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Der Band stellt Schlüsselbegriffe der Public History vor und erschließt diese über die wichtigsten Themenfelder und zentrale Forschungsperspektiven. Er richtet sich an Studierende, Lehrende und Praktiker:innen, die sich mit Geschichte in der Öffentlichkeit befassen und bietet Zugänge zur theoretischen Fundierung der Public History als Teil der historischen Kulturwissenschaften an.
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Seitenzahl: 505
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Christine Gundermann / Juliane Brauer / Filippo Carlà-Uhink / Judith Keilbach / Georg Koch / Thorsten Logge / Daniel Morat / Arnika Peselmann / Stefanie Samida / Astrid Schwabe / Miriam Sénécheau
Vandenhoeck & Ruprecht
Dr. Christine Gundermann ist Juniorprofessorin für Public History an der Universität Köln.
Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de
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Satz: le-tex publishing services, LeipzigEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage |www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
UTB-Band-Nr. 5728
ISBN 978-3-8463-5728-6
Vorwort
1 Einführung
2 Authentizität
2.1 Einleitung
2.2 Begriffsgeschichte
2.3 Gegenwärtige Begriffsverwendung
2.4 Operationalisierungen
2.5 Fazit
3 Emotionen
3.1 Einleitung
3.2 Emotion, Affekt und Gefühl. Ein Ordnungsversuch
3.3 Emotionen und Geschichte. Eine Analyse in drei Schritten
3.4 Ein Plädoyer für Emotionen in der Public History
4 Erinnerung und Gedächtnis
4.1 Einleitung
4.2 Begriff und Konzept
4.3 Operationalisierung: (Zeit-)Zeug_innen des Holocaust
4.4 Fazit
5 Erlebnis und Erfahrung
5.1 Einleitung
5.2 Begriffsbestimmungen
5.3 Erlebnis und Erfahrung in der Public History
5.4 Fazit
6 Geschichtskultur
6.1 Einleitung
6.2 Begriffsgeschichte
6.3 Verwandte Begriffe
6.4 Annäherungen an das Konzept Geschichtskultur
6.5 Geschichtskultur beforschen
6.6 Geschichtskultur als Schlüsselbegriff der Public History
7 Heritage und Kulturerbe
7.1 Einleitung
7.2 Erbe(n) – oder was und wie ist Kulturerbe?
7.3 Begriffsgeschichte
7.4 Denkmal – Monument – Kulturgut – Tradition
7.5 Disziplinäre Zugänge zu Kulturerbe
7.6 Kulturerbe als Forschungsgegenstand der Public History
7.7 Kulturerbe als Prozess
7.8 Positionierung
8 Historisches Denken
8.1 Einleitung
8.2 Historische Bildung – eine begriffliche Annäherung
8.3 Geschichtsbewusstsein als geschichtsdidaktischer Schlüsselbegriff
8.4 Historisches Denken fördern
8.5 Operationalisierungen und Konkretionen
8.6 Konkretisierung
9 Historische Imagination
9.1 Einleitung
9.2 Historische Imagination und historische Sinnbildung
9.3 Imagination in der Geschichtstheorie
9.4 Historische Imagination als geschichtsdidaktisches Konzept
9.5 Imagination in der Public History
9.6 Fazit
10 Performativität
10.1 Einleitung
10.2 Begriffe und Forschungsfelder
10.3 Performativität in der Geschichtswissenschaft
10.4 Zugänge zu Aspekten des Performativen
10.5 Doing history
11 Rezeption
11.1 Einleitung
11.2 Begriffsgeschichte
11.3 Verwandte Konzepte
11.4 Methodik der Rezeptionsanalysen
11.5 Operationalisierungen
12 Literatur
13 Autor_innen
Personenregister
Sachregister
Vorwort
Dieses Buch ist ein Ergebnis der Arbeit des Netzwerks Public History, welches dank großzügiger Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft von 2017 bis 2021 unter dem Titel „Public History – Theorie und Methodik einer neuen geschichtswissenschaftlichen Teildisziplin“ zusammenarbeiten konnte. Unser Team besteht aus Vertreter_innen der Archäologie, der Alten sowie der Neueren und Neuesten Geschichte, der Geschichtsdidaktik, der Public History, der Europäischen Ethnologie/Empirischen Kulturwissenschaft sowie der Film- und Medienwissenschaft. Für die Veröffentlichung unserer Arbeit haben wir uns für die Form der Kollektivmonografie entschieden, weil dies unseren Arbeitsprozess am besten widerspiegelt. Der vorliegende Text ist also gemeinsam verfasst, es gibt jedoch zu jedem Kapitel hauptverantwortliche Autor_innen; diese sind im Anhang des Buches ausgewiesen.
Unser Anliegen war es, die Public History nicht nur als ein Anwendungsfeld von Geschichtswissenschaft zu begreifen, sondern ihr Potenzial als wissenschaftliche Teil- und Transdisziplin sichtbar zu machen. Als solche greift sie schon heute vielfältige Fragen zu multimodalen und -medialen sowie performativen Formen öffentlicher Geschichte auf, die bis jetzt in anderen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft so nicht bearbeitet worden sind. Dabei sind die Zugänge zur Public History äußerst heterogen und viele Diskurse haben sich entlang von Leitbegriffen, die den verschiedenen Forschungsfeldern eigen sind, autark entwickelt oder haben sich vor allem im englischsprachigen Raum stark an Best-Practice-Analysen orientiert. Obwohl die Public History unter diesem Begriff bereits seit mehr als 40 Jahren diskutiert wird, hat sie als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft bisher nur ansatzweise Gestalt angenommen. Hier setzen wir an. Dabei geht es uns nicht etwa um eine ‚große vereinheitlichende Theorie‘, die alle aktuellen Ansätze zur Theoretisierung und Methodologie der öffentlichen Repräsentationen von Geschichte auffängt. Vielmehr möchten wir durch die Berücksichtigung bisheriger Ansätze und Perspektiven eine Kommunikationsgrundlage für die verschiedenen Disziplinen schaffen, die sich alle im Kern mit Formen von Geschichte im öffentlichen Raum befassen. Wir erheben keinen Anspruch auf Deutungshoheit mit einem neuen Modell, sondern wollen einen der Grundmechanismen der Wissenschaft: den wissenschaftlichen – kooperativen – Diskurs stärken.
Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für das Vertrauen in unsere Arbeit, der Universität zu Köln für die administrative Unterstützung unseres Netzwerkes, dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin, der Freien Universität Berlin, der Universität Hamburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg für die Ermöglichung unserer Workshops sowie den Studentischen Hilfskräften Janina Raeder, Katharina Wonnemann, Karl Dargel, Marlen Schulze, Michael Schuhmacher und Laura Kern für ihre Unterstützung bei diesen. Wir danken ebenso dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht und hierbei insbesondere unserem Ansprechpartner Kai Pätzke für die Aufnahme ins Verlagsprogramm und die Weitervermittlung an die UTB wie auch dem Lektor Ulf Heidel, der uns im Endspurt tatkräftig unterstützt hat.
1Einführung
Public History ist ein neues und boomendes Feld in deutschsprachigen Ländern. Vor allem in den historischen Instituten und Seminaren der Universitäten sind in den letzten 15 Jahren Studiengänge, Studienrichtungen und andere Lehrangebote zu ‚Public History‘, ‚Angewandter Geschichte‘, ‚Geschichte in der Öffentlichkeit‘ oder ‚Öffentlicher Geschichtsvermittlung‘ entstanden; kaum eine Konferenz oder ein Forschungsschwerpunkt kommt heute noch ohne einen Verweis auf Public History als die öffentliche oder öffentlich sichtbare Repräsentation von Geschichte aus. Dabei zeigt sich sehr schnell, dass der Begriff Public History höchst unterschiedlich verstanden und eingesetzt wird. Hier – wie auch in den USA, wo die Public History als außeruniversitäres Arbeitsfeld und universitäres Studiengebiet geformt wurde – gibt es daher eine Vielzahl von Definitionen, die Klarheit bringen sollen. Diese haben sich im Laufe der Zeit verändert, weil sich der Blick auf und die Fragen an Repräsentationen von Geschichte geändert haben. In den 1970er Jahren ging es vor allem darum, das Phänomen des ‚Geschichte-Machens‘ außerhalb von Forschungseinrichtungen ins Blickfeld zu rücken, wie dies Robert Kelley 1978 formulierte.1 Während Kelley noch die Arbeit professioneller Historiker_innen außerhalb der Universitäten und Schulen beschrieb, bezog der US-amerikanische National Council on Public History (NCPH) als erste und heute größte Interessenvertretung von Public Historians Anfang der 1990er Jahre dezidiert auch Lai_innen mit der markanten Formel ein, Public History sei „history for the public, about the public, and by the public“.2 ‚Public history‘ sollte daher zunächst als Gegensatz zur academic historyverstanden werden. Seitdem geht es vor allem darum, Praktiken und damit verbundene Ziele der Public History zu fokussieren. So versteht die Archäologin Faye Sayer unter Public Historians Menschen, die sich „in the practice of communicating the past to the public“ engagieren.3 Auch die Zeithistorikerin Irmgard Zündorf betont, dass Public History jegliche Form öffentlicher Geschichtsdarstellung umfasst, „die außerhalb von Schulen und wissenschaftlichen Institutionen stattfindet“. Und über Public Historians schreibt sie weiter:
Neben der professionellen Beherrschung geschichtswissenschaftlicher Methoden benötigen sie die Kompetenz, wissenschaftlich komplexe Ergebnisse für ein nicht historisch vorgebildetes Publikum auf einfache, interessante und den benutzten Vermittlungsträgern gut angepasste Weise zugänglich zu machen.4
In historischer Perspektive zeigt sich, dass zu oft bei der Definitionsfrage stehen geblieben wurde. Gerade die Einführungspublikationen der letzten Jahre machen dies deutlich.5 Die dort präsentierten Definitionen erlauben zwar eine Orientierung in der jeweiligen Gliederung der Bücher, nicht jedoch die Verortung der Public History im wissenschaftlichen Feld selbst. Public History erscheint daher oftmals als Sammelbecken für Geschichte in unterschiedlichen Medien und Institutionen und vor allem als Best-Practice-Beschreibung. Eine Ausnahme ist hier der Entwurf von Marko Demantowsky, der Public History einerseits als „Kofferwort“ für bereits etablierte Konzepte wie Geschichtskultur und Gedächtnis vorgestellt, andererseits erstmals den Begriff soziologisch grundiert als Identitätsdiskurs ausformuliert hat.6
