Schneewittchen und der böse König - Katharina M. - E-Book
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Schneewittchen und der böse König E-Book

Katharina M.

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Beschreibung

Katharina kommt aus einer guten Familie, aber sie fühlt sich oft unverstanden und sehnt sich nach Liebe und Aufmerksamkeit. Das Mädchen verliebt sich in den einfühlsamen Reitlehrer Heinz, der ihr eine gemeinsame Zukunft auf einem Reiterhof verspricht. Doch insgeheim verfolgt er einen grausamen Plan: Katharina soll für ihn als Prostituierte anschaffen gehen. Für das junge Mädchen ist das der Beginn eines elf Jahre langen Martyriums. Sie ist auf die perfide Masche eines Loverboys hereingefallen. Zusammen mit Babara Schmid gelingt es ihr, ein eindringliches Bild einer destruktiven Beziehung und eines Psychopathen zu zeichnen und zu zeigen, wie er durch Manipulation und Entfremdung einen unbedarften Teenager auf seine Seite ziehen konnte. Mit einem Vorwort der Psychiaterin und Autorin Dr. Nahlah Saimeh – Deutschlands bekanntester Gerichtsgutachterin

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Seitenzahl: 377

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Katharina M.

Aufgezeichnet von Barbara Schmid

SCHNEEWITTCHEN UND DER BÖSE KÖNIG

Katharina M.

Aufgezeichnet von Barbara Schmid

SCHNEEWITTCHEN UND DER BÖSE KÖNIG

Wie mein Reitlehrer mich manipulierte und zur Prostitution zwang und wie ich mich daraus befreite

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

2. Auflage 2020

© 2020 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildungen: Shutterstock/MikeDotta

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7474-0190-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-550-8

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-551-5

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Inhalt

Vorwort von Dr. Nahlah Saimeh

Prolog

1 Blutiges Finale

2 Meine zweite Heimat

3 Die Verführung

4 Zukunftsträume

5 Frischfleisch

6 Die Vorbereitung

7 Die 1000-D-Mark-Hure

8 Mein Vater

9 Club Erotica

10 Unsere Bar wird Kult

11 Mein Bruder

12 Meine Lehrerin Mrs. Miller

13 Kalter Entzug

14 Absturz

15 Wieder zu Hause

16 Die verkaufte Frau

17 Der Kellermann

18 Hells Angels und Russen-Mafia

19 Der Prozess

20 Vor Gericht

21 Das Urteil

22 Ein Ordner voller ungelesener Briefe

23 Leben lernen

24 Neuanfang

25 Selbstmordversuch

26 Die Rettung

Gespräch mit der forensischen Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh

Epilog

Danksagung

Vorwort von Dr. Nahlah Saimeh

Jede Lebensphase eines Menschen birgt spezifische Bedürfnisse und Sehnsüchte und daraus resultieren auch spezifische Gefahren. Jugendzeit und Adoleszenz sind eine Lebensphase der Autonomieentwicklung und Loslösung von den Eltern. Es geht um die Entwicklung eines eigenen Selbstbildes und die Frage, wer wir sein und wie wir leben wollen. In der Übergangsphase vom Kind zum Erwachsenen fällt die Entwicklung eines erotischen und sexuellen Selbstkonzepts. Es geht um das Ausloten des Nicht-mehr-Kind-Seins und den Eintritt in die erwachsene Welt erlebbarer Sexualität. Dies ist eine heikle Phase, denn in der Phase der häufig konfliktbelasteten Ablösung von den Eltern ist Manipulation durch Dritte ein Kinderspiel. Eines der viel zu wenig bekannten Risiken für junge Frauen ist die Gefahr, an einen »Loverboy« zu geraten. Es geht um Männer, die sehr jungen Frauen ein romantisches Idyll mit einer gemeinsamen Zukunft und glücklichen Kindern versprechen und die mit großem Geschick die Sehnsucht junger Frauen nach Liebe und Begehrtwerden ausnutzen. Der Loverboy erkennt in der jungen Frau, dass sie kein Kind mehr ist, dass sie von den Eltern missverstanden wird und dass er ihre Wünsche erfüllen kann. Freilich ist dazu notwendig, dass sie für die gemeinsame Zukunft mit ihm auf den schädlichen Kontakt mit der Familie und bisherigen Freunden verzichtet. Dafür führt er sie in die Welt seiner schillernden Freunde ein und behandelt sie als Erwachsene – zunächst. Und dann schnappt die Falle zu: Völlige soziale Isolation, die Erzeugung einer starken emotionalen Abhängigkeit und Verschuldung sorgen für die optimalen Rahmenbedingungen der Zwangsprostitution. Ein psychopathisches Spiel mit großen Gewinnen für die Zuhälter und desaströsen Folgen für die Opfer. Wer etwas über prekäre Beschäftigungen lernen will, der sollte den Blick auf Zwangsprostitution werfen. Barbara Schmid widmet sich der Geschichte einer jungen Frau, die einem Loverboy in die Hände fiel, und gibt damit Betroffenen eine Stimme – zur Warnung nicht nur der Eltern, sondern vor allem junger Frauen.

Prolog

Warum erzähle ich hier meine Geschichte? Warum tue ich mir das an, mich noch einmal an all diese furchtbaren Jahre zu erinnern und beim Schreiben dieses Buches noch einmal alles zu durchleben? Ist es richtig, die Dämonen der Vergangenheit noch einmal zu beschwören?

Vor sechs Jahren habe ich die SPIEGEL-Redakteurin Barbara Schmid in Bayreuth kennengelernt. Wir haben lange Gespräche geführt, unzählige E-Mails hin und her geschrieben und Berge von Akten ausgetauscht, bis wir uns schließlich mehrfach wochenlang zum Schreiben zusammengesetzt haben.

Nach dem schrecklichen Finale, bei dem ich fast umgekommen bin, kam der anstrengende Prozess, an dessen Ende der Täter am 30. Dezember 2011 zu neun Jahren Haft verurteilt wurde. Nach dem Urteil musste ich erst mal lernen, wieder zu leben. Ich war zuvor jahrelang eingesperrt, wusste oft nicht einmal, welche Jahreszeit wir hatten, kannte die Welt draußen nur von meinen wenigen Arzt- und Behördenbesuchen. Dazu war ich alkoholabhängig und gesundheitlich schwer angeschlagen. Nach meiner Flucht brauchte ich jahrelang psychiatrische Hilfe, um die elf schrecklichen Jahre zu verarbeiten. Und ganz fertig bin ich damit immer noch nicht.

