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Was ist das eigentlich - Schmerz?
Kopf, Rücken, Nerven. Es sind Schmerzen, die die meisten Menschen zum Arzt treiben. Wenn sie nicht aufhören, können sie das Leben zerstören. Die Medizin verspricht Schmerzfreiheit, doch dafür leiden viel zu viele. Allein Deutschland zählt 15 Millionen Schmerzpatienten. Endlich gibt es ein Buch, das das Phänomen Schmerz von allen Seiten in den Blick nimmt.
Sytze van der Zee beschreibt Schmerzpatienten, die schon so lange leiden, dass der Schmerz jeden Winkel ihres Bewusstseins durchdringt. Er spricht mit Radrennfahrern und Tänzern über ihre Versuche, die eigene Schmerzgrenze zu verschieben. Und er schildert Menschen, die keine Schmerzen kennen oder sich aus Lust Schmerz zufügen.
Mit den neuesten Erkenntnissen der Schmerzforschung, die immer mehr darüber herausfindet, wie Geschlecht, Alter, Veranlagung, Stress oder Wohlbefinden unsere Schmerzwahrnehmung beeinflussen.
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Seitenzahl: 444
Sytze van der Zee
SCHMERZ
EINE BIOGRAPHIE
Aus dem Niederländischenvon Christiane Burkhardt
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Jürgen Osterbrink
Knaus
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Pijn. Een Biografie« 2012 bei De Bezige Bij, Amsterdam.Der Text wurde für die deutsche Ausgabe überarbeitet und nimmt, so weit möglich, auf Fallzahlen und Therapien im deutschsprachigen Raum Bezug.Geschützte Warennamen von Arzneimitteln werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Warenzeichens kann nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2012 by Sytze van der Zee
Copyright © der deutschen Ausgabe 2013
beim Albrecht Knaus Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Lektorat: Heike Gronemeier, Susanne Warmuth
Gesetzt aus der Sabon von Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-11333-9www.knaus-verlag.de
Gewidmet meinem viel zu früh verstorbenen Freund Piet.
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Einleitung
1: Schmerz
Das größte Übel der Menschheit
2: Um meinen Körper liegt ein Ring aus glühender Lav
Erfahrungen eines Mannes mit der »Schmetterlingskrankheit«
3: Schmerz als emotionale Wahrnehmung
Was ist Schmerz und wie funktioniert er?
4: Ich kontrolliere Schmerzen durch meine Gedanken
Erfahrungen eines Extremsportlers
5: Schmerz ist steuerbar
Wie ein Neurochirurg der modernen Schmerzbehandlung den Weg ebnete
6: Im Winter sind die Schmerzen stärker als im Sommer
Erfahrungen einer Frau mit chronischen Schmerzen
7: Die Folgen der »Gate Control«-Theorie
Von Rückenmarksstimulationen, Morphin und den Versuchen, Schmerz zu objektivieren
8: »Ich fühle mich hundeelend!«
Erfahrungen einer Frau mit chronischen Rückenschmerzen
9: Zum Wohle des Patienten?
Vom Gerangel um Zuständigkeiten bei der Schmerzbehandlung
10: »Ständig abhängig sein, nichts mehr allein können«
Erfahrungen eines MS-Patienten
11: Alltag in einem multidisziplinären Schmerzzentrum
»Es ist eher eine Frage des Bauchgefühls«
12: »Eigentlich bin ich kein depressiver Typ«
Erfahrungen einer Borreliose-Patientin
13: Aderlass und Brechkuren
Über die Machenschaften von Quacksalbern und Wunderheilern
14: »Leiden wie ein Tier«
Erfahrungen eines ehemaligen Radprofis
15: »Das Leben ist ein Kampf«
Kann man Schmerz überwinden?
16: »Es war, als würde ich operiert, aber ohne Messer«
Eine Frau mit chronischer Dystrophie über die »mazedonische Methode«
17: Das große Versprechen der Lebensenergie
Wirkt Akupunktur als Schmerztherapie?
18: »Ich bin ein ziemlicher Optimist«
Erfahrungen eines Mannes mit Rheumatoider Arthritis
19: Letzte Hoffnung der Verzweifelten
Die Implantation von Tiefenelektroden ins Gehirn
20: Betrachten Sie mich als Versuchskaninchen
Über die Entscheidung, sich eine Elektrode ins Gehirn setzen zu lassen
21: Gefährliches Paradies
Menschen ohne Schmerzempfinden
22
»Ich bin nicht aus Zucker«
Eine junge Frau ohne Schmerzempfinden erzählt von ihren Erfahrungen
23: »Ein Indianer kennt keinen Schmerz«
Schmerzwahrnehmung und chronischer Schmerz bei Kindern
24: »Als hätte ich eine Wunde in der Schläfe«
Die dreizehnjährige Emma über ihre Migräneattacken
25: Wenn es wehtut, wo nichts mehr ist
Das geheimnisvolle Syndrom des Phantomschmerzes
26: »Ich habe eine gehörige Portion Gottvertrauen«
Eine Phantomschmerzpatientin erzählt
27: Das starke und das schwache Geschlecht
Unterschiedliches Schmerzempfinden bei Frauen und Männern
28: »Wir können nichts für Sie tun«
Erfahrungen eines Patienten mit Faser-Muskel-Schmerz
29: Der Kampf der Frauen
Von den verschiedenen Methoden, den Geburtsschmerz zu lindern
30: »Hilfe, Ruhe, Schmerz«
Eine junge Frau über ihren Zwang, sich selbst zu verletzen
31: Es gibt Schweiger, Redner, Macher«
Vom unterschiedlichen Umgang mit Schmerz
32: »Schmerz gehört dazu«
Ein berühmtes Balletttänzerpaar erzählt von seinen Erfahrungen
33: Die Wahl der Qual
Sadomasochismus und der Zusammenhang von Schmerz und Lust
34: »Wir sind wie eine einzige große inzestuöse Familie«
Eine Masochistin über ihre lustvollen Erfahrungen mit Schmerz
35: Die schmerzhaften Jahre
Chronischer Schmerz bei älteren Menschen
36: »Mein Ziel: eine halbe Stunde gerade gehen«
Eine Frau mit Osteoporose über den langen Weg zur richtigen Therapie
37: Die Schmerzfreie Stadt
Ein revolutionäres Projekt in Münster
Nachwort
Danksagung
Anhang
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Von Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Osterbrink
Jedes Wissen basiert bekanntlich auf Erfahrungen. Und genau solche beschreibt der niederländische Autor Sytze van der Zee in seiner Schmerz-Biographie, in der er den Leser mitnimmt auf eine Reise auf den Spuren des Schmerzes und ihm in kurzen Kapiteln unterschiedliche »Schmerzgestalten« vorstellt. Durch die Schilderung der verschiedenen Schmerzerfahrungen verdeutlich van der Zee, dass Schmerz viele Gesichter haben kann. In eindrucksvoller Weise lernt der Leser dabei die vielfältigen Erscheinungsbilder des Schmerzes kennen und erfährt, wie Schmerz entsteht, welche Funktionen er erfüllt bzw. erfüllen kann.
