Schlesisches Himmelreich - Sigrid Glinka - E-Book

Schlesisches Himmelreich E-Book

Sigrid Glinka

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Beschreibung

Ein authentischer, liebevoller und spannender Roman über das Leben der Familie Glinka, einer Kaufmannsfamilie aus Oberschlesien im Zeitraum zwischen 1906 bis 1966, Erlebnisse und Schicksale in, vor, während und nach zwei Weltkriegen.

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die wechselvolle Geschichte einer oberschlesischen Kaufmannsfamilie in den Jahren 1906 bis 1966

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

Kapitel 1: Frieda und ihre 6 Männer

Kapitel 2: Lehrzeit in Gleiwitz

Kapitel 3: Schuster Weda und die Familie

Kapitel 4: Endlich geht das Lotterleben zu Ende

Kapitel 5: Frieden erhofft - Krieg gab es!!!

Kapitel 6: Rietberg und Neuenkirchen

Kapitel 7: Sigrid, die Autorin dieses Buches und ihr Bruder Klaus-Dieter

Kapitel 8: Neuer Anfang!!!

Kapitel 9: Es geht nach Werdohl

Kapitel 10: Sigrid wird erwachsen

Kapitel 11: Das Schicksal schlägt zu

Kapitel 12: Das neue Auto

Kapitel 13: Stuttgart, die moderne Stadt zwischen Wald und Reben

Kapitel 14: Joachim

Kapitel 15: Auf zu neuen Ufern

Kapitel 16: Standesamtliche Hochzeit in Starnberg

Kapitel 17: Kirchliche Hochzeit in Brakel

Kapitel 18: Überraschung???

Kapitel 19: Wer sucht, der findet

Kapitel 20: Ein neues altes Auto

NACHWORT

VORWORT

Sigrid Glinka erzählt die Geschichte meiner Familie über einen Zeitraum von 60 Jahren, 1906 bis 1966.

Der erste Weltkrieg, die Inflation und Weltwirtschaftskrise, der zweite Weltkrieg, die Vertreibung und der Neubeginn prägen die Erlebnisse

Kapitel 1

Frieda und ihre 6 Männer

Der große Junge, der mit riesigen Schritten durch die Straßen von Gleiwitz läuft, hat ein ganz bestimmtes Ziel. Er kommt aus einem kleinen Ort zwischen Kattowitz und Gleiwitz. Den weiten Weg läuft er zu Fuß. Ein Zug fährt zwar, aber das Geld dafür hat er nicht. Ein hübsches Städtchen ist dieses Gleiwitz, mit viel Grün. Die Bäume, glaubt man, wachsen in den Himmel. Es ist September und sie haben herrliche bunte Blätter. Der Park in der Mitte der Stadt ist sehr gepflegt. Die Stadt hat im Moment aber auch sehr viele Baustellen. Es wird überall gebaut und die Bevölkerung wächst und wächst.

Er geht zu dem großen Kolonialwaren-Händler in der Innenstadt, direkt am Marktplatz. Dort fängt er heute seine Lehre an. Er ist sehr gespannt auf das Neue in seinem Leben. Dass er diese Stelle bekam ist fast ein Wunder. Seine Mutter hat alle Hebel in Bewegung gesetzt. Das heißt, sie hat seinen Opa, der Bürgermeister seines Heimatdörfchens bei Kattowitz ist, unter Druck gesetzt.

Als seine Mutter namens Frieda ein junges, hübsches 17-jähriges Mädchen mit langen schwarzen Haaren war, kam sie in den Haushalt dieses Bürgermeisters. Sie hießen Glinka und waren angesehene Leute mit einem großen Haushalt. Es gab Gärtner, Kutscher und viele weitere Angestellte. Sie lernte auch Pitro kennen, den Sohn des Hauses. Die beiden waren fast im gleichen Alter. Im großen Garten tollten sie oft herum. Sie waren ein Herz und eine Seele. So kam es wie es kommen musste, sie wurden ein heimliches Liebespaar. Die anderen Angestellten merkten wohl etwas und warnten Frieda. Die wollte aber nichts davon wissen. Sie war ja so verliebt.

Das ging so ein ganzes Jahr gut. Frieda wurde fülliger. Die Schürze spannte. Die Köchin sagte zu ihr: „Na, jetzt hast du ja endlich mal etwas auf die Rippen bekommen.“ Erst da merkte Frieda, dass etwas nicht stimmte. Sie kam aus einem Elternhaus, wo es noch sechs kleine Geschwister gab.

Als Pitro und Frieda wieder zusammen waren, erklärte sie ihm, dass sie schwanger sei. Er sagte gar nichts. Doch danach war er für sie nicht mehr zu erreichen. Zuerst machte sie sich keine Gedanken. Wird wohl bei einem Freund sein. Als er aber nach einer Woche immer noch nicht wieder bei ihr war, fragte sie den Kutscher: "Hast du Pitro irgendwo hingefahren?" „Ja, ja", sagte er, „letzte Woche zur Verwandtschaft nach Breslau.“ Nun wurde es Frieda bewusst, dass von Pitro nichts mehr zu erwarten war. Angst kroch ihr in den Hals. Bei ihren Eltern konnte sie auf keine Hilfe hoffen. Denen brauchte sie gar nicht zu kommen.

Sie war gerade dabei, die Betten der Dame des Hauses, Elsa, frisch zu beziehen. Dabei heulte sie vor sich hin. Da kam die gnädige Frau ins Zimmer. „Friedalein, was ist denn los. Hast du dir weh getan?“ „Nein, nein, nein“, stammelte sie. „Ich, ich bekomme ein Kind.“ „Ja", sagte Elsa, „das ist doch nicht schlimm. Dann wird eben geheiratet. Wer ist denn der Glückliche?" Frieda wurde klar, dass Pitro den Eltern nichts erzählt hat. So sagte sie ganz leise: „Pitro.“ „Was hast du gesagt?“ „Pitro", sagte sie lauter. „Das kann doch nicht sein", sagte die gnädige Frau, „das ist doch noch ein Bübchen. Jetzt muss ich erst mal mit Pitro und meinem Mann sprechen.“ Schnurstracks ging sie erst zu ihrem Mann, der heute mal im Haus war. Er war ja sonst viel unterwegs als Bürgermeister. Es ging im Wohnzimmer ziemlich laut zu. Ja, die Eltern hatten sich für ihren Sohn eine andere Frau vorgestellt. Frieda stand im Flur. Ihr wurde angst und bange, als es immer lauter wurde. Die Herrschaft rief Frieda ins Zimmer und sagte: „Wir müssen mit Pitro reden.“ Dann schickten sie Frieda in die kleine Kammer, die sie mit noch einem Mädchen teilte.

Das Bübchen war natürlich nicht zu Hause, wie in letzter Zeit öfters seit er wusste, dass Frieda schwanger war. Er hatte Angst vor seinen Eltern. Was hatte ihn nach Breslau getrieben? Die pure Angst vor seinen Eltern. Jetzt müsste man etwas tun. Keiner durfte erfahren, wer der Vater von Friedas Kind war. Pitro sollte ja mal standesgemäß heiraten. Die Angestellten wurden zum Stillschweigen verurteilt. Wer etwas erzählte könnte mit der Kündigung rechnen. So waren die Eheleute sicher, dass Pitros Fehltritt geheim blieb. Aber was sollte man mit Frieda machen? Am besten wäre, man fände einen Mann für Frieda den sie so schnell wie möglich heiraten würde. Davon wollte Frieda aber gar nichts wissen. Sie wollte halt nur Pitro. Also musste man es raffinierter anfangen.

Damit fing ein neues Leben für Friederike an. Zuerst musste sie ins Gartenhäuschen ziehen. Das gefiel ihr eigentlich recht gut. Schwere Arbeiten, wie Wäsche waschen, waren tabu. Die Eheleute Glinka wollten sich nichts nachsagen lassen. Schließlich war man Bürgermeister des Ortes. Da musste man Vorbild sein. Viel arbeiten musste sie nicht mehr. Es ging ihr eigentlich ziemlich gut. Nur von Pitro hörte sie gar nichts. Es war das Jahr 1907. Am 6.Juni um 18.00 Uhr kam der kleine Georg zur Welt. Die Geburt war problemlos. Als die ersten Wehen einsetzten ließ die Herrin ihren Hausarzt kommen. Das war alles schon vorher besprochen worden. Dann ging es auch schnell. Georg war ein sehr großes Baby. Die gnädige Frau und auch der gnädige Herr waren jetzt Oma und Opa und ganz vernarrt in das Baby. Georg war ein ruhiges Kind und weinte sehr selten. Wenn man mit ihm sprach, lachte er immer.