Mein Ziel war immer, wieder zur Schule zu gehen, die ich nach der 10. Klasse abgebrochen hatte. Es war nicht einfach, mit fast 30 Jahren eine Schule für mich zu finden. Doch ich habe meinen Schulabschluss gemacht und im Sommer 2018 meine Ausbildung zur Steuerfachangestellten bestanden. Mit 35 Jahren habe ich nun angefangen zu arbeiten, bei einem Steuerberater. Ich bin ein Zahlenmensch und arbeite gerne mit Akten – solange ich nur nicht mehr direkt mit Menschen zu tun haben muss.

Ich weiß, dass ich erst meinen Frieden finden werde, wenn ich das alles aufgeschrieben habe. Mit diesem Buch ist das grausame Kapitel in meinem Leben für mich abgeschlossen. Das Buch ist aber auch eine Botschaft an Frauen und Mädchen, die in meiner Lage sind oder Gefahr laufen, dort hinzukommen: Kein Mann, der euch liebt, schickt euch auf den Strich! Niemand, der euch liebt, kommt auf so eine abartige Idee. Ich habe mit vielen Frauen gearbeitet, die das nicht freiwillig getan haben. Diese Zwangsprostituierten hatten einen Geliebten und Zuhälter. So wie ich. Sie »gehörten« irgendwelchen Verbrechergruppen, die sie illegal eingeschleust und die ihnen die Pässe abgenommen haben. Sie hatten Familie und Kinder irgendwo in Osteuropa oder Afrika, mit denen sie erpresst werden konnten.

Das ist der andere, mein ganz persönlicher Grund, dieses Buch zu schreiben: Alle sollen wissen, dass ich das nicht freiwillig und schon gar nicht gerne gemacht habe! Nie! Ich will nie wieder erleben, dass ich mit einer Freundin in der Eisdiele sitze und ein Kellner zu mir an den Tisch kommt und mich auffordert, ich solle ihm doch mal eben für 50 Euro in der Küche einen blasen.

Viele Erlebnisse habe ich nur noch undeutlich vor Augen. An die meisten Gesichter erinnere ich mich genauso wenig wie an das dieses Mannes aus der Eisdiele, der offenbar einmal ein Freier von mir war. Zum Glück schützt mich irgendetwas in mir vor allzu schlimmen Erinnerungen. Ich weiß zum Beispiel nicht mehr, wie der erste Freier aussah. Meine geschätzt 25 000 »Kunden« verschwimmen in meiner Erinnerung zu einer grauen, düsteren Masse. Und das ist auch gut so.

Barbara Schmid hat meine Prozessakten, die Vernehmungsprotokolle, ärztliche Gutachten und vieles mehr für dieses Buch zu einem roten Faden verwoben. Es sind alles nachprüfbare Fakten. Sie hat als gründliche Journalistin auch mit dem Täter korrespondiert, sich seine Sicht der Geschehnisse schildern lassen. Er bleibt bei der Variante, die er vor Gericht und in all den juristischen Auseinandersetzungen danach erzählt hat: Ich hätte ihn, den fast 50-Jährigen, als 14-Jährige verführt. Es wäre meine Idee gewesen, mich zu prostituieren. Meine zahlreichen Verletzungen hätte ich mir selbst beigebracht und natürlich hätte er nie Geld von mir verlangt oder bekommen. Ich hätte ein Luxusleben mit teuren Autos geführt und meine Liebhaber ausgehalten.

Im Auftrag der Staatsanwaltschaft Bayreuth wurde der Täter psychiatrisch untersucht. Das Ergebnis ist in der Hauptverhandlung vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts behandelt worden. Demnach ist der Täter ein Sadist, aggressiv und gewalttätig, ein Mensch ohne Empathievermögen. Zudem erfüllt er die Kriterien einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Der Täter neigt dazu, andere zu beschuldigen und für seine Taten verantwortlich zu machen. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, dass Sicherungsverwahrung angeordnet werden müsste, weil der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist.

Leider ist das Gericht dem nicht gefolgt. In einigen Monaten kommt der Mann voraussichtlich frei. Eine vorzeitige Haftentlassung kam bisher nicht infrage, weil er immer wieder Kripobeamte, Richter, Staatsanwälte, alle möglichen Verfahrensbeteiligten beschuldigt, ein Fehlurteil gefasst zu haben. Ich habe Angst vor dem Tag, an dem er freigelassen wird. Damit bin ich bei einem weiteren Grund für dieses Buch: Ich möchte beschreiben, wie unser Staat mit Tätern und Opfern umgeht.

Viele Jahre überzog mich der Täter aus dem Gefängnis heraus mit immer neuen Strafanzeigen und Gerichtsverfahren. 2018 hat er ein Wiederaufnahmeverfahren beantragt. 2012 ist er sogar bis zum Bundesgerichtshof gegangen. All seine Versuche, das Urteil von damals abzuändern oder gar aufzuheben, sind bisher gescheitert. Doch er findet immer wieder Anwälte, die für ihn die Justiz und nicht zuletzt mich belasten. Oft frage ich mich, wie er die Anwälte bezahlt. Etwa mit meinem Geld, das er irgendwo gebunkert hat? Eine Million muss er mir zurückzahlen, hat das Gericht geurteilt. Davon werde ich nie auch nur einen Cent sehen.

Ich habe für Prozesse, in die mich der Täter gezwungen hat, Anwälte und dafür Prozesskostenhilfe gebraucht. Ich hatte ja nichts, als ich endlich freikam. Nach meiner Flucht hat mein Vater für mich eine private Rentenversicherung abgeschlossen. Er wollte vorsorgen, weil ich viele Jahre nicht in die Rente einzahlen konnte. Der bayerische Staat überprüft regelmäßig, ob Menschen, die einmal Prozesskostenhilfe in Anspruch genommen haben, immer noch mittellos sind. Bei einer solchen Überprüfung ist man auf diese von meinem Vater abgeschlossene Rentenversicherung gestoßen. Daraufhin musste ich die Versicherungssumme von 15 266,05 Euro auflösen und den größten Teil an die Staatskasse überweisen.

Mit 35 Jahren habe ich angefangen, zu arbeiten und in die Rentenkasse einzuzahlen. Von meiner Rente werde ich später nicht leben können, mir droht Altersarmut. Der Täter, der offenbar nie Steuern gezahlt oder in die Rentenversicherung eingezahlt hat, wird dagegen staatliche Unterstützung bekommen. Aber das ist noch nicht alles: Kann ich in meiner kleinen Wohnung bleiben, wenn der Täter freikommt? Dabei ist sie meine Heimat, mein Fluchtort. In dieser Wohnung habe ich ein bisschen Lebensfreude zurückgewonnen. Muss ich dies nun aufgeben, weil der Täter keine Sicherungsverwahrung bekommen hat? Aus seinen Briefen an Barbara Schmid geht hervor, dass er nichts bereut, sich als Justizopfer fühlt und mir die Schuld an allem gibt. Wenn er freikommt, bin ich nicht mehr frei.