Wir gehen mit dem vorliegenden Buch einen anderen Weg. Unser Ziel ist es, den Leser_innen anhand prägender Leitbegriffe eine Orientierung in den aus unterschiedlichen (Teil-)Disziplinen stammenden theoretischen Fundierungen der Public History zu bieten, diese zusammenzuführen und auf diese Weise die Beschäftigung mit der Public History als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft zu stärken. Wir gehen dabei von der ganz grundlegenden Beobachtung aus, dass Public History als Anglizismus in deutschsprachigen Ländern eingeführt wurde, weil sich der Begriff nicht ohne Weiteres übersetzen lässt. ‚Öffentliche Geschichte‘ als Terminus technicus stößt schnell an seine Grenzen, denn der Begriff der Öffentlichkeit ist gerade in geschichtswissenschaftlicher Perspektive in deutschsprachigen Ländern belegt – etwa durch das Spannungsverhältnis öffentlich/privat. ‚Öffentliche Geschichtsvermittlung‘ greift als Bezeichnung zu kurz, da der Begriff der ‚Vermittlung‘ einen Top-down-Prozess impliziert, der verschiedene Formen der Wissensaneignung in der Public History zu wenig berücksichtigt. Auch ‚angewandte Geschichte‘ lässt sich nicht als unmittelbare Übersetzung der US-amerikanischen applied history auffassen.7 Vielmehr wird damit ein spezifisches Feld der praktizierten Public History bezeichnet, nämlich das der Firmen- oder Unternehmensgeschichte. Darüber hinaus ist der Begriff vorbelastet durch seine Verwendung während des Nationalsozialismus. Hier sollte ‚angewandte Geschichte‘ vor allem für die NS-Ideologie nützliche (pseudo-)historische Argumente liefern, um die Eroberungs-und Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands zu stützen.8
Zudem zeigt sich schon bei einem oberflächlichen Blick auf die unterschiedlichen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, dass Repräsentationen von Geschichte bereits unter spezifischen Bedingungen erforscht werden. So thematisiert die Alte Geschichte unter dem Begriff der Rezeption Modi der kulturellen Wiederaufnahme und Transformation von Personen und Phänomenen aus der Antike. Die Geschichtsdidaktik hat mit dem Begriff der Geschichtskultur geradezu paradigmatisch ihr Forschungsinteresse formuliert. Und vor allem die Neuere und die Zeitgeschichte haben die Begriffe des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskultur als innovative Modelle in die eigenen Forschungspraxen integriert. Aber auch jenseits der Geschichtswissenschaft wird sich mit Formen des ‚Geschichte-Machens‘ befasst: So stehen insbesondere Heritage/Kulturerbe oder auch Tradition im Fokus analytischer Betrachtung. Viele Diskurse sind über Jahrzehnte hinweg weitgehend isoliert voneinander geführt worden, obwohl die an ihnen beteiligten Wissenschaftler_innen ähnliche, ja gleiche Phänomene untersuchten. Der zentrale Gegenstand unseres Buches ist also einer, der in vielfältigsten Begriffen und von unterschiedlichen Disziplinen bereits erfasst, theoretisiert und modelliert wurde. Über ihn fachübergreifend zu sprechen und ihn transdisziplinär zu erforschen, setzt eine Auseinandersetzung mit diesen Begriffen voraus. Wir betrachten daher genau diese Termini als Schlüsselbegriffe der Public History und damit als theoretische Grundlage einer Wissenschaft von der Public History.
Wir verstehen die Public History in diesem Zusammenhang als Feld, in dem es um die Wissenschaft von der Kommunikation von Geschichte geht. Diese Minimaldefinition soll vor allem dazu dienen, die Praktiken und Performanzen und damit die multimodale Kommunikation von Geschichte als Forschungsobjekt sichtbar zu machen. Als Wissenschaft soll sie daher in Anlehnung an ein äußerst erfolgreiches Modell der Geschichtsdidaktik in die Bereiche Theorie, Empirie, Pragmatik und Norm der Public History unterteilt werden.9 Die theoretische Dimension der Public History bildet den Ort der Konzeptionalisierung ihrer Untersuchungsobjekte und ermöglicht eine intensive Diskussion weiterer Kernbegriffe, wie in diesem Buch exemplarisch gezeigt wird. Die empirische Dimension gibt im weitesten Sinne der Wirkungsforschung einen Ort, fragt nach Geschichtspraktiken, -vorstellungen und -narrativen von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen und untersucht verschiedenste Medien und Institutionen der Public History. Die pragmatische und normative Dimension der Public History kann ein Ort sein, an dem nicht nur über gesellschaftliche und immer auch ethische Ziele der Kommunikation von Geschichte diskutiert wird, sondern darüber hinaus wertvolle Impulssetzungen erfolgen, um über potenzielle Prinzipien oder allgemeine Qualitätsmerkmale von Produkten und Praktiken der Public History zu diskutieren.10
Dabei folgen wir einigen Grundannahmen, die die Koordinaten der Teildisziplin Public History bestimmen und die wir hier kurz skizzieren: In den vergangenen Jahren ist viel darüber diskutiert worden, wo die Public History als Forschungsgegenstand verortet werden soll – ist sie der Neueren Geschichte zuzuordnen oder der Geschichtsdidaktik? Ist sie eher als Untersuchungsfeld der historischen Kulturwissenschaft zu verstehen, weil sie so viele transdisziplinäre Elemente vereint? Wir sehen die Geschichtswissenschaft in ihrer Gänze als zentrale Bezugsdisziplin der Public History, denn es geht letztlich immer um spezifische Geschichte(n) in ihren unterschiedlichen Performanzen und Formen. Die Geschichtswissenschaft ist jedoch nicht die einzige Bezugsdisziplin, denn die Erforschung der Kommunikation von Geschichte ist ohne Impulse etwa aus den Medien- und Theaterwissenschaften, der Europäischen Ethnologie/Kulturanthropologie oder Archäologie nicht durchführbar. Wir betonen daher den transdisziplinären Charakter der Public History. Aus diesem Grund finden sich in unserem Buch vor allem Begriffe, die in den geschichtswissenschaftlichen Fächern Verwendung finden, um Repräsentationen von Geschichte zu erforschen. So stellen wir gleichsam eine Brücke für benachbarte Disziplinen her.
Public History ist weder an bestimmte Themen noch Epochen oder Räume gebunden. Sie kann sich in ihren vielfältigen Formen auf jeden Gegenstand, jede Epoche, jede Region und jede andere Schwerpunktsetzung innerhalb der Geschichtswissenschaft beziehen, weshalb sie keiner ihrer traditionellen Teildisziplinen zuzuordnen ist, sondern vielmehr ein übergreifendes und offenes Feld darstellt. Obwohl die Public History gerade in Deutschland viele ihrer wissenschaftlichen Impulse der Geschichtsdidaktik verdankt, ist sie auch kein genuines Element dieses Fachs. Sie geht zum einen über die zentralen Paradigmen des Geschichtsbewusstseins und der Geschichtskultur hinaus, indem sie systematisch nach der Bedeutung und dem Potenzial anderer theoretischer Konzeptionen fragt und diese nutzt. Zum anderen befördert sie zwar auch das Historische Denken, räumt diesem Aspekt aber keinen Primat ein, wie dies die Geschichtsdidaktik tut. Public History steht damit neben den traditionellen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft, ist aber gleichzeitig immer auch Teil von diesen – insofern als ein Spezialwissen aus diesen Teildisziplinen immer auch notwendig für die Erforschung der Kommunikation von Geschichte(n) ist.
Wir verstehen die Public History als wissenschaftliches Fach daher auch nicht im Widerspruch zu akademischen Geschichtsproduktionen. Diese begriffliche Frontstellung war gerade in der Entstehungsphase der Public History als Phänomenbe-schreibung und vor allem als Wertzuschreibung außerakademischer Geschichtsproduktion wichtig. Auch heute wird diese Unterscheidung vor allem als Wirkungs-feldbestimmung bemüht.11 Wir wenden uns jedoch aus zwei Gründen gegen die Exklusion von Wissenschafts- und Lehrinstitutionen aus dem Feld der Public History: Als Wissenschaft verstanden erforscht die Public History die Kommunikation von Geschichte in allen Räumen; das schließt Orte wie Universitäten, Akademien und Schulen insofern ein, als auch sie Teil des öffentlichen Diskurses von Geschichte sind. Die Kommunikation von Geschichte umfasst viele Akteur_innen in unterschiedlichsten Institutionen und mit unterschiedlichen Motiven und Zielen, die sich gegenseitig beeinflussen. Wir stellen damit nicht den Wert von nach wissenschaftlichen Kriterien erarbeiteter Geschichte in Frage, sondern wollen diese als Teil des Machens und Erlebens von Geschichte in den Diskurs einbeziehen, weil auch dies in der Gesellschaft stattfindet. Insofern hat die Public History als Disziplin auch das Potenzial, eine Reflexionsinstanz für andere Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft zu werden, ohne sich dabei auf das Eruieren der Tauglichkeit geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen zur Gegenwartsorientierung zu beschränken oder beschränkt zu werden.
Dieser Band versammelt zehn Schlüsselbegriffe der Public History und ist damit ein Baustein für ihre Theoretisierung. Zentral sind dabei die Begriffe, die zunächst unseren Forschungsgegenstand genauer zu fassen suchen. Gedächtnis, Geschichtskultur, Rezeption und Heritage bzw. Kulturerbe waren für uns obligatorische Schlüssel- oder auch Basisbegriffe. Sie greifen jeweils grundlegende Modi Operandi aus der Geschichtsdidaktik, der Neueren Geschichte, der Altertumswissenschaften und dem größeren Feld der Kulturwissenschaften auf.
Der Begriff der Performativität liegt quer zu diesen Modellen, denn überall spielt das Machen als doing history eine zentrale Rolle. Der Fokus auf dieses Machen greift dabei zum einen reflexiv ein zentrales Element der frühen Public-History-Bewegungen auf und betont zum anderen die soziale Dimension des Praktizierens von Geschichte, die in jedem der Basisbegriffe (Geschichtskultur, Gedächtnis, Rezeption und Heritage) mehr oder minder ausgeprägt ist, aber in jüngster Zeit immer stärker betont wird.
