägung zu erkennen gibt, ohne aber bereits das Stadium der akuten Erkrankung erreicht zu haben (Bleuler 1911). Kahlbaum (1890) hatte bereits früher über sehr ähnliche prämorbide Persönlichkeitsvarianten (Präkatatonie, Heboidophrenie) der nach ihm benannten Katatonie und Hebephrenie berichtet, bei denen der nosologische Zusammenhang zur Dementia praecox bzw. zur Gruppe der Schizophrenien aber noch nicht erkannt war. Seine Beschreibungen hoben vor allem jene Merkmale der Persönlichkeit hervor, die in der Sphäre der intersubjektiven Kontakte als exzentrisch und merkwürdig auffielen. Auch Kraepelin (1903/1904) war sich, ähnlich wie Kahlbaum und Bleuler, eines solchen Grenz- und Übergangsbereichs bewusst. Er verwies dabei auf eine wesentliche symptomatologische Entsprechung mit der »Schizophrenia simplex« nach Diem (1903).

Bleulers Konzept der Schizophrenie, als Referenzrahmen seines Verständnisses von Schizoidie, beruhte auf mehrfachen theoretischen Annahmen (Bleuler 1911). Schizophrenie ist in Übereinstimmung mit dem Postulat von Griesinger auch für ihn eine somatische Krankheit des Gehirns, deren biologische Ursachen nach naturwissenschaftlichen Erkenntnisstandards noch weitgehend unbekannt sind. In einer klinischen Manifestation imponieren zunächst sogenannte »primäre Symptome«. Sie stehen in ihrer vor allem körperlichen bzw. organisch anmutenden Ausformung (Lockerung der Assoziation, Benommenheitszustände, Disposition zu Halluzinationen, Tremor, Pupillendifferenzen, Ödeme, katatone Anfälle) dem unbekannten somatischen Krankheitsprozess am nächsten. Gleichwohl ist die Spaltung bzw. Desintegration auch bei ihnen bereits erkennbar. Auf diese primären Symptome reagiert die betroffene Persönlichkeit psychologisch mit sogenannten »sekundären Symptomen«, wie sie dem Psychiater in der Begegnung mit dem schizophrenen Patienten vertraut sind. Hat sich die schizophrene Erkrankung im weiteren Verlauf etabliert, ist eine psychopathologische Unterscheidung nach wesentlichen »Grundsymptomen« (Lockerung der gedanklichen Assoziationen, Affektstörung, Ambivalenz, Autismus) und nicht immer obligatorisch vorliegenden, sogenannten »akzessorischen Symptomen« (z. B. Wahnideen, Halluzinationen) möglich. Grundsymptome wie Zusatzsymptome der Schizophrenie sind nach Bleuler vorrangig psychologisch zu konzeptualisieren. Zugrunde liegende psychologische Mechanismen sind u. a. auch einem psychodynamischen Verständnis zugänglich. »Schizoidie« als charakteristisches Merkmal der prämorbiden Persönlichkeit eines zur Schizophrenie prädisponierten Menschen hat konzeptuell seine größte Nähe zum Grundsymptom des »Autismus« und seiner Kehrseite, der »Spaltung« (Bleuler M 1972). Autismus stellt weniger ein singuläres einfaches, sondern vielmehr ein komplexes Grundsymptom dar. Es beschreibt eine basale intersubjektive Distanziertheit eines Individuums im Kontakt mit seiner sozialen Umwelt. Intersubjektive Fertigkeiten sind hierbei nicht einfach reduziert, sondern vielmehr qualitativ verändert. Eine syndromale Beschreibung versammelt vielfältige Aspekte: Grundlegende Schwierigkeiten, mit anderen in Kontakt zu treten; sozialer Rückzug und persönliche Unnahbarkeit, in extremen Fällen sogar Negativismus; affektive Indifferenz, rigide Haltungen, Meinungen und Verhaltensweisen in Reaktion auf übliche Einflüsse der Umwelt; überwertige eigenartige Ideen, idiosynkratrische Logik, merkwürdige Denkweise, Neigung zu wahnhaftem Denken (Parnas et al. 2005, S. 9). Für Bleuler ist mit der Schizoidie als normaler Aufmerksamkeitsverschiebung in die Innenwelt eines jeden Menschen, als morbider habitueller und fixierter Aufmerksamkeitshaltung bei der schizoiden Persönlichkeit, als risikohafter Potentialität zur vollen Psychose in der latenten Schizophrenie und als Autismus, einem komplexen Grundsymptom der klinisch manifesten Schizophrenie, eine kontinuierliche Entwicklungsreihe gegeben. Hierin unterscheidet er sich sowohl von Kraepelin als auch von Kurt Schneider, die beide zwar ebenfalls einen Übergangsbereich von Persönlichkeit und Psychose annehmen, jedoch in dem Hervortreten der schizophrenen Psychose die fremdartige Manifestation eines vorrangig somatischen Krankheitsprozesses und eine hieraus resultierende Diskontinuität im Erleben der betroffenen Person betonen.

Auch wenn Bleuler im Autismus den dominanten Rückzug in die Innenwelt eines Patienten pathognomonisch herausstellte, formulierte er in erster Linie Symptome und Krankheitszeichen, nicht hingegen die subjektive Innensicht des autistischen Menschen. Erst Benedetti, klinisch-psychiatrisch geprägt von der Bleulerschen Schule, wird in einer eigenständigen psychoanalytischen Konzeptualisierung im Autismus das existentielle Dilemma des schizoiden, des zur Schizophrenie prädisponierten oder des an Schizophrenie erkrankten Menschen in seiner unverwechselbaren Sprache beschreiben: »Der Autismus ist die Rettung der Individualität in eine die Individualität par excellence zerstörende Psychose« (Benedetti 1983, S. 23). Es ist erst die lange und geduldige psychotherapeutische Arbeit, die dieses existentielle Dilemma in seinen ganzen Ausmaßen für das subjektive Erleben des betroffenen Individuums erschließt, nicht schon die übliche psychiatrische Exploration, die allenfalls zu verkürzten Deskriptionen kommt.

1.3       Schizoidie und Schizothymie

In guter Übereinstimmung mit den Überlegungen von Bleuler unternahm Ernst Kretschmer (1921) einen eigenständigen Forschungsansatz, um die Übergangsreihe von Persönlichkeit und Psychose näher zu erschließen. Er begründete eine Konstitutionstypologie, die Merkmale des Körperbaus mit Temperamentsunterschieden und Charaktereigenheiten empirisch zu verbinden suchte. Leptosomer und pyknischer Körperbau schienen so mit zwei Grundtemperamenten, nämlich der Schizothymie und der Zyklothymie einerseits und je typischen Stilen des Denkens und Fühlens andererseits einherzugehen. Kretschmer unterschied normale Manifestationen des schizothymen und zyklothymen Temperaments bei gesunden Menschen, übermäßig ausgeprägte, potentiell morbide Varianten bei schizoiden bzw. zykloiden Persönlichkeiten und schließlich deren intrinsische Fortbildungen zur schizophrenen Psychose einerseits, zur manisch-depressiven Psychose andererseits. Unabhängig von der methodenkritischen Beurteilung dieses konstitutionstypologischen Vorgehens (vgl. Boerner 2015, S. 128–141) erzielte Kretschmer in Anlehnung an das schizothyme Temperament eine vertiefende psychopathologische Differenzierung der Schizoidie. Weder eine dominante Hyposensitivität noch eine überwiegende Hypersensitivität sind für die Schizoidie charakteristisch. Vielmehr liegen beide Dimensionen stets zusammen in einem jeweils individuell zu bestimmenden Verhältnis vor. Kretschmer sprach von der »psychästhetischen Proportion« zwischen »hyperästhetisch-empfindsam« und »anästhetisch-kühl«. Gerade diese simultane spannungsgeladene Polarisierung macht das charakteristische Wesen des schizoiden Menschen aus. So können bei der Schizoidie folgende Merkmale in einer Reihe erscheinen: »Ungesellig, still, zurückhaltend, ernsthaft (humorlos), Sonderling; schüchtern, scheu, feinfühlig, empfindlich, nervös, aufgeregt – Natur- und Bücherfreund; Lenksam, gutmütig, brav, gleichmütig stumpf, dumm« (Kretschmer 1921, S. 115). Das psychische Tempo der schizoiden Person weist eine unharmonische Temperamentskurve auf, wechselt zwischen sprunghaft und zäh. Ganz analog gestalten sich auch das Denken und das Fühlen. In Ausdruck und Bewegung finden sich oft situationsinadäquate Reaktionsweisen des schizoiden Menschen.