Ich nenne den Mann, der mir das alles angetan hat, hier absichtlich nur den Täter; im Buch hat er einen Aliasnamen, und biografische Daten wurden geändert – nicht um ihn zu schützen, sondern um ihm nicht wieder neue Anlässe für juristische Auseinandersetzungen zu bieten.

Ich würde so gerne ein ganz normales Leben führen. Manchmal träume ich von einer eigenen Familie, einem Partner, mit dem ich neu anfangen kann. Das alles hat mir der Täter zerstört oder es mir doch zumindest sehr, sehr schwer gemacht.

Er hatte, als er sich an mich rangemacht hat, leichtes Spiel mit mir. Ich habe ihn auf seinem Reiterhof kennengelernt, als ich zehn Jahre alt war. Er war der immer gut gelaunte und verständnisvolle Reitlehrer. Ich war schwierig, wie viele junge Mädchen in der Pubertät, hatte große Probleme mit meinen Eltern. Diese Lücke hat der Täter für sich ausgenutzt. Aus der Therapie, mit der mir meine Mutter wegen meiner Magersucht und Ritzerei gedroht hatte, wurde in seinen Worten schnell ein Irrenhaus, aus dem ich nie mehr rauskommen würde; ich würde dahinvegetieren, vollgepumpt mit Medikamenten. Er nutzte jede Gelegenheit, um mich gegen meine Mutter aufzuhetzen.

Ein Gutachter hat im Prozess beschrieben, warum ich mich nicht wehren konnte, warum mir die Welt draußen noch viel schlimmer erschien als das, was ich erleiden musste. Ich hatte gar keine Chance, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, weil er mich so jung und über so viele Jahre in seine Gewalt bekommen hat. Darum war es mir unmöglich, zu fliehen und ihn zu verlassen. Ich war ihm hörig, er war meine große Liebe, und ich konnte mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen. (Lesen Sie dazu am Ende des Buches ein Interview mit der forensischen Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh.)

Meine Familie ist fast zerbrochen, an dem was der Täter uns angetan hat. Mein Vater und später auch meine Brüder sind durch Bordelle in ganz Deutschland gezogen, um mich zu finden. Als sie dann wussten, dass ich im »Club Erotica« in Bayreuth bin, haben sie mich mit Briefen bombardiert und Freunde geschickt, als Freier getarnt, die mich zum Aufgeben überreden sollten. Mich hat das nur noch mehr in Panik versetzt, und ich habe mich gar nicht mehr vor die Tür getraut, in der Angst, dann für immer in einem Irrenhaus weggesperrt zu werden.

Einmal hat mir meine Mutter meine todkranke Katze Micki in einem Korb in den Club gebracht, in der Hoffnung, das würde mich aufrütteln, und ich würde nach Hause kommen. Meine Schwester Conny hat mir sogar ein Fluchtauto vor die Tür gestellt, ihr »Baby«, einen alten roten Renault. Dazu hat sie mir einen herzergreifenden Brief geschrieben – das Auto sei zwar alt und verbeult, aber fahrtüchtig und würde mir helfen rauszukommen.

Am Ende war es Conny selbst, die mir dabei geholfen hat. Sie ist Polizistin geworden, um mir, der großen Schwester, einmal helfen zu können. Am Morgen, als der Täter mich fast umgebracht hat, stand Conny auf einmal vor mir vor der Klinik. Eine Arbeitskollegin hatte sie verständigt. Als ich Conny sah, wusste ich, es ist vorbei. Ich konnte nicht mehr lügen für den Mann, der mich gerade mal wieder halb totgeschlagen hat. Der 9. April 2011 war der Tag, auf den meine Familie elf Jahre hingearbeitet hatte. Der Tag meiner Befreiung.

Katharina M., Bayreuth im Februar 2020

1

Blutiges Finale

»Ich bring dich um, du Scheißtier«, höre ich ihn brüllen, und ein Faustschlag trifft mich mitten ins Gesicht. Ich gehe in die Knie und versuche, mich vor weiteren Schlägen zu schützen. Dieser Gewaltausbruch trifft mich völlig unvorbereitet. Ich habe gedacht, er schläft, ich reiße die Arme hoch, um meinen Kopf zu schützen, und versuche, in Deckung zu gehen. Da trifft mich ein Leberhaken. Ich bekomme keine Luft mehr und gehe zu Boden. Er tritt und schlägt überall hin, dann landet seine Faust wieder in meinem Gesicht.

Heinz ist wie von Sinnen. Während ich am Boden liege, bespuckt er mich und brüllt: »Du kleine dreckige Schlampe, du besoffene Drecksau!« Immer wieder tritt er auf mich ein, als wäre ich ein Fußball. »Mein Wort ist dein Gesetz«, brüllt er weiter und bespuckt mich wieder, um mir zu zeigen, wie sehr er mich verachtet.

Was habe ich bloß getan? Warum ist er so außer sich? Ich wollte doch nur ins Bett. Es ist fünf Uhr morgens. Ich versuche weiter, mich zu schützen, irgendwie; und ich versuche wegzukommen. Endlich komme ich auf die Beine, doch da trifft mich schon der nächste Schlag. Mit voller Wucht haut Heinz mich um und ich lande rücklings auf dem Bett. Rasend schnell ist er neben mir, packt meinen Hals und drückt mit beiden Händen fest zu. Ich bekomme keine Luft mehr. »Ich bring dich um, du Scheißtier«, brüllt er erneut, und diese Worte hallen nach in meinem Kopf, wieder und wieder. Heinz ist direkt über mir und in seinen Augen sehe ich nur noch blanken Hass. Mir wird schummrig, alles in mir ringt nach ein bisschen Luft. »Bitte lass mich, bitte!«

Endlich lässt er locker, aber nur, weil er seine Hände zum Schlagen braucht. Und wieder brüllt er: »Ich bring dich um, du Scheißtier!« Wieder umfasst er meinen Hals und drückt mir die Luft ab, drückt immer weiter zu. »Ich werde dir schon beibringen, dass du das zu tun hast, was ich dir sage«, zischt er. Ich versuche erneut aufzustehen, doch da trifft mich wieder ein Schlag mitten ins Gesicht, anschließend spüre ich seine Hände von Neuem an meinem Hals. Schlagen, würgen. Schlagen, würgen. Wieder und wieder.

Heinz ist mehr als doppelt so alt wie ich, über 60. Aber er ist immer noch fit. Als er jung war, hat er eine Zeit lang geboxt. Daher weiß er, wie man trifft – und wo die Schläge besonders wehtun.