Mit dem Begriff der Authentizität und dem Begriffspaar Erfahrung/Erlebnis fokussieren wir deduktiv die zwei größten Werbeversprechen gegenwärtiger Repräsentationen von Geschichte: kein Museum, kein Dokumentarfilm, kein Spiel, das heute nicht auf das Erlebnis Geschichte rekurriert und die Authentizität des eigenen Produktes bewirbt. Hier sollen die Begriffe gut verständlich erläutert und auf ihre analytische Schärfe hin befragt werden. So werden aus den Werbeversprechen Analysekategorien.
Die Begriffe Emotion und Imagination haben wir aufgenommen, weil sie – ähnlich wie Performativität – immer wieder Überschneidungen zu allen anderen Begriffsfeldern aufweisen. Authentizität kann nicht ohne den Bezug auf Emotionen und Imaginationen verstanden werden. Rezeption lässt sich ohne Imagination nicht beschreiben, Erinnerung nicht ohne Emotion denken. Beides sind Konzepte, die historischer Sinnbildung genauso wie historischer Vermittlung zugrunde liegen. Gerade die Emotionen werden in den letzten Jahren in Hinblick auf Attraktivität und Nachhaltigkeit historischer Erlebnisse immer präsenter und zugleich auch durch einen gewandelten geschichtswissenschaftlichen Diskurs gerahmt. Ohne sie lässt sich wiederum eines der zentralsten Felder dieses Buches nicht erklären: das Historische Denken.
Wir haben uns nach reiflicher Überlegung entschieden, hier nicht den Begriff der Vermittlung als Schlüsselbegriff der Public History zu präsentieren – wohl wissend, dass dieser Terminus außerhalb von Forschungsinstitutionen ein zentrales Arbeitsfeld von Public Historians bezeichnet und als solches beworben wird. Stattdessen stellen wir mit dem Historischen Denken einen Begriff in den Mittelpunkt, der unserer Meinung nach aktuell am besten erfasst, wie sich Menschen eigentlich systematisch Geschichte aneignen oder sich mit Geschichte auseinandersetzen. Dieser Begriff ist nicht nur hierarchiefreier als der Vermittlungsbegriff und verzichtet damit auf eine implizite Top-down-Perspektive, sondern er ist auch domänenspezifisch. Wir stellen hier also zentrale Theoreme und Prinzipien aus der Geschichtsdidaktik vor, weil wir der Überzeugung sind, dass sich so am besten Bildungsangebote qualitativ untersuchen und weiterführend gestalten lassen – und zwar dezidiert für den Bereich der Public History.
Uns ist bewusst, dass diese Auswahl keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und von anderen anders getroffen worden wäre, dass sie also nur das sein kann – ein exemplarischer und fokussierter Blick auf ein weites Themenspektrum. Viele zentrale Begriffe eröffnen ein Feld, das nicht ohne den Bezug zu oder eine Abgrenzung von anderen Begriffen auskommt. Wir haben uns in solchen Fällen für die Verwendung von Informationsboxen entschieden. Diese sind grau gekennzeichnet und fassen kurz und prägnant unser Verständnis dieser Begriffe und ihre Bezüge zu den von uns vorgestellten Schlüsselbegriffen zusammen. In jedem Artikel wird ein kurzer historiografischer Blick auf den jeweiligen Begriff und dahinterliegende Konzepte geworfen. Im Fokus steht aber die aktuelle Ausformung der Schlüsselbegriffe, die zunächst in ihrer theoretischen Tiefe und dann im Hinblick auf ihre spezifische Operationalisierung für die Public History systematisch befragt werden. Dabei präsentieren wir keine (vermeintlich) neutrale Beschreibung aller Ansätze, sondern wählen gezielt und deutend die Ansätze aus, die unserer Meinung nach entscheidend für eine gelingende transdisziplinäre Kommunikation im Feld der Public History sind. Unsere Beiträge verstehen sich daher immer auch als Teil eines aktuellen Forschungsdiskurses.
Dieses Buch ist als Einführung gedacht. Masterstudierende, für die in deutschsprachigen Ländern hauptsächlich Public-History-Studien angeboten werden, können sich so kompakt und über die eigene geschichtswissenschaftliche Teildisziplin hinaus schnell und sicher im Feld orientieren. Lehrende der Public History können dieses Buch ebenfalls nutzen, um gezielt einzelne, gegebenenfalls fachfremde Schlüsselbegriffe aufzugreifen und so über (teil-)disziplinäre Grenzen hinweg Denkmodelle transdisziplinär zu verorten und die facheigenen theoretischen Konzeptionen auf ihre Stärken, Leerstellen oder potenziellen Erweiterungen hin zu überprüfen. Wir haben in unserer Lehre die Erfahrung gemacht, dass sich auf diese Weise gerade transdisziplinäre Lehrveranstaltungen wesentlich besser planen und durchführen lassen, und hoffen, dass unser Buch auch hier einen positiven Beitrag für andere Lehrende innerhalb und außerhalb historischer Institute leisten kann. Die Beiträge zu den einzelnen Schlüsselbegriffen können also jeweils für sich gelesen werden. Sie sind in alphabetischer Reihenfolge gelistet und bedienen damit keine implizite Logik. Wo nötig, werden Bezüge zu den anderen Schlüsselbegriffen oder zu Informationsboxen an anderen Stellen hergestellt. Insofern kann ein Nachschlagen im Sach- und Personenregister hilfreich sein; prinzipiell sind alle Artikel jedoch auch so verständlich. Drei bis fünf Literaturtipps zum Ein- bzw. Weiterlesen schließen die jeweiligen Artikel zu den Schlüsselbegriffen ab, eine Gesamtbibliografie findet sich am Ende des Buches.
Unser Buch soll Interessierten unabhängig von der eigenen Hausdisziplin oder Expertise eine Einführung in grundlegende Denkmodelle und theoretische Ansätze der Public History geben und damit vor allem eines gewährleisten: eine kooperative und reflexive Kommunikation über Fachgrenzen hinweg, die eine gemeinsame Erforschung von Geschichte in der Öffentlichkeit fördert, die Public History als wissenschaftliche Disziplin stärkt und letztlich auch vielfältige positive Einflüsse auf Praxisfelder der Public History ermöglicht.
1 „In its simplest meaning, Public History refers to the employment of historians and the historical method outside of academia: in government, private corporations, the media, historical societies and museums, even in private practice. Public Historians are at work whenever, in their professional capacity, they are part of the public process. An issue needs to be resolved, a policy must be formed, the use of a resource or the direction of an activity must be more effectively planned – and an historian is called upon to bring in the dimension of time: this is Public History.“ Robert Kelley: Public History: Its Origins, Nature, and Prospects, in: The Public Historian 1/1 (1978), S. 16–28, hier S. 16.
2 Charles C. Cole, Jr.: Public History’s Influence on Historical Scholarship. Public History: What Difference Has it Made?, in: The Public Historian 16/4 (1994), S. 9–35, hier S. 11.
3 Faye Sayer: Public History. A Practical Guide, London 2015, S. 2.
4 Irmgard Zündorf: Zeitgeschichte und Public History (Version: 2.0), in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6.9.2016, DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.2.699.v2.
5 Zum Beispiel Thomas Cauvin: Public History. A Textbook of practice, New York 2016; Sayer: Public History; Cherstin Lyon u. a.: Introduction to Public History. Interpreting the Past, Engaging Audiences, Lanham (MD) 2017; David Dean (Hg.): A Companion to Public History, Hoboken (NJ) 2018. Irmgard Zündorf und Martin Lücke stellen mit der ersten deutschsprachigen Einführung zumindest zwei Leitkonzepte (Geschichts- und Erinnerungskultur) vor, ohne diese Auswahl jedoch näher zu begründen, Martin Lücke/Irmgard Zündorf: Einführung in die Public History, Göttingen 2018.
6 Marko Demantowsky: What is Public History, in: ders. (Hg.): Public History and School. International Perspectives, Berlin/Boston 2018, S. 3–37, hier S. 26.
7 Siehe hierzu: Simone Rauthe: Public History in den USA und der Bundesrepublik Deutschland, Essen 2001, S. 88 f.
8 Vgl. Juliane Tomann/Jacqueline Nießer: Public and Applied History in Germany – Just another Brick in the Wall of the Academic Ivory Tower?, in: The Public Historian, 41/4 (2018), S. 11–27, hier S. 18.
9 Einführend: Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Hilke Günther-Arndt (Hg.): Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 5. Aufl., Berlin 2011, S. 11–22; Jörn Rüsen: Auf dem Weg zu einer Pragmatik der Geschichtskultur, in: Ulrich Baumgärtner/Waltraud Schreiber (Hg.): Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. Zwei geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion, München 2001, S. 81–97, hier S. 89 f.
10 Einführend: Christine Gundermann: Public History. Vier Umkreisungen eines widerspenstigen Gegenstandes, in: dies. u. a. (Hg.): Geschichte in der Öffentlichkeit. Konzepte – Analysen – Dialoge, Berlin 2019, S. 87–114, hier S. 105 ff.
11 Wie in der bereits vorgestellten Definition von Irmgard Zündorf ersichtlich oder etwa bei Habbo Knoch: Wem gehört die Geschichte? Aufgaben der „Public History“ als wissenschaftlicher Disziplin, in: Wolfgang Hasberg/Holger Thünemann (Hg.): Geschichtsdidaktik in der Diskussion. Grundlagen und Perspektiven, Frankfurt a.M. 2016, S. 303–346, hier S. 304.
2Authentizität
2.1Einleitung
Nachdem im Frühjahr 2019 die Kathedrale Notre-Dame de Paris durch einen Brand in großen Teilen stark zerstört wurde, schien eines der Wahrzeichen der französischen Hauptstadt für unbestimmte Zeit verloren. Es war der Spieleanbieter Ubisoft, der in dieser Situation mit einer bis dahin beispiellosen Marketing-Strategie in die Öffentlichkeit trat und die Kathedrale interessierten Menschen zugänglich machen wollte: digital und in Form des Spiels Assassin’s Creed Unity. Das Spiel war 2014 auf den Markt gebracht worden, es ist der achte Teil der erfolgreichen Assassin’s-Creed-Reihe und ist im Paris der Französischen Revolution angesiedelt. Als Spieler_in bewegt und kämpft man sich durch die Stadt und versucht eine Verschwörung aufzudecken. Dabei wohnt der Avatar verschiedenen historischen Ereignissen wie dem Sturm auf die Bastille bei und begegnet auch historischen Persönlichkeiten. In diesem Spiel ist auch eine detaillierte Darstellung von Notre-Dame enthalten. Mit einem kostenlosen Download wollte Ubisoft nun für kurze Zeit „allen Spielern die Chance geben, die Schönheit der Kathedrale in Assassin’s Creed Unity auf dem PC zu erleben“.1 Damit betonte der Spieleanbieter erneut das besondere Spielerlebnis aufgrund der detailgetreuen digitalen Nachbauten von historischer Architektur.