Nur einer ließ gar nichts von sich hören, Pitro. Seine Eltern hatten ihn nach der Geburt durch den Kutscher informiert. Der war nach Breslau gefahren, um ihn zu holen. Aber er dachte gar nicht daran nach Hause zu kommen. Nichts hörte man von ihm. Friederike weinte oft. Und mit der Zeit entwickelte sie einen unbändigen Hass auf Pitro. Von der Herrschaft wurden sie und Georg verwöhnt. Sie durfte ganz für ihren kleinen Jungen da sein. Oma Elsa ging stundenlang mit Georg spazieren. Frieda war in dieser Zeit oft bei der Köchin. Sie lernte viel und mit der Zeit konnte sie richtig gut kochen.

Es gab im Haus immer viele Gesellschaften zu bewirten. Da wurde aufgekocht, dekoriert, viel gelacht und geredet. Der Mittelpunkt war meistens Georg, der sich im ganzen Haus frei bewegen durfte. Eines Abends war es wieder so weit. Unter den geladenen Gästen waren auch ein paar Offiziere. Schmucke Kerle in ihren Uniformen. Frieda servierte in der guten Stube. Die Männer sangen Lieder und lachten über Gott und die Welt. Kein Krieg war in Sichtweite.

Es war das Jahr1909. Frieda war auch wieder mal richtig lustig, denn da gab es einen, den Fritz. Der hatte ein Auge auf Frieda geworfen. Sie merkte es schon. Aber nach ihren schlechten Erfahrungen mit Pitro ging sie nicht darauf ein. Fritz ließ sie aber nicht in Ruhe. Er kam immer wieder und brachte Geschenke für Klein Georg und für sie mit. Mit der Zeit hatte er Erfolg. Sie ging mit ihm spazieren und sie kamen sich näher. Frieda erzählte Fritz von Pitro alles, auch, dass er sich nicht mal nach der Geburt von Georg gemeldet hatte. Fritz nahm sie nur in den Arm, wischte ihre Tränen weg und sagte dann: „Ich bin anders und ich möchte dich heiraten.“ Damit hatte er Friedas Herz erobert.

Nun konnte es Frieda nicht schnell genug gehen. Nur weg aus diesem Haus in dem man sie sowieso als Schwiegertochter nicht haben wollte. Georg hätten sie zwar gern adoptiert, aber das ließ ihr Stolz nicht zu.

Zuerst musste man eine kleine Wohnung finden, egal wie diese Wohnung aussah. Was sie fanden war nicht berauschend aber immerhin waren es zwei Zimmerchen. Das Klo war, wie immer in dieser Zeit, ein Plumpsklo hinter dem gesamten Baracken-Block. Nicht so ein schönes Bad wie bei den Glinkas. Waschen und Kochen war in einem Raum. Alles wurde eigentlich da gemacht. Sie hatten aber Glück, denn zum Schlafen gab es noch einen kleinen Raum mit zwei großen Strohbetten. Für Georg durfte sie das kleine Kinderbettchen von Glinkas mitnehmen.

Es reichte und was wollte sie mehr? Fritz brachte brav seinen Sold nach Hause. Nicht wie so viele andere Soldaten, die erst mal fröhlich in eine Kneipe feiern gingen.

Fritz war ein ordentlicher, fröhlicher Mann. Er liebte seine Frieda und den Georg abgöttisch. Die Heirat sollte bald sein. Frieda war einfach glücklich, auch wenn da dieser Stachel in ihrem Herzen war. Ja, diese Wut auf Pitro. Sie hatte sich eine neue Arbeit gesucht. Es war nicht das was sie sich erträumt hatte. In einer Wäscherei hatte sie eine Anstellung gefunden. Die Arbeit war sehr schwer, aber sie wurde gut bezahlt.

Eines Abends, als sie von der Arbeit nach Hause ging, kam ihr Pitro mit einer eleganten, hübschen, jungen Frau entgegen. Erst starrten sie sich minutenlang an. Dann schaute jeder schnell weg. Kein Wort sprachen sie miteinander. In Frieda kochte es. Jetzt wollte sie sich rächen. Sie wusste auch schon wie. Keiner sollte ja wissen, wer der Vater von Georg ist. Bis jetzt hatte sie es auch niemandem erzählt. Doch am nächsten Tag ging sie aufs Amt. Sie gab Pitro als Vater an. Ab sofort hieß Georg mit Nachnamen Glinka. Das löste in dem kleinen Ort bei Kattowitz ein großes Gerede aus. „Der Pitro vom Bürgermeister hat ein Kind mit der Frieda. Der ist der Vater vom Georg aber das haben wir doch alle geahnt.“ So ging das Getratsche im Dorf herum. Natürlich stehen die feinen Leute nicht dazu, doch nun wussten es alle. Die Familie Glinka war natürlich nicht begeistert. Sie wollten nichts mehr mit Frieda zu tun haben.

Elsa, die ihren Enkelsohn vermisste, tat es sehr weh. Sie wollte noch mal versuchen, mit Frieda zu sprechen. Sie hätte schon immer gern Georg adoptiert. Also machte sie sich auf den Weg in die Baracke zu Frieda. Was sie da vorfand übertraf alle ihre Vorstellungen. So armselig hatte sich die gnädige Frau das nicht vorgestellt. Jetzt musste sie erst recht Georg hier rausholen. Frieda war allein daheim und Sie war sehr überrascht, die gnädige Frau Elsa zu sehen. Deren Schreck über die Armseligkeit ihrer Wohnung hatte sie gleich bemerkt. Frieda konnte sich nicht denken, warum die Gnädige sie besuchte. Sie bot der Frau Glinka einen Stuhl an und fragte sie, ob sie was trinken wolle, was diese verneinte. Frieda war nervös. Da ergriff Frau Elsa das Wort.

„Frieda, ich möchte dir einen Vorschlag machen“, sprach sie. „Nachdem nun alle hier wissen, wer der Vater von Georg ist, wäre es für ihn doch besser, wir würden ihn adoptieren.“ Frieda glaubte, sie habe falsch gehört. Sie konnte es einfach nicht begreifen. Diese Frechheit! Sie rief nun laut, und immer lauter: „Raus, raus, raus.“ Das war einfach zu viel für sie.

Erst ließ Pitro sie im Stich und nun wollten sie Georg ganz für sich. Eine unvorstellbare Frechheit! Heulend warf sie sich auf ihr Bett. So blieb sie liegen, bis Fritz und Georg heimkamen. „Was ist denn los", fragten beide gleichzeitig. Als Frieda alles erzählt hatte, sagte Fritz: „Ach, Friedchen“, so nannte er sie, wenn er besonders lieb zu ihr sein wollte, „wenn wir verheiratet sind, werde ich Georg adoptieren. Dann sind die Verhältnisse geklärt.“ Das war Musik in Friedas Ohren. Nun war sie sich sicher, dass Georg bei ihr bleiben würde.

Die Heirat auf dem Standesamt sollte in vier Wochen sein. Es gab viel zu tun. Sie wollte sich noch ein schönes Kleid nähen. Den Stoff hatte ihr Gisela, eine Freundin die als Verkäuferin in Gleiwitz arbeitete, besorgt. Diese sollte auch mit ihrem Verlobten Trauzeuge sein. Mehr Gäste würden wohl nicht zu dieser Hochzeit kommen. Giselas Verlobter war natürlich auch Soldat. Zum Wochenende trafen sie sich öfter und gingen tanzen. Georg konnte gut allein zu Hause bleiben. Er war jetzt schon sechs Jahre alt. Bald würde er in die Schule kommen. Er freute sich besonders auf die Hochzeit, denn dann hätte er endlich auch einen Vati.