Irgendwann verschwimmt das Zimmer vor meinen Augen. Unser Zimmer. Ein Doppelbett steht drin, eine dunkelblaue Sitzgarnitur, ein großer Glastisch, der auf goldenen Füßen steht, ein großer schwarzer Kleiderschrank mit Spiegeltüren, ein Fenster aus Milchglas, das Tag und Nacht mit dunkelblau gemusterten Vorhängen verdeckt ist, ein paar schwarze Regale, alles voll von Plastikblumen – Heinz mag es kitschig. Was habe ich mich damals gefreut, als wir dieses Zimmer bezogen haben. Unsere erste eigene Wohnung.

Verschwommen sehe ich rechts von mir die braun gestrichene Eisentür, die in den Flur führt. Raus. Aber sie ist abgesperrt und den Schlüssel hat Heinz. Das fällt mir jetzt wieder ein. Und dass ich nochmal hoch in die Bar wollte. Weil ich noch jemanden gehört habe. So hat er mich abgerichtet. Wenn noch Kunden da sind, egal wie kaputt und müde ich bin, habe ich raufzugehen und Geld zu verdienen. Ist es das, was ihn aufregt? Dass ich nochmal nach oben wollte?

Der Abend hatte ganz normal angefangen. Ich habe oben in meinem »Büro«, eigentlich die Abstellkammer für Getränke, die Buchführung gemacht und schon mal mit drei Bier vorgeglüht. Eine Stunde, bevor wir offiziell aufmachen, bin ich nach vorne gegangen und habe alle Lichter angemacht. Dann habe ich Rosenstolz aufgelegt und mich mit einem weiteren Bier auf meinen Platz, den ersten Barhocker am Tresen, gesetzt. Ein fünftes Bier kam dazu. »Lachen, hast du mir gesagt, du musst lachen, komm steh wieder auf. Vergiss die Welt und lass die Augen zu, meine Hand ist bei dir …«, drang es im Obergeschoss durch alle Räume. Das ist unsere inoffizielle Hymne. So gut wie jeden Tag läuft Rosenstolz.

Fünf Frauen arbeiten hier wie ich als Prostituierte, ich animiere die Gäste an der Bar zum Trinken und mache Tabledance. Mir ist alles recht, solange ich nur nicht die Beine breit machen muss. 50 Prozent der Umsätze gehen an die Frauen und 50 Prozent an den Club. Dessen Chefin ich bin – allerdings nur auf dem Papier. Das hier ist das Reich von Heinz. Er ist der unbestrittene König.

In meinem »Büro« gibt es ein kleines kaputtes Fenster. Das Einzige im ganzen Haus, das nicht schwarz zugeklebt ist. Es hat mehrere Sprünge und hat von außen Moos in den Rissen angesetzt. Oben links kann man noch durchschauen und ein Stück vom Himmel sehen und die Kronen der großen Bäume, die hinter dem Club stehen. Heute sah ich, dass die Bäume Blätter bekommen haben. »Lachen, hast du mir gesagt, du musst lachen, komm steh wieder auf. Vergiss die Welt und lass die Augen zu, meine Hand ist bei dir …«, summte ich beim Rausschauen vor mich hin. Es war Frühjahr geworden. Ich war schon lange nicht mehr draußen.

Noch immer summend, machte ich mich auf nach vorne in die Bar und freute mich, dass gut zu tun war, ein paar Freier waren schon mit den Frauen auf den Zimmern. Dann ging die Tür auf und ein alter Bekannter kam grüßend herein. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht, bei uns heißt er nur »Bimpf«. Bimpf steuerte direkt auf mich zu und begrüßte mich, als hätten wir uns 100 Jahre nicht mehr gesehen. Die meisten Gäste brauchen erst einmal eine feste Anlaufstelle, um sich zu akklimatisieren, und diese Anlaufstelle bin ich. Ich kenne jeden Gast beim Namen, und sie spendieren mir etwas zum Trinken, damit sie sich in Ruhe umschauen können: Welche Frauen sind heute da? Ist eine Neue dabei? Mit welcher Frau gehe ich heute aufs Zimmer?

Wir bestellten eine Flasche Sekt und stießen auf einen schönen Abend an. Während Bimpf seine üblichen Witze riss, winkte ich Tereza herbei, und wir tranken zu dritt weiter. Auch Kristyna holte ich zu uns, und jetzt fühlte sich Bimpf so richtig wohl; umringt von drei hübschen Frauen war er nun der King am Tresen. Ich ließ die zweite Flasche Sekt kommen, wir lachten und feierten. Ich bestellte noch eine dritte Flasche Sekt und klinkte mich wieder aus. Bimpf war mit Kristyna und Tereza gut bedient und ich musste mich jetzt wieder um die neuen Gäste kümmern.

Die Nacht verlief normal. Noch ahnte ich nicht, was mich in den frühen Morgenstunden erwarten würde. Ich saß mal bei diesem, mal bei jenem Gast, und ehe ich michs versah, waren zehn weitere Bier dazugekommen. Ich vertrage wirklich viel, aber den ganzen Sekt und 15 Bier à 0,33 Liter merkte selbst ich. Es war noch nicht ganz fünf Uhr, und normalerweise darf ich die Bar erst verlassen, wenn der letzte Gast gegangen ist. Aber alle Gäste waren gut versorgt und daher verabschiedete ich mich aus der Bar. In diesem Zustand ist das Leben erträglich und ich wollte eigentlich nur noch schlafen. Ziemlich angetrunken, ging ich nach unten durch den Club, in unsere Wohnung.

Ich bin es gewöhnt, dass Heinz mich schlägt. Er hat mich schon so sehr geschlagen, dass ich weder laufen noch sitzen konnte, hat mein Gesicht malträtiert, sodass ich fast nichts mehr sehen konnte, weil meine Augen so zugeschwollen waren. Nicht nur einmal mussten mir die anderen Frauen beim Anziehen helfen und mich schminken. Doch selbst das dickste Make-up konnte diese schlimmen Verletzungen nicht übertünchen. Immer wieder war ich wochenlang grün und blau geprügelt und habe den Schmerz mit Alkohol betäubt.

Mit meiner rechten Hand kann ich nicht einmal mehr schreiben, seitdem mir Heinz den Daumen gleich dreimal gebrochen hat und ich lange nicht zum Arzt gehen durfte. Die Nase hat er mir ebenfalls schon ein paar Mal gebrochen, Rippen, Hüfte und Schädel waren des Öfteren geprellt, und von Schlägen mit Haselnussrute und Reitgerte war mein Körper lange mit dünnen Narben gezeichnet. Natürlich habe ich immer weitergearbeitet. Naiv wie ich war, habe ich anfangs noch gedacht, das sei geschäftsschädigend. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nie habe ich besser verdient als in solchen Zeiten. Die Freier stehen drauf. Je elender wir Frauen ausschauen, desto besser …

Hinterher tut es Heinz immer furchtbar leid. Er tröstet mich dann und verspricht, dass das nie mehr vorkommen wird. Dass er mich doch liebt. Dass ich die Einzige für ihn bin. Das sind die wenigen schönen Momente in meinem beschissenen Leben. Ich habe ja nichts außer ihm.