Zwei Aspekte teilte Kretschmer mit Bleuler: Auch er betonte eine kontinuierliche Übergangsreihe von Persönlichkeit und Psychose, wobei letztere als eine quantitative Steigerung der Ausprägungsgrade von natürlichen Merkmalen ersterer erscheint. Und auch er erkannte einen genuinen Zugang des psychologischen Verständnisses psychotischer Erlebnisformen. Dieser psychologische Verständnisansatz erreichte bei Kretschmer eine frühe Meisterschaft. In seiner wegweisenden und subtilen Monographie über den »sensitiven Beziehungswahn« (1918) demonstrierte er das multidimensionale Zusammenspiel von Persönlichkeit, Biographie, Lebenssituation und Situationserlebnis in der Pathogenese einer speziellen Wahnentwicklung.

Im Anschluss an Bleuler und Kretschmer wurden aus den idealtypischen bzw. typologischen Beschreibungen der Schizoidie auch erste Operationalisierungen vorgelegt. So forderten z. B. Kasanin und Rosen (1933) für die Diagnose einer schizoiden Persönlichkeit als prämorbider Persönlichkeit der Schizophrenie das gleichzeitige Vorliegen folgender fünf Merkmale: Wenige Freunde, bevorzugte Beschäftigungen alleine, scheu und Mitläufer in Gruppen, verschlossen, extrem sensitiv. Kallmann (1938) differenzierte in seinen genetischen Untersuchungen von Kindern schizophrener Patienten einerseits sogenannte »exzentrische Boderline-Fälle«, aus der sich später das Konzept einer »Borderline-Schizophrenie« entwickelte, andererseits »schizoide Psychopathen«, aus der wiederum das Konzept der »pseudopsychopathischen Schizophrenie« entstand. Für letztere Gruppe formulierte er als kennzeichnende Merkmale: Verschlossenheit, sozialer Rückzug, impulsive, oft sinnlos und unlogisch erscheinende Delikte.

1.4       Schizoidie und Desintegration der Persönlichkeit

Eigenständige Fortentwicklungen des Schizoidie-Konzeptes hoben unter Beibehaltung der bereits früher beschriebenen Verhaltens- und Charaktermerkmale verstärkt das Kennzeichen der fehlenden Kohärenz, des Identitätsmangels in der Gesamtorganisation einer schizoiden Persönlichkeit hervor. Eine gewisse Prominenz erlangte hierbei das Konzept der »pseudoneurotischen Schizophrenie« von Hoch und Polatin (1949). Es war bereits bedeutsam von psychoanalytischen Modellvorstellungen der amerikanischen Psychiatrie beeinflusst und mündete selbst über das sehr ähnliche Konzept der »Borderline-Schizophrenie« in die breite Konzeptentwicklung des »Borderline-Spektrums« während späterer Jahrzehnte ein (Meissner 1988). Die Autoren betonten, dass nicht einzelne Symptome, sondern vielmehr die besondere syndromale Gesamtkonstellation die klinische Diagnose ausmachten. Sie hoben neben einer grundlegenden autistischen Orientierung eine Pan-Angst, wiederkehrende depressive Einbrüche, einen quälenden Dauerzustand der Anhedonie, diskrete formale Denkstörungen, mannigfaltige Äußerungen einer polymorph perversen Sexualität, Depersonalisation, hypochondrische Gedanken und wahnhafte Beziehungsideen hervor. Bei einer vor allem in forensisch-psychiatrischen Kontexten gehäuft anzutreffenden Variante einer sogenannten »pseudopsychopathischen Schizophrenie« standen wiederum als bizarr, unlogisch, sinnlos imponierende dissoziale Akte und Delikte im Vordergrund, die aber bei näherer klinischer Analyse auf einen verdeckten, wesentlich autistischen Kern der Persönlichkeit verwiesen (Dunaif und Hoch 1955). Die im Anschluss von Kety et al. (1968) formulierten klinischen Kriterien der »Borderline- oder latenten Schizophrenie« sind in der Entwicklung der Konzeptgeschichte in zweifacher Hinsicht herausragend zu erwähnen: Die Kriterien wurden empirisch validiert und dienten als diagnostische Grundlage für die groß angelegten US-amerikanischen und dänischen Studien an biologischen und Adoptivfamilien adoptierter schizophrener Patienten. Als solche waren diese Kriterien modellstiftend für die spätere Konzeptualisierung der schizotypischen Persönlichkeitsstörung im DSM-III (1980) als einer prägnanten schizophrenen Spektrumsstörung.

Klinische Kriterien der Borderline- oder latenten Schizophrenie (Kety et al. 1968; modifiziert nach Parnas et al. 2005, S. 12)

•  Denken: fremde, merkwürdige Denkweise; Nichtbeachtung von Realität, Logik oder Erfahrung; unpräzise, unklare, vage Sprache

•  Erleben: kurze Episoden kognitiver Verzerrung, vorübergehende wahnhafte Ideen; Depersonalisationsgefühle, Gefühle der Entfremdung gegenüber einer bisher vertrauten Umwelt; mikropsychotische Zustände

•  Affektivität: Anhedonie (keine Erfahrungen großer Lust, niemals glücklich); keine emotional tiefere Beziehung mit anderen Personen

•  Beziehungen: mag selbstsicher erscheinen, jedoch fehlende Tiefe (»Als-ob-Persönlichkeit«); sexuelle Fehlentwicklung (chaotische Fluktuation zwischen hetero- und homosexuellen Kontakten)

•  Psychopathologie: multiple, rasch wechselnde neurotische Symptombildungen (obsessive Ruminationen, Phobien, Konversionsstörungen, psychosomatische Störungen etc.), schwere, umfassende Angst

Ein vom Hauptpfad der psychiatrischen Konzeptbildung abweichender kinderpsychiatrischer und -neurologischer Beitrag stammt von Asperger (1944). Mit der Einführung einer »autistischen Psychopathie« skizzierte er eine von früher Kindheit an auffällige Persönlichkeitsentwicklung. Syndromal sind hierfür kennzeichnend: Abnormes Blickverhalten, repetitive Verhaltensweisen, isolierte autistische Intelligenz mit Spezialinteressen, Einzelgängertum, Asexualität, extreme umweltbezogene Sensitivität bei affektiver Indifferenz und gelegentlicher Grausamkeit gegenüber anderen. Asperger sah in der autistischen Psychopathie keine kindliche Form einer prämorbiden Persönlichkeit der Schizophrenie. Er betonte wohl aber einen Zusammenhang zu einem breiteren »Schizoidie-Konzept«. In der weiteren Entwicklung der psychiatrischen Krankheitslehre wird dieses Asperger-Syndrom als mildere Form der Autismus-Spektrumsstörungen eingeordnet werden (Wing 1981), die mehrere tiefgreifende Entwicklungsstörungen mit eigenständiger, komplexer Ätiopathogenese versammeln, jedoch keine nosologische Nähe zur Schizophrenie aufweisen (Masi et al. 2017).