Der Tag der Heirat kam schnell. Das Kleid war fertig. Fritz würde natürlich in Uniform gehen. Für Georg hatte seine Mutti eine dreiviertellange Hose, ein weißes Hemd und eine Weste geschneidert. Wie richtig feine Leute kamen sich alle drei vor. Nun musste nur noch das Essen vorbereitet werden. Aber das hatte sie ja in der Küche bei den Glinkas gelernt. Eine gute Suppe mit selbstgemachten Nudeln konnte man ja schon einen Tag früher fertig machen. Der Nudelteig musste sowieso erst trocknen. Danach sollte es grüne Klöße mit viel Soße geben und ein Gemüse aus dem Garten. Zum Schluss würde man dann noch Mohnklößchen servieren. Die Stube war feierlich geschmückt. Alle drei waren aufgeregt. Der nächste Tag sollte etwas Besonderes werden. Früh um 8 Uhr waren sie abmarschbereit. Zum Standesamt war es eine halbe Stunde zu laufen. Aber natürlich kamen sie zu früh. Die Trauzeugen standen schon vorm Haus. Gemeinsam warteten sie. Vor ihnen gab es eine Trauung mit vielen Angehörigen. Frieda dachte, so könnte es bei mir auch sein. Sie hatte nur keinem von ihren Geschwistern von der Hochzeit erzählt. Seit Georgs Geburt hatte sie keinen Kontakt zu ihren Angehörigen. Sie hatte ihnen nichts gesagt. Einfach geschämt hatte sie sich, dass sie so dumm und naiv war, sich mit Pitro einzulassen. Was hatte sie sich denn gedacht? Dass er die einfache Putzfrau heiraten würde? Nun war sie glücklich und verliebt in ihren Fritz. Richtig zufrieden war sie. In einer Stunde würde sie Frau Schuch sein.

Nun ging alles sehr schnell. Fritz schaute Frieda so liebevoll an und gab ihr einen langen Kuss. Er hob sie hoch und wirbelte sie einmal im Kreis herum. Alle lachten aus vollem Herzen. So kann das Leben weiter gehen, dachten sie beide.

Im Gänsemarsch gingen alle zur Wohnung. Nun wurde so richtig gefeiert. Das gute Essen und Trinken sorgte für eine tolle Stimmung. Spät, sehr spät, fielen sie ins Bett. Georg freute sich besonders. Jetzt hatte er einen Vati, so wie alle seine Freunde, endlich. Am nächsten Tag ging das Leben wieder seinen gewohnten Gang. Fritz musste in die Kaserne, Frieda in die Wäscherei. Nur Georg durfte spielen gehen zu seinen Freunden. Doch das würde nun bald ein Ende haben. Der erste Schultag rückte immer näher. Er konnte es gar nicht mehr erwarten.

Dann kam der Tag der Einschulung. Frieda hatte frei bekommen. Natürlich kam auch Fritz mit in die Schule. Beide waren stolz auf ihren Sohn. Groß war er. Richtig schick sah er aus. Die Sachen von der Hochzeit hatte er wieder an. So wie er aussah hätte er glatt ein Kind von reichen Eltern sein können. Einen Schulranzen hatte er schon zum Geburtstag bekommen. Nur die Zuckertüte brachte Fritz in der Früh aus der Kaserne mit. Die Eltern müssen draußen auf dem Flur warten. Die Mädchen und Buben wurden in ein Klassenzimmer gebracht. Die Lehrerin fragte sie nach ihrem Namen und wo sie wohnten und dann bekamen alle noch ein paar Bücher. Nun wollten sie ein Lied singen. Aber nicht alle kannten es.

Endlich verabschiedete sich die Lehrerin und die Kinder liefen zu ihren Eltern. „Morgen gehe ich wieder hier hin", sagte Georg, „geht ihr dann wieder mit?“ „Nein", sagten sie beide wie aus einem Mund. „Da musst du jetzt immer allein gehen.“ Aber das macht ihm nichts aus, es war lustig. Doch so wird es wohl nicht bleiben. Das Lernen machte Georg aber viel Spaß. Jeden Abend, wenn sie zusammen in der Stube saßen, erzählte er und zeigte den Eltern, was er alles gelernt hatte. Sie waren sehr stolz auf Georg.

Als er in die zweite Klasse kam, es war das Jahr 1914, war mit der Schule nicht mehr alles in Ordnung. Leider. Das Leben veränderte sich. In Sarajewo in Serbien wurde auf offener Straße der österreichische Thronfolger Rudolf erschossen. Das bedeutete Krieg. Die Deutschen waren in einem Pakt mit Österreich. Gerade hatten sich die Eheleute Frieda und Fritz so freuen dürfen. Frieda erwartete wieder ein Baby. Fritz wünschte sich so sehr ein Mädchen. Er würde es so gern wachsen sehen. Aber als Soldat musste er in den Krieg ziehen. Das passte beiden jetzt gerade überhaupt nicht. Doch er war Soldat und musste gehorchen. Schweren Herzens nahmen sie Abschied. Was er an Vorräten noch bekommen konnte hatte er herbeigeschafft. Keiner konnte wissen, wie lange der Krieg dauern würde. Schreiben wollte er so oft er könnte. Frieda war es angst und bange, nun würde sie wieder alleine sein. Und das mit zwei Kindern. Ob der Sold wohl regelmäßig kommen würde und wie das wohl mit ihrer Arbeit in der Wäscherei während der Schwangerschaft ginge?

All das machte ihr große Sorgen. Das bisschen Gemüse, das in ihrem kleinen Garten wuchs, könnte sie wohl nicht ernähren. Trotzdem lächelte sie, als Fritz mit seiner Kompanie in den Krieg zog. Er sollte sie fröhlich in Erinnerung behalten. Zuerst ging auch alles glatt. Der Sold kam pünktlich. Die Arbeit macht ihr auch wenig aus. Man hatte ihr das Mangeln der Wäsche zugeteilt, das war nicht so schwer wie zuvor, als sie die Wäsche in der heißen Lauge wenden und von einem Bottich in den nächsten tragen musste. Nur eins machte sie fuchsteufelswild. Aus dem kleinen Garten, den sie hinter ihrer Baracke hatte, wurden ständig die Tomaten, der Salat und das Gemüse gestohlen. Sie brauchte doch das alles selbst für ihre kleine Familie. Selbst die paar Blumen wurden heraus gerupft. Ja, es gab vieles nicht mehr zu kaufen, oder es war zu teuer. Aber ihr, die es selber so nötig brauchte, das zu stehlen, das war einfach gemein. Fritz hatte vor seiner Einberufung viel von Bauern in der Umgebung eingekauft. Sie hatte alles eingekocht und verwertet. Gelernt hatte sie ja, wie das geht. Aber auch das ging mal zu Ende. Brot backen konnte man ja auch nur, wenn man Mehl hatte. Als im Herbst die Ernte abgemäht war, gingen viele Leute auf die Felder um die letzten Ähren einzusammeln, die beim Mähen heruntergefallen waren. Dann wurde das Korn geklopft, um Mehl daraus zu machen. Diese Idee hatte aber viele und es blieb nur wenig für den Einzelnen.

Der Krieg war in vollem Gange. Was man so hörte - und das war nicht viel - machte auch keine Freude. Warum musste das überhaupt sein? Was hatte man mit Österreich zu tun und warum müssen die Deutschen darunter leiden? So ging die Zeit dahin. Ab und zu kam ein Brief von Fritz. Was er berichtete war auch nicht beruhigend. In einem Brief schrieb er bedauernd, dass die Adoption noch nicht geklappt hatte täte ihm furchtbar leid. Es war einfach zu wenig Zeit. Und dann dieser verfluchte Krieg. Immer wieder fragte er nach seinem Mädchen, das ja nun bald kommen würde. Er wäre so gerne bei ihnen. Ein Urlaub zur Geburt war ihm aber noch nicht bewilligt worden. Frieda ging es gut. Zwar hatte sie nicht die Pflege und Versorgung wie bei Georg. Dieser machte alles was er konnte, er war ein sehr fürsorglicher Ersatz für Fritz. Geld herbei schaffen konnte er aber auch nicht. Die Lebensmittel wurden immer teurer und es gab fast nichts mehr. Schließlich blieb auch noch der Sold aus. Was war denn da nun wieder passiert? Die Miete musste doch bezahlt werden. Bei der ersten Miete lieh ihr die Freundin Gisela das Geld. Wo blieb ein Brief von Fritz? Nichts geschah.

Es war zum Verzweifeln. Nach 6 Wochen kam endlich ein Brief. Doch leider nicht von Fritz, sondern von amtlicher Seite. Frieda konnte ihn nicht öffnen.