Jetzt ist es wieder mal so weit, er schlägt wie von Sinnen auf mich ein. Wie komme ich hier nur weg? Ich muss hier raus. Heinz macht mir schreckliche Angst. So wütend wie jetzt habe ich ihn noch nie gesehen. Sein ganzer Körper bebt vor Jähzorn, und sein Blick hat nichts Menschliches mehr – nur noch Hass. Eiskalter, unmenschlicher Hass. Der nächste Schlag trifft mich oberhalb des Kinns, meine Lippe platzt auf. Blut spritzt durchs Zimmer und mischt sich mit Heinz’ Speichelfetzen.

Oben in der Bar wird man die Schreierei nicht hören, die Musik ist zu laut. Vielleicht ist noch jemand unten im Club, auf einem der Zimmer, in die wir mit den Freiern gehen? Ich kann mich nicht erinnern, ob noch Gäste dort sind. Von den Frauen wird mir keine helfen, das weiß ich nur zu gut. Ich habe ihnen immer gesagt, dass sie sich raushalten sollen: »Das macht alles nur noch viel schlimmer für mich. Wenn ihr euch einmischt, bekomme ich das nur doppelt und dreifach ab. Der beruhigt sich schon wieder.« Aber was ist, wenn er heute nicht aufhört? Wenn er immer weitermacht?

Er macht weiter. Ich habe inzwischen jedes Zeitgefühl verloren. Hat es vor einer halben Stunde angefangen? Oder sind es schon zwei oder gar mehr Stunden? Heinz hat mich schon so oft geschlagen und anschließend vergewaltigt, um mir zu zeigen, dass es ihm völlig egal ist, was ich will. Er ist mein Master. Er darf sich alles mit mir erlauben. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, dass er es zu Ende bringt. Dass mein elendes Leben in diesem Bunker endlich vorbei ist. Aber heute, heute habe ich Angst, dass er mich wirklich umbringt.

Da ist ein Geräusch an der Tür. Kommt doch jemand nachschauen? Heinz lässt von mir ab, greift nach seinem Schlüsselbund und durchquert das Zimmer. Er verschwindet im kleinen Vorraum, öffnet die schwere orangefarbene Eisentür und geht hinaus. Ich denke ›Das ist die einzige Chance, die ich habe‹, renne los, reiße das Fenster auf und springe hinaus. Es ist ebenerdig, ich renne um mein Leben. Rum ums Gebäude und die Metalltreppe hinauf. Doch der Eingang zur Bar ist abgesperrt. Panisch hämmere ich mit beiden Fäusten an die Tür. »Lasst mich doch endlich rein!«, wimmere ich, und Verzweiflung steigt in mir auf. Was, wenn Heinz mich doch noch erwischt? Mit letzter Kraft hämmere ich immer weiter auf die Tür zur Bar ein.

Endlich! Die Tür geht auf, Zuzanna lässt mich rein. Ich muss schrecklich aussehen, mein Gesicht ist blutverschmiert, und ich habe ein Hämatom am linken Oberarm, das so groß ist wie eine Orange. Ein Gast sitzt noch an der Bar. Er hat sein Handy schon in der Hand, um die Polizei zu rufen. »Wenn du nicht anrufst, dann tun wir es«, sagt Zuzanna, und mir ist klar, dass ich die Situation nicht mehr schönreden kann. Ich bin es dann selbst, die die 110 wählt.

In diesem Moment weiß ich noch nicht, welche Folgen mein Anruf haben wird, welchen Stein ich damit lostreten werde. Nichts wird mehr so sein, wie es vorher war, alles, wofür ich gelebt und geschuftet habe. Heinz wird mich nie heiraten. Wir werden nie Kinder haben. Wir werden nie auf dem Reitstall leben, für den ich seit elf Jahren anschaffen gehe. Wir werden nie gemeinsam auf unseren Pferden und mit den Hunden ausreiten. Es war alles umsonst.

»Lachen, hast du mir gesagt, du musst lachen, komm steh wieder auf. Vergiss die Welt und lass die Augen zu, meine Hand ist bei dir …«. Diese Liedzeile dröhnt höhnisch in einer Endlosschleife in meinem blutig geschlagenen Kopf. Da taucht Heinz noch einmal auf. Er winkt die Frauen zu sich und sagt: »Glaubt ihr kein Wort, die redet nur Scheiße. Die ist doch total besoffen.« Er gibt den beiden mein Handy und meinen Schlüsselbund. Dann verschwindet er wieder. Mir ist in diesem Moment alles egal, ich bin einfach nur noch müde, so unendlich müde.

Vor ein paar Tagen habe ich Heinz noch eine SMS geschrieben:

Wenn ich einen Wunsch freihätte, dann den, dass du mich liebst.

Ich bin der einsamste Mensch der Welt. Heinz ist alles, was ich habe; der Club mit den Frauen ist meine Familie. Gedankenversunken sitze ich auf meinem Platz, mache mir noch ein Bier auf und warte auf die Polizei.

Die Polizisten geben sich keine große Mühe. Zu oft schon haben sie erlebt, dass ich am anderen Tag alles zurücknehme und für Heinz lüge – Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Mal bin ich besoffen die Treppe runtergefallen, mal mit dem Kopf gegen das Waschbecken gestoßen. Ich habe alle angelogen, und alle wussten, dass ich lüge. Die Polizisten nehmen kurz meine Aussage auf, machen ein paar Fotos, und dann holt mich schon der Krankenwagen ab. Im Klinikum wird meine Platzwunde genäht und ich werde wieder entlassen.

Als ich durch den Hauptausgang gehe, steht plötzlich meine Schwester Conny da! Sie ist Polizistin geworden, weil sie mich irgendwann da rausholen wollte. Und offensichtlich ist heute, am 9. April 2011, dieser Tag endlich gekommen, auch wenn ich das selbst noch nicht realisieren kann. Ich laufe, so gut ich kann, die Treppen hinunter und falle ihr weinend um den Hals. Conny hat auch Tränen in den Augen, als sie mich so sieht, zusammengeschlagen und völlig am Ende. Sie lächelt mich an, und ich weiß: Jetzt wird alles gut.