1.5       Schizoidie und Grundstruktur des Erlebens

Sowohl Bleuler als auch Kretschmer war bewusst, dass manifeste Verhaltensweisen und beobachtbare charakterliche Eigenheiten als klinisch-psychopathologische Merkmale der Schizoidie keineswegs schon ein vollständiges Bild der grundlegenden psychologischen Verfassung betroffener Personen zeichnen (Parnas et al. 2005). Einen je speziellen Zugang zu einer grundlegenden innerpersönlichen Sphäre des schizoiden Menschen eröffnen aber vor allem zwei methodische Ansätze, die phänomenologische und die psychodynamische Analyse. Beide Ansätze machen eine grundlegendere psychologische Organisation der schizoiden Persönlichkeit erkenntlich und erweitern so die bisherigen konzeptuellen Ausführungen.

Minkowski (1927), selbst einige Zeit an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich am Bürghölzli unter Bleuler klinisch tätig, aber in seinem psychiatrischen Denken auch von den Philosophien Henri Bergsons und Max Schelers geprägt, legte eine vereinheitlichende phänomenologische Sichtweise auf die Infrastruktur des Bewusstseins in der Schizoidie vor, auf jene reine existentielle Form des Autismus, die jeglichen klinischen Einzelmanifestationen autistischer Symptome und Zeichen vorausgeht. Er sprach von einem Defizit in einer basalen vor-reflexiven Eingestimmtheit von Person und Umwelt. Dem schizoiden Menschen gelingt es nicht, mit der ihn umgebenden Realität in einen vitalen Kontakt zu treten. Dieser vitale Mangel, mit der Welt in einer intuitiven Resonanz zu leben, speziell auch die Mitmenschen empathisch verstehen zu können, bewirkt eine besondere Sterilität und Leere des subjektiven Bewusstseins. Er definiert eine brüchige Struktur der leiblichen und psychischen Subjektivität, des gelebten subjektiven Raums, der gelebten Zeit sowie des elementaren Umweltbezugs. Dieses basale Defizit kann allenfalls durch eine angestrengte Hyperreflexivität notdürftig in Schach gehalten werden; es verfehlt aber darin stets eine primäre Verbundenheit mit sich selbst und der Welt (D’Agostino 2015). Für Minkowski stellt Bleulers Autismuskonzept eher ein sekundäres Phänomen dar. Autismus bei Bleuler ist wesentlich durch eine defensive Flucht in eine idiosynkratische Phantasiewelt mitbestimmt, die einen primären Mangel kompensatorisch zu überlagern sucht. Diese Perspektive Minkowskis kehrt ganz ähnlich auch in weiteren phänomenologisch-anthropologischen Positionen der deutschsprachigen Psychiatrie wieder, wie in der »Psychologie der Schizophrenie« von Berze und Gruhle (1929). Und sie wird insbesondere durch die Abhandlungen Blankenburgs (1969, 1971) zur »Psychopathologie des common sense« und zum »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« beispielhaft weiterentwickelt. Blankenburg weist im Verlust eines »Allgemeinsinns«, einer »natürlichen Selbstverständlichkeit« eine umfassende Störung des Selbst, des Selbstbewusstseins, der Intersubjektivität und eines intentionalen Standpunkts gegenüber der gelebten Realität aus, die allen schizophrenen Spektrumsstörungen ein gemeinsames Grundmerkmal ist.

Den vielfältigen psychodynamischen Arbeiten zum Schizoidie-Konzept durch Vertreter der diversen psychoanalytischen Schulen ist in diesem Buch ein eigenständiges Kapitel gewidmet (Kap. 2 und Kap. 9 in diesem Band). Es sollen daher nur einige wenige Aspekte hier aufgenommen werden, insoweit sie mit der psychiatrischen Konzeptentwicklung der Schizoidie verwoben sind. Herausragende klinische Arbeiten zur schizoiden Persönlichkeit legte speziell Fairbairn (1952) vor, ein eigenständiger Denker, erfahrener Psychiater und Vertreter der Britischen Schule der Psychoanalyse um Melanie Klein. Sein Ansatz trägt bedeutsam zur klinischen Phänomenologie und speziell zur intrapsychischen und interpersonellen Psychodynamik schizoider Persönlichkeiten bei. Auf ihn bezieht sich auch Kernberg (1975) in seiner psychoanalytischen Klassifikation der Charakterpathologien, die neben der vorherrschenden klinischen Phänomenologie, der grundlegenden Konfliktdynamik vor allem auch das Niveau der Persönlichkeitsorganisation hervorhebt. Fairbairns Arbeiten üben wiederum explizit und implizit auch einen wichtigen Einfluss auf die diagnostischen Konzeptualisierungen der Persönlichkeitsstörungen ab DSM-III und Folgeversionen aus. Für Fairbairn ist die schizoide Persönlichkeit zu den schwersten Persönlichkeitsstörungen zu zählen. In einer psychogenetischen Entwicklungsperspektive ist das Trauma zentral, dass in frühesten Objektbeziehungen jenes basale Bestreben, unbedingt geliebt zu werden und zu lieben, nicht erfüllt, vielmehr rigide zurückgewiesen worden ist und ein grundlegendes Gefühl von Beschämung, Schwäche und Hilflosigkeit fixiert hat. Diese Grundstörung in der basalen zwischenmenschlichen Beziehung hinterlässt aber eine unkontrollierbare Begierde nach einem primären (mütterlichen) Objekt, die dieses aber in seiner aggressiven Ausrichtung auch zerstören könnte. So entsteht eine schier vernichtende Grundangst als psychodynamische Kehrseite der basalen Gier nach dem Objekt. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen erscheinen vor diesem Hintergrund als gefährlich, potentiell zerstörerisch. Als einzige existentielle Reaktionsmöglichkeit bleibt der Rückzug in eine abgeschlossene Innenwelt. Doch auch diese Abwehr führt zu einem bedrohlichen Resultat: Ohne Beziehungen zu Partnern in der Außenwelt droht Realitätsverlust. In Beziehungen mit Partnern aber droht elementarer Selbstverlust, da unbewusste Bilder über gefährliche Objekte wiederum zur Zerstörung eines prekären Selbstgefühls führen können. Fairbairn charakterisiert das schizoide Dilemma mehrfach: Schizoide Personen können potentielle Partner nicht in ihrer vollen Persönlichkeit behandeln und respektieren. Vielmehr reduzieren sie die Beziehungen auf wenige Teilaspekte und halten sie frei von einer tieferen emotionalen Qualität. Da eine grundlegende Wechselseitigkeit in Beziehungen nie sicher erreicht worden ist, überwiegt das Nehmen ein Geben in solchen Beziehungen. Diese weisen so einen stark selbstbezogenen, narzisstischen, nicht selten ausbeuterischen Wesenszug auf. Geben würde hingegen psychodynamisch zu einem Gefühl der Entleerung, des Selbstverlustes führen. Hiermit geht eine weitere Haltung einher, nämlich Realkontakte eher zu vermeiden, Beziehungen stattdessen auf einer inneren Bühne der Phantasie zu gestalten. Allerdings vollzieht sich dieser Erlebnisprozess auf einem wenig differenzierten, »inkorporativen« Niveau. Eine Tendenz, in einer als vollständig erlebten Abhängigkeit von dem Objekt sich mit diesem zu identifizieren, kommt intrapsychisch einer Selbstauslöschung sehr nahe und kann nur durch eine Externalisierung abgewehrt werden. Doch genau hierdurch wird der psychodynamische und interpersonelle Zirkel des schizoiden Dilemmas erneut angetrieben (Akthar 1987; Summer 1994).