Von chronischen Schmerzen sind in Deutschland etwa 8 bis 16 Millionen Menschen betroffen (Europäisches Weißbuch Schmerz/»Pain Proposal«). Nach dem Bericht zur »Versorgungssituation in der Schmerztherapie in Deutschland im internationalen Vergleich hinsichtlich Über-, Unter- oder Fehlversorgung« liegt die Häufigkeit chronischer Schmerzen in Deutschland bei 17 Prozent der Bevölkerung, in Österreich sogar bei 21 Prozent und in der Schweiz bei 16 Prozent (HTA-Bericht 111, 2011). Die häufigste Ursache chronischer Schmerzen in Deutschland sind Erkrankungen des Bewegungsapparates (16 Prozent). Dabei tritt am häufigsten Rückenschmerz auf (10 Prozent der Gesamtbevölkerung). Obwohl zahlreiche Konzepte und Einrichtungen zur Behandlung chronischer Schmerzen vorhanden sind, stellt der HTA-Bericht auch fest, dass sowohl die Forschungslage und in der Folge auch die Schmerzversorgung in Deutschland noch besser werden müssen. Somit stellt das Phänomen neben dem persönlichen Leid ein gesundheitspolitisches wie auch gesellschaftliches Problem dar.
Als Pflegewissenschaftler freut es mich, dass man erkannt hat, dass schmerztherapeutische Forschung und Entwicklung keiner Einzeldisziplin unterliegen und für eine gute Schmerzbehandlung alle zusammenarbeiten müssen: Ärzte, Psychologen, Pflegende, aber auch das private Umfeld. Bisherige Erkenntnisse haben uns gelehrt, dass wir Schmerz als ein multidimensionales Geschehen und damit auch aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven betrachten sollten. Die unterschiedlichen Blickwinkel tragen dazu bei, das Gesamtbild der Erkrankung zu schärfen. Sie liefern Erkenntnisse, die einem besseren (Schmerz-)Verständnis zuträglich sind. Je mehr wir über den Schmerz eines Betroffenen wissen, je mehr Informationen ausgetauscht werden, desto gezielter können wir diesen behandeln.
Sytze van der Zees Buch liefert neben Informationen über die Physiologie des Schmerzes vor allem persönliche Einblicke ins Schmerzerleben und macht damit ein »unsichtbares Problem« sichtbar. Die Beispiele im Buch zeigen, dass es sich bei dem Phänomen Schmerz um eine sehr individuelle Erfahrung handelt, eine, die nicht nur Auswirkungen für die Betroffenen, sondern auch für ihre Angehörigen hat.
In einer kurzen historischen Darstellung der Schmerzbehandlung beleuchtet van der Zee, wie die kulturelle Konstruktion von Schmerz und der daraus resultierende Umgang mit Schmerzpatienten einem ständigen Wandel unterlagen. Während man beispielsweise zu Beginn des letzten Jahrhunderts noch davon ausging, dass Säuglinge kaum Schmerz verspüren, weiß man heute, dass dies ein fataler Trugschluss war. Auch die beschriebenen, zunächst als innovativ gelobten Behandlungsmethoden (zum Beispiel die Lobotomie) erinnern heute eher an Maßnahmen aus einem Folterkabinett als an eine seriöse medizinische Versorgung. Zwei Dinge werden dadurch besonders hervorgehoben. Zum einen veranschaulichen sie die kaum vorstellbare Verzweiflung der Betroffenen, wenn sie sich solch qualvollen Behandlungen unterziehen, auch wenn diese wenig Aussicht auf Besserung versprechen; zum anderen sind sie Zeugnis dafür, dass wir in puncto Schmerz und Schmerzbehandlung inzwischen viel gelernt haben.
Doch obgleich wir heute große forscherische Entwicklungen zu verzeichnen haben, ist die »Schmerzreise«, um in van der Zees Worten zu sprechen, noch nicht zu Ende. Noch immer leiden zu viele Patienten unnötig an Schmerzen und noch immer ist ein deutlicher Ruf nach Anerkennung des chronischen Schmerzes als eigenständige Krankheit zu vernehmen, denn gerade chronische Schmerzpatienten leiden häufig nicht nur an den körperlichen Beschwerden, sondern werden von ihrer Umwelt nicht selten als Simulanten oder Hypochonder abgestempelt. Für Betroffene ist es jedoch vor allem wichtig, dass sie sich mit ihren Anliegen ernst genommen fühlen, denn dies ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche schmerztherapeutische Behandlung.
Und auch wenn es (noch) keine »Wunderarznei« gegen den Schmerz gibt, lassen sich dennoch Rahmenbedingungen schaffen, die ein Leben mit dem Schmerz für Betroffene erträglich(er) machen. Leitlinien und Expertenstandards zum Schmerzmanagement können beachtliche Hilfestellungen liefern, aber langfristig ist hier die Politik genauso gefordert wie der einzelne Arzt oder Pflegende. Es bleibt also zu hoffen, dass wir unser bestehendes Wissen adäquat in die Praxis umsetzen und weiterentwickeln. Mit anderen Worten: The journey must go on.
Jürgen Osterbrink, im September 2013
Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Osterbrink absolvierte die Ausbildung zum Krankenpfleger sowie die Weiterbildung zum Fachkrankenpfleger für Anästhesie und Intensivpflege. Nach Abschluss des Masterstudiums der Pflegewissenschaften an der Universität Glasgow (Großbritannien) erlangte er den Ph.D. (Gesundheits- und Pflegewissenschaften) an der Universität Leuven (Belgien). 2010 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der University of North Florida, Jacksonville verliehen.
Seit 2007 ist Jürgen Osterbrink Vorstand des Instituts für Pflegewissenschaft und -praxis an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg. Seit 2003 ist er ebenfalls Professor (Tenure) für Pflegewissenschaft an der Universität von North Florida, Jacksonville.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Themenbereichen der pflegewissenschaftlichen Versorgungsforschung. Ein besonderer Schwerpunkt ist das Thema Schmerzmanagement. Jürgen Osterbrink ist der wissenschaftliche Leiter des Deutschen Expertenstandards »Schmerzmanagement in der Pflege« (www.dnqp.de), außerdem Leiter unterschiedlicher Projekte, etwa des Projektes OSiA (Optimierung des Schmerzmanagements in Altenpflegeheimen, eine Studie, die sich mit Schmerzerkennung, -management und -vermeidung in 49 österreichischen Pflegeheimen auseinandersetzt) oder des »Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster«, das im letzten Kapitel des vorliegenden Buches vorgestellt wird.
Einleitung
Der britische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Bertrand Russell (1872–1970) bezeichnete ständige Schmerzen einmal als »das Barbarischste überhaupt«. Während viele Krankheiten, die die Menschen im Lauf der Zeit erdulden mussten, aufgrund des medizinischen Fortschritts mittlerweile der Vergangenheit angehören, wächst die Zahl der Menschen mit chronischen Schmerzen stetig. In Deutschland leidet heute rund ein Viertel der Bevölkerung – das sind 12 bis 15 Millionen Menschen – unter länger andauernden oder immer wiederkehrenden Schmerzen. Ein Drittel dieser Patienten ist durch die Schmerzen stark beeinträchtigt, was die Lebensqualität angeht.