Conny fährt mit mir zum Club. Denn ich will unbedingt nach Hause, im Club fühle ich mich sicher. Der Club ist mein Zuhause, ich kenne kein anderes. Und Heinz wird so schnell nicht zurückkommen, nachdem die Polizei im Haus war. Im Auto erzähle ich Conny, was passiert ist. Ihr vertraue ich und ihr erzähle ich die Wahrheit. Meine kleine Schwester. Es tut so gut, dass sie an meiner Seite ist. Conny weiß, wie groß meine Angst ist und dass ich noch immer nicht den Mut aufbringe, mich gegen Heinz zu wehren. Aber Conny hat diesen Mut. Sie ist fest entschlossen und fährt zur Polizei. Sie setzt sich bei ihren Kollegen gegen all deren Vorbehalte durch und erstattet Anzeige gegen Heinz, wegen versuchter Tötung und schwerer Körperverletzung. Wenig später wird er zur Fahndung ausgeschrieben. Landesweit wird nach ihm und seinen drei Mercedes – alle von mir bezahlt – gesucht.

Ich begreife erst sehr viel später, dass an diesem 9. April 2011 mein Martyrium zu Ende geht. In der Zwischenzeit trauere ich um Heinz. Ich konnte mir lange ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.

2

Meine zweite Heimat

»Mach dir den Classic Boy fertig und geh mit ihm auf den Reitplatz«, ruft mir Heinz, mein Reitlehrer, zu. Das teuerste Pferd im Stall, eines, mit dem Heinz demnächst auf M-Springen gehen will! Ein wunderbarer Holsteiner Wallach – und ich darf ihn reiten und mit ihm trainieren. Mein Herz platzt beinahe vor Freude und Stolz, da werden die anderen aber neidisch sein. Normalerweise lässt Heinz niemanden an seinen neuen Superstar.

Seit vier Jahren sind meine Schwester Conny und ich auf dem Hof von Heinz und seiner Frau Sandra in der Nähe von Bamberg; 20 Minuten brauchen wir mit dem Rad von zu Hause dorthin. Die beiden haben uns nicht nur das Reiten beigebracht, sondern auch alles, was man sonst über Pferde wissen muss. Ich war zehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal hierherkam. Pferde sind seither meine große Liebe. Ich male Pferde, ich schlafe in Pferdebettwäsche, und es gibt keinen schöneren Ort auf der ganzen Welt für mich als diesen Reiterhof, am Waldrand mitten in Oberfranken. Im Hof liegt ein großer Misthaufen, die Pferdeboxen sind an den Seiten. Dahinter können wir direkt über die Felder in die Hügel und Täler der Umgebung reiten. Die Pferde lieben es, im Gelände unterwegs zu sein, und ich liebe es auch: Hier gibt es Wälder, in denen einem stundenlang kein Mensch begegnet.

Für die Sättel und das Zaumzeug gibt es einen Container und daneben unser »Reiterstübchen«. Dort spielt sich das Leben nach dem Reiten und der Arbeit ab: Drinnen haben wir es schön gemütlich mit einem großen Tisch und Stühlen sowie einer Theke. Im Winter läuft die Heizung hier auf Hochtouren. Die Wände im Stübchen sind voll mit unseren Schleifen, und es gibt ein ganzes Regal voller Pokale, die die Reiter vom Hof erkämpft haben.

Viele Erwachsenen meckern, es sei dreckig auf dem alten Bauernhof. Wir finden das nicht. Wir, das sind ein ganzer Haufen junger Mädchen und ein paar Jungs. Meine Schwester Conny ist mit zwölf fast die Jüngste. Wir alle sind verrückt nach Pferden, und wir alle himmeln Heinz an, den Chef des Reitstalls. Seine Frau finden wir alle etwas komisch; sie ist immer so eisig und total verschlossen. Ich habe sie noch nie von Herzen lachen gehört. Heinz ist da ganz anders. »Ich bin der schöne Heinz!«, so stellt er sich neuen Besuchern vor und grinst dabei über das ganze Gesicht. Er ist nicht einmal besonders groß, fast ein bisschen untersetzt, mit blonden, von grauen Fäden durchzogenen Locken. Ein echt cooler Typ. Meistens trägt er bequeme, ausgebeulte Jogginghosen und verwaschene T-Shirts oder Jeans und seine spitzen Cowboy-Stiefel. Er ist immer lustig und immer für den größten Unsinn zu haben. Für mich ist er einfach der tollste Mann, den ich kenne. Die Tiere gehorchen ihm aufs Wort, bei ihm werden die wildesten Vollblüter handzahm. Ich kenne niemanden, der besser mit Pferden umgehen kann als er.

Wir kommen natürlich nicht nur zum Reiten hierher. Wir misten die Ställe aus, füttern und tränken die Tiere, holen Hafer, Heuballen und das Stroh für sie aus dem Lager. Viele haben eigene Pferde hier stehen und alle packen mit an. »Das gehört alles zum Reiten dazu«, sagt Heinz immer wieder. Ich bin so froh, dass unsere Eltern uns das erlauben. Ich bin nirgendwo so glücklich wie hier. Auf dem Hof ist jeder Tag wie Ferien. Selbst im Winter, wenn es kalt ist und matschig, macht es noch Spaß.

Wir Reitschüler sind eine eingeschworene Gemeinschaft, fast schon eine große Familie. Isa und Tina, die Zwillingstöchter vom Chef, sind unsere Jüngsten, gerade fünf Jahre alt. Fast all unsere Freundinnen und Freunde sind hier auf dem Hof, und Conny und ich haben sogar ein eigenes Pferd: Madonna. Damals ist für uns ein riesengroßer Traum in Erfüllung gegangen. Pferde sind die besten Freunde, die man sich vorstellen kann. Sie sind warm und groß. Sie spüren, wenn du Trost brauchst, und sie haben die schönsten Augen der Welt. Die allerschönsten Augen hat natürlich unsere Madonna. Sie ist temperamentvoll und eigensinnig. Ich habe sie sehr lieb.

Der Springplatz vom Hof liegt direkt am Waldrand. In der Nähe gibt es mehrere kleine Seen, wo wir mit den Pferden schwimmen gehen können. Sie lieben es, im Wasser zu sein, besonders im Sommer. An den Wochenenden fahren wir oft zusammen auf Turniere. Heinz weiß genau, wer von uns auf welchem Pferd einen Preis holen kann. 100 Schleifen, das sind die Gewinnabzeichen, holen wir im Jahr zusammen. Die hängen wir dann im Reiterstübchen auf. Der Gewinner muss eine Runde spendieren.

Der Hof ist meine zweite Heimat, ja, fast schon die erste. Hier geht es immer locker zu, ganz anders als zu Hause. Wir dürfen sogar rauchen und manchmal auch was Alkoholisches trinken; Heinz hat immer einen versauten Witz auf Lager. Ich kenne keinen anderen Erwachsenen, der mit einem Bocksprung auf einen Haflinger steigt.