1.6       Schizoidie und Schizotypie

Parallel bzw. gegenläufig zu den phänomenologischen und psychodynamischen Analysen betonten die beiden psychoanalytisch geschulten Autoren Sandor Rado und Paul Meehl hingegen eine bedeutsame Grenze, die es letztlich verhindere, sich in den zentralen Kern der schizoiden Person introspektiv einzufühlen und ihn psychodynamisch verstehen zu können. Rado (1953) prägte die Bezeichnung »schizotyp« und definierte hiermit eine Organisationsform (»schizotype Organisation«) von psychologischen Grundzügen der Persönlichkeit, die sich einer weiteren psychodynamischen Erklärung entziehen. Zwei Aspekte kennzeichnen diese Schizotypie, nicht als Symptome, sondern als zentrale Koordinaten dieser Organisation: Einerseits zeigt sich eine »integrative Lustdefizienz« in der grundlegenden Schwäche von Lust als zentraler Motivationskraft im Allgemeinen Erleben und Handeln. Eine »propriozeptive Diathese« bedeutet andererseits eine inhärente Neigung zur verzerrten Wahrnehmung des Körperselbst. Beide Komponenten reduzieren die Kohärenz des Handlungsselbst. Abhängig von der Schwere der beiden angeborenen Defizienzen, aber auch abhängig von den je verfügbaren psychologischen und psychobiologischen Ressourcen eines Menschen, mit den normativen Entwicklungsaufgaben und den schicksalhaft belastenden Ereignissen im Lebenszyklus adaptiv umzugehen, können sich jeweils ganz unterschiedliche Störungsgrade dieser schizotypen Organisation manifestieren: eine »kompensierte Schizoadaptation«, die der Schizoidie sehr ähnlich ist; eine »dekompensierte Schizoadaptation«, die dem klinischen Bild der »pseudoneurotischen Schizophrenie« entspricht; eine »schizotypische Desintegration« bei einsetzender schizophrener Psychose; eine »schizotypische Verschlimmerung« bei progressivem Verlauf der schizophrenen Psychose.

Meehl (1962) stimmte mit dieser Konzeptualisierung Rados weitgehend überein. Er formulierte darüber hinaus auch ein theoretisches Modell, das für weiterführende empirische Forschungen offen war. Meehl (1989) ging von einer genetisch determinierten Grundlage aus, die wesentlich einen »integrativen neuronalen Defekt« hypothetisch darstellt. Er bezeichnete diesen Phänotyp »Schizotaxie«. Sie ist wesentliche und notwendige ätiologische Bedingung für eine »Schizotypie«, eine aus Schizotaxie und individueller psychosozialer Lerngeschichte resultierende prämorbide Persönlichkeitsstörung, aus der sich in weiterer Folge eine klinisch diagnostizierbare schizophrene Psychose entwickeln kann, aber nicht unbedingt muss. Meehl ging hierbei soweit zu postulieren, dass, was auch immer im Einzelfall die übrige genetische Ausstattung sei und wie auch immer die individuelle Lerngeschichte beschaffen sei, nie eine Schizophrenie sich entwickeln könne, wenn nicht eine basale Schizotaxie vorliege. Meehl hob für die auf einer Schizotaxie beruhende Schizotypie vier symptomatische Kernmerkmale hervor: formale kognitive Fehlleistungen, persönliche Scheu in sozialen Kontakten, Anhedonie und Ambivalenz. Er verstand diese Kernsymptome in Anlehnung an Bleuler als mildere Ausprägungen der Grundsymptome (Lenzenweger 2005).

Dieser Ansatz von Meehl, seine Konzeptualisierung von Schizotypie, die wiederum eine weitgehende Übereinstimmung mit der Operationalisierung von Kety et al. (1968) aufwies, wurde von vielen psychiatrischen Arbeitsgruppen fortgeführt. Hervorzuheben ist beispielsweise der klinische Ansatz von Gerd Huber (1983) zu den »Basissymptomen«. Basissymptome sind diesem Verständnis nach sehr nahe an dem somatischen Krankheitsprozess angesiedelte phänotypische Manifestationen noch-nicht psychotischer, jedoch qualitativ abnormer Störungen der Erfahrung in den Domänen Affektivität, Kognition, Wahrnehmung und Körperlichkeit. Basissymptome können in den Prodromalstadien der Schizophrenie aufgezeigt werden. Auch McGhie und Chapman (1961, 1966) griffen diese Perspektive konstruktiv auf und entwickelten psychometrische Skalen speziell für Störungen der Wahrnehmung und Aufmerksamkeit sowie für Anhedonie als Vorläufersymptomen der Schizophrenie.

1.7       Schizoidie und ihre operationalisierte Umsetzung in DSM-III und Folgeversionen

Der Konstruktionsschritt von DSM-II zu DSM-III führte bei der Konzeptualisierung der Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen zu mehrfachen grundlegenden Veränderungen: Das Cluster A sollte grundlegend jenen sub-psychotischen, persönlichkeitsinhärenten Teil der schizophrenen Spektrumsstörungen abbilden. Im Entwicklungsgang der psychiatrischen Krankheitslehre waren unter einem breiten Schizoidie-Konzept aus unterschiedlichen theoretischen und methodischen Perspektiven mehrere Prototypen formuliert worden. Diese Prototypen sollten nun dieser impliziten theoretischen und ätiologischen Vorannahmen entkleidet und auf eine weitgehend deskriptiv gehaltene Ebene psychopathologisch relevanter Symptome und Verhaltenscharakteristika heruntergeführt werden. Aus zuvor komplexen, meist dimensional konstruierten Prototypen entstanden separate diagnostische Kategorien, die über eine Anzahl festgelegter Kriterien zu definieren waren. Der diagnostische Prozess musste einerseits eine Schwelle beachten, d. h., eine bestimmte Anzahl der innerhalb einer diagnostischen Kategorie aufgeführten diagnostischen Kriterien musste erfüllt sein, um die spezifische Diagnose stellen zu können. Dies führte in einem klinischen und epidemiologischen Kontext zu durchaus heterogenen Samples von Patienten mit derselben Diagnose. Und andererseits konnten bei einem Patienten auch Kriterien aus anderen diagnostischen Kategorien vorliegen (polythetisch), was wiederum Mehrfachdiagnosen bei ein und demselben Patienten nach sich ziehen konnte, ein konstruktionsbedingter Befund, der fortan unter dem »Komorbiditäts-Paradigma« zu diskutieren war.