Sie zitterte am ganzen Körper. Am Abend, als die Freundin von der Arbeit kam, ging sie zu ihr. Gisela nahm sie in den Arm. Sie hatten beide Angst, ihn zu öffnen. Doch es musste ja sein. Darin stand, dass Fritz von einer Kugel getroffen und sehr schwer verletzt wurde. An der Verletzung sei er verstorben. Geahnt hatten sie ja beide was in dem Brief stehen würde, doch glauben wollten sie es einfach nicht. Sie hielten sich fest umschlungen, begreifen konnten sie es beide nicht. Gisela hatte Angst um ihre Freundin, die hochschwanger war. Hoffentlich löste der Schmerz nicht vorzeitig die Geburt aus. Die gleiche Angst hatte auch Frieda. Ihren Bauch umklammerte sie mit beiden Händen. Streichelte ihn und sprach beruhigende Worte mit ihrem Baby. „Bleib ganz ruhig, dir passiert nichts, mein Schätzchen. Diese Mitteilung stimmt sicher nicht. Zu deiner Geburt ist dein Vati wieder da.“ Sie redete sich selber Mut zu. Aber alles, „nein, das darf nicht wahr sein", nutzte nichts. Es stand da schwarz auf weiß, Fritz würde nie mehr kommen.

Georg hieß weiter mit Nachnamen Glinka. Ihm machte es ja auch gar nichts aus. So hatte er wenigstens noch einen Vater, auch wenn ihm Fritz lieber gewesen wäre. Denn den Pitro hatte er ja eigentlich nicht, auch wenn dessen Mutter, die Oma Elsa, ihm öfter was zusteckte. Das durfte er nur seiner Mutti nicht sagen. Frieda hätte es nicht erlaubt. Sie war zu stolz dazu. Aber es ging ihr immer schlechter, die Arbeit hatte sie auch verloren. Es gab keine Firmen mehr, die ihre Wäsche zum Reinigen brachten. Der verdammte Krieg hatte alles kaputt gemacht. Auch ihre Freundin Gisela hatte die Arbeit verloren. Wer kaufte jetzt schon was Neues zum Anziehen oder ließ sich etwas nähen? Oft saßen sie auf dem Strohsack und starrten vor sich hin. Eigentlich stand Frieda eine kleine Witwenrente zu. Aber nichts kam. Wohin man sich wenden sollte, wussten sie auch nicht. Eines Abends kam ihnen eine Idee: „Weißt du was, wir gehen zum Pfarrer und fragen den einfach.“ Frieda hatte Bedenken. In die Kirche war sie noch nicht oft gegangen. Auch war sie ja nicht kirchlich getraut. Was blieb ihr aber übrig? Die Geburt kam immer näher. Zu Essen hatten sie kaum noch was. Sie wussten, dass der Pfarrer oft helfen konnte. Früh zeitig weckte sie Georg. Vor der Kirche waren ein paar ältere Leute, die gerade hinein gingen. Der Pfarrer war aber noch nicht zu sehen. Die Bänke waren fast alle besetzt. Es wurde ein Lied angestimmt. Es klang sehr schön. Frieda hätte gern mitgesungen, aber leider kannte sie es nicht. Wie auch, wenn man nicht in die Kirche geht? Jetzt kam der Pfarrer hinten aus der Sakristei. Bei ihm waren zwei Buben, die vor ihm her schritten. Der eine hatte einen Weihrauchschwengel mit dem er hin und her schaukelte, was sehr gut roch. Der andere Bub läutete immerzu mit einer Schelle. Dann ging der Pfarrer zum Altar. Alle Leute in der Kirche standen auf. Sie sangen wieder ein Lied. Es war alles so feierlich. Frieda und Georg machten mit, was die anderen Menschen taten. Als nach einer Weile der Pfarrer zu predigen anfing lauschten sie beide andächtig. Er sprach von Krieg und dem Elend was daraus entstanden war. Er las auch die Namen der Verstorbenen vor. Der Name von Fritz war auch dabei. Viele weinten bitterlich. Auch Frieda und Georg konnten die Tränen nicht zurückhalten. Nach der Predigt liefen einige nach vorn zum Altar. „Das ist wohl die Kommunion", flüsterte Frieda ihrem Sohn ins Ohr. Georg wusste das schon, er hatte es im Religionsunterricht in der Schule erfahren. Danach wurde ein weiteres Lied gesungen. Alle waren wieder aufgestanden. Der Pfarrer ging mit den Ministranten zur großen Eingangstür. Nun gingen die Leute aus der Kirche, der Pfarrer gab allen die Hand und wünschte einen schönen Sonntag.

Erst da merkte Frieda welcher Tag heute war. Seit sie nicht mehr in die Arbeit ging und Georg keine Schule hatte war jeder Tag gleich. Der Hunger und die Sorgen, wie es weiter gehen würde, waren allgegenwärtig.

Die zwei gingen mit einigen anderen Leuten zum Pfarrer. Der sagte: „Euch habe ich noch nie in meiner Kirche gesehen, seid ihr neu hier?" Frieda kämpfte mit den Tränen. Pfarrer Michail merkte das sofort. „Na, na, so schlimm wird es doch nicht sein?" Georg stand daneben. „Doch, doch, es ist ganz schlimm. Der Vati kommt nicht aus dem Krieg zurück und das Baby kommt bald. Wir haben gar kein Geld mehr. Auch nichts mehr zum Essen." „Na, dann kommt mal mit ins Pfarrhaus." Natürlich gingen sie liebend gerne mit. Das Pfarrhaus befand sich neben der Kirche. Es war aus Steinen gebaut und nicht wie ihre Baracke aus Holz. Als der Pfarrer die Tür aufmachte kam ihnen ein herrlicher Duft in die Nase. Es war so schön warm hier drin und draußen war es bitter kalt gewesen. Ja, hier würden sie auch gerne leben und wohnen. Sie standen in einem großen Flur mit vielen Türen. Nach oben führte eine Treppe. Der Flur, eigentlich eine Diele, war so groß wie ihre zwei Zimmer zu Hause. Der Pfarrer führte sie in eines der großen Zimmer.

Darin stand ein riesig langer Tisch mit vielen Stühlen. „Setzt euch mal da hin, ich komme gleich wieder.“ Nach einer Weile kam er mit einer älteren, lächelnden Frau zur Tür herein. Auf einem Tablett trug sie einige Lebensmittel und stellte sie auf den Tisch. „Na", sagte sie, „ihr habt sicher Hunger." Frieda und Georg konnten nichts sagen, sie nickten nur. Ihnen lief das Wasser im Mund zusammen. Was sie sahen, war aber auch zu schön. Brot, Kuchenscheiben und eine große Tasse Tee. Wie lange hatten sie so was Feines nicht mehr gehabt? „Greift zu", sagte der Pfarrer. Das ließen sie sich nicht zweimal sagen. Als alles aufgegessen war - nicht ein Krümel blieb übrig - hatten beide wieder Farbe im Gesicht und strahlten über beide Backen. „So, nun erzählt mal, was bei euch los ist“, sagte der Pfarrer. Frieda fing ganz leise an, dem Pfarrer alles zu erzählen. Sie berichtete ihm von Georgs Vater und dessen Eltern, wie sie da schon böse hereingelegt worden war, aber auch über die Liebe und die schöne Zeit mit Fritz. Es kamen ihr wieder die Tränen, was sie eigentlich gar nicht wollte. Nun kam alles aus ihr heraus. Der Pfarrer legte einen Arm um sie und ließ sie erst mal weinen. Es tat ihr sicher gut, allen Schmerz heraus zu lassen. Nach einiger Zeit ging es ihr wieder besser. Sie schnäuzte sich, lächelte den Pfarrer Michail an und setzte ihre Erzählung fort. Jetzt kam das ganze Elend zur Sprache, der Tod von Fritz, kein Geld und keine Arbeit. Der Pfarrer sagte: „Das ist ja wirklich alles furchtbar.“ Nach einer Weile sprach er weiter: „Ich komme gleich wieder" und lief in die Küche zu seiner Haushälterin. Es verging einige Zeit und man hörte die zwei miteinander reden. Verstehen konnte man aber nichts. Frieda und ihr Sohn wussten nicht, was sie davon halten sollten, ihnen fehlte ja nichts. Sie saßen in der warmen Stube, und waren seit Tagen wieder mal richtig satt. Rundum waren sie zufrieden.