Anfangs kam meine Mutter auch noch mit zum Reitstall, wenn sie mit ihrer Arbeit zu Hause fertig war, trank dann einen Kaffee im Reiterstübchen und schaute uns zu. Mein Vater kommt fast nie hierher, er arbeitet ja eigentlich immer. Heinz hat immer Zeit für mich. Er tröstet mich, wenn ich wieder mal Krach mit meiner Mutter habe. Und das kommt ziemlich oft vor. Er gibt mir Tipps für die Schule. Einen wie ihn hätte ich so gerne als Vater. Mein Vater ist das genaue Gegenteil von Heinz. Immer ernst und gestresst, immer beschäftigt. Richtig schlimm ist es geworden, seitdem er sich als Rechtsanwalt selbstständig gemacht hat. Seine Kanzlei hat er bei uns zu Hause eingerichtet. Er ist immer da und meine Geschwister und ich haben alle Angst vor ihm. Er braucht ständig Ruhe zum Arbeiten, doch wir Kinder können einfach nicht immer ruhig sein. Ganz schlimm ist es, wenn er sich zur Mittagsruhe ins Schlafzimmer zurückzieht. Unsere Zimmer liegen daneben. Er schläft immer genau 20 Minuten, keine Minute länger, und wehe, wenn er gestört wird. Das ist die Zeit, in der wir Kinder am besten gar nicht atmen sollten. Beim kleinsten Geräusch kommt er aus seinem Schlafzimmer und dann setzt es Ohrfeigen.

Nach außen hin sind wir die perfekte Zuckerguss-Familie: Vater, Mutter und vier wohlgeratene Kinder – zwei Jungs, zwei Mädchen. Meine Mutter hat schon als junges Mädchen von einer großen Familie geträumt, fünf Kinder sollten es sogar werden. Am Anfang hat sie noch als Kindergärtnerin gearbeitet. Bis dann Conny und mein kleiner Bruder kamen. Ich bin das Sandwich-Kind: zwischen meinem großen Bruder und den Kleinen. Ich bin dabei, aber gehöre irgendwie nicht dazu.

Meiner Mutter kann ich nichts recht machen. Nie! Schreibe ich mal eine schlechte Note, ist das gleich ein Drama. Dann rennt sie mit mir zu den Lehrern und hängt der Vertrauenslehrerin in den Ohren. Jetzt will sie mit mir sogar zu einem Psychologen. Weil ich so viele Probleme mache, mich ritze und schlecht in der Schule geworden bin. Alles muss bei ihr perfekt sein. Aber ich bin kein perfekter Mensch. Heinz versteht das. Wenigstens einer, der mich versteht.

Mit 13 war ich magersüchtig. Ich bin da irgendwie reingerutscht. Es fing mit einer Klassenkameradin an, die als Muslimin regelmäßig gefastet hat. Nichts zu essen und zu trinken, ist ganz schön schwer, aber es hat mir gefallen, dass ich das geschafft habe. Es war mühsam, das Hungern tut am Anfang wirklich weh, aber irgendwann wirst du ganz euphorisch und fühlst dich gut dabei. Außerdem hatte mir jemand im Stall gesagt, ich würde langsam zu groß und zu schwer für Madonna. Sie hat ja so dünne Beine.

Groß war ich dann natürlich immer noch, aber nicht mehr so schwer. Irgendwann aber habe ich angefangen, zu fressen. Alles, was mir unter die Hände gekommen ist. Berge von Essen, notfalls auch ein ganzes Brot oder einen Topf kalter Nudeln. Egal was, Hauptsache viel. Und danach habe ich es wieder ausgekotzt. Und meine Mutter hatte noch einen Grund mehr, sich aufzuregen und zu schimpfen. Als ich diese Bulimie hatte, hat sie einmal mein Essen vor meinen Augen ins Klo geschmissen. Ich werde den Tag nie vergessen, als ich von der Schule nach Hause kam und meine Mutter durchs Fenster auf der Eckbank in der Küche gesehen habe. Vor ihr auf dem Tisch mein Teller mit dem Essen, die Kleinen hatten schon gegessen. Im Eingang kam sie mir dann mit meinem Teller entgegen und kippte das Essen schließlich ins Klo. Sie würde mir damit einen Weg ersparen.

So wurde der Reiterhof zu meinem eigentlichen Zuhause. Dort interessiert es niemanden, ob und was ich esse. Keiner schimpft, wenn ich mir die Arme ritze, weil ich irgendwie den Schmerz überdecken muss, der tief in mir frisst und immer tiefer in mir brennt. Heinz hat das alles verstanden. Für ihn ist meine Mutter eine böse Frau, die mir wehtun will, die sich gar keine Mühe gibt, mich zu verstehen. Heinz und die Pferde haben mich getröstet, so gut es ging.

Heinz macht gutes Geld mit Pferden, und er sieht sofort, ob ein Tier was taugt oder nicht. Ihm kann kein Pferdehändler etwas vormachen. Heinz kauft günstig ein und verkauft so teuer wie möglich. Fast 80 Pferde stehen beim ihm, eigene, teure Zuchtstuten und Springpferde wie der Classic Boy und viele Pensionspferde. 150 D-Mark bekommt er pro Pferd und Monat.

Und jetzt darf ich das tollste Pferd im Stall reiten! Ich striegele den Classic Boy, bis mir fast die Hand abfällt. Er soll glänzen, wenn wir auf den Reitplatz gehen. Hoffentlich sieht uns Madonna nicht, hoffentlich wird sie nicht eifersüchtig.

Auf dem Reitplatz sind wir allein. Die anderen sind mit den Pferden zum See geritten. Ich bin fast ein wenig enttäuscht, denn auch Heinz lässt sich nicht blicken. Die Stunde mit Classic Boy vergeht trotzdem wie im Flug. Er bewegt sich mustergültig, ein echter Champion. Ich bin gespannt, wie weit er kommen wird. Vielleicht darf ich ihn ja auch mal auf einem Turnier reiten. Auf dem Weg in den Stall kommen uns die anderen vom See entgegen. Sie staunen, dass ich das Superpferd reiten darf.

3

Die Verführung

Ein paar Tage später beginnen die Sommerferien, und dieses Mal fällt es mir noch schwerer als sonst, die Pferde und den Hof zu verlassen. Zwei Wochen ohne den Reiterhof und Heinz liegen vor mir. Bei dem Gedanken daran kommen mir die Tränen. Wir sind den ganzen Tag auf dem Hof und abends, nachdem die anderen und ich mit Heinz den Stall gemacht haben, setzen wir uns noch auf eine der Bänke vor dem Reiterstübchen und trinken Apfelkorn. Heinz und ich sitzen auf der einen Seite, die anderen uns gegenüber. Als wir schon ein paar Apfelkörner getrunken haben, kommt Heinz’ Hand zu mir herüber und fährt an meinem Oberschenkel auf und ab. Nach einer Weile gleitet seine Hand an meinem Hintern entlang. Irgendwann lässt er sie unter mein T-Shirt gleiten und streichelt meinen Rücken, ganz zärtlich. Mir läuft ein angenehmer Schauer durch den Körper. Ich fühle, wie 1000 Schmetterlinge in meinem Bauch herumfliegen. Es ist wunderschön, und ich wünschte, er würde niemals aufhören.