In DSM-III wurden für den subpsychotischen, persönlichkeitsinhärenten Teil der schizophrenen Spektrumsstörungen drei Persönlichkeitsstörungen aufgeführt: die paranoide Persönlichkeitsstörung mit ihrer grundlegenden misstrauisch-paranoiden Gesamthaltung und ihrer betont feindseligen Affektivität; die schizotypische Persönlichkeitsstörung, die sich wesentlich an die Operationalisierung von Kety anlehnte, aber auch von konzeptuellen Aspekten aus der Schizophrenie simplex, der Borderline-Schizophrenie und dem breiten Schizoidie-Konzept beeinflusst war; die schizoide Persönlichkeitsstörung, die fortan lediglich den »hypästhetisch-introvertierten Pol« aus dem breiten Konzept der »Schizoidie-Schizothymie« beinhaltete, den »ängstlich-hyperästhetischen Pol« jedoch herausnahm und zur eigenständigen vermeidenden Persönlichkeitsstörung schob. Mit dem nachfolgenden DSM-III-R wurden diese diagnostischen Kategorien der schizotypischen, schizoiden und paranoiden Persönlichkeitsstörungen zum Cluster A zusammengefasst. Die vermeidende Persönlichkeitsstörung wurde fortan als ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung im Cluster C gruppiert, veränderte hier aber die frühere psychopathologische Ausrichtung grundlegend, aus der basalen schizoiden Angst wurde vorrangig eine Angst vor interpersoneller Beschämung und sozialer Kritik. In dieser Konfiguration bestand das Cluster A bis DSM-IV-TR fort.

Abb. 1.2: Vorläufer-Prototypen der Schizoidie in ihren Einflüssen auf die Konzeptualisierung der Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen nach DSM-III-R (modifiziert nach Parnas et al. 2005, S. 19)

Die Abbildung zeigt in der Übersicht nochmals die konzeptuellen Wurzeln auf, die in ihren prototypischen Auswirkungen zu den drei Persönlichkeitsstörungen im Cluster A führen (Abb. 1.2). Eine Orientierung an den im DSM-IV-TR (APA 2000) und DSM-5 aufgeführten diagnostischen Kriterien macht aber auch klar, welche bedeutsamen Aspekte aus eben diesen ursprünglichen Vorläufer-Prototypen der Schizoidie hierdurch fortan konzeptuell unbeachtet bleiben. Speziell in der Skizzierung der schizoiden Persönlichkeitsstörung müssen wichtige Aspekte vermisst werden, die noch in den psychopathologisch reichen Beschreibungen der Vorläufer-Konzepte der Schizoidie mitenthalten waren: So das zentrale schizoide Dilemma, weder in zwischenmenschlichen Beziehungen, noch ohne sie psychologisch leben zu können; die profunde Identitätsstörung, die großen charakterologischen und temperamentsbezogenen Widersprüche, die verborgenen Störungen der Sexualität, die nicht seltenen dissozialen Tendenzen auf dem Boden profunder Über-Ich-Defizite (Akhtar 1987).

Das durch das DSM-5 inzwischen abgelöste DSM-IV-TR (APA 2000) unterschied drei Persönlichkeitsstörungen innerhalb des Cluster A: die paranoide, die schizoide und die schizotypische Persönlichkeitsstörungen. Im folgenden sind die damals geltenden Kriterien aufgeführt:

Paranoide Persönlichkeitsstörung

Tiefgreifendes Misstrauen und Argwohn gegenüber anderen mit Beginn im frühen Erwachsenenalter, so dass deren Motive als böswillig ausgelegt werden. Mindestens 4 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

1.  Verdächtigen anderer ohne hinreichenden Grund, ihn/sie auszunutzen, zu schädigen oder zu täuschen

2.  Starke Eingenommenheit von ungerechtfertigten Zweifeln an der Loyalität und Vertrauenswürdigkeit von Freunden und Partnern

3.  Zögerliches Öffnen anderen Menschen gegenüber, aus ungerechtfertigter Angst, die Informationen könnten in böswilliger Weise gegen ihn/sie verwendet werden

4.  Hineinlesen von versteckten, abwertenden oder bedrohlichen Bedeutungen in harmlose Bemerkungen oder Vorkommnisse

5.  Langes Nachtragen, d. h. Kränkungen, Verletzungen und Herabsetzungen werden schwer verziehen

6.  Wahrnehmung von Angriffen auf die eigene Person oder das Ansehen, die anderen nicht so vorkommen, und schnelle Zornreaktionen bzw. Gegenangriffe

7.  Wiederholtes Verdächtigen des Ehe- oder Sexualpartners der Untreue ohne jede Berechtigung

Schizoide Persönlichkeitsstörung

Tiefgreifendes Verhaltens- und Erlebensmuster mit Beginn im frühen Erwachsenenalter, das durch Distanziertheit in sozialen Beziehungen und eine eingeschränkte Bandbreite des Gefühlsausdrucks im zwischenmenschlichen Bereich gekennzeichnet ist. Mindestens 4 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

1.  Weder Wunsch noch Freude an engen Beziehungen, einschließlich der Tatsache, Teil einer Familie zu sein

2.  Sehr deutliche Bevorzugung einzelgängerischer Unternehmungen

3.  Kein bzw. wenig Interesse an sexuellen Erfahrungen mit einem anderen Menschen

4.  Nur wenige (oder sogar keine) Tätigkeiten bereiten Freude

5.  Keine engen Freunde und Vertraute – außer Verwandte 1. Grades

6.  Gleichgültigkeit gegenüber Lob und Kritik von Seiten anderer

7.  Zeigen von emotionaler Kälte, Distanziertheit oder eingeschränkter Affektivität

Schizotypische Persönlichkeitsstörung

Tiefgreifendes Muster sozialer und zwischenmenschlicher Defizite mit Beginn im frühen Erwachsenenalter, das durch akutes Unbehagen in und mangelnde Fähigkeit zu engen Beziehungen gekennzeichnet ist. Mindestens 5 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:

1.  Vorhandensein von Beziehungsideen (aber kein Beziehungswahn)

2.  Seltsame Überzeugungen oder magische Denkinhalte, die das Verhalten beeinflussen und nicht mit den Normen der jeweiligen subkulturellen Gruppe übereinstimmen wie z. B. Glaube an Telepathie oder Hellseherei

3.  Ungewöhnliche Wahrnehmungserfahrungen (einschließlich körperbezogener Illusionen)

4.  Seltsame Denk- und Sprechweise (z. B. umständlich, übergenau oder metaphorisch)

5.  Argwohn oder paranoide Vorstellungen

6.  Inadäquater oder eingeschränkter Affekt

7.  Verhalten bzw. äußere Erscheinung sind seltsam, exzentrisch oder merkwürdig

8.  Mangel an engen Freunden und Vertrauten außer Verwandten 1. Grades

9.  Ausgeprägte soziale Angst, die nicht mit zunehmender Vertrautheit abnimmt und die eher mit paranoiden Befürchtungen als mit negativer Selbstbeurteilung zusammenhängt

1.8       Epidemiologische Befunde zur Schizoidie nach DSM

Mehrere epidemiologische Untersuchungen an repräsentativen Samples aus der Allgemeinbevölkerung geben Auskunft über die Häufigkeit der Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen nach DSM-Kriterien. In der beispielhaften Studie von Torgersen et al. (2001) an 2.053 Personen aus der norwegischen Bevölkerung (Oslo) im Alter von 18 bis 65 Jahren wurde eine Gesamtprävalenz von 13.4 % Persönlichkeitsstörungen nach den diagnostischen Kriterien von DSM-III-R gefunden. Für das Cluster A betrug die Häufigkeit 4.1 %: paranoide Persönlichkeitsstörung 2.4 %, schizoide Persönlichkeitsstörung 1.7 %, schizotypische Persönlichkeitsstörung 0.6 %. Im Cluster A waren Männer doppelt so häufig vertreten wie Frauen. Ferner fielen ein Häufigkeitsgipfel bei Personen über dem 50. Lebensjahr auf, eine geringere Schulbildung, eine prominente soziale Isolation ohne Lebenspartner sowie ein überwiegendes Wohnen in Bezirken des Stadtzentrums.