Der Focus2 spekulierte in diesem Zusammenhang, dass die für die digitale Rekonstruktion im Spiel gesammelten Daten sogar beim Wiederaufbau der Kirche eine entscheidende Rolle spielen könnten – es sei die genaueste Rekonstruktion, die aktuell verfügbar sei. Es erschien dabei selbstverständlich, dass die in der Spielreihe dargestellte Architektur zentrale Merkmale einer historisch authentischen Darstellung von Geschichte erfüllte. Die Behauptung des Spieleanbieters wurde selbst nicht in Frage gestellt und erschien evident. Hier zeigen sich nicht nur die Effizienz einer langjährigen Marketingstrategie und die Potenziale einer Digital Public History; das Beispiel zwingt uns auch, über Authentizität als Garant und Kernmerkmal ‚echter Geschichte‘ nachzudenken.
Historische Themen faszinieren die Menschen, insbesondere wenn ihre Darstellungen mit dem Label der Authentizität etikettiert werden. Popularisierte Geschichte in Form von Melodramen, Theaterstücken, TV-Dokumentationen, Computerspielen oder etwa Comic-Historiografien bedient diese Faszination und perpetuiert damit das, was allgemeiner auch als Geschichtsboom bezeichnet wird. Das Versprechen von Geschichten als ‚wahre Geschichte‘ fungiert dabei auch als Werbefaktor, wodurch Authentizität zum Element von Branding wird.3
Als ökonomische Strategie hat sich dieses Phänomen längst etabliert4 und wurde bereits kritisch untersucht.5 Fast immer geht es dabei um Fragen des Produktdesigns: Einem ‚authentischen‘ Produkt sieht man seine Kommerzialisierung nicht an und es suggeriert gleichzeitig eine genaue Einpassung in den Lebensstil und Selbstentwurf der anvisierten Konsument_innen. Im Versprechen der Authentizität findet eine Verknüpfung von Objekt und Subjekt statt, wobei die Erzeugung von Nostalgie (vgl. Infobox) hierbei eine zentrale Rolle spielt, wie nicht zuletzt das Beispiel von Assassin’s Creed Unity zeigt.
Im Bereich der Public History ist oftmals unklar, was genau mit dem Verweis auf die ‚echte Geschichte‘ gemeint ist. Im weitesten Sinne geht es um einen referenziellen Bezug zur Vergangenheit, der anzeigt, dass die Darstellung authentisch ist. Gleichzeitig wird aber auch ein authentisches Erlebnis beim Konsumieren von Geschichte beworben. Das Versprechen von Authentizität bezieht sich also sowohl auf Darstellungen (z. B. im Museum oder Film) als auch auf die Wahrnehmung und Gefühle der Besucher_innen bzw. Teilnehmer_innen, wobei ein Zusammenhang zwischen beiden Aspekten besteht, auf den wir unten nochmals zurückkommen werden. In der Public History erscheint Authentizität insofern allgegenwärtig und bezieht sich auf ein semantisches Feld, in dem auch Qualitäten wie ‚glaubwürdig‘, ‚zuverlässig‘, unmittelbar‘ und eben ‚echt‘ angesiedelt sind.
Vielfältige Bedeutungen
Der Begriff Authentizität ist in mehreren Wissenschaftsfeldern, darunter in der Geschichtswissenschaft, der Kulturwissenschaft, den Critical Heritage Studies und der Medienwissenschaft, von zentraler Bedeutung. Ohne ihn lassen sich öffentliche Repräsentationen von Geschichte nicht analysieren. Dabei gibt es bis heute keine umfassende und eindeutige Definition von Authentizität, die die mannigfaltigen Bedeutungen in historischer und aktueller Perspektive einzufangen vermag.6 Lange wurde der Begriff in der Geschichtswissenschaft im Kontext von Quellenkritik verwendet oder galt anderen
Disziplinen wie der frühen Volkskunde, die sich der Suche und Bewahrung des Authentischen verschrieben hatten, als Ausgangspunkt für ihre fachliche Formierung.7 Inzwischen ruft er in wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Verhandlungen von Geschichte
Diskurse auf, die sich um Original, Kopie und Fälschung sowie Echtheit und Triftigkeit drehen, aber auch um Ursprünglichkeit im Sinne einer Unmittelbarkeit im Erfahren und Erleben einer Person.
Im Folgenden veranschaulichen wir das Bedeutungsspektrum von Authentizität, denn für die Interpretation von Angeboten öffentlicher Geschichte ist es unseres Erachtens hilfreich, Authentizität als Analysekategorie zu nutzen, jedoch zugleich auch nötig, den Begriff als Quellenbegriff zu verstehen. Darüber hinaus weisen wir auf spezifische Fragen an Authentizität bzw. ‚authentische‘ Repräsentationen von Geschichte hin, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen gestellt werden. Ferner zeigen wir, dass Authentizität einerseits eine Konstruktion ist und sich andererseits auf die Qualität einer Relation zwischen Menschen und historischen Objekten bezieht. In der Public History ist der Begriff von Widersprüchen gekennzeichnet, denn er changiert zwischen der Beglaubigung von Echtheit einerseits sowie deren Simulation andererseits und ist zudem zwischen historischem Ereignis, repräsentiertem Objekt und Wahrnehmung des Objektes angesiedelt. Zugleich weist er eine paradoxale Struktur auf, insofern Authentizität immer medial vermittelt und damit auch medial hergestellt ist: Was als authentisch gilt, muss zunächst als solches ausgewiesen werden, sodass Authentizität immer eine Zuschreibung von außen ist.8 Zunächst werden wir Authentizität begriffsgeschichtlich verorten und dann auf gegenwärtige Verwendungsweisen eingehen, die wir schließlich exemplarisch an vier praxisnahen Fallbeispielen aus der Public History operationalisieren.
Nostalgie
Nostalgie bezeichnet eine besonders emotionale Form der Zugewandtheit zur Vergangenheit. Der Begriff stammt aus dem Griechischen (nóstos: Rückkehr, Heimkehr; álgos: Schmerz) und wurde vom 17. Jahrhundert bis weit ins 20. Jahrhundert hinein synonym zum neueren Begriff des Heimwehs gebraucht. Heimweh/Nostalgie ist durch eine zeitliche und eine örtliche Dimension gekennzeichnet. Heimweh ist das Sehnen nach einem Ort, der erst aus der zeitlichen Distanz, im Prozess der Entfernung, als Heimat und damit Ort der Zugehörigkeit erkannt wird. Nostalgie und Heimweh bezeichneten bis Ende des 19. Jahrhunderts eine Nervenkrankheit, an der insbesondere Soldaten teils schwer, in manchen Fällen sogar tödlich erkrankten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, im Zuge zunehmender sozialer und örtlicher Mobilität, wurde Heimweh/Nostalgie pädagogisiert. Das rückwärtsgewandte Sehnen nach einem verlassenen Ort war nun unreifen Kindern und Heranwachsenden vorbehalten, die erst lernen mussten, die Trennung von Eltern und Zuhause zu erdulden. Erst in den 1970er Jahren erfolgte in der Bundesrepublik eine Ausdifferenzierung des Heimwehbegriffes entlang der Raum- und Zeitdimension. Unter Nostalgie verstand man nun zunehmend die sehnsüchtige Zuwendung zur Vergangenheit, die zumeist als besonders harmonische Zeit erinnert wurde. Heimweh hingegen bezeichnete das sehnende Verlangen nach einem verlassenen Ort. Die 1970er Jahre gelten gar als nostalgisches Jahrzehnt. Als Reaktion auf die Erfahrung des beschleunigten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wandels und auf die Strukturumbrüche, die den Übergang zur Postmoderne markierten, wurde die Zukunftszuversicht der Moderne abgelöst von der Sehnsucht nach der vorgeblichen Stabilität vergangener Zeiten. Der Nostalgie-Boom manifestierte sich in einer Wiederentdeckung von Vergangenheit, vor allem in Formen des Konsums, die Geschichte als wenig konfliktreich und identitätsfördernd für eine Mehrheitsgesellschaft präsentierte. Später wurden Gedächtnis und Erinnerung (vgl. Kap. 4) dann zu neuen Leitbegriffen einer verstärkt kulturgeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaft. Mit der Temporalisierung des Nostalgiebegriffs erfolgte auch zunehmend seine Entpathologisierung. Nostalgie ist kein Leiden mehr, sondern bezeichnet die Fähigkeit der emotionalen Selbstregulation. Heute stehen technologische Retrotrends und Vintage-Designs für einen identitätsstabilisierenden Umgang mit Geschichte. Nostalgisch zu sein verweist auf das Bedürfnis nach besonderer Nähe zu einer als positiv erinnerten Vergangenheit und zugleich auf die Einsicht in deren mediale Vermitteltheit.
Leseempfehlung
Becker, Tobias: Rückkehr der Geschichte? Die „Nostalgie-Welle“ in den 1970er und 1980er Jahren, in: Fernando Esposito (Hg.): Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom, Göttingen 2017, S. 93–117; Schrey, Dominik: Analoge Nostalgie in der digitalen Medienkultur, Berlin 2017.