Dann kam der Pfarrer mit seiner Haushälterin lächelnd in die Stube zurück. Er sagte zu Frieda: „Heute ist dein Glückstag." Sie schaute ihn nur ungläubig an. „Doch, doch" sagte die Frau. „Ich bin die Minka. Du siehst ja, dass ich schon älter bin. Für dieses große Haus und für die Küche brauche ich eine Hilfe. Da wärst du gerade richtig. Du hast die erforderliche Erfahrung. Wie wäre es, hättest du Lust dazu? Ihr würdet natürlich hier im Pfarrhaus wohnen.“ Frieda liefen wieder die Tränen über die Backen. Sie konnte gar nicht reden, nur nicken. Dafür wurde Georg richtig lebhaft. „Oh, ja. Hier in diesem Haus dürfen wir wohnen? Kriegen wir dann auch immer so was Feines zu essen?“ Er sprang von seinem Stuhl auf, umarmte erst die Minka und dann den Pfarrer. Alle lachten, auch Frieda unter Tränen. Als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, wurde sie nachdenklich. „Ja, aber das Baby kommt doch bald." „Das ist doch schön", sagte der Pfarrer. „Dann ist wieder Leben hier.“ „Wo sollen wir denn wohnen“, fragte sie. „Ach, wir haben oben so viele leere Zimmer, da könnt ihr euch sogar etwas aussuchen.“ Frieda glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. „Wann könnt ihr denn zu uns ziehen", fragte Minka. „Eigentlich sofort", sagte Frieda.Da mischte sich der Pfarrer ein. „Heute ist der Tag des Herrn, Sonntag. Da wird nicht gearbeitet.“ Na, so etwas kannten die beiden doch gar nicht. So schnell wie möglich wollten sie auch in dieses schöne warme Haus umziehen. In der Baracke war es kalt und ungemütlich, sie wollten nur raus, zu essen hatten sie doch dort auch nichts mehr. Der Pfarrer war auf einmal ganz still.

Er überlegte. „Jetzt weiß ich es, morgen, am Montag, kommen zu euch in die Baracke vier Buben mit einem Bollerwagen. Da könnt ihr eure Sachen drauf packen. Die Jungs helfen euch dabei. Gleich in der Früh werden sie bei euch sein. Das sind die Kommunionkinder von diesem Jahr. Die machen das sicher gern, so machen wir das.“ Minka sagte: „Nun zeige ich euch noch die Zimmer.“ Der Pfarrer verabschiedete sich, denn er musste zu einer Taufe. Frieda und Georg gingen mit Minka die Treppe nach oben. Hier war ein langer Flur. Überall gingen Türen ab. „Schaut euch alles an. Nur die erste Kammer, hier rechts, ist meine“, sagte Minka. Frieda und Georg waren voller Spannung, machten erst mal alle Türen auf und schauten in die Zimmer. Eines ganz hinten gefiel ihnen am besten. Es hatte ein großes Fenster, die Sonne schien hinein, hell und gemütlich sah es aus. Beim zweiten Blick sahen sie, das da noch eine Tür ist. Wo führte die denn hin? Sie machten sie auf und sahen noch einen Raum. Er war etwas kleiner. Georg rief: „Das wird mein Zimmer. Dürfen wir zwei Kammern nehmen?“ fragte er Minka. „Ja, ja, nur zu.“ Die Freude von Mutter und Sohn war riesig. In dem Zimmer, das Frieda mit dem Baby beziehen wollte, standen schon zwei Betten. Sogar Bettzeug mit Blümchenbezug war vorhanden. Eine kleine Kommode stand unter dem Fenster. Darauf eine weiße größere Waschschüssel. Alles war perfekt eingerichtet. Frieda glaubte, zu träumen. In dem Zimmer, das sich Georg rausgesucht hatte, war dagegen gar nichts. „Ach das ist kein Problem. Da holen wir eben etwas aus den anderen Zimmern“, sagte Minka. Dann verabschiedeten sie sich bis zum nächsten Tag und liefen hopsend zu Gisela. Die konnte es gar nicht fassen. So ein Glück! Am nächsten Morgen war sie natürlich auch da, um beim Umzug zu helfen. Um Punkt 8 Uhr kamen die Buben mit dem Bollerwagen. Das war ein Hallo! Alle waren bester Laune.

Die wenigen Sachen, die sie hatten, waren schnell aufgeladen. Vorne zogen zwei Buben den Wagen, die anderen gingen im Gänsemarsch hinterher und das sah richtig feierlich aus. Es hatte sich schon herumgesprochen, dass Frieda und Georg zum Pfarrer ziehen. Alle Nachbarn waren da, um sich zu verabschieden. Sie gönnten es ihr von Herzen und wünschten Ihr, Georg und dem Baby viel, viel Glück.

Für den Weg zum Pfarrhaus brauchten sie etwa eine halbe Stunde. Als sie dort ankamen stand schon die Eingangstür offen. Schnell waren die Sachen nach oben geschafft. Auf dem Fensterbrett in Friedas Zimmer standen zwei blühende Blumen - und das im Winter! Minka kam herein. „Na, freust du dich“? „Oh ja.“ Sie umarmte Minka und drückte sie ganz fest. Minka war es als hätte sie eine Tochter bekommen. Ihr war es im Leben nicht vergönnt gewesen, eigene Kinder zu haben. Jetzt fing auch für sie ein neues Leben an. Aber zuerst mal mussten die fleißigen Helfer etwas zu essen bekommen. Sie hatte schon Stullen geschmiert mit Speckfett, das sie selber ausgelassen hatte. „Geht ihr Jungs mal alle an den langen Tisch im Speisesaal.“ Frieda und Gisela kamen mit in die Küche. „Da steht alles auf dem Tablett, das könnt ihr rüber tragen", sagte sie zu den beiden. „Setzt euch dazu und dann guten Appetit.“

Nach so einer Arbeit hatten alle schon anständigen Hunger. Sie blieb in der Tür stehen und genoss es wie sie zulangten. Als alles verputzt war fragte sie: „Will jemand noch was?“ Die Buben riefen: „Wir, wir" und die Erwachsenen lachten. Frieda und Gisela gingen mit in die Küche, um Minka beim Nachschub zu helfen. Auch dieser Teller wurde von den Jungs restlos leer gegessen. Gisela wollte noch nicht nach Hause gehen. Sie ging mit Frieda nach oben um die Sachen, die sie nach oben getragen hatten, aufzuräumen. Hilfe konnte Frieda jetzt schon gut gebrauchen denn mit ihrem dicken Bauch ging alles nicht mehr so einfach. Erst sehr spät, als es schon dunkel wurde, ging Gisela nach Hause. Am liebsten wäre sie auch im Pfarrhaus geblieben. Zu Haus wartete niemand auf sie. Da war es kalt und ungemütlich. Sie beneidete Frieda und Georg schon ein bisschen. Die beiden gingen an dem Tag bald in ihr Bett. Die erste Nacht wollte Georg neben Mutti schlafen, die das auch gerne erlaubte.

Früh am Morgen erwachten sie. Richtig gut hatten sie geschlafen. Es war auch nicht so kalt. Am liebsten hätten sie sich umgedreht und weitergeschlafen. Doch Frieda ging sofort in die Küche. Sie wollte fragen, was sie zu tun hatte. Sie war ja hier zum Arbeiten. Die Küche war schon hell erleuchtet und im Ofen brannte ein loderndes Feuer. „Bin ich zu spät?“ fragte Frieda. „Nein“ sagte Minka, „eine alte Frau kann nicht mehr so lange schlafen. Hier, nimm das Tablett mit dem Frühstück und trag es zum Pfarrer, das Zimmer mit dem langen Tisch, du kennst es ja.“ Der Pfarrer saß schon da und las in einem Buch. Frieda wünschte einen guten Morgen und stellte das Tablett auf dem Tisch ab. Er sah hoch. „Guten Morgen Frieda. Ist der Georg auch schon wach?“ „Ja", sagte sie. „Na dann hole ihn zu uns herunter. Minka hat sicher was für euch zum Frühstück hergerichtet. Und bring die Minka auch mit, wir können gemeinsam frühstücken. Das ist die einzige Zeit am Tag, wo ich noch etwas Ruhe habe. So machen wir das jetzt jeden Morgen." Frieda dachte, dass es so etwas bei den Glinkas nie gegeben hätte. Wie schön hatte sie es hier getroffen!

Es gab ja immer noch diesen furchtbaren Krieg. Jetzt wurden alle Männer einberufen, selbst die Jüngeren unter 20 Jahren. Ein Glück, dass Georg erst 7 Jahre alt war.