In einer Übersicht über vorliegende Bevölkerungs-gestützte epidemiologische Studien hebt Torgersen (2012) eine insgesamt bedeutsame Variationsbreite der je ermittelten Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen hervor: paranoide Persönlichkeitsstörung 0.0–3.3 % (Median/Mittel: 1.8 %/1.5 %); schizoide Persönlichkeitsstörung 0.0–4.9 % (0.9 %/1.2 %); schizotypische Persönlichkeitsstörung 0.0–3.3 % (0.7 %/1.1 %). Die entsprechenden Häufigkeitsraten unter klinischen Samples betragen: paranoid 4.2–27.6 % (6.3 %/9.6 %); schizoid 0.5–5.1 % (1.4 %/1.9 %); schizotypisch 0.6–9.1 %, (6.4 %/5.7 %). Auffällig stellt sich hier die durchschnittlich deutlich niedrigere Rate an Patienten mit der expliziten Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung im Vergleich zu jenen mit schizotypischer und insbesondere mit paranoider Persönlichkeitsstörung dar. Ein Vergleich der Häufigkeiten von Clusterstörungen unter stationär oder ambulant behandelten Patienten zeigt: Cluster A 5.6–12.8 % (11.2 %/10.2 %); Cluster B 13.0–49.4 % (32.1 %/31.7 %); Cluster C 21.8–32.5 % (27.6 %/26.9 %). Dieser Vergleich unterstreicht eine allgemein deutlich niedrigere Inanspruchnahme von psychiatrischen Einrichtungen durch Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen im Vergleich zu den Clustern B und C. Hinsichtlich der wichtigen soziodemographischen Variablen »niedrige soziale und berufliche Adaptation« und »niedrige Lebensqualität« nehmen Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen hingegen eine negative Spitzenposition ein.

Die polythetische Vorgehensweise von DSM in der Diagnosestellung einer Persönlichkeitsstörung erlaubt bei einzelnen Probanden/Patienten auch Mehrfachdiagnosen. Für Persönlichkeitsstörungen des Clusters A stellen sich bedeutsame Interkorrelationen sowohl untereinander als auch mit den Persönlichkeitsstörungen aus den Clustern B und C dar (Grant et al. 2004) (Tab. 1.1).

Tab. 1.1: Prävalenzraten der Persönlichkeitsstörungen und Interkorrelationen zwischen den Persönlichkeitsstörungen im National Epidemiological Survey on Alcoholism and related Conditions (modifiziert nach Grant et al. 2004)

1.9       Genetische Befunde zur Schizoidie nach DSM

Bereits in der Vor-DSM-III-Ära haben sich einige psychiatrische Arbeitsgruppen darum bemüht, das Konzept der schizophrenen Spektrumsstörungen oder ähnlicher Vorläufer-Konzepte an Familienangehörigen schizophrener Indexpatienten empirisch zu überprüfen. So beobachtete beispielsweise Heston (1966) bei Verwandten 1. Grades von schizophrenen Patienten ein gehäuftes Vorkommen nicht nur von schizophrenen Psychosen, sondern auch von »schizoiden Psychopathen«. In der berühmten Maudsley-Zwillingsstudie fand sich mit einem breiten Schizophrenie-Spektrum-Konzept eine nahezu vollständige Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingspaaren (Gottesman und Shields 1972). In einer Zusammenstellung der einschlägigen Familien- und Zwillingsstudien, einschließlich auch jener nachfolgenden, mit DSM-basierten diagnostischen Kriterien durchgeführten Untersuchungen, schlussfolgerten Parnas et al. (2005), dass bis auf eine Ausnahme alle Studien einen klaren familien- und zwillingsgenetischen Zusammenhang zwischen der Diagnose einer Schizophrenie einerseits und einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung andererseits feststellten. Dieser Zusammenhang fiel für die paranoide Persönlichkeitsstörung deutlich geringer aus und konnte für die schizoide Persönlichkeitsstörung auf der Basis von DSM-Kriterien nur schwach nachgewiesen werden (Kendler 1988).

Eine Studie ist beispielhaft hervorzuheben. In der umfangreichen, methodisch sehr anspruchsvoll durchgeführten Roscommon Family Study an einem irischen Sample von 543 Patienten mit psychiatrischen Störungen (Schizophrenie, andere nicht-affektive Psychosen, affektive Psychosen) aus einem psychiatrischen Fallregister und 2.043 Familienangehörigen sowie einer per Zufall ausgewählten Kontrollgruppe von 150 Familien und 518 Familienangehörigen wurde der Zusammenhang zu fünf als möglichen Schizophrenie-Spektrumsstörungen gruppierten Persönlichkeitsstörungen (schizotypisch, paranoid, schizoid, Borderline, vermeidend; gemäß DSM-R-Kriterien) untersucht (Kendler et al. 1993). Die Hauptergebnisse waren: Verwandte 1. Grades von schizophrenen Patienten wiesen gegenüber Familienmitgliedern der Kontrollgruppe eine hochsignifikant erhöhte Rate an schizotypischen Persönlichkeitsstörungen, einen mäßigen, aber signifikanten Zusammenhang zu paranoiden, schizoiden und vermeidenden, aber keinen Zusammenhang zur Borderline-Persönlichkeitsstörung auf. Die Rate an schizotypischen Persönlichkeitsstörungen war analog hoch auch unter Familienangehörigen von Patienten mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung und anderen nicht-affektiven Psychosen, hingegen nicht bei Patienten mit psychotischen und nicht-psychotischen affektiven Erkrankungen. Eine gewisse Clusterung der Borderline-Persönlichkeitsstörung zeigte sich für die affektiven Psychosen, obwohl die absoluten Fallzahlen insgesamt niedrig waren.

Der erklärbare Zusammenhang von schizophrenen Spektrumsstörungen bei Patienten und Familienangehörigen 1. Grades betrug 0.36, und damit ca. die Hälfte des Heritabilitätskoeffizienten der Schizophrenie mit 0.7. Das Modell der familiären Transmission schien einem multifaktoriellen Schwellenmodell für ein und dieselbe Grundvulnerabilität zu folgen. Die Schwelle für eine schizotypische Persönlichkeitsstörung schien niedriger als jene für Schizophrenie zu liegen, sich aber nicht signifikant von anderen nicht-affektiven Psychosen oder der schizoaffektiven Psychose zu unterscheiden (Kendler et al. 1995a).