2.2Begriffsgeschichte
Der Begriff der Authentizität speist sich aus verschiedenen Quellen und ist mit den Bereichen des Rechts, der Theologie, der Philosophie und der Künste verbunden; in der Geschichtswissenschaft spielt er erst seit wenigen Dekaden eine tragende Rolle. In einem Lexikoneintrag der Ästhetischen Grundbegriffe geben die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Susanne Knaller und der Germanist Harro Müller einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Verwendungen und Veränderungen des Begriffs, der aus dem Griechischen stammt.9
Glaubwürdigkeit vs. Original
Wurde das Wort authentikós (echt, zuverlässig, richtig) zur Bezeichnung der Glaubwürdigkeit von Schriften in Bezug auf eine_n Urheber_in verwendet, beinhaltete das lateinische Wort authenticusdarüber hinaus auch die Bedeutung ‚beglaubigt‘.10 Hier zeigt sich ein Zusammenhang von Authentizität, Autor_in und Autorität, der in verschiedenen Sprachen zu finden ist.11 Der lateinische Begriff bezeichnete außerdem auch ein ‚Original‘, das sich von einer Kopie unterscheidet.12 Einerseits geht es also um den Inhalt von Schriftstücken und andererseits um ein ganz bestimmtes Exemplar. Ähnlich lässt sich auch die Bedeutung des Begriffs in seiner weiteren Verwendung unterscheiden: Bezeichnete das Adjektiv ‚authentisch‘ im Mittelalter die Glaubwürdigkeit eines Textes,13 so wird es im 20. Jahrhundert im Sinne von original und echt verwendet.14 Im 18. und 19. Jahrhundert findet sich der Begriff hingegen nur selten, auch wenn in verschiedenen Bereichen Konzepte anzutreffen sind, die unser heutiges Verständnis von Authentizität vorbereitet haben.15
Kunst und Literatur
In seiner Schrift über die Nachahmung griechischer Kunstwerke (1755) konstatierte Johann Joachim Winckelmann, dass nur die „Nachahmung der Alten“ es möglich mache, in der Kunst Größe zu erlangen.16 Hiermit legte er den Grundstein für eine Theorie der Originalität und Echtheit, die später auch in die Geschichtswissenschaft hineinwirkte und deren Authentizitätsverständnis im 20. Jahrhundert mitbestimmte. Zugleich vollzog sich in der Literatur des 18. Jahrhunderts eine Hinwendung zur Empfindung und Sinnlichkeit, die – wie sich am Beispiel von Briefliteratur und Autobiografien zeigen lässt – auf einer Rhetorik der subjektiven Ausdruckssprache beruhte.17 Susanne Knaller verweist in diesem Zusammenhang auf die paradoxale Struktur, die sich später auch im Authentizitätsbegriff wiederfindet, denn die Unmittelbarkeit und Wahrhaftigkeit der dargestellten Gefühle war Effekt einer literarischen Konstruktion.18 Die Empfindsamkeit, die in der Literatur zum Ausdruck gebracht wurde, bezog sich dabei sowohl auf die Gefühle der Autor_innen als auch auf die (Selbst-)Wahrnehmung der Leser_innen. Damit steht das Literaturverständnis im Zusammenhang mit moralphilosophischen Überlegungen, die sich mit dem Verhältnis des Menschen zu sich und zu anderen beschäftigen, wie diese beispielsweise bei Jean-Jacques Rousseau zu finden sind, der das Selbstverhältnis als Treue des Menschen zu seiner inneren Natur konzipiert.19 Mit dem Interesse für einerseits die Kunst ‚der Alten‘ und andererseits die Empfindungen von Autor_innen und Leser_innen deutet sich im 18. Jahrhundert eine Unterscheidung an, die heute begrifflich als Objekt- und Subjektauthentizität gefasst wird, d. h., Authentizität kann sich auf die Eigenschaft eines Objekts beziehen oder auf das Selbstverständnis von Personen bzw. den Selbstentwurf von Subjekten.
Realismus und Objektivität
Mit der Etablierung naturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle im 19. Jahrhundert veränderte sich auch der Wirklichkeitsbegriff, der zunehmend mit dem Postulat des Objektiven einherging. In der Literatur des Realismus wurde die Welt dokumentierend beobachtet, wobei der Wahrheitsgehalt der Darstellung sowohl durch den Einsatz rhetorischer Mittel als auch durch die authentisierende Instanz der Künstler_innen garantiert wurde, deren Empfindungen jetzt nicht mehr von Interesse waren. Das Aufkommen der Fotografie ging dann mit der Vorstellung einer unmittelbaren Abbildung der Wirklichkeit einher, da fotografische Aufnahmen vermeintlich automatisch und ohne „schöpferische Vermittlung des Menschen“ zustande kommen.20 Auch wenn sich weder für literarische Werke noch für fotografische Abbildungen in der zeitgenössischen Diskussion der Begriff ‚Authentizität‘ finden lässt, tragen die Vorstellungen von Realismus und Objektivität zu unserer heutigen Konzeption von ‚Authentizität‘ bei.
Das authentische Kunstwerk
Erst Mitte des 20. Jahrhunderts hat Theodor W. Adorno ‚Authentizität‘ als ästhetiktheoretischen Begriff eingeführt. Gemeinsam mit Max Horkheimer diagnostiziert er in der Dialektik der Aufklärung (1947), dass es „mit fortschreitender Aufklärung […] nur die authentischen Kunstwerke vermocht [haben], der bloßen Imitation dessen, was ohnehin schon ist, sich zu entziehen“.21 In seinen späteren Schriften definiert er Authentizität als „Zauberwort“, das den Charakter von Werken bezeichnet, „der ihnen ein objektiv Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven Ausdrucks Hinausreichendens, zugleich auch gesellschaftlich Verbürgtes verleiht“.22 An anderer Stelle beschreibt er authentische Kunstwerke als „ihrer selbst unbewußte Geschichtsschreibung ihrer Epoche“.23
Während Adornos Interesse der Authentizität von Kunstwerken gilt, verwenden Philosophen wie Jürgen Habermas, Jean-Paul Sartre oder Charles Taylor den Begriff mit Blick auf den Menschen und zur Auseinandersetzung mit dem menschlichen Selbst-Bewusstsein, der Lebensführung oder Lebensweise.24
2.3Gegenwärtige Begriffsverwendung
Auch gegenwärtig ist die Verwendung des Begriffs ‚Authentizität‘ vielgestaltig. Zur Systematisierung haben Knaller und Müller vorgeschlagen, heuristisch zwischen Objekt- und Subjektauthentizität zu unterscheiden,25 wobei sich Erstere auf die Eigenschaft eines Objekts bezieht, die empirisch überprüft werden kann, und Letztere als Form des Selbstverständnisses zu verstehen ist, das mit spezifischen Vorstellungen von Identität in Zusammenhang steht.26 Dass zwischen diesen beiden Formen von Authentizität eine Wechselwirkung besteht, haben unter anderem die Historiker Achim Saupe und Martin Sabrow mit Hinweis auf die Aneignung (vgl. Infobox in Kap. 8.2) von Geschichte angesprochen.27
Authentische Objekte
Objekte gelten dann als authentisch, wenn es sich um Originale handelt. Ihre Echtheit bezieht sich auf Urheberschaft oder Historizität, auf der ihre Aura (vgl. Infobox) oder pastness (vgl. Infobox in Kap. 11.1) beruht und durch die sie sich von Fälschungen, Imitationen und Kopien unterscheiden. Um ein Gemälde beispielsweise als ‚echten‘ Rembrandt oder ein Schriftstück als ‚historisches Dokument‘ anzuerkennen, bedarf es Expert_innen, die Objekte auf der Grundlage von wissenschaftlichen Methoden und spezifischen Bewertungskategorien authentifizieren. Es ist also die Autorität der Expert_innen, die Objekten Authentizität verleiht, wobei die Authentifizierung zugleich mit Hierarchisierungen einhergeht, denn letztendlich wird durch ihre Bewertung das Werturteil festgelegt, welche Objekte zu bewahren und zu schützen sind (vgl. Kap. 7 Heritage und Kulturerbe).
Aura
Den Begriff der Aura hat Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1935) geprägt. Darin beschäftigt er sich mit der Veränderung der menschlichen Wahrnehmung durch die Einführung von Reproduktionstechniken, durch die Kunstwerke breiten Bevölkerungskreisen zugänglich gemacht werden. Benjamin definiert die Aura als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, und beschreibt damit die Einmaligkeit, die Kunstwerke auszeichnet, oder die „materielle Dauer“ und „geschichtliche Zeugenschaft“, die dinglichen Überresten eigen ist. Im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, so Benjamin, verkümmere diese Aura, da das Einmalige durch die Vervielfältigung überwunden werde und man der Dinge aus nächster Nähe im Abbild habhaft werden könne. Diesen Verfall der Aura sieht Benjamin durchaus positiv, da sich Kunstwerke erstmals von ihrem Kultwert, der aus ihrer Unnahbarkeit resultiere, emanzipieren und andere soziale Funktionen übernehmen könne, die auf ‚die Massen‘ gerichtet sind.
Im Museumskontext findet sich der Aura-Begriff zur Beschreibung von historischen Objekten. Diesen wird die Fähigkeit zugesprochen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln, indem sie das historisch Ferne räumlich nah präsentieren und dadurch gewissermaßen eine Brücke zwischen dem lebenden Individuum heute und der abgeschlossenen Vergangenheit schlagen. Eine Beschäftigung mit der Aura von Museumsdingen fand unter anderem im Zusammenhang mit einer an Objekten ausgerichteten Ausstellungsdidaktik statt, für die sich etwa Gottfried Korff ab den 1970er Jahren starkgemacht hat. Wie Roman Weindl in seiner Überblicksdarstellung erläutert, lag der Aufforderung, im Museum Originale zu präsentieren, die Annahme zugrunde, dass von der Aura der Museumsdinge eine positive pädagogische oder bildungspolitische Wirkung ausgehe, beispielsweise in Form einer ‚Ganzheitswahrnehmung‘. Diese Bewertung von Originalität steht Benjamins Begriff von Aura diametral entgegen. Gegenwärtig wird vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung und Virtualisierung das Potenzial von Originalobjekten besprochen. Auch wenn die Aura dieser Objekte an ihre Geschichtlichkeit gebunden wird, ist sie maßgeblich von ihrer Präsentation und Inszenierung abhängig. Insofern weist die Aura eine ähnlich paradoxale Struktur auf wie die Authentizität: Ihre Unmittelbarkeit ist medial konstituiert. Weindl kommt in seiner Analyse von geschichts- und museumsdidaktischer Literatur zu dem Schluss, dass viele Autor_innen den Begriff der Aura unscharf gebrauchen. Er stellt fest, dass er vor allem als Hilfsbegriff fungiert, da theoretische Überlegungen zur Wirkung von Museumsobjekten fehlen.
Leseempfehlung
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 2010 (1935); Weindl, Roman: Die „Aura“ des Originals im Museum. Über den Zusammenhang von Authentizität und Besucherinteresse, Bielefeld 2019, S. 15–19.