Nach dem Frühstück wurde es Zeit für Georg, in die Schule zu gehen. Der Weg war etwas weiter als von der Baracke. Von Minka bekam er noch eine große Stulle für die Pause mit. Nicht jeden Tag fand Schulunterricht statt, denn der Lehrer war auch einberufen worden. Eine ältere Lehrerin, die schon in Pension war, hatte wieder angefangen zu unterrichten. Georg ging gern zur Schule. Mit den vielen Mädchen und Jungs in einer Klasse war es immer sehr lustig.

Dann kam der Tag, an dem Frieda schon in der Früh das Fruchtwasser verlor. Wehen hatte sie schon abends gehabt. Aber die hatten wieder aufgehört. Minka schickte Georg zur Hebamme, die nicht weit vom Pfarrhaus wohnte. Die zweite Geburt ging fast noch schneller vor sich als die erste. Es war wieder ein Junge. eine kleine Enttäuschung war das schon. Kleiner wie Georg war er und wog auch nicht so viel wie Georg, damals bei der Geburt. Aber gesund war das Bübchen. Zuerst wollte es partout nicht trinken. Aber die Hebamme meinte: „Das wird schon noch.“ So war es dann auch. Selbst der Pfarrer war ganz vernarrt in den Kleinen. Georg war immer der erste an der Wiege, wenn das Bübchen einen Mucks von sich gab. Er war so stolz auf sein Brüderchen. Nur einen Namen hatten sie noch nicht. Dann hatte Georg eine Idee. Der Freund von Gisela hieß Franz und der sollte ja der Taufpate sein. Deshalb, meinte er, ist es doch richtig, wenn mein Bruder auch Franz heißt. So wollte man es machen. Damit wäre Fritz auch zufrieden gewesen.

An einem schönen Sonntag war dann die Taufe. Die Kirche war voller Menschen. Die Eltern und die Paten, die vielen Geschwister und natürlich die Täuflinge. Um das Taufbecken herum standen große Blumenkübel. Die ersten Frühlingsblumen waren eingepflanzt worden. Das brachte viel Arbeit mit sich für Minka und Frieda. Es sah aber auch wunderschön aus. Die Taufpaten hatten die Täuflinge auf dem Arm und hielten sie dem Pfarrer entgegen, über das Taufbecken. Als das Wasser über ihre Köpfchen gegossen wurde fingen einige an zu weinen. Das nahm aber keiner ernst und es war ja auch schnell vorbei. Es gab auch einige Mädchen und Buben, die schon älter waren und auch Erwachsene die getauft werden wollten. Die kamen dann nach den Babys dran. Zum Abschied erklang noch das Lied Großer Gott wir loben dich. Frieda, Georg, Franz, und die Paten gingen ins Pfarrhaus, wo Minka schon Tee und Kuchen auf den Tisch gestellt hatte. So ein Ereignis wie die Taufe musste man gebührend feiern. Alle waren recht fröhlich. Später kam dann noch der Pfarrer dazu. Väter zu den Kindern gab es fast keine, denn die Kinder waren meistens aus einer Liebschaft entstanden. Verhütung gab es da noch nicht, das nahm man halt in Kauf. Aber es gab auch die Schattenseiten des Krieges. Viele Frauen und Mädchen waren von den Soldaten vergewaltigt worden, oft sogar von mehreren Männern.

Der Krieg dauerte nun schon drei Jahre. Keine Frau wusste, ob der eigene Mann überhaupt aus dem Krieg wieder nach Hause kommen würde. Meistens waren die Väter ja auch Soldaten und keine der Frauen wusste, was der eigene Mann alles trieb. Wenn der fremde Soldat noch was zum Essen mitbrachte war man gerne zu einer „Gegenleistung“ bereit. Die meisten Frauen hatten sowieso schon einen Stall voll Kinder. Sechs oder mehr waren normal und die hatten Hunger. Alle warteten darauf, dass dieser verdammte Krieg endlich beendet würde. Wenigstens konnte man im Garten wieder etwas ansäen. Es ging auf den Sommer zu, da gab es im Pfarrgarten viel zu arbeiten. Die Beete mussten umgegraben und Unkraut entfernt werden. Das machte einen Heidenspaß und der Pfarrer war überall dabei. Georg liebte es, im Garten zu arbeiten und dem kleinen Franz schien es auch zu gefallen. Die frische Luft hatte eine gesunde Farbe in sein Gesicht gebracht. Er war ein richtiger Wonnebrocken. Wenn er Hunger hatte schrie er so laut, dass ihn wirklich keiner überhören konnte. Frieda hatte genug Milch, sodass er immer zufrieden war und gleich danach einschlief.

So liefen die Wochen und Monate weiter bis es wieder etwas zu feiern gab. Ein ganzes Jahr hatte Georg und auch Frieda schon Kommunion Unterricht. Wenn man getauft war, wollte man doch auch die heilige Kommunion empfangen und jetzt war es so weit. Der Weiße Sonntag ist eine Woche nach Ostern. Alle Erwachsenen und Kinder, die am Unterricht teilgenommen hatten, durften zum ersten Mal die Hostie empfangen. Andächtig knieten sie in der Kirche. Die ganze Gemeinde war mit dabei. Die Kirche war herrlich geschmückt. Jeder aus dem Dorf hatte Blumen und Sträucher aus seinem Garten mitgebracht. Zum Feiern war aber doch fast keinem zu Mute. Der Krieg ging und ging nicht zu Ende. Immer mehr erkannte man, dass der Krieg von den Österreichern und Deutschen verloren würde. So viele Soldaten waren gefallen. In jeder Familie gab es Tote. Die Menschen freuten sich nur, dass es jetzt wärmer wurde und sie was Essbares in den Gärten, auf Feldern und Wiesen und im Wald fanden.

Es war das Jahr 1917. Georg war jetzt 10 Jahre alt. Sein Wunsch, einmal Pfarrer zu werden, wurde immer größer. Da gab es nur ein Problem. Er hätte auf eine höhere Schule gehen müssen oder gleich in ein Internat. Im Dorf gab es so etwas natürlich nicht, ja, und dann, wer sollte das bezahlen? Wenn der Krieg nicht wäre, hätte der Pfarrer vielleicht noch was machen können. Aber so war das aussichtslos. Mit dem Pfarrer war er immer unterwegs. Ob in der Kirche, bei einer Beerdigung oder sonstigen Anlässen. Es gefiel ihm einfach alles.

Im darauffolgenden Jahr 1918 kam endlich die erlösende Mitteilung, dass der Krieg vorbei ist. Alle atmeten auf, doch die Not dauerte dann noch bis zum Winter. Nun müsste es wohl wieder normal werden, dachten die Menschen, was jedoch leider gar nicht der Fall war. Wie sollte es auch? Erst mal kamen von den vielen Soldaten nur wenige zurück. Die meisten sahen schlimm aus, zerlumpt, schwer verwundet, ohne Arm oder Bein, furchtbar krank an Körper und Geist. Sie hatten schreckliche Sachen erlebt! Die Bevölkerung sagte "nie wieder Krieg" doch wie sollte es jetzt besser gehen? Die Deutschen hatten den Krieg verloren und mussten jetzt an die Gewinner zahlen. Und die waren nicht zimperlich und nahmen den Verlierern das Letzte was die noch hatten. Sehr viele starben jetzt erst nach dem Krieg an Hunger sie schafften es nicht, zu überleben. Es herrschte das Grauen in ganz Deutschland. Der Kaiser, der den Krieg zusammen mit den Österreichern aus der Bündnisverpflichtung heraus ausgerufen hatte, dankte ab und ging ins Exil in die Niederlande.

So, wie es jetzt war, konnte man nicht weiterleben. Die Unzufriedenheit der Leute war groß. Die Inflation raste davon. Die Menschen in Deutschland hatten sich Besserung nach dem Krieg erhofft. Das Gegenteil war der Fall. Die Weimarer Republik gründete sich mit vielen Parteien. Eine hob sich hervor. Sie versprach Arbeit und Einkommen, neue Straßen und vieles mehr. Man glaubte ihr. Es war die NSDAP. Die Mehrheit der Bevölkerung wählte sie. Adolf Hitler übernahm die Partei. Was daraus entstand ist ja allen bekannt.