Leider geht dieser Abend viel zu schnell zu Ende. Heute ist der 28. August 1997. Der Tag, den ich in meinem Tagebuch mit roten Herzchen bemale. Ich glaube, ich habe mich in Heinz verliebt. Am nächsten Tag muss ich mit meiner Familie in den Urlaub fahren. Auf der Fahrt nach Italien weine ich ununterbrochen, weil ich immer an Heinz denken muss. Den ganzen Urlaub kann ich nur an ihn denken.

Zwei Wochen später bin ich endlich wieder auf dem Hof und froh, dass der Urlaub mit meiner Familie zu Ende ist. Heinz ist nett, freut sich, dass ich wieder da bin. Aber keine Berührung, nichts, wir sind keine Minute allein. Immer sind zu viele Leute da. Vielleicht war das ja auch nur ein einmaliger Ausrutscher, was vor dem Urlaub passiert ist? Vielleicht empfindet er gar nichts für mich? Vielleicht habe ich mir das alles nur eingebildet? Das Leben kann wirklich beschissen sein. Und zu Hause nervt meine Mutter: Ich soll vernünftig essen, ihr im Haus helfen, für die Schule lernen …

So ziehen sich die ersten Wochen nach den Sommerferien dahin. Irgendwann bin ich wie gewöhnlich auf dem Hof bei meiner süßen Madonna. Erst putze und striegele ich sie, dann reiten wir eine Runde. Am Abend gehe ich mit ein paar Leuten ins Reiterstübchen. Heinz ist auch da und schaut mich an – mein Herz macht einen Hüpfer. Wir quatschen endlich mal wieder miteinander über Pferde und trinken was. Erst Apfelkorn, dann Erdbeerlimes und zuletzt Pfläumli. Wir haben viel Spaß und trinken ziemlich viel durcheinander und werden immer ausgelassener. Heinz trinkt nur selten Alkohol. Er hat früher zu viel davon getrunken, hat er mal erzählt. Ab und zu macht er eine Ausnahme. Heute ist so ein Tag.

Dann gehen die Ersten. Gegen 21.30 Uhr fahren zwei zur Tankstelle, um Nachschub zu holen. Kaum sind alle weg, legt Heinz seine Hand auf meinen Oberschenkel. Er streichelt hin und her und dann gleitet seine Hand wieder an meinem Hintern entlang. Wir kichern albern, als seine Hand unter meine Bluse fährt. »Du hast ja gar kein Unterhemd an«, sagt er grinsend. Dann fragt er mich immer wieder, ob die zwei wirklich zur Tankstelle gefahren sind. Ob ich sicher bin? Ich nicke. Heinz fährt mit seiner Hand über meinen Bauch und immer höher bis zu meiner rechten Brust. Seine Hand schiebt sich unter meinen BH und liebkost meine Brust. Danach gleitet seine Hand zur linken Brust, auch die wird zärtlich umkost. Mein Herz klopft wild und zerspringt fast vor Glück.

Plötzlich zieht er seine Hand wieder zurück und fragt, ob die anderen wirklich unterwegs zur Tankstelle sind. Nicht, dass sie mit den Nasen von außen am Fenster kleben und uns zuschauen. Er ist richtig im Zwiespalt, ob er weitermachen kann oder nicht. Jetzt spüre ich seine Hand wieder auf meinem Rücken und danach in meine Hose gleiten. Nach einiger Zeit fährt sie um meinen Bauch und schiebt sich von vorne in meine Hose. Ein wunderschönes Gefühl. Eine ganze Armee von Schmetterlingen tobt wild durch meinen Bauch.

Doch auf einmal zieht er seine Hand wieder zurück und schlägt sich selbst auf die Finger. So als möchte er die Hand bestrafen, weil sie so frech ist. Dann stammelt er: »Ach Scheiße … warum …« Ich höre auf, sein Bein zu streicheln, und schaue ihm in die Augen. Er nimmt ganz sanft mein Gesicht in seine Hände und küsst mich. Ich küsse ihn auch, erst auf den Mund, dann auf seine Wange, und spüre, wie seine Bartstoppeln auf meinem Gesicht klitzekleine Stiche hinterlassen. Bis die anderen wiederkommen, streichelt er mich am ganzen Körper. Wir trinken noch bis kurz vor Mitternacht mit den anderen im Reiterstübchen. Heinz stupst mich immer wieder an, wenn die anderen abgelenkt sind, und streichelt mich. Seine Augen strahlen mich an.

Nachts sehe ich seine tollen Augen vor mir, spüre seine Hand auf meinem Körper. Ich könnte sterben vor Glück.

Am nächsten Abend schnappe ich mir mein Fahrrad und radle zum Hof. Es ist Ende September und ganz schön kalt. Heinz kommt zu mir rüber. Wir hocken auf der Laderampe und unterhalten uns. Reden über die Pferde, das Wetter. Er sagt kein Wort zu dem, was zwischen uns war. Zum Abschied klopft er mir auf den Rücken und sagt: »Mach’s gut, Alte.« Dann streichelt er mir noch kurz über die Oberschenkel und fragt, wann ich morgen komme.

Ich habe so viele Gefühle für ihn, ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht. Einerseits ist er wie ein Vater für mich, andererseits liebe ich ihn. Er ist so lieb!!! Warum ist das Leben nur so beschissen? Er ist verheiratet, älter als mein Vater und ich, ich bin ja viel zu jung für einen wie ihn. Das macht doch alles keinen Sinn. Was hat das Leben bloß vor mit mir? Das frage ich mich immer wieder.

Auf dem Hof geht das Leben weiter wie gewohnt. Heute fahre ich mit Heinz, seiner Frau Sandra und den Zwillingsmädchen zur Teufelshöhle, Fische füttern. Die beiden Kinder haben einen Heidenspaß. Solche Ausflüge haben wir früher öfter gemacht. Aber inzwischen weiß ich gar nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. Es darf ja niemand mitbekommen, was zwischen uns ist. Schon gar nicht seine Frau. Sie ist zum Glück nicht oft da oder muss tagsüber schlafen. Sandra arbeitet abends als Croupier in einer Spielbank und kommt erst morgens nach Hause. Dann muss sie sich ausruhen und abends fährt sie ja schon wieder zur Arbeit.