Konstruktion und Medialität von Authentizität
Authentizität weist wie schon gesagt eine paradoxale Struktur auf, da sie immer konstruiert und medial vermittelt ist. Sie setzt die Kommunikation der durch Expert_innen vorgenommenen Authentifizierung voraus und geht mit einer spezifischen Präsentation der jeweiligen Objekte einher, auf die wir unten anhand von konkreten Beispielen zurückkommen werden. Die Verfahren und Strategien, mit denen die Authentizität von Objekten konstruiert und inszeniert wird, sind vielfältig. Sie unterscheiden sich je nach Medium und performativem Ansatz und werden in der Literatur-, Theater-, Kultur- und Medienwissenschaft aus verschiedenen Perspektiven analysiert und theoretisiert.28 Häufig stehen hierbei Fragen nach textuellen und paratextuellen Verfahren im Mittelpunkt, die Authentizitätseffekte erzeugen.
Diese mediale Konstruktion von Authentizität unterscheidet sich grundlegend von der wissenschaftlich untermauerten Authentifizierung historischer Objekte, weshalb Saupe und Sabrow zwischen wissenschaftlicher Authentifizierung einerseits und Authentisierung als Inszenierung andererseits differenzieren.29 In Disziplinen mit medienbasierten Forschungsgegenständen besteht diese begriffliche Differenzierung nicht.
Erleben von Authentizität
Die Konzeption von Authentizität als (diskursiv erzeugte) Eigenschaft eines Objekts oder als Effekt textueller Verfahren greift jedoch zu kurz. Authentizität resultiert vielmehr aus der Relation zwischen Objekt und Subjekt, denn sie muss als solche wahrgenommen bzw. erfahren werden (vgl. Kap. 5 Erlebnis und Erfahrung).30 Es kommt also nicht nur auf eine Fremdbeglaubigung (Heterologie) von Authentizität an, sondern auch auf eine Selbstbeglaubigung (Autologie).31 Mit Bezug auf Geschichte ist dabei Plausibilität von zentraler Bedeutung, die dazu beiträgt, dass Objekte als Originale wahrgenommen (vgl. Infobox pastness in Kap. 11.1) oder nachgestellte Handlungen und Situationen als authentisch erlebt werden.
Authentizität in der Geschichtswissenschaft
Als analytischer Begriff wird Authentizität in der Geschichtswissenschaft nicht systematisch verwendet; Eingang in das wissenschaftliche Vokabular fand er vor allem mit Bezug auf den Status von Objekten. Er markiert die Echtheit einer Quelle und zeigt an, dass diese zu einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort und von bestimmten Akteur_innen hervorgebracht wurde. Über den Wahrheitsgehalt der Quelle gibt die Authentifizierung hingegen nicht zwangsläufig Auskunft. Authentifizierungen sind grundlegende Voraussetzung jeder historiografischen Arbeit und Teil der Quellenkritik. Zudem gibt es wissenschaftliche Tätigkeitsfelder wie die Provenienzforschung, in denen die mit der Authentifizierung einhergehende Herkunftsforschung zu den Haupttätigkeiten zählt. Für die Auseinandersetzung mit der Darstellung von Vergangenheit spielt der Begriff in der Geschichtswissenschaft hingegen bis auf wenige Ausnahmen keine Rolle.32
Typologisierung authentischer Darstellungen
Zu diesen Ausnahmen zählt die Typologisierung von Authentizität, die der Geschichtsdidaktiker Hans-Jürgen Pandel erarbeitet hat. Er legt dabei ein weites Begriffsverständnis zugrunde und versteht unter Authentizität „eine Eigenschaft, die Aussagen, schriftlichen und bildlichen Quellen, Dingen sowie Orten zukommt, um ihre Echtheit, Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit zu kennzeichnen“.33 Dabei unterscheidet er zwischen Personen- bzw. Ereignisauthentizität, Typenauthentizität, Repräsentationsauthentizität und Erlebnisauthentizität.34 Unter der erstgenannten Form von Authentizität versteht er, dass eine Person tatsächlich gelebt bzw. ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Typenauthentizität bezeichnet den Umstand, dass eine dargestellte Person zwar fiktiv, ihre Figureneigenschaften jedoch als typisch für die dargestellte Zeit, soziale Stellung und Region sei. Repräsentationsauthentizität ist nach Pandel vorhanden, wenn die fiktiven Elemente einer historischen Narration für die dargestellte Epoche und Region nach aktuellem Forschungsstand repräsentativ sind. Und mit dem Begriff der Erlebnisauthentizität erfasst er, dass die „inneren Erfahrungen und Emotionen vom Erzähler in der betreffenden Situation tatsächlich so empfunden wurden“.35 In einer Ergänzung dieser Überlegungen hat Pandel darüber hinaus ein Koordinatensystem vorgeschlagen, anhand dessen die „Authentizitätsgrade“ von Quellen (in der Vergangenheit entstanden), Darstellungen (gegenwärtige Präsentationen von Geschichte) und Imaginationen (fiktionalisierter Geschichte) bestimmt werden können. Diese Systematisierung übersieht jedoch, dass auch Repräsentationen von Geschichte Quellen sein können, und kommt darüber hinaus ohne eine begriffliche Trennung von empirischer Triftigkeit und simulierter pastness (vgl. Infobox in Kap. 11.1) aus. Pandels Typologisierung ist vor allem dann hilfreich, wenn sie zur Analyse von medialen und performativen Repräsentationen von Vergangenheit herangezogen wird.36
Authentizität als Aneignungsmodus von Geschichte
Auch wenn Pandels Überlegungen kritisiert werden können, verweisen sie auf die Notwendigkeit, sich auch in der Geschichtswissenschaft mit Authentizität auseinanderzusetzen und den Begriff über die Qualifizierung von Quellen hinaus analytisch zu nutzen. Vor allem seine populäre Verwendung im Kontext von Public-History-Angeboten legt nahe, ihn weniger als Beleg für empirische Triftigkeit sondern als Aneignungsmodus von Geschichte zu konzipieren. Es gilt also, Authentizitätseffekte wie die bereits erwähnte pastness in den Blick zu nehmen.
Gerade im Bereich der Public History zeigt sich, dass Authentizität nicht zwangsläufig aus der inhärenten Qualität von Objekten oder der Glaubwürdigkeit von Zeugnissen abzuleiten ist. Neben authentischen Objekten oder Zeugnissen spielt hier auch das ‚authentische Erleben‘ eine zentrale Rolle. So stellen Living History oder Reenactments eine Aneignungsform von Geschichte dar, deren Authentizität auf dem Nacherleben von vergangenen Situationen oder Ereignissen beruht. Auch hier ist die paradoxale Struktur von Interesse, denn ‚authentisches Erleben‘ im Sinne einer Körpererfahrung (vgl. Kap. 5) wird dadurch ermöglicht, dass Repliken von historischen Objekten zum Einsatz kommen, die angefasst, getragen und sinnlich wahrgenommen werden können. Für dieses Erleben spielt die Herkunft der verwendeten Objekte, die aus Sicht der Provenienzforschung nicht authentisch sind, dabei eine untergeordnete Rolle.
Geschichtsangebote sind daher darauf hin zu befragen, wie sie ihre Referenz zur Wirklichkeit und gegebenenfalls Wissenschaft inszenieren. Das ökonomische Potenzial von Geschichte ergibt sich gegenwärtig nicht zuletzt aus dieser Dimension von Authentizität. Am Beispiel zahlreicher geschichtskultureller Produkte zeigt sich, dass die ‚Echtheit‘ der jeweils präsentierten Geschichte ein effektives Verkaufsargument darstellt,37 wobei Anbieter_innen häufig auch eine damit zusammenhängende spezifische ‚Atmosphäre‘ heraufbeschwören.
Atmosphäre
Insbesondere bei Videospielen und im Living-History-Bereich ist in Forschungskontexten zur Beschreibung von authentisierenden Arrangements von Atmosphäre die Rede. Der Begriff wurde vor allem von dem Philosophen Gernot Böhme geprägt. In der Geschichtswissenschaft finden sich erste Ansätze zur Nutzung dieses Zugriffs z. B. bei der Analyse touristischer Angebote, die unter Phänomenen wie (hi)storyscapes oder themed environments erfasst werden.
Als Konzept wird Atmosphäre seit wenigen Jahren genutzt, um ‚authentische Räume‘ zu beschreiben, also Räume, die (vermeintlich) historisch authentisch inszeniert sind und für einen bestimmten Zweck so erschaffen wurden. Dieser Ansatz hilft nicht nur, eine spezielle Objekt-Subjekt-Relation zu fokussieren, sondern das erlebende Subjekt in einem spezifisch gestalteten Raum zu beschreiben. Atmosphäre, genauer Vergangenheitsatmosphäre, ist dann ein analytischer Begriff, der es erlaubt, den Raum, in dem eine Performance stattfindet – sei es eine nachgestellte Schlacht, die Quest im digitalen Raum oder aber der Gang durch einen speziell gestalteten Ausstellungsbereich –, als Wahrnehmungs-und Empfindungsraum der Reenactors/Living Historians, von digital Spielenden oder aber von Besucher_innen zu beschreiben. Das Konzept berücksichtigt also dezidiert die Empfindungsebene der teilhabenden Subjekte und verharrt nicht bei der Anordnung von Objekten im Raum. Betrachtet wird auch die ästhetische Gestaltung des Raums im Hinblick auf seine Eignung, pastness (vgl. Infobox in Kap. 11.1) zu erzeugen. Der Rückgriff auf den Atmosphären-Begriff erlaubt somit stärker als etwa der Fokus auf Objektauthentizität, das Verhältnis von rezipierendem Subjekt und inszenierter Geschichte im Raum in den Blick zu nehmen. Solche Atmosphären sind zeitlich und kulturell gebunden. Das Beispiel der digitalen Spiele verweist aber auf deren (potenzielle) räumliche Entgrenzung. Da diese oftmals für den globalen Markt designt werden, können diese kosmopolitische Vergangenheitssettings etablieren, die dann gleichsam populärkulturelle Vorstellungen von Geschichte prägen.
Leseempfehlung
Kerz, Christina: Atmosphäre und Authentizität. Gestaltung und Wahrnehmung in Colonial Williamsburg, Stuttgart 2017; Zimmermann, Felix: Historical Digital Games as Experiences – How Atmospheres of the Past Satisfy Needs of Authenticity, in: Marc Bonner (Hg.): Game | World | Architectonics – Transdisciplinary Approaches on Structures and Mechanics, Levels and Spaces, Aesthetics and Perception, Heidelberg 2021, S. 19-34.