Frieda und ihrer kleinen Familie ging es noch recht gut beim Pfarrer. Es gab Bauern und Händler, die dem Pfarrer Lebensmittel brachten. Der verteilte sie an die Ärmsten. Für seinen eigenen Haushalt blieb aber davon auch genug übrig. Ganz, ganz langsam wurden die Lebensbedingungen besser. Georg war jetzt bald mit der Schule fertig. Den Wunsch, Pfarrer zu werden musste er aufgeben. Es gab keine Möglichkeit, das Geld fürs Internat fehlte. Auch Pfarrer Michail konnte in dieser schlechten Zeit nicht helfen. Also schaute man sich um, wo er denn wohl eine Lehre machen könnte und überlegte, was er überhaupt werden wollte.

Frieda hatte die rettende Idee. „Du müsstest nach Gleiwitz gehen. Hier in unserem Dorf kannst du nur Erntehelfer sein. Das ist doch nichts für dich.“ Georg hatte gute Zeugnisse, er sollte was Besseres werden.

Kapitel 2

Lehrzeit in Gleiwitz

Jetzt ist es soweit. Die Schulzeit ist zu Ende. Es geht zu neuen Ufern, ja zu einem ganz neuen Leben. Der Abschied von den Freunden aus dem Ort war nur halb so schlimm wie der Abschied von Mutti, Franz, Minka und dem Pfarrer. Fünfzehn Jahre alt war er und sollte jetzt in einer fremden Stadt und unter fremden Leuten wohnen. Wer weiß, ob er da genug zu essen bekommen würde. Es war schon ein Risiko. Frieda fiel es nicht leicht, ihn gehen zu lassen in die fremde Stadt Gleiwitz. Aber aus dem Jungen sollte ja was werden. Sie hatte mit seinem Opa Glinka gesprochen und ihm gesagt: „Der Georg braucht jetzt eine gute Arbeit. Hier im Dorf wird das nichts. Er soll nicht, wie viele seiner Schulfreunde, ins Kohlebergwerk einfahren. Das ist nichts für ihn.“

So kam es, dass er eine Lehrstelle in einem Kolonialwarengeschäft bekam. Georg war am 1.9.1922 frühmorgens im Laden zur Stelle. Oben, zwei Stockwerke über dem Geschäft, zeigte ihm ein Junge zuerst mal ein Zimmer in dem er jetzt ein Bett, einen Tisch und einen Schrank hatte. In dieser nicht allzu großen Stube standen vier Betten. „Hier ist nun dein und mein Schlafplatz. Im Moment sind wir nur zu zweit. Aber da kommen sicher noch zwei. Ich bin der Igor, wir werden uns schon verstehen.“ „Ich heiße Georg." Sie waren im gleichen Alter, was sollte da schon schief gehen. „Pack deine Sachen aus und dann kommst du runter ins Geschäft." Das ging schnell, viel Sachen hatte er ja nicht. Ein bisschen aufgeregt war er schon. Dieser Igor machte aber auf ihn einen ganz normalen Eindruck. Als er unten im Laden ankam, wusste er nicht, wohin er gehen sollte. Unter den vielen Menschen, die da waren, suchte er nach Igor. Da rief eine ältere Frau von der Theke: „Bist wohl der Neue, dann komm mal her. Trag die Kisten aus dem Flur alle herein vor das Regal. Hier ist eine Zange, damit öffnest du sie und stapelst die ganze Ware fein säuberlich hinein. Wie heißt du?“ „Georg." „Na dann mach mal." Er öffnete die Kisten und räumte alles ins Regal. Als er fertig war, stellte er sich zu der Frau und wartete auf neue Anweisungen. Die erhielt er auch prompt.

So ging es weiter bis zum Mittag. Nun wurde die Eingangstür geschlossen. Alle Angestellten gingen zu einer großen Küche und setzten sich an einen langen Tisch. Georg wusste nicht so recht was er tun sollte. Da winkte ihm Igor zu. „Komm her, hier ist dein Platz." Jeder hatte vor sich einen dampfenden Teller mit Erbseneintopf. Das roch so gut, auch ein paar kleine Fleischbrocken waren darin. „Lasst es euch schmecken" sagte wieder die ältere Frau. Georg fragte seinen Tischnachbarn: „Igor, ist das die Chefin?" „Nein, aber die hat hier das Sagen." „Ja, wie redet man sie denn an?" „Sag einfach Olga zu ihr." „Nicht Frau Olga?" „Nein, nein, nur Olga. Jetzt lass uns unsere Suppe essen sonst wird sie noch kalt." Nach etwa einer Stunde standen alle wieder auf und gingen zurück ins Geschäft. Die Kisten mit Zuckerrüben, Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfeln mussten wieder hinaus gestellt werden. Überall rief man nach Georg. Allen musste er beim Tragen helfen. Dann wurde es Gott sei Dank Abend. Alles wurde wieder von draußen hinein getragen und der Laden abgeschlossen. Nun war aber immer noch nicht Feierabend. Nein, es musste gefegt, und gewischt werden und die Waren, die kalte Lagerung brauchten, wie Obst, Wurst, Käse, alles was eben kühl lagern musste, sollte in den Keller geschafft werden. Das war eine Menge Arbeit. Georg war fix und fertig. Igor, der das sah, sagte zu ihm: "Da gewöhnst du dich dran." Als das dann endlich geschafft war, gab es Tee und etwas Unbekanntes zu essen. Was das war wusste Georg nicht. Es schmeckte süß und ganz gut. Er hatte einen Bärenhunger nach dieser ungewohnten Arbeit. Nach dem letzten Bissen wäre er am liebsten gleich am Tisch eingeschlafen. Igor gab ihm einen kräftigen Schubs. „Komm, wir gehen nach oben." Das musste man Georg nicht zweimal sagen.Er wankte die Treppen hinauf wie ein Betrunkener. Sein Bett sah er noch, mehr nicht. Nur noch schlafen, dachte er, warf sich wie er war aufs Bett und schlief sofort ein.

Am anderen Morgen um 6 Uhr rüttelte ihn Igor wach. Zuerst wusste Georg gar nicht, wo er war. Dann sprang er aus dem Bett. Wie sah er denn aus? Seine Sachen waren zerknittert, so konnte er unmöglich ins Geschäft gehen. Genau erinnerte er sich jetzt, wie er ins Bett gefallen war. Waschen, Zähne putzen, kämmen und frische Sachen anziehen war eins. Igor stand schon fertig angezogen im Türrahmen. Jetzt aber ab zum Frühstück. Georg machte Igor alles nach was dieser ihm zeigte. Brotscheiben vom Laib schneiden und Marmelade drauf. Zu trinken gab es eine braune Brühe mit viel Zucker und Milch. Komisch sah die aus, aber es schmeckte. „Was ist das, was wir da trinken?" „Zigorie, ein Kaffee-Ersatz, richtigen Kaffee gibt es manchmal an Sonntagen." „Aha." Sie mampften schnell vor sich hin und tranken ihren Ersatz-Kaffee. Als sie fertig waren ging es in den Keller. Alles was sie gestern hinunter geschafft hatten musste wieder hochgebracht und schön geordnet aufgestellt werden. Obst und Gemüse wurden wieder vor das Geschäft gestellt. Die ersten Leute, die zur Arbeit gingen, hetzten vorbei. Gern hätte sich Georg hingestellt und den Leuten zugeschaut. So was kannte er ja aus seinem kleinen Dorf nicht.

„He", rief Igor, „nicht einschlafen, wir müssen noch einiges tun bis die anderen kommen." So langsam trudelten sie ein. Als erste kam die Frau Olga. „Na Georg, hast du gut geschlafen und etwas Schönes geträumt? Was man in der ersten Nacht in einem neuen Bett träumt, geht nämlich in Erfüllung." Sie streichelte ihm über seinen schwarzen Haarschopf. Georg konnte nur nicken. In Wirklichkeit wusste er nicht, ob er überhaupt etwas geträumt hatte.