Als ich vor einigen Jahren einen Magendurchbruch hatte, wurde mir erstmals bewusst, welche Bedeutung Schmerz für einen Menschen bekommen kann: Ich hatte mich bereits seit mehreren Tagen krank gefühlt, etwa so, wie bei einer Grippe. Ich schwitzte heftig, außerdem spürte ich diffuse, ziehende Schmerzen auf Höhe des Zwerchfells und am rechten Schulterblatt. Alles fühlte sich taub an. Die Vertretung meines Hausarztes stellte an einem Freitagmorgen die Diagnose Lungenentzündung und verschrieb mir Antibiotika sowie ein Schmerzmittel. Am Abend begann mein Bauch plötzlich anzuschwellen, die Schmerzen wurden schlimmer. Meine Frau und mein Sohn brachten mich gegen acht in die Notaufnahme des nächsten Krankenhauses. Der diensthabende Arzt zog einen Internisten hinzu, anschließend wurden alle möglichen Untersuchungen vorgenommen. Es stellte sich heraus, dass ich ein Magengeschwür hatte. Die Ärzte vermuteten, dass es aufgebrochen war. Die Magenwand sei vermutlich durch die Einnahme zu vieler Medikamente – Aspirin, Ibuprofen, Schmerzmittel – so stark geschädigt worden, dass sie ein Loch hatte. Um halb zwei Uhr nachts wurde ich in den OP-Saal gefahren.
Als ich auf der Überwachungsstation aus der Narkose aufwachte, waren meine Schmerzen in Bauch und Schulter sowie die Taubheit wie durch ein Wunder verschwunden. Ich war sehr erleichtert. Vielleicht war ja doch alles gar nicht so schlimm? Andererseits hatte man in aller Eile ein Team zusammengetrommelt, um mich noch in der Nacht meiner Einlieferung zu operieren. Das konnte eigentlich nichts Gutes bedeuten … Der Chirurg, der am späten Samstagvormittag vorbeikam, sagte: »Zum Glück sind Sie noch rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen. Vier Stunden später wären Sie tot gewesen.« Ich blickte ihn mit großen Augen an. »Nun, Sie haben auch noch eine Bauchfellentzündung.«
Eine Krankenschwester fragte mich gegen Mittag, ob ich im Vorfeld große Schmerzen gehabt habe. Ein Magendurchbruch gehe normalerweise mit höllischen Qualen einher. Ich hatte zwar Schmerzen gehabt, aber als »höllisch« hatte ich sie nicht empfunden.
Als ich das Krankenhaus nach einer guten Woche verlassen durfte, stieß ich zufällig auf einen Zeitungsartikel. Ein Mann, hieß es da, habe das Gesundheitsamt seiner Stadt verklagt, weil der Krankenwagen, den er für seinen Neffen gerufen hatte, ewig nicht gekommen war. Der Neffe, der wie ich einen Magendurchbruch hatte, habe sich vor Schmerzen auf dem Boden gekrümmt. Das machte mich stutzig. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen und fragte meinen Hausarzt, warum ich nicht unter diesen massiven Schmerzen gelitten hatte, die normalerweise bei einer solchen akuten Erkrankung auftreten. Er meinte, ich hätte wohl »eine hohe Schmerztoleranzgrenze« und sei dadurch weniger empfindlich.
Ich war überrascht. Über solche Unterschiede im Umgang mit Schmerzen hatte ich bis dahin nie nachgedacht. Die Worte meines Hausarztes gingen mir lange nicht aus dem Kopf, und tatsächlich erinnerte ich mich plötzlich an Situationen aus meinem Leben, bei denen Schmerz eine Rolle gespielt hatte. Schon als Kind hatte ich anders reagiert als meine gleichaltrigen Freunde. Zum Beispiel bei Schulimpfungen oder bei Stürzen im Sport oder auf dem Pausenhof. Woran das gelegen haben könnte, dass ich nicht sofort zu brüllen anfing, darüber hatte ich mir keine Gedanken gemacht. Es war einfach so. Nun aber ließ mich das Thema Schmerz und Schmerzwahrnehmung nicht mehr los. Ich begann, darüber zu lesen: populärwissenschaftliche Bücher, medizinische Fachbücher und Erfahrungsberichte von Menschen, die ihr Schmerzsyndrom beschrieben.
Wie tief verwurzelt chronischer Schmerz in der westlichen Welt ist, wurde mir klar, als ich eine Untersuchung des norwegischen Anästhesiologie-Professors Harald Breivik las. Er hatte in fünfzehn europäischen Ländern und Israel telefonisch insgesamt 46 400 Männer und Frauen befragt. 19 Prozent davon litten an chronischen Schmerzen, also an Schmerzen, die länger als ein halbes Jahr andauerten und sie mindestens zwei Mal die Woche in ihrem Alltag stark einschränkten. Spanien bildete mit 12 Prozent das Schlusslicht im positiven Sinne, Norwegen brachte es auf 30, Italien auf 26 Prozent. Deutschland gehörte mit 17 Prozent zum Mittelfeld. Chronische Schmerzen kamen bei Frauen etwas häufiger vor als bei Männern; das Durchschnittsalter der Betroffenen lag bei vierzig Jahren. Der Großteil der Befragten hatte seit mindestens zwei Jahren Schmerzen, 20 Prozent blickten auf eine mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Leidensgeschichte zurück. Die Hälfte der Patienten erklärte, ständig Schmerzen zu empfinden; und jeder Vierte gab an, so starke Schmerzen zu haben, dass es nicht mehr auszuhalten sei. Jeder Sechste wollte deshalb nicht mehr weiterleben. Die meistgenannten Ursachen für den Schmerz waren Arthritis und Arthrose sowie Probleme mit den Wirbeln und schwere Verletzungen im unteren Rücken. Über die Hälfte aller Befragten gab an, der Schmerz beeinträchtige ihr Leben erheblich.
In Deutschland hatten 14 Prozent wegen der Beschwerden ihren Job verloren, weitere 19 Prozent konnten ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben und sahen sich gezwungen, eine andere Arbeit aufzunehmen. Bei 20 Prozent der deutschen Patienten hatte ein Arzt zudem schmerzbedingte Depressionen festgestellt. Das waren Zahlen, die sich nicht so einfach vom Tisch wischen ließen. Ich recherchierte weiter, sprach mit einer Reihe von Medizinern verschiedenster Fachgebiete und entschied mich, ein Buch zu diesem Thema zu schreiben.
Mit dieser »Biographie des Schmerzes« möchte ich einen möglichst umfassenden Blick auf die verschiedenen Aspekte dieses Leidens werfen. Den Anfang des Buchs bildet eine kurze Einführung in die Geschichte der Schmerzbehandlung, noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine verhältnismäßig junge Disziplin. Im darauffolgenden Kapitel erkläre ich, wie Schmerz auf der körperlichen Ebene funktioniert. Auch wenn bei der Schmerzwahrnehmung andere Dinge eine Rolle spielen, sind diese körperlichen Faktoren wichtig, um den Schmerzprozess zu verstehen. Der berühmten »Gate Control«-Theorie habe ich ein eigenes Kapitel gewidmet, denn sie hatte zahlreiche Konsequenzen für die Schmerzbehandlung, auf die ich ebenfalls näher eingehe.