Im Rahmen dieser Studie wurde auch ein mehrdimensionales Schizotypie-Konstrukt mit 25 Einzelsymptomen überprüft, die einer negativen, einer positiven, einer Borderline-, einer sozial dysfunktionalen, einer sprachauffälligen sowie einer misstrauischen Symptomgruppe zuzuordnen waren. Mit Ausnahme der Borderline-Symptome diskriminierten all diese schizotypischen Symptomgruppen signifikant Verwandte schizophrener Probanden von Verwandten der Kontrollen. In absteigender Rangfolge stellte sich die Odds-Ratio wie folgt dar: eigenartige Sprache, soziale Beeinträchtigung, misstrauisches Verhalten, negative Schizotypie, Vermeidungsverhalten und positive Schizotypie (Kendler et al. 1995b).

Das theoretische Modell von Meehl postuliert, dass alle Personen mit Schizotypie auch den Endophänotyp Schizotaxie aufweisen, aber nicht alle im weiteren Verlauf zur voll ausgebildeten schizophrenen Psychose fortschreiten: Aus der Perspektive von Patienten mit der Diagnose einer Schizophrenie kann daher die Frage gestellt werden, ob die prämorbiden Persönlichkeiten mehrheitlich den auf Schizotypie basierenden Persönlichkeitsstörungen zuzuordnen sind, also dem Prototyp einer schizotypischen Persönlichkeitsstörung ähnlich sind. Die Daten der Kopenhager High-Risk-Studie schienen dies zu nahe zu legen. Störungen des Affekts und des emotionalen Rapports, soziale Isolationstendenz und diskrete formale Denkstörungen bei High-Risk-Jugendlichen prädizierten schizophrene Spektrumsstörungen (Parnas und Jørgensen 1989; Tyrka et al. 1995). Zu ganz analogen Ergebnissen kam auch die New York High-Risk-Studie: Prämorbid gemessene Störungen der Aufmerksamkeitsleistungen sagten eine spätere Anhedonie vorher, die wiederum auf nachfolgende schizotypische Zeichen und Symptome verwies. Ein erhöhtes Ausmaß an formalen Denkstörungen und Negativsymptomen prädizierte wiederum schizophrene Psychosen im Erwachsenenalter (Friedman et al. 1998). In einer Zusammenschau der vorliegenden retrospektiven Studien wurde ebenfalls bestätigt, dass die große Mehrheit der schizophrenen Patienten in ihrer prämorbiden Persönlichkeit vermeidende, paranoide, schizoide und schizotypische Merkmale aufweisen (Rodriguez Solano und De Chavez 2000).

Neben Familien- und Zwillingsstudien wird ein genuiner Zusammenhang von schizophrener Psychose einerseits und Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen als schizophrenen Spektrumsstörungen andererseits auch in molekulargenetischen Untersuchungen angedeutet. Erste Befunde liegen allerdings nur für die schizotypische Persönlichkeitsstörung vor (Rosell et al. 2015): Der Val158-Met-Polymorphismus des Catechol-O-Methyltransferase(COMT)-Genotyps ist am intensivsten in diesem Kontext untersucht worden. Die Assoziationen zu nichtklinischen Probanden mit erhöhten psychometrischen Schizotypie-Scores, zu Familienangehörigen schizophrener Patienten oder zu Familienangehörigen bipolar affektiver Patienten mit starker psychosozialer Traumatisierung sind aber nicht eindeutig. Auch liegen weniger Korrelationen zur Diagnose der schizotypischen Persönlichkeitsstörung vor, sondern eher zu distinkten Dimensionen aus dem Schizotypie-Konstrukt. Die Ergebnisse zu einzelnen dieser Symptomdimensionen (interpersonal/negativ; kognitiv-perzeptiv-positiv; soziale/körperliche Anhedonie; kognitiv-dysfunktional) sind aber ebenfalls nicht konsistent. Aufgedeckte Zusammenhänge scheinen bedeutsam von dem jeweils eingesetzten psychometrischen Schizotypie-Verfahren abhängig zu sein. Varianten des CACNA1C-Gens, das die Funktion der Kalziumkanäle reguliert und sowohl mit Schizophrenie als auch mit bipolar affektiver Störung assoziiert ist, zeigt einen Zusammenhang auch mit wahnhafter Ideation bei nichtklinischen Probanden und bei Personen mit schizotypischer Persönlichkeitsstörung. Andere Genpolymorphismen scheinen möglicherweise wiederum mit nur einzelnen Schizotypie-Symptomen einherzugehen (z. B. ZNF804A – Zink-Finger-Protein: Paranoia, Beziehungsideen; DISC1 – neuronale Zellentwicklung: Negativsymptome, soziale Anhedonie; DRD2, SCLC6A3, MAO-A – positive Schizotypie (Barrantes-Vidal et al. 2015); DRD4, Dopamin-β-Hydroxylase – Psychose-ähnliche Symptome; Prolin-Dehydrogenase – verbales Gedächtnis, Angstniveau bei Schizotypie; RGS4, DAAO – negative Schizotypie; Dysbindin – positive und paranoide Schizotypie; Neuroregulin, ERBB4 – kognitive Dysfunktionen, interpersonale Defizite, Paranoia, schizotypische Persönlichkeitsstörung (Perez-Rodriguez et al. 2013)).

Die bisher vorliegenden molekulargenetischen Daten lassen wenig Zweifel daran, dass sehr viele Genorte additiv zu jener Disposition für Schizophrenie beitragen, die mit dem multidimensionalen Schizotypie-Konstrukt erfasst wird. In den Untersuchungen aufgedeckte Befunde legen eine Differenzierung zum einen nach jenen genetischen Faktoren nahe, die vorrangig die Varianz der Schizotypie-Anlage erklären, und zum anderen jenen, die im Weiteren den Übergang zum klinischen Krankheitsbild Schizophrenie mitbestimmen (Grant 2015). In einer ätiopathogenetischen Gesamteinschätzung muss aber auch von bedeutsamen Umweltfaktoren bzw. von Gen-Umwelt-Interaktionen ausgegangen werden (Kendler et al. 2008, 2011), wobei genetischen Einflüssen im Hinblick auf die Langzeitstabilität der Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen die entscheidende Rolle zukommen dürfte (Kendler et al. 2015). Es ist derzeit empirisch nicht zu beantworten, ob eventuell bestimmte Genpolymorphismen, z. B. solche mit nachgewiesen höherer Assoziation zu positiven Symptomdimension des Schizotypie-Konzeptes, auch von Relevanz für die paranoide Persönlichkeitsstörung sind und umgekehrt, ob jene mit Bezug zu negativen oder Anhedonie-Symptomen des Schizotypie-Konzeptes einen anlogen Einfluss auf die schizoide Persönlichkeit besitzen, wenn diagnostische Kriterien nach DSM-III bis DSM-IV-TR zugrunde gelegt sind.

1.10     Umweltbezogene biologische und psychosoziale Befunde zur Schizoidie nach DSM

Speziell für die schizotypische Persönlichkeitsstörung lassen sich ähnliche biologische Umweltfaktoren nachweisen, wie sie auch in der Ätiopathogenese der Schizophrenie mitdiskutiert werden. Eine Exposition gegenüber dem Influenza-Virus (H3N2) im 2. Trimenon der Schwangerschaft ist für die schizotypische wie auch für die schizoide Persönlichkeitsstörung als pränatal einwirkende Noxe beschrieben worden (Machón et al. 2002; Kirkpatrick et al. 2008). Komplikationen während der Entbindung und niedriges Geburtsgewicht weisen ebenfalls eine signifikante Assoziation mit Schizotypie auf (Bakan und Peterson 1994). Eine vermittelnde Rolle könnten hierbei die nicht nur bei der Schizophrenie, sondern auch bei schizotypischen Persönlichkeiten gehäuft vorkommenden diskreten neurologischen Auffälligkeiten (neurological soft signs) spielen (Theleritis et al. 2012).