Authentizität ist ein kultur- und zeitgebundener Begriff. Er ist eng mit der westeuropäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte verbunden und lässt sich nicht als universelle Größe voraussetzen, wie wir im Beitrag zum Kulturerbe (vgl. Kap. 7) anhand des UNESCO-Welterbes kurz skizzieren. In der Geschichtswissenschaft gelangen die Praktiken der Authentisierung zum einen durch das zunehmende Interesse an Fragen der Performativität (vgl. Kap. 10) langsam in den Fokus der Forschung,38 zum anderen durch die Etablierung der Wissen(schaft)skommunikation als Forschungsfeld und als Praxisbereich. Und auch die Public History als neue Teildisziplin der Geschichtswissenschaft treibt die Auseinandersetzung mit Fragen der Authentizität an.
2.4Operationalisierungen
Im Folgenden zeigen wir exemplarisch, wie Authentizität in vier Feldern der Public History erzeugt wird, um zum einen das analytische Potenzial und zum anderen die semantische Vielfalt des Authentizitätsbegriffs zu demonstrieren.
2.4.1Authentische Geschichte im Museum
Authentizität ist ein Kernelement des musealen Ausstellungswesens, denn die ausgestellten Exponate sind in der Regel Originale und fungieren als Objektivationen vergangener Realität, die die im Museum erzählte Geschichte als wahr bekräftigen sollen. Authentizität bezeichnet im Museum somit die Echtheit des Dargestellten und ist eng mit der Aura des Exponats verbunden. Sie wird als Qualität des Objekts verstanden, die aus seiner Geschichte resultiert (womit sich das Exponat von einer Replik unterscheidet). Allerdings liegt die Authentizität von Objekten im Museum nicht nur in deren Originalität begründet, sondern auch in ihrer Präsentation und Rezeption.39 Stefan Burmeister spricht daher von einer Umwertung des Authentizitätsbegriffs, mit dem zunehmend das Echtheitserlebnis der Betrachter_innen, auf das wir noch näher eingehen, in den Blick genommen wird und der somit eine Qualität der Beziehung zwischen (inszeniertem) Objekt und Besucher_innen bezeichnet.
Präsentation von Exponaten
Hieran schließt sich die Frage an, wie es Museen gelingt, bei ihren Besucher_innen den Eindruck von Authentizität zu evozieren. Die Authentisierungsstrategien, die sich auf die Auswahl und die Präsentation von Objekten richten, sind dabei maßgeblich durch zwei Elemente geprägt: Zum einen determiniert die durch Expert_innen festgelegte Wertigkeit des Objekts die Art und Weise seiner Präsentation bzw. welche Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind. Zum anderen bestimmen aber auch die Erwartungen der Besucher_innen, wie ein Objekt ausgestellt wird (vgl. Kap. 11 Rezeption), wobei diese wiederum durch die Schaffung spezifischer Wahrnehmungsbedingungen von Museen mitgeprägt werden. In ihrer Architektur sind Museen als Schutzräume konzipiert. Abgehängte Fenster schützen die Exponate jedoch nicht nur vor zerstörerischem Tageslicht, sondern verdeutlichen auch, dass es sich bei den ausgestellten Dingen um schützenswerte, wertvolle, alte und echte Zeugnisse der Vergangenheit handelt. So erzeugt etwa die Platzierung bestimmter Objekte auf besonders edlen Stoffen in speziell ausgeleuchteten Vitrinen einen auratischen Effekt. Sichtbare Maßnahmen wie diese dienen also nie nur dem Schutz der Objekte als historischer Zeugnisse, sie erzeugen zugleich auch den Eindruck, dass diesen Objekten ein gewisser Wert zukommt. Somit ist es vor allem die Inszenierung, die ein Objekt in ein besonders wertvolles, authentisches und auratisch wirksames Exponat aus der Vergangenheit transformiert. Selbst archäologische Massenware, so Burmeister, kann auf diese Weise auratisch inszeniert werden.40 Darüber hinaus verstärkt auch die Beschriftung der ausgestellten Objekte deren Authentisierung und Auratisierung. Ist diese besonders knapp und verwendet gegebenenfalls nur Fachbegriffe, bietet sie keine Analogien an oder fehlen Hinweise zur Einordung in Wirkungszusammenhänge, trägt die Beschriftung zur Entrückung des Objekts sowie zur Erfahrung seiner Außeralltäglichkeit bei. Werden z. B. in einer Vitrine Fibelarten ausgestellt und in einer Auflistung als Triquetra-Fibel oder Peltafibel bezeichnet, aber weder erläutert oder im Schaubild gezeigt, wie der Schließmechanismus an Kleidung genau funktioniert, noch wie man beide Formen unterscheidet, so trägt das zwar zur Auratisierung, aber nur wenig zum Verständnis des Gezeigten bei.
Echtheitserlebnis der Museumsbesucher_innen
Um das Zusammenspiel von ästhetischer als auratischer Inszenierung, historischer Erfahrung (vgl. Kap. 5) und gesellschaftlichen Authentizitäts-Konventionen besser zu erfassen, wird in den Museum Studies vermehrt auf performative Erklärungsansätze zurückgegriffen. Denn wenn Authentizität nicht länger als Qualität des Objekts, sondern als Relation zwischen Objekt und Subjekt verstanden wird, gerät auch die körperliche Bewegung durch den inszenierten Ausstellungsraum in den Blick und erweitert das Verständnis dafür, wann die Darstellung von Geschichte als authentisch wahrgenommen wird.41
Die analytische Perspektive auf die museale Aura von Exponaten verändert zugleich den Diskurs über Repliken und Hands-on-Ansätze im Museum. Der mit der Aura von Objekten einhergehende Aneignungsmodus bestand im Museum über lange Zeit im An-Sehen. Mit der Einführung von Repliken und Tastmodellen, die zum Anfassen, zur multisensualen Annäherung einladen, findet eine Demokratisierung des Museums statt, insofern diese es ermöglichen, Geschichte barrierefrei und im besten Falle inklusiv zu präsentieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass der an das Museum herangetragene Begriff von Authentizität immer mit gesellschaftlichen Hierarchien verbunden ist, denn das anfassbare, nahbare Objekt galt und gilt als weniger wertvoll. Allerdings verändern sich diese Wertzuschreibun-gen, wenn das Museumserlebnis bzw. die (didaktisierte) Erfahrung von Geschichte im Mittelpunkt steht. Zwar ist durchaus zu beobachten, dass sich viele Ausstellungsorte darum bemühen, den Eindruck von Authentizität zu evozieren. Doch die musealen Praktiken zeigen, dass dies – wenn nötig – auch ohne Original möglich ist.42 Insofern können Museen als Seismografen für gesellschaftliche Authentizitätsvorstellungen verstanden und untersucht werden.
2.4.2Authentische Geschichte in Gedenkstätten
Gedenkstätten definieren sich über die Authentizität des Ortes. Sie unterscheiden sich von Denkmalen, indem sie den spezifischen Ort markieren, an dem etwas Bestimmtes stattgefunden hat. Dieses Kriterium lässt sich unter anderem in der Gedenkstättenkonzeption des Bundes erkennen, die als förderwürdig nur die Gedenkstätten bestimmt, die an authentischen Orten existieren. Dabei ist eine „Authentizität des Ortes […] gegeben, wenn sich das historische Geschehen in einer für den Besucher sichtbaren baulichen Substanz manifestiert“.43 Dem Ort wird damit eine Aura zugesprochen, die aus seiner Geschichtlichkeit resultiert. Hinsichtlich des Authentizitätsbegriffs lassen sich damit deutliche Parallelen zwischen Gedenkstätten und Kulturerbe-Stätten (vgl. Kap. 7) erkennen.44
Orte und Zeitzeug_innen
Im deutschsprachigen Raum bzw. in Europa wird in Gedenkstätten gern mit einer doppelten Authentizität gearbeitet, insbesondere wenn sie an die NS-Terrorherrschaft und die SED-Diktatur erinnern: Am Ort des jeweiligen Geschehens beglaubigen zusätzlich Zeitzeug_innen aus eigener Anschauung die Echtheit der dargestellten Geschichte. Im Rahmen von Führungen, Gesprächen oder Workshops berichten sie in persona von ihren persönlichen Erlebnissen. Zudem können an Hands-on-Stationen Audio- und/oder Video-Ausschnitte aus digitalisierten Zeitzeug_innen-Interviews angehört bzw. angesehen werden. Sowohl die Orte als auch die Zeitzeug_innen versprechen Authentizität, jedoch sind dabei ganz unterschiedliche Aspekte betroffen.
Die Authentizität der Zeitzeug_innen geht dabei über die oben erwähnte Subjektauthentizität hinaus, denn es geht nicht nur um die ‚Echtheit‘ und Glaubwürdigkeit ihrer Performanz, mit der sie ihre individuellen Erlebnisse darstellen. Vielmehr kommt ihnen in Gedenkstätten die Autorität zu, das Wissen um die ‚ganze‘ Geschichte eines Ortes oder eines Geschehens zu repräsentieren. So führen beispielsweise Zeitzeug_innen nicht nur als Augenzeug_innen die Besucher_innen durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen, sondern auch als Expert_innen für die gesamte Geschichte der Unterdrückung, Verfolgung und Inhaftierung politisch Andersdenkender in der DDR. Diese Praxis ist hoch umstritten innerhalb der Gedenkstättenpädagogik. Was jedoch weniger beachtet wird, ist, dass Orte zur Diktaturgeschichte der DDR häufig auf bürgerliches Engagement zurückgehen. Die Männer und Frauen der ‚ersten Stunde‘ schrieben den Erinnerungsorten ihre eigene Deutung ein. Diese hidden agenda prägt bis heute Ausstellungskonzepte und pädagogische Arbeit. Aufgrund der mangelnden Transparenz ist jedoch kaum mehr erkennbar, dass es sich dabei ursprünglich um die Perspektiven von Zeitzeug_innen handelt und die Darstellung nicht ausschließlich auf historischer Forschung beruht.45 Diese Konstellation verdeutlicht die Machteffekte, die sich aus einer Verknüpfung von Authentizität und Autorität ergeben können.