Weitere wichtige Themen sind unter anderem Schmerz speziell bei Kindern, Frauen, Männern und älteren Menschen, das völlige Fehlen von Schmerz bei manchen Menschen sowie das Phänomen des Phantomschmerzes. Seit den 1990er-Jahren ist die Forschung zu einer ganzen Reihe neuer Erkenntnisse über bislang höchst rätselhafte Erscheinungen wie Phantomschmerz oder das Nichtempfinden von Schmerzen gelangt. Der Phantomschmerz galt jahrhundertelang als psychologische Störung, die betroffenen Patienten wurden als Simulanten abgestempelt, die halluzinierten oder sich ihren Schmerz nur einbildeten. Das Phänomen, dass manche Menschen überhaupt keinen Schmerz empfinden, versteht man heute dank genetischer Untersuchungen besser. Von 250000 Menschen hat im Schnitt einer keinerlei Schmerzempfinden. Ein Leben ohne Schmerz erscheint auf den ersten Blick paradiesisch, doch für die Betroffenen ist es der reinste Albtraum. Denn Schmerz ist auch ein wichtiger Signalgeber, ein grundlegender Selbstschutzmechanismus.
Überraschende Erkenntnisse haben auch Forschungen zur unterschiedlichen Schmerzwahrnehmung von Männern und Frauen ergeben. Dabei geht es weniger um die Frage, welches Geschlecht schmerzresistenter ist, sondern darum, ob Frauen und Männer dieselben Schmerzmittel in denselben Dosierungen verschrieben bekommen sollten.
Eine ebenso bemerkenswerte Entwicklung hat die Kinderheilkunde durchgemacht: Noch 1938 hieß es in einem chirurgischen Fachbuch, ein mit Zuckerwasser getränkter Schwamm genüge, um Babys zu betäuben. Und noch bis weit in die 1980er-Jahre war man der Auffassung, Säuglinge könnten keinen Schmerz empfinden. Als nicht weniger hartnäckig erwies sich die Vorstellung, dass Schmerzen zum Älterwerden dazugehören. Es gibt heute immer noch Ärzte, die ihre Patienten mit dieser Binsenweisheit abspeisen – sehr zum Ärger der Spezialisten, die sich schon seit Jahren für ein Umdenken in der Schmerzbehandlung älterer Menschen einsetzen. Das ist überhaupt ein ganz zentraler Aspekt: Wie gehen wir als Einzelne, als Gesellschaft mit Schmerz um? Eine Frage, die sowohl für Mediziner relevant ist als auch für alle, die bei ihnen Rat suchen.
Wenn möglich, wird jedes Kapitel mit einem passenden Fallbeispiel illustriert. Unter anderem beschreiben Menschen, die an chronischen Schmerzen leiden, was Schmerz für sie bedeutet und wie sie versuchen, damit zu leben. Eine Patientin, die infolge eines Verkehrsunfalls chronische Schmerzen hat, formuliert das in einem Interview so:
Ich möchte so leben wie jeder andere, aber Schmerz beeinflusst das Denkvermögen. Manchmal kann man sich einfach nicht verständlich machen. Ich habe mehrmals mit einem Psychologen gesprochen. Ich will keinen Stillstand, ich will mich weiterentwickeln und versuche, mich darauf zu konzentrieren – nicht zuletzt, um den Schmerz auszuschalten. Deshalb möchte ich auch so wenige Medikamente wie möglich einnehmen. Das Leben ist viel zu schön.
1
Schmerz
Das größte Übel der Menschheit
In der Antike verstand man Schmerz als Ungleichgewicht der Körpersäfte, im Mittelalter als eine Strafe Gottes. Descartes sprach im 17. Jahrhundert als Erster von einem »Reiz«, der von den Nerven zum Gehirn weitergeleitet wird. Diese mechanistische Auffassung erklärt jedoch nicht, wie es zu chronischem Schmerz kommen kann, der entsteht, obwohl die Schmerzursache längst behoben ist.
Kaum ein Forschungsbereich hat sich nach 1945 so rasant entwickelt wie die Medizin: Man denke nur an Impfungen gegen Kinderkrankheiten, die Polio-Schluckimpfung, die Ausrottung der Pocken, die Erfindung der Antibaby-Pille, ja an Herz-, Lungen- und Nierentransplantationen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Der technische Fortschritt hat dazu geführt, dass uns heute außerdem zahlreiche lebensrettende Apparaturen wie Beatmungs- und Dialysegeräte zur Verfügung stehen. MRT-, PET- und CAT-Scanner helfen, Tumoren frühzeitig zu erkennen. Bestimmte Krebserkrankungen lassen sich immer besser bekämpfen: Für Brust- und Gebärmutterhalskrebs etwa liegt die Überlebensrate nach fünf Jahren bei 70 bis 90 Prozent.
All das kam jedoch nicht von ungefähr, sondern ist das Ergebnis einer Entwicklung: So wie Millionen Chinesen noch heute unbeirrt an das mehr als zweitausend Jahre alte Konzept von Yin und Yang glauben, hat man sich im Abendland fast tausendfünfhundert Jahre lang an den Lehren von Galen (129– ca. 200 n. Chr.) orientiert. Der römische Arzt und Philosoph griechischer Abstammung ging davon aus, dass alle Krankheiten durch ein Ungleichgewicht der vier Elemente (Erde, Luft, Feuer und Wasser) beziehungsweise der vier Körpersäfte oder Humores (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) verursacht würden. Galen berief sich dabei auf den griechischen Arzt Hippokrates, den Begründer der westlichen Medizin, entwickelte dessen Lehren jedoch weiter – auch was die Kenntnisse der Anatomie anging. Galen sezierte Schweine, Hunde und vor allem Affen, weil er fest davon überzeugt war, dass Letztere sich nicht allzu sehr vom Menschen unterschieden.
Dass die Doktrin der Vier-Säfte-Lehre so lange Gültigkeit behielt, liegt vermutlich auch an dem Pakt, den Ärzte seit der Verbreitung des Christentums offenbar stillschweigend mit der Kirche geschlossen hatten: Die Kirchenführer stellten es als menschliches »Privileg« dar, so zu leiden wie Jesus Christus am Kreuz, und ihre These, Schmerz und Krankheit seien gottgewollt, half den Ärzten, ihre eigene Unwissenheit zu vertuschen. Erst im 16. Jahrhundert kamen nach und nach Zweifel an den Lehren des Galen auf – nicht zuletzt weil Anatomen wie der flämische Arzt Andreas Vesal (1514–1564) bei der Obduktion von Leichen ganz neue Erkenntnisse gewannen. Wanderärzte und Bader wussten es schon damals besser, doch anders als die doctores medicinae hatten sie ihre Kenntnisse nicht durch ein Studium an der Universität erlangt; diese Heiler galten als Handwerker und durften deshalb nicht mitreden. Und so kam es, dass sich die Vorstellungen von Galens Humoralpathologie auch weiterhin hielten, bis sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der sogenannten Organmedizin abgelöst wurden. Nun galt: Nicht in Ungleichgewicht geratene Körpersäfte und Elemente verursachten Krankheiten, sondern Organe, etwa eine vergrößerte Leber oder erkrankte Nieren, die nicht mehr richtig funktionierten. Konsequent versuchte man, alle Leiden auf organische Ursachen zurückzuführen.