Ein bedeutsamer Zusammenhang wird ferner für den Konsum von Cannabis im Hinblick auf eine pharmakologisch induzierte erhöhte Rate von Psychose-ähnlichen Symptomen gefunden (Barkus et al. 2006; Anglin et al. 2012). Allerdings ist hierbei die zeitliche Abfolge nicht klar. Die Möglichkeit von bereits vorbestehenden Zeichen einer Schizotypie und erhöhtem Risiko eines in der späteren Entwicklung einsetzenden Cannabiskonsums ist zu diskutieren (Schiffman et al. 2005).

Einen bedeutsamen Einfluss auf das Schizotypie-Risiko üben auch zahlreiche psychosoziale Stressoren aus. Sie werden ähnlich wie auch für die Schizophrenie als Variablen eines sogenannten »Schizophrenie-Enviroms« zusammengefasst: Migrationsstatus, ethnische Minorität, Armut, ungünstige Wohnverhältnisse in Großstadtzentren, soziale und familiäre Stressoren, frühkindliche und aktuelle Traumata (van der Os et al. 2009). Der Zusammenhang mit positiven Symptomen des Schizotypie-Konstrukts scheint insgesamt am deutlichsten ausgeprägt zu sein (Brown 2011; van Os et al. 2010). Die schädlichen Effekte dieser psychosozialen Stress-Variablen werden meist in einer Interaktion mit genetischen Variablen vermittelt (Savitz et al. 2010).

Für die beiden anderen Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen mit prominent schizoidem bzw. paranoidem Symptomprofil liegen insgesamt deutlich weniger empirische Studien sowohl hinsichtlich biologischer als auch psychosozialer Umweltvariablen vor.

Für die schizoide Persönlichkeitsstörung existieren Befunde aus Studien, die einen Zusammenhang zu emotionalem Missbrauch, mütterlicher Vernachlässigung, Heimunterbringung in der Kindheit und unsicherem, vermeidendem oder abweisendem Bindungsstil unterstreichen (Hopwood und Thomas 2012). Benjamin (1993) entwickelte ein hypothetisches Modell der frühkindlichen Entwicklung, das einerseits eine formal ordentliche Erziehungsatmosphäre mit einer lieblosen Befriedigung von Grundbedürfnissen und einer disziplinierenden Vorbereitung auf die Arbeitswelt verbindet und andererseits eine selbstregulative Tröstung in isolierendem Rückzug, eine Hinwendung zu exzessiver Phantasietätigkeit sowie eine Vermeidung von emotional nahen Beziehungen als sekundäres Schutzverhalten diskutiert. Horowitz (2004) hob als zentrales Merkmal dieser frühen schizoiden Entwicklung wiederkehrende Erfahrungen von Nähe mit gleichzeitig erlebter Gefährlichkeit hervor. Auch wenn diese Überlegungen mit zahlreichen psychoanalytischen Vorstellungen konkordant gehen, stehen empirische Überprüfungen dieses Modells noch aus. Ein weiteres, theoretisch fein begründetes Modell legte Lenzenweger (2010) vor. Es berücksichtigte empirisch begründete Aspekte von rigidem Erziehungsklima, emotionaler Vernachlässigung, verbalem und körperlichem Missbrauch in ihren Auswirkungen auf das entstehende Bindungssystem und fokussierte speziell auf ein basales Versagen von Erziehungspersonen in der »Zone der proximalen Entwicklung«. Nach Vygotski (1978) folgen entscheidende Entwicklungsfortschritte nicht nur einem genetisch programmierten Grundtemperament automatisch, sondern sind gerade bei Schwierigkeiten auf eine geduldige Unterstützung und positive Lenkung in wechselseitiger Beziehung von Kind und Eltern angewiesen. In einer prospektiven Studie über vier Jahre mit Mehrfachmessungen konnte Lenzenweger an einem Sample von Collegestudenten mittels einer hierarchischen Regressionsanalyse nachweisen, dass Daten zur frühen Beziehungsqualität in der »Zone der proximalen Entwicklung« sehr eng mit der Temperaments-basierten Dimension von »Soziabilität« verbunden sind, diese wiederum Werte der positiven versus negativen Emotionalität als Indikator für das etablierte Bindungssystem prädizieren und schließlich signifikant mit den psychopathologischen Scores einer schizoiden Persönlichkeit assoziiert sind.

Auch die Entwicklung einer paranoiden Persönlichkeitsstörung scheint multiplen ätiopathogenetischen Pfaden zu folgen (Hopwood und Thomas 2012). Korrelative Zusammenhänge zu diversen Traumatisierungen und Trauma-Folgestörungen wie PTSD sind empirisch zu ermitteln und eine zugrunde liegende Angstdisposition anzunehmen (Lobbestael et al. 2010). Möglicherweise erreichen traumatologische Aspekte der frühen Entwicklung ihre schädlichen Auswirkungen aber nicht unilinear, sondern im Verein mit weiteren nachteiligen Umweltfaktoren (Berenz et al. 2013). Erfahrungen von Missbrauch und Demütigung erscheinen in einer Assoziation mit einem abweisenden Bindungsstil sowie mit einer perzeptiven Tendenz, ambivalente soziale Signale verstärkt als feindselig zu interpretieren (Oltmanns et al. 2004). Eher hirnorganisch basiert sind paranoide Entwicklungen nach Schädelhirnverletzungen einerseits und chronischem Kokainkonsum andererseits einzustufen (Koponen et al. 2002; Hopwood et al. 2008). Interessanterweise teilen Probanden sowohl mit ängstlich-vermeidenden als auch mit paranoiden Persönlichkeitsmerkmalen zahlreiche gemeinsame psychometrische Charakteristika, die angstbasiert sind. Beide Persönlichkeitsprofile unterscheiden sich aber in einem wesentlichen Detail: Erhöhte Indikatoren für Wahrnehmungsanomalien, die in einem virtuellen Wahrnehmungssetting ermittelt werden, prädizieren erhöhte Paranoia-Scores und bewirken umgekehrt eine Reduktion der Werte in den Skalen für soziale Angst (Freeman et al. 2008). Diese Befunde werden auch durch neuere Studien bestärkt, die beide Dimensionen von sozialer Angst und Paranoia innerhalb eines Schizotypie-Konstrukts untersucht haben (Horton et al. 2014; Morrison und Cohen 2014). Sie sind auch mit einer psychodynamischen Perspektive sehr gut vereinbar. Eine habituelle Neigung zur Projektion ist für einen paranoiden Standpunkt essentiell. Es ist aber möglicherweise nicht die Projektion per se, sondern vielmehr die aus psychodynamischen Gründen notwendige Verleugnung der projizierten Inhalte, die wesentlich zur pathologischen Note beiträgt. Sie bedingt einen andauernden Zustand einer potentiellen Bedrohung, eine nach außen gerichtete Hypervigilanz und eine feindselige Gegenmobilisierung (Shapiro 1965).

1.11     Neurobiologische und neuropsychologische Befunde zur Schizoidie nach DSM

Mehrere neurobiologische Studien zeigen ähnliche Auffälligkeiten in der strukturellen Hirnorganisation von schizophrenen und schizotypischen