Nun kamen auch die anderen schwatzend in den Laden. Zwei ältere Jungs, die wohl schon im zweiten oder dritten Lehrjahr waren und noch vier Verkäuferinnen. Alle hatten weiße, gestärkte und ganz saubere Schürzen umgebunden. Es war 8 Uhr und die ersten Kunden wollten bedient werden. Manche kauften nur einen Artikel, bezahlten und gingen wieder. Andere gaben einen Zettel ab. Igor sagte: „Das sind die, zu denen wir nachher die Ware hinfahren müssen. Manche geben dafür ein Trinkgeld." „Wieso fahren, womit denn?" „Wenn es sehr viele Sachen sind nehmen wir den Bollerwagen, sonst fahren wir mit dem Fahrrad." Georg war noch nie mit so einem Drahtesel gefahren. Er wusste schon, dass es so was gab, doch wer das besaß, gab es nicht aus der Hand. „Ach, das lernt man schnell. Ich zeige dir gleich mal unser Fahrrad." Das war ganz anders als es Georg kannte. Vorne hatte es ein riesiges Gestell aus Eisen. Darauf war ein Drahtkorb festgespannt. „Hier legt man wohl die Waren rein?" fragte er Igor. „Ja, und dann musst du höllisch aufpassen, dass du nicht umkippst. Du musst das Gleichgewicht halten. Das ist meistens ziemlich schwer. Weißt du was, am Sonntag können wir ein bisschen üben. Da haben wir Zeit dafür." „Aber erst gehe ich in die Messe," sagte Georg. „Warum," fragte Igor. Da erzählte er ihm von seinem Glauben an Gott und was er alles Gutes beim Pfarrer erlebt hatte. Igor schaute ihn nur staunend an. Begriffen hatte er nicht alles, sagte aber nichts mehr. So ging die Woche dahin. Arbeit gab es genug für die beiden Lehrlinge. Nächste Woche sollten noch zwei Mädchen und ein Junge dazu kommen.

Die Zeit bis Sonntag war schnell vorbei. Einen Tag Erholung von der Arbeit. Georg stand um 7 Uhr auf, um pünktlich um 8 Uhr in der Stadtpfarrkirche zu sein. Igor knurrte nur als er ihn wecken wollte. Als er aus der Kirche kam, lag der doch immer noch im Bett. Es war ja bald Mittag. Heute mussten sie sich das Essen selber machen, das heißt, aufwärmen. Das wollte er nicht für sich allein machen. Er kitzelte Igor so lange, bis er aufstand. Heute gab es einen Schlesischen Kartoffelsalat, dazu ein hartgekochtes Ei, also mussten sie nichts aufwärmen. Zum Nachtisch, weil es Sonntag war, hatten sie sogar noch einen Wackelpudding in grün, Waldmeister. Hmmmm, war der lecker. Als sie fertig gegessen hatten wollte Igor doch wahrhaftig wieder ins Bett. „Nee, nee" sagte Georg, „du wolltest mir das Radfahren beibringen."

So gingen sie in den Schuppen und holten das Rad raus. „Jetzt fahr mal los." „Ja, wie denn?" Igor lachte. „Du musst das rechte Bein auf die rechte Pedale stellen und darauf treten. Aber langsam, und versuche dabei das Gleichgewicht zu halten." Georg stieg auf. Er hielt sich mit beiden Händen vorn an der Lenkstange fest. Er wackelte hin und her. Dann stand er endlich gerade. Er hatte sich schon auf dem Boden liegen sehen mit blutigen Knien und Händen. Der Hinterhof war groß, so dass er ein paar Runden fahren konnte. Oh weh, da kam die Schuppenwand. „Wie soll ich da nur halten?" Igor packte ihn hinten am Sattel und rief: „Spring, spring runter." Automatisch sprang er runter, mit beiden Beinen auf die Erde. Beide lachten, geschafft. „In den Park gehen wir jetzt", meinte Igor, „da gibt es einen Weg auf dem fast keine Leute sind. Da musst du üben. Ich zeig dir nochmal wie du auf- und absteigen musst.“ Gesagt, getan. Georg lief neben dem Fahrrad her und Igor bemühte sich, nicht zu schnell zu fahren. Sie übten den ganzen Nachmittag. Als sie beide abends nach dem Nachtessen in ihr Zimmer kamen fiel Georg ein, dass er ja eigentlich heute an seine Mutti schreiben wollte. Er war aber zu müde um noch einen Brief zu schreiben. Das mache ich morgen, beschloss er. Doch der nächste Tag war mit so vielen neuen Ereignissen gespickt, dass er am Abend überhaupt nicht mehr daran dachte. Die anderen Lehrlinge kamen nämlich an. Ins Zimmer zu ihnen kam ein sehr dicker Junge, der Konrad. Den konnte man unmöglich ins obere Bett steigen lassen. Es standen zwei Stockbetten im Zimmer. Igor zog freiwillig ins obere Bett. Eine Kraft hatte der Konrad! Wie der seinen Koffer aufs Bett warf, das war enorm. Na, der kann sicher die Kisten aus dem Keller in den Laden allein hinauf tragen. Konrad stammte von einem Bauernhof in der Nähe von Kattowitz. Was der aus dem Koffer so auspackte... den andern beiden gingen die Augen über. Würste, Brot, Kuchen, Speckfett. „Willst du das alles alleine essen“, fragten sie beide. „Ja, ja, ich weiß doch nicht was es hier gibt. Aber ich gebe euch auch was ab." Für heute waren sie beide ja satt. „Morgen freuen wir uns schon darauf." Am späten Nachmittag, es wurde schon dunkel, kamen dann zwei Mädchen mit einer elegant gekleideten, gut aussehenden Frau in den Laden.

„Ich bring die Lehrlinge.“ „Das ist die Chefin", stupste Igor den Georg an. Das eine Mädchen schaute kess in der Gegend herum. Die andere dagegen blickte gar nicht auf und schaute auf den Boden als ob sie Angst hätte. „Die ist aber schüchtern", meinten beide. Ab jetzt war die Arbeit nicht mehr so anstrengend. Sie verteilte sich ja auf 5 Lehrlinge. Diejenigen im zweiten und dritten Lehrjahr durften jetzt auch Kunden bedienen und deshalb gaben sie Ihre bisherigen Aufgaben immer mehr ab. Das Lager aufräumen, das machten sie alle fünf am liebsten. Dabei konnte man so schön albern sein. Im Grund waren sie ja noch Kinder. Einer wurde immer zum Aufpassen verdonnert, ob niemand kontrollieren kam, was sie machten. Alles, was von Großhändlern in Zentner-Säcken geliefert wurde, also Zucker, Mehl, Salz, Erbsen und so weiter, mussten sie in 500gr-Tüten umpacken. Einen Spaß machten sie sich daraus, sich gegenseitig mit Mehl zu bewerfen.

Die Tage vergingen wie im Flug. Es war schon wieder Sonntag und Georg hatte immer noch nicht nach Hause geschrieben. Die beiden Mädchen, Barbara und Christa, gingen in der Früh mit in die Kirche, aber nach der Messe wollte er schreiben. Ja, er wollte.... Die Stadtkirche war nur 5 Minuten vom Geschäft unter den Arkaden entfernt. Die Mädchen, die Gleiwitz noch nicht kannten, zogen ihn überall mit hin. Es gab ja so viel zu sehen. Am meisten begeisterte sie der Schlafende Löwe. Eine Skulptur, die von einem örtlichen Künstler um das Jahr 1800 erstellt wurde. Es sollte wohl die Stärke der Stadt präsentiert werden. Dann gab es einen wunderschönen roten Backsteinbau, das war die Post. „O Gott, ich wollte doch schreiben", dachte Georg. Es war jetzt schon 12 Uhr. Nichts wie heim. Am Nachmittag wollten alle in den Park. „Nein,“ sagte er, „Ich muss nach Hause schreiben." Christa schloss sich gleich an: „Ich auch." So gingen die anderen allein.

Gleich nach dem Mittagessen ging Georg nach oben in sein Zimmer und fing endlich mit dem Brief an:

Liebe Mutti und Franz!

Endlich komme ich dazu, euch zu schreiben. Mir geht es gut. Mit noch zwei Jungs bin ich in einem Zimmer unterm Dach untergebracht. Da geht es manchmal recht lustig zu. Von der Arbeit her sind wir aber meistens so müde, dass wir nur noch ins Bett fallen. Nebenan wohnen zwei Mädchen, Barbara und Christa, auch Lehrlinge im ersten Lehrjahr. Die sind ganz nett. Ihr Zimmer ist größer als unseres und da ist auch ein normal großes Fenster drin. Wir haben bei uns im Zimmer nur so eine Dachluke. Früh morgens brauchen wir dringend Luft. Bis jetzt können wir das Fenster noch öffnen. Im Winter, wenn die Eisblumen dran sind, wohl nicht mehr. Einen Ofen zum Heizen gibt es nicht. Dafür aber ganz dicke Federbetten. Das wird schon reichen. Gemütlich warm ist es in der Küche. Da dürfen wir auch nach dem Abendessen so lange bleiben wie wir wollen. Wir machen Spiele und erzählen uns von zu Hause.