Anhand der Erkenntnisse der frühneuzeitlichen Anatomen entwickelte sich eine neue Auffassung von Krankheit. Die französischen Humanisten Michel Montaigne (1533–1592) und vor allem René Descartes (1596–1650) waren mit die Ersten, die sich von der christlichen Auffassung distanzierten, der unreine Körper sei der Kerker der Seele. Auch Schmerz wurde von ihnen ganz neu bewertet. In seinem Buch Essais stellte Montaigne Schmerz nicht länger als etwas dar, das dem Menschen von Gott auferlegt worden ist. Für ihn zählte Schmerz vielmehr »zu den größten Übeln der Menschheit« – und als Nierensteinpatient wusste Montaigne nur zu gut, wovon er sprach:
Gibt es etwas Wohligeres als den nach den jähesten und schärfsten Koliken eintretenden Umschwung, wenn man durch den Abgang eines Steins aus äußerstem Schmerz blitzartig wieder ins strahlende Licht einer völlig beschwerdefreien Gesundheit versetzt wird?
Seine kritischen Betrachtungen und seine Skepsis gegenüber der bisher herrschenden Lehre hatten großen Einfluss auf Descartes. Dieser entwickelte, inspiriert von Hippokrates und Aristoteles, ein philosophisches Modell, nach dem Leib und Seele strikt voneinander getrennt waren – den sogenannten kartesianischen Dualismus. In seinem Werk Über den Menschen legte er seine Vorstellung dar, dass der Organismus des Menschen mechanisch funktioniere wie eine Maschine. Aus Angst vor der Inquisition wagte er es allerdings nicht, diese Abhandlung zu veröffentlichen. Sie erschien erst zweiundzwanzig Jahre nach seinem Tod.
Descartes verstand Schmerz als eine heftige Bewegung der Lebensgeister innerhalb der Nerven infolge einer Gewebeschädigung. Er beschrieb eine direkte Leitung des Schmerzes von der Haut zum Schmerzzentrum im Gehirn – für ihn die Zirbeldrüse oder Epiphyse, die er auch als Sitz der Seele betrachtete. Laut Descartes sollte man sich die Schmerzreaktion wie eine Art Seilzugmechanismus vorstellen: Unten im Turm steht ein Mann und zieht an einem Seil, daraufhin läutet oben die Glocke.
»Befindet sich zum Beispiel das Feuer A in der Nähe des Fußes B, dann haben die kleinen, bekanntlich schnell bewegten Teilchen dieses Feuers aus sich heraus die Kraft, die betroffene Stelle der Haut dieses Fußes in Bewegung zu versetzen. Indem sie dadurch an der kleinen Faser ziehen, die – wie man sieht – dort befestigt ist, öffnen sie im gleichen Augenblick den Eingang der Pore d-e, an der diese kleine Faser endet, ebenso wie man in dem Augenblick, in dem man an dem Ende eines Seilzuges zieht, die Glocke (F) zum Klingen bringt, die an dem anderen Ende hängt.«
© AKG, Berlin: IAM
Tatsächlich ist Descartes’ Theorie von der direkten Leitungsbahn bei akutem Schmerz durchaus zutreffend. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass ein Schmerzsignal vom verletzten Körperteil über die Nerven ins Rückenmark und von dort weiter bis ins Gehirn geleitet wird, wo der Schmerz wahrgenommen wird. Sobald die Nervenreizung nachlässt, kommt auch das Gehirn zur Ruhe, der Schmerz verschwindet.
Chronischer Schmerz, also Schmerz, der länger anhält als drei oder sechs Monate, entzieht sich jedoch der kartesianischen Logik. Wie kann es sein, dass Rückenschmerzen unverändert andauern, obwohl die Ursache – etwa ein Bandscheibenvorfall – längst behoben wurde? Trotz solcher offener Fragen sollten die Vorstellungen des kartesianischen Dualismus von Körper und Seele noch bis weit ins 20. Jahrhundert vorherrschen. In dieser langen Phase erfuhr die Theorie von der direkten Schmerzleitung allerlei Abwandlungen. Eine davon war die sogenannte Spezifitätstheorie des deutsch-österreichischen Physiologen Max von Frey (1852–1932), der übrigens auch die Herz-Lungen-Maschine erfand. Er betrachtete Schmerz als Sinneswahrnehmung mit einem ganz eigenen Leitungs- und Wahrnehmungssystem: Über spezifische Rezeptoren und schmerzleitende Nervenbahnen würden die Reize an das Gehirn weitergeleitet, von wo sie dann ins Bewusstsein drängten. Schmerz funktioniere also genauso wie Fühlen, Sehen und Hören.
Ausgehend von dieser Theorie, kam man auf die Idee, die Schmerzleitung dauerhaft zu blockieren: 1907 wurde die erste neurolytische Blockade durchgeführt, ein Eingriff, bei dem man eine stark ätzende Substanz wie Alkohol oder Phenol in einen Nervenknoten spritzte. Zunächst wurden nur Patienten mit Gesichtsschmerz mit dieser Methode behandelt, später wurde das Verfahren auf weitere Anwendungsbereiche ausgedehnt. Doch die Schmerzlinderung war nie von langer Dauer, und so beschlossen die Neurochirurgen, zu drastischeren Methoden zu greifen: Fortan durchtrennten sie immer häufiger Nervenbahnen.
Die Erfindung der Narkose
Ein historischer Meilenstein in der Schmerzbehandlung war die erste erfolgreiche Operation unter Äthernarkose. Sie fand am 16. Oktober 1846 in Boston im Massachusetts General Hospital statt. Bis dahin hatte man sich mit anderen Methoden beholfen: Hypnose etwa, oder aber einem ordentlichen Rausch, indem man den Patienten Rum oder Laudanum einflößte, eine Tinktur, die zu 90 Prozent aus Wein und zu 10 Prozent aus Opium bestand. Es war auch vorgekommen, dass man Patienten einfach einen ledernen Helm aufsetzte – und sie dann vom Chirurgen mit einem Hammer k.o. schlagen ließ. Meist aber waren die Patienten schlicht an den OP-Tisch gefesselt oder von ein paar starken Männern festgehalten worden.