Auch und gerade in Gedenkstätten lohnt es sich, zwischen Authentizität als Selbstbeschreibung und damit als Quellenbegriff und als Analysebegriff zu unterscheiden. Der analytische Zugriff ermöglicht es, Techniken der Authentisierung zu erforschen sowie Praktiken der Kommunikation von Geschichte systematisch in den Blick zu nehmen. So lässt sich bei einem authentischen Ort beispielsweise der Zusammenhang zwischen Konservierungstechniken und der dem Ort zugeschriebenen Aura analysieren oder die authentisierende Funktion, die Zeitzeug_innen zuerkannt wird. Dabei ist beispielsweise auch von Interesse, dass Gedenkstätten zunehmend auf mediale Formen von Zeitzeug_innenschaft zurückgreifen müssen, da Zeitzeug_innen aus gesundheitlichen oder Altersgründen immer seltener auftreten können. Kuratorische Eingriffe schränken die Autorität und Deutungshoheit der Zeitzeug_innen dabei deutlich ein, denn für gewöhnlich werden ihre Zeugnisse stark gekürzt und in eine geschichtliche Inszenierung eingebettet, die häufig auf die „Illusion vielstimmiger Erinnerungen“ abzielt.46 Zugleich kommen bei der medialen Präsentation von Zeitzeug_innen jedoch auch spezifische Verfahren zum Einsatz, die deren Authentizität betonen, beispielsweise indem Pausen, die Suche nach Worten oder das Ringen um Fassung in den geschnittenen Interviewaussagen belassen werden. Hierdurch entsteht der Eindruck von Unmittelbarkeit und Authentizität, der die historische Korrektheit der Aussagen jedoch nicht zwangsläufig belegt.
2.4.3Reenactment und Living History
Der Zusammenhang von Authentizität und Inszenierung wird auch im Bereich des Geschichtstheaters deutlich, welches Praktiken wie das Reenactment und die Living History umfasst.47 Hier hängt das jeweilige Verständnis von Authentizität nicht zuletzt vom Ziel der Aufführung ab: Die experimentelle Archäologie, die beispielsweise nachgebaute Objekte testet, um Erkenntnisse über deren Verwendung zu sammeln, benutzt den Begriff anders als Reenactors, die sich für das (Nach-)Spielen einer Schlacht möglichst authentisch einkleiden, um die Erfahrung eines Zeitsprungs, eines period rush, zu machen.48 Im Allgemeinen verstehen die Ausführenden, so Stefanie Samida und Miriam Sénécheau, Authentizität als Verweis auf empirische Belegbarkeit und Wahrheit.49
Nachgebildete Objekte und nachgespielte Ereignisse
Interessanterweise resultiert die Authentizität von Kleidung oder verwendeten Gegenständen hierbei nicht aus ihrer Geschichte, sondern bemisst sich an den zur Herstellung genutzten Materialien und Techniken, die denjenigen der nachgestellten Raumzeit möglichst entsprechen. Je stärker die Annäherung an die historischen Techniken und Materialien, desto größer ist die ‚Echtheit‘, die dem Objekt zugesprochen wird. Der Authentizitätsanspruch beruht dabei nicht nur auf der Qualität der Nachbildung, sondern auch auf ihrer Verwendung für spezifische Handlungen, wobei die Authentizität noch dadurch gesteigert werden kann, dass diese an einem als authentisch wahrgenommenen Ort durchgeführt werden.50
Im authentischen Erlebnis, auf das viele Reenactments zielen und das für Reenactors von besonderer Bedeutung ist, zeigt sich erneut die paradoxale Struktur des Authentizitätsbegriffs. Jede Repräsentation eines historischen Ereignisses ist eine Konstruktion, weil empirisch triftige Quellen zueinander in Beziehung gesetzt und unter bestimmten Fragestellungen betrachtet werden. Insofern ist eine unvermittelte Vergegenwärtigung der Vergangenheit unmöglich. Zudem impliziert die Vorstellung, dass beim Nachspielen von historischen Ereignissen authentisches Erleben (vgl. Kap. 5) möglich ist, einerseits, dass die ausgewählten Ereignisse überhaupt als solche wahrgenommen wurden. Sie setzt andererseits das Ausblenden des Wissens über den weiteren Verlauf der Geschichte voraus. Insbesondere Schlachten-Reenactments, deren Authentizitätswirkung explizit auf die gemeinsame Performanz zurückgeführt wird, unterscheiden sich von der vergangenen Realität in einem wesentlichen Punkt, der zumindest von außen betrachtet zunächst im Widerspruch zum Authentizitätsanspruch steht: Niemand wird auf dem Schlachtfeld tatsächlich getötet oder verletzt. Das heißt, dies ist weder für die Zuschauer_innen zu erleben noch für die Reenactors nachzuerleben.
Gettysburg 1863
Nutzen wir den Authentizitätsbegriff als Analysekategorie, so lassen sich im Geschichtstheater vielfältige Formen von Authentizität identifizieren und bei Mitwirkenden und Zuschauenden unterschiedliche Authentizitätserwartungen antreffen. Dies hat unter anderem Wolfgang Hochbruck in seiner Studie zu Reenactments der Schlacht von Gettysburg 1863 demonstriert, die sich seit 1888 nachweisen lassen.51 Er zeigt, dass zunächst teilnehmende oder zuschauende Veteranen als Verbindung zur Vergangenheit und damit Authentizitätsgaranten wahrgenommen wurden, wodurch Kleidung, Ausrüstung und Waffen nicht der damaligen Zeit entsprechen mussten, sondern aus der Gegenwart stammen oder fiktiv gestaltet sein konnten. Dies änderte sich jedoch, als keine Veteranen mehr an den Aufführungen teilnehmen konnten. Nun mussten Uniformen, Ausrüstungen und Waffen möglichst genaue Repliken sein und die authentische Erfahrung wurde mit der Verwendung von authentischen Objekten verknüpft. Als Garanten der Authentizität wurden die Zeitzeug_innen somit durch Objekte am historischen Ort ersetzt.
2.4.4Authentizität im Film
Filmische Medien gebrauchen vielfältige Strategien, um Authentizität zu erzeugen, wobei sich spezifische Verfahren für dokumentarische und für fiktionale Formen herausgebildet haben.
Dokumentarfilm
Im Bereich des Dokumentarfilms gelten beispielsweise Filme des Direct Cinema als besonders authentisch.52 Diese Filmrichtung hat sich in den 1960er Jahren im Zusammenhang mit der Einführung von leichten 16-mm-Kameras und tragbaren Tonaufnahmegeräten etabliert. Hierdurch wurde es möglich, den Protagonist_innen mit der Kamera auf Schritt und Tritt zu folgen und ihren Alltag zu dokumentieren. Prämisse des Direct Cinema war, nicht in die vorgefundene Situation einzugreifen und keine Veränderungen vorzunehmen, um der Kamera beispielsweise einen besseren Blickwinkel oder eine bessere Lichtsituation zu verschaffen. Daher sind in den fertigen Filmen oftmals Ansichten verstellt, Personen angeschnitten und die Bild- und Tonqualität variiert. Genau diese Elemente sind es, die den Eindruck von Authentizität erzeugen, denn sie behaupten, die vorgefundene Wirklichkeit unverändert abzubilden.53
Die sozialen Akteur_innen, die in Dokumentarfilmen auftreten, können mehr oder weniger authentisch erscheinen. Dabei lässt sich der Eindruck eines unverstellten Verhaltens oft darauf zurückführen, dass sich die Protagonist_innen, die von der Kamera begleitet werden, auch in ihrem Alltag häufig in Situationen befinden, in denen sie vor anderen sprechen oder agieren. Sie sind daher an ‚Auftritte‘ gewöhnt und in der Lage, sich vor einem Publikum ungekünstelt und authentisch zu präsentieren. Doch auch Personen, die in Dokumentarfilmen die Kontrolle über ihre Emotionen verlieren, werden als authentisch wahrgenommen.54 Dies lässt sich beispielsweise in Geschichtsdokumentationen beobachten, in denen sich Zeitzeug_innen an die Vergangenheit erinnern. Interviewpartner_innen, die schon häufiger von ihren Erlebnissen berichtet haben und die daher bereits geübt sind, diese als Erzählung zu präsentieren, wirken in Filmen und Fernsehsendungen deutlich weniger authentisch als emotional sprechende Zeitzeug_innen, die ins Stocken geraten, Grammatikfehler machen oder von ihren Erinnerungen überwältigt werden.55 Die Authentizität von Personen resultiert in Dokumentarfilmen also aus gegensätzlichen Eigenschaften: entweder aus ihrer Routine mit öffentlichen Auftritten oder aus ihrer Ungeübtheit beim Schildern von Erlebtem.
Spielfilm
Spielfilme greifen häufig auf dokumentarische Aufnahmen zurück, um ihrer Darstellung der Vergangenheit Authentizität zu verleihen. So sind Kulissen und Kostüme in fiktionalen Filmen an historischen Fotografien oder dokumentarischen Filmen orientiert oder es wird in Dokudramen historisches Bildmaterial in Spielszenen integriert.56 Die Differenz der Bildqualität markiert hier, welche der Aufnahmen die ‚historische Realität‘ zeigen. Durch diese Verknüpfung verlängert sich die Authentizität der dokumentarischen Bilder in die Spielhandlung hinein und verleiht dieser Glaubwürdigkeit. Requisiten, mit denen die Erzählung zeitlich verortet wird, haben einen ähnlichen Effekt: das Zeitungsexemplar, das auf dem Tisch liegt, oder die Nachrichtensendung, die über den Fernsehbildschirm flimmert, tragen zum Eindruck bei, die dargestellten Ereignisse seien historisch verbürgt.57
Auch die Kameraführung, Bildqualität und Montage können zum Eindruck von Authentizität beitragen. Anhand von Schindler’s List (USA 1993) und Saving Private Ryan (USA 1998) lassen sich exemplarisch einige der visuellen Mittel und Verfahren aufzeigen, die filmischen Darstellungen Authentizität verleihen. Beide Filme sind von Steven Spielberg und handeln von historischen Ereignissen der 1940er Jahre: Schindler’s List schildert, wie der Geschäftsmann Oskar Schindler jüdische Arbeiter seiner Fabrik vor der Vernichtung rettete, und Saving Private Ryan zeigt die Landung der Alliierten in der Normandie (1944). Beide Filme wurden von Filmkritiker_innen mit Bezug auf ihren Realismus bzw. ihre Authentizität besprochen,58 machen jedoch von ganz unterschiedlichen Verfahren Gebrauch. So ist Schindler’s List in Schwarz-Weiß gedreht und zeichnet sich damit durch eine Bildqualität aus, die im Allgemeinen als authentisch gilt, wobei die Filmaufnahmen nicht zuletzt durch die harten Kontraste an Wochenschauen aus den 1940er Jahren erinnern.59Saving Private Ryan