Nicht zuletzt wegen dieser ebenso drastischen wie ineffektiven Methoden hatten die Chirurgen gelernt, sehr schnell zu operieren. Und sich nicht von Schreien und Wehklagen ablenken zu lassen, wenn es einmal länger dauerte. Es galt immer noch, was Aulus Cornelius Celsus (ca. 25 v. Chr.–50 n. Chr.), Verfasser zahlreicher Enzyklopädien und medizinischer Schriften, von einem guten Chirurgen erwartete:
Furchtlos sei sein Gemüt, und mitfühlend sei er nur in der Weise, dass es sein fester Wille ist, den in Behandlung genommenen Kranken zu heilen, ohne sich durch das Geschrei desselben rühren und zu größerer Eile, als die Umstände erfordern, oder zu weniger und kleineren Schnitten, als nötig sind, bestimmen zu lassen: vielmehr führe er alles aus, als ob durch das Klagegeschrei des Kranken bei ihm gar kein Mitleid erregt würde.
Neben solchen Schreckensszenarien existieren auch frühe Beschreibungen von Operationen, die Patienten ruhig und ohne äußere Zwänge über sich ergehen ließen. Dominique Jean Larrey (1766–1842), der Chefchirurg der kaiserlich-französischen Armee unter Napoleon, amputierte Soldaten Arme und Beine, während diese seelenruhig zuschauten. In seinen Memoiren berichtet er von einem Offizier, dessen Arm er auf Schulterhöhe abtrennte. Anschließend sei der Mann wieder aufs Pferd gesprungen und mit anderen Kavalleristen quer durch Europa geritten, um einige Wochen später mit einer vollständig verheilten Wunde in Paris einzutreffen.
Der berühmte französische Chirurg René Leriche (1879–1955) nahm später an, etwas Vergleichbares sei seit der Entwicklung schmerzstillender Medikamente unvorstellbar. Die Menschen hätten sich einfach viel zu sehr an Schmerzmittel gewöhnt. Und der amerikanische Neurologe und Schriftsteller Silas Weir Mitchell (1829–1914) glaubte, der moderne Mensch nehme Schmerzen viel stärker wahr als seine Vorfahren. Für ihn war Schmerz gewissermaßen ein »Zivilisationsprodukt«. In seinem 1872 erschienenen und 1965 wiederaufgelegten Buch Injuries of Nerves and Their Consequences schrieb Mitchell:
Nur wenige Nichtmediziner können ermessen, was lang anhaltende, unerträgliche Schmerzen für Körper und Seele bedeuten … Solche Folterqualen drücken die Stimmung, noch der Liebenswürdigste wird gereizt, der Soldat zum Schwächling, ja sogar der stärkste Mann reagiert kaum weniger nervös als das hysterischste Mädchen.
Die erste erfolgreiche Operation unter Narkose ist dem Zahnarzt William T. G. Morton (1819–1868) zu verdanken. Wochen vor der offiziellen Geburtsstunde der Anästhesie hatte er erstmals mit Ätherdämpfen experimentiert: Er hatte einen Mann damit betäubt, um ihm einen vereiterten Backenzahn zu ziehen. Im Bostoner Krankenhaus wandte er am 16. Oktober 1846 im Rahmen einer Operation vor Publikum die gleiche Methode an, bevor ein Chirurg dem schlafenden Patienten ein Geschwür aus dem Hals schnitt. Der Eingriff wurde überall als großer Erfolg gefeiert; danach war der weltweite Vormarsch der Ätherbetäubung nicht mehr aufzuhalten. Nicht einmal die Stadt Zürich, die die Anästhesie trotz erfolgreicher Anwendung nach einer Sitzung der medizinisch-chirurgischen Gesellschaft am 26. Februar 1847 bis auf weiteres verbot, konnte daran noch etwas ändern.
Der von William T. G. Morton entwickelte Äther-Inhalator.
© Image courtesy of the Wood Library-Museum of Anesthesiology, Park Ridge, Illinois
Im gleichen Jahr kam ein neues Narkosemittel hinzu: Chloroform. Dieses Mittel wurde immer häufiger eingesetzt, weil Äther die Lunge reizte und Brechreiz auslöste. Atmete der Patient Erbrochenes oder Magensäure ein, war er in der Regel zum Tode verurteilt und starb noch auf dem Operationstisch. Diese Komplikation wurde später unter dem Namen »Mendelson-Syndrom« bekannt, nach dem amerikanischen Gynäkologen Curtis L. Mendelson (1913–2002), der das Problem 1946 in einer ausführlichen Studie beschrieb. Bei kleineren Eingriffen verabreichten Chirurgen auch Lachgas, dessen schmerzstillende Wirkung allerdings bereits 1772 entdeckt worden war.
Doch obwohl von nun an unter Narkose operiert werden konnte, war das noch lange keine Selbstverständlichkeit. Die Begründung erscheint aus heutiger Sicht abenteuerlich. Viele Chirurgen glaubten etwa, dass Kinder, »Schwachsinnige«, Tiere und »Wilde« wie afrikanische Sklaven und »Indianer« weniger schmerzempfindlich, ja sogar schmerzunempfindlich seien, weshalb man bei ihnen auf eine Betäubung verzichten könne. Frauen galten zwar nach damaliger Sicht als besonders schmerzempfindlich, dennoch vertraten viele Mediziner die Auffassung, bei Frauen niedriger sozialer Schichten treffe das nicht zu, weshalb man hier ohne Betäubung auskommen könne.
Und was Kinder betrifft: Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte der amerikanische Hals-Nasen-Ohren-Arzt Greenfield Sluder (1865–1928) eine Methode, um Kindern schneller ohne Betäubung die Mandeln zu entfernen. Dafür lockte man die kleinen Patienten mit dem Versprechen, sie bekämen eine Süßigkeit oder ein Geschenk, auf den Schoß einer Krankenschwester. Diese hielt den kleinen Patienten so lange fest, bis der Arzt ihm mit einer Art »Guillotine« die Mandeln herausgeschnitten hatte. Diese sogenannte Tonsillektomie nach Sluder wurde in Deutschland noch bis Mitte der 1950er-Jahre praktiziert.
Die Anästhesie war aber nicht nur was ihre konsequente Anwendung anging, sondern auch hinsichtlich ihrer fachlichen Bewertung in Medizinerkreisen eine lange vernachlässigte Disziplin. Wenn früher überhaupt betäubt wurde, dann in der Regel durch eine OP- oder Krankenschwester. Manchmal kam es auch vor, dass Hausärzte ihren Patienten beistanden. Auf diese Weise konnten sie sich eine hübsche Summe dazuverdienen. Da es weniger »Narkotiseure« (so hießen Anästhesisten früher) gab, als gebraucht wurden, blieb die Narkoseschwester bis weit in die 1950er-Jahre unverzichtbar. Medizinstudenten waren hier eine willkommene Alternative: Oft waren sie es, die die Narkose verabreichten, indem sie Chloroform oder Äther auf eine Atemmaske träufelten. Bei der anschließenden Operation kontrollierten sie dann den Puls. Stand niemand halbwegs Qualifiziertes zu Verfügung, wurde kurzerhand anderes Krankenhauspersonal zusammengetrommelt – zur Not tat es auch der Pförtner. Obwohl britische Ärzte schon 1885 als Erste in Europa ihren Lebensunterhalt als Anästhesisten verdienten, also Patienten in Narkose versetzten und Schmerzmittel verabreichten, wurde die Anästhesisten-Ausbildung erst nach dem Zweiten Weltkrieg in professionelle Bahnen gelenkt.
Um ihren neu erworbenen Status zu untermauern, benannten sich die Narkosespezialisten nach amerikanischem Vorbild in Anästhesiologen um; ein Begriff, der ihren wissenschaftlichen Anspruch betonen sollte. Heute sorgen sie nicht mehr nur dafür, dass der Patient die Operation übersteht, ohne etwas von dem Eingriff zu merken. Sie sind häufig mit der Leitung von Aufwachraum und Intensivstation betraut und vor allem wichtige Ansprechpartner in Sachen Schmerzmedizin.
2
»Um meinen Körper liegt ein Ring aus glühender Lava«
Erfahrungen eines Mannes mit der »Schmetterlingskrankheit«
Die Schmetterlingskrankheit (Epidermolysis bullosa) ist eine in der Regel genetisch bedingte, unheilbare Hautkrankheit, die mit Wunden am ganzen Körper und ständigen Schmerzen einhergeht. In seltenen Fällen kann sie erst im Erwachsenenalter auftreten, in Form einer nicht genetisch bedingten Autoimmunkrankheit. Bor V., ein Betroffener (Jahrgang 1978), erzählt aus seinem Leben.
Den Schmerz habe ich mit dreieinhalb Jahren zum ersten Mal so richtig wahrgenommen. Ich weiß noch, wie schlimm das gestochen hat, als ich in ein gechlortes Schwimmbecken gesprungen bin. Wenn ich heute bade, desinfiziere ich das Wasser vorher immer mit etwas Chlor, es sei denn, ich habe eine frische Wunde. Das Chlor beißt furchtbar, aber heute lache ich drüber. Leichte Schmerzen nehme ich inzwischen mit Humor. Ich versinke nicht in Selbstmitleid und jammere auch nicht. Lieber unternehme ich schöne Dinge, die mir Kraft geben.
Bei der Schmetterlingskrankheit reagiert die Haut extrem empfindlich auf Reibung und platzt auf. Es entstehen Blasen und offene Wunden, die sich rasch infizieren. Früher hat man die Krankheit in drei Hauptformen unterteilt, heute sollen es sogar sieben sein: Ich selbst leide an der dystrophischen Form, der schwersten. Die vielen Narben, die durch die Hautverletzungen entstehen, führen mit der Zeit dazu, dass Finger und Zehen miteinander verwachsen. Es hat eine Weile gedauert, bis die Krankheit bei mir richtig diagnostiziert wurde. Erst fiel mir ein Fingernagel aus, dann alle anderen Nägel. Ich bekam überall Blasen, am Körper und auch im Mund. Laut meiner Familie war ich auffällig ruhig als Baby, trotzdem werde ich sicherlich Schmerzen gehabt haben. Wenn beinahe der ganze Körper eine einzige offene Wunde ist, kann das gar nicht anders sein.
Ich habe die Krankheit von meinem Vater und von meiner Mutter geerbt, die alle beide den Gendefekt haben. Die Chance, dass zwei Träger zusammenkommen, liegt Wissenschaftlern zufolge bei eins zu 1,3 Millionen. Obwohl meine Eltern anfangs nicht wussten, dass die Krankheit genetisch bedingt ist, verzichteten sie auf weiteren Nachwuchs. Dabei hätte meine Mutter gern drei, vier Kinder gehabt. Stattdessen hatte sie eines, das Arbeit machte wie vier. Bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr hat sie mich gepflegt. Mein Vater hatte sich da schon längst aus dem Staub gemacht. Als ich vier war, ließen meine Eltern sich scheiden.
Als Kind habe ich zwar gemerkt, dass ich der Einzige mit Schmerzen bin, doch viele Gedanken habe ich mir nicht darüber gemacht. Ich habe nur darauf geachtet, mich von Rowdys fernzuhalten. Beim Spielen zog ich mir ständig große Blasen und Schürfwunden zu, vor allem meine Füße waren extrem empfindlich. Ich lernte schnell, dass es besser ist, nicht Fußball zu spielen. Lieber dachte ich mir Spiele ohne großen Körpereinsatz aus: mit Pfeil und Bogen schießen, Sandburgen bauen. Was man als kleiner Junge eben so macht. Manchmal bekam ich davon trotzdem eine Blase mehr, aber das machte mir nichts aus. Man darf nicht jede Verletzung als Katastrophe betrachten. Damals bekam ich noch keine Schmerzmittel, und wenn es besonders wehtat, zum Beispiel beim Verbandswechsel, weinte ich eben. Ich kann Schmerz ganz gut ertragen, aber ich beschwöre ihn natürlich nicht bewusst herauf. Ich bin schließlich kein Masochist. Wäre ich einer, hätte ich das schönste Leben.
So richtig bewusst wurde mir meine Krankheit erst, als ich in die Pubertät kam. Mein Allgemeinzustand verschlechterte sich, ich konnte nachts kaum schlafen. Aber noch schlimmer war der seelische Schmerz: Irgendwann kommt man ja in ein Alter, in dem man sich für Mädchen interessiert, und dann stellt man schnell fest, dass die Leute einen nur nach dem Äußeren beurteilen. Mit meinen ganzen Verbänden sah ich oft aus wie eine ägyptische Mumie, außerdem war ich aufgrund einer extrem strengen Diät, die ich seit meinem fünften Lebensjahr einhielt, körperlich sehr schwach. Ich durfte weder zucker- noch milchhaltige Produkte essen, was schlimme Folgen hatte: Ich war so schlapp, dass ich bei der geringsten Anstrengung Herzrasen bekam. Die Diät war Teil eines Behandlungsplans, den mir der Dermatologe Pavel Kozak nach einem dreimonatigen Aufenthalt in seiner Klinik in Michelbach, einem Dorf nördlich von Frankfurt am Main, verordnet hatte. Seine Methode fußte auf drei Säulen: Man musste sechsmal täglich verbunden werden, auch nachts. So etwas hält wirklich keiner aus. Außerdem bekam man jede Menge Antibiotika, dazu die strenge Diät, die die Haut beruhigen sollte. Tatsächlich sah ich danach tadellos aus, ich brauchte nur noch einen einzigen Verband pro Tag. Nach zwei Jahren haben wir zwar die Antibiotika abgesetzt, aber die Diät habe ich all die Jahre durchgehalten.
Als ich siebzehn war und von der Behinderten- auf die Regelschule wechselte, hatte ich bereits einen Rollator. Drei Jahre zuvor hatte ich eine schlimme Wunde an der rechten Achillessehne gehabt. Die führte zu einer Verkürzung der Sehne, weshalb ich seitdem mit dem rechten Fuß nur noch auf Zehenspitzen laufen kann und auch das nur über kleine Strecken. Ich hoffe, dass ich das weiterhin schaffe, denn sonst wird mein Bewegungsradius immer kleiner. Seit ich zwanzig bin, sitze ich ohnehin meist im Rollstuhl.
Kurz nach dem Wechsel auf die neue Schule habe ich die Entscheidung getroffen, mich nicht mehr an den Fingern operieren zu lassen. Durch die Schmetterlingskrankheit wurden sie krumm, und die Zwischenräume wurden kleiner, sodass die Finger immer wieder miteinander verwuchsen. Das ist für sich genommen gar nicht mal so schmerzhaft, sondern eher unpraktisch. Dafür ist das Auseinanderschneiden und Begradigen umso schmerzhafter, vor allem wegen der vielen Verbandswechsel. Die offene Wunde muss nämlich ganz stramm verbunden werden. Ich bin zweiunddreißig Mal an den Fingern operiert worden, das erste Mal im Alter von sechs. Aber irgendwann hat das kaum noch etwas gebracht, ich konnte nicht mal mehr einen Stift halten! Da dachte ich: dann lieber ohne Finger.
Zwischen meinem achtzehnten und zwanzigsten Lebensjahr wurde ich kein einziges Mal operiert! Doch dann bekam ich Hautkrebs – auch eine Folgekrankheit. Die Ärzte können ihn nicht bestrahlen, sondern müssen ihn wegschneiden. Manche Tumoren spürt man nicht, andere jucken, aber in den letzten Jahren tun sie mir sehr weh. Sie fühlen sich an wie Messerstiche, um die herum sich ein Ring aus glühender Lava gelegt hat. Inzwischen bin ich wegen des Hautkrebses siebenundzwanzig Mal unter dem Messer gewesen, sechsundzwanzig Mal musste an meinen Händen geschnitten werden, einmal an meinem Fuß. Am 25. Februar 2009 wurden mir drei Finger der linken Hand abgenommen. Ich habe nach langem Zögern zugestimmt, weil das eigentlich gegen meine Überzeugung verstößt. Ich bin mit vollzähligen Gliedmaßen zur Welt gekommen und möchte sie auch so wieder verlassen. Ich habe die Finger einige Wochen später einäschern lassen. Die Leute vom Krematorium haben ganz schön gestaunt! Ein guter Freund von mir arbeitet beim Fernsehen, es wurde sogar ein Film darüber gedreht. Mittlerweile ist der Krebs so weit fortgeschritten, dass mir vielleicht auch noch der Daumen amputiert werden muss. Eine Zeitlang hatte ich auch eine Magensonde, weil meine Speiseröhre eine einzige offene Wunde war, sodass ich nichts mehr essen konnte.
Der Schmerz beherrscht meinen Alltag, auch wenn ich inzwischen gelernt habe, dass er in den Hintergrund tritt, wenn man sich intensiv mit etwas anderem beschäftigt. Gegen die normalen Schmerzen der Schmetterlingskrankheit nehme ich alle fünf Stunden zwei Paracetamol, außerdem inhaliere ich arzneiliches Cannabis. Aber bei extremen Schmerzen nehme ich stärkere Mittel wie Arcoxia, wenngleich nur widerwillig. Manchmal hilft es, oft aber auch nicht. Der Krebsschmerz raubt einem alle Energie, man fühlt sich wie gelähmt. Die Welt schrumpft. Man liegt auf dem Sofa, lässt sich mit verblödenden Sendungen berieseln und fragt sich, wie man seinem Leben so noch etwas abgewinnen soll. Sollte der Krebs eines Tages auf meine Lunge und mein Gehirn übergreifen, will ich nicht mehr weiterleben.
Vor allem letztes Jahr hatte ich extreme Schmerzen durch den Hautkrebs. Zum Glück geht es mir inzwischen etwas besser, und ich kann mich wieder um Dinge kümmern, zu denen ich wegen der Krebsschmerzen nicht mehr gekommen bin. Ich tummle mich wieder auf Partnervermittlungsseiten im Internet, außerdem habe ich mit Freunden eine Stiftung gegründet, die die Schmetterlingskrankheit international bekannter machen soll. Im Übrigen bin ich einer der wenigen Erwachsenen, die diese Krankheit so lange überlebt haben. Die meisten sterben jung. Mit meiner eigenen Stiftung möchte ich zeigen, dass man trotz meiner schweren Form der Schmetterlingskrankheit viel erreichen kann.
3
Schmerz als emotionale Wahrnehmung
Was ist Schmerz und wie funktioniert er?
Heute gilt als gesichert, dass bei einer Verletzung Botenstoffe ausgeschüttet werden. Der Schmerz wird im Rückenmark verarbeitet, doch ins Bewusstsein tritt er erst, wenn er das Gehirn erreicht, das ihn emotional bewertet. Schmerz ist ein Lernprozess. Bei chronischem Schmerz verselbstständigt sich dieser Prozess zu einem eigenen Krankheitsbild.
Die International Association for the Study of Pain (IASP), zu der auch die Deutsche Schmerzgesellschaft e. V. gehört, hat 1979 erstmals festgelegt, was Schmerz eigentlich ist. Diese Definition wurde im Lauf der Jahre immer wieder aktualisiert – nicht zuletzt weil man auch chronischen, nicht erklärbaren Schmerz berücksichtigen wollte. Schon seit langem versuchten Ärzte und Wissenschaftler, einen geeigneten Namen für diese Schmerzform zu finden. Man verfiel auf alle möglichen Formulierungen und sprach zum Beispiel von »refraktärem«, »idiopathischem«, »unbehandelbarem«, »nicht-organischem«, »unverstandenem« und »aspezifischem« Schmerz, von »chronischem Schmerz unbekannten Ursprungs« oder schlicht von »somatisch unzureichend erklärbaren körperlichen Beschwerden«. Daneben werden im internationalen Diagnoseklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation WHO bis heute die Begriffe »Somatoforme Schmerzstörung« oder »Psychalgie« benutzt. Die IASP wiederum verwendet seit 1993 die folgende umfassende Definition von Schmerz:
Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung einhergeht oder von Betroffenen so beschrieben wird, als wäre eine solche Gewebeschädigung die Ursache. Schmerz ist immer subjektiv. Jeder Einzelne lernt die Bedeutung des Wortes durch eigene Erfahrungen mit Schmerz. Schmerz ist unbestreitbar eine körperliche Empfindung, gleichzeitig ist er unangenehm, sodass auch emotionale Aspekte in die Wahrnehmung einfließen. Viele Menschen klagen über Schmerzen, obwohl weder eine Gewebeschädigung noch andere krankhafte Veränderungen nachgewiesen werden können. Normalerweise liegen dann psychische Gründe vor. Es ist unzulässig, zwischen individueller Schmerzerfahrung und Schmerz infolge einer Gewebeschädigung zu unterscheiden.
Eine interessante Ergänzung zu dieser Charakterisierung von Schmerz liefert das Modell des amerikanischen Neurochirurgen und Anästhesiologie-Professors John D. Loeser (Jahrgang 1935). Es entstand 1989 und unterscheidet vier aufeinander folgende Schmerzdimensionen: Auf den Schmerzreiz (Input) folgt die Schmerzwahrnehmung (neurophysiologische Reaktion), darauf wiederum die Schmerzerfahrung (emotionale Reaktion) und schließlich das Schmerzverhalten (Output).
ENDE DER LESEPROBE