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»Schonungslose Gnade« ist die fesselnde Autobiografie von einem kleinen Jungen voller Schmerz, der zu einem brutalen Schläger und kriminellen Drogendealer voller Hass und Wut wird; von einem verloren Sohn, der ganz am Boden war, als Gott ihn aus dieser Finsternis riss und eine neue Berufung in sein Leben sprach - und er so zu einem Hoffnungsbringer für viele andere Verlorene und Arme wurde.
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Seitenzahl: 251
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SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Bischof Pastor Mick Fleming hat einen Abschluss im Fach Theologie von der University of Manchester und wurde im März 2019 von der Organisation des International Christian Church Network ordiniert. Er ist Pastor der Church on the Street in Burnley, einer christlichen Gemeinschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen zu helfen, insbesondere jenen, die obdachlos oder abhängig sind oder an der Armutsgrenze leben.
ISBN 978-3-7751-7642-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6207-4 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2024 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: [email protected]
Originally published in English under the title: Blown Away
Text by Mick Fleming. Published by SPCK Group, London, England.
Copyright © Mick Fleming 2022
This edition copyright © 2022 SPCK Group, London, England.
Übersetzung: Dagmar Schulzki, book-translation.de
Lektorat: Mirja Wagner, www.lektorat-punktlandung.de
Umschlaggestaltung: Stephan Schulze, Stuttgart
Titelbild und Autorenfoto: © Church on the Street
Bildteil: Fotos 1–11 © Mick Fleming (Das Familienalbum);
Fotos 12–16 © Phill Edwards, BBC
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Für Kathleen und Gordon
Vorwort
1 Das Trauma
2 Der Absturz
3 Eine neue Welt
4 Das Trio
5 Vater Jimmy
6 Die Erscheinung
7 Mad Mick
8 Hetzjagd
9 Der Abschied
10 Eine schicksalhafte Begegnung
11 Himmlischer Freund
12 Maßgeschneiderte Wunder
13 Der Neustart
14 Lockdown
15 Der Anruf
Weiterführende Informationen und Kontaktdaten
Es ist unmöglich, die Church on the Street zu besuchen, ohne tief bewegt zu sein. Diese Organisation hat es sich zum Ziel gesetzt, Menschen in Not zu helfen. Dieser außergewöhnliche Ort bietet vielen Menschen Zuflucht und Sicherheit. Allein die Möglichkeit, unsere Probleme mit anderen zu teilen und ehrlich zu uns selbst zu sein, hilft uns oft dabei, zu heilen und die Herausforderungen des Lebens zu meistern. Und wenn wir das tun, stellen wir fest, wie stark das Band ist, das uns alle verbindet.
Seine Königliche Hoheit, der Herzog von CambridgeJuli 2022
Summer ertönen, Türen öffnen sich. Eine dunkle Vorahnung breitet sich in mir aus. Polizisten links von mir, Polizisten rechts von mir.
Stimmen hallen in den Korridoren, die nach Desinfektionsmitteln riechen, wider. Ich habe das Gefühl, unsichtbar zu sein. Sie sprechen miteinander, als sei ich gar nicht da. Die letzte Tür wird geöffnet – und rein. Dieser Geruch, dieser Anblick. Eine Schwester mit perlweißen Zähnen und rubinroten Lippen lächelt und sagt: »Von hier an übernehme ich, meine Herren. Komm, Michael, du hast dein eigenes Zimmer. Aber die Tür wird immer offen stehen, und mach dir keine Sorgen, es wird jemand auf einem Stuhl davorsitzen.«
Ich werde in einen Raum geführt. Das Bettzeug passt zu den Vorhängen, ein Schrank, ein Nachtschrank. Eine Institution.
Die Gedanken in meinem Kopf drehen sich wie in einem Kaleidoskop, doch die Farben verblassen zu Grautönen, als ich mich frage: Wie hat es nur so weit kommen können? Wo ist nur meine rebellische Ader geblieben? Wo die Kampfeslust, die Entschlossenheit, die so tief in mir verankert war? Wie hatte ich mich von den Polizisten einfach hier hereinführen lassen können? Nur wenige Wochen zuvor hätten sie dazu nicht die geringste Chance gehabt!
Ich habe keine Kraft mehr, spüre nur noch Verzweiflung. Ich sinke auf das Bett und fühle mich wie gelähmt, während mich Angst überfällt. Meine Kehle wird rau und trocken, während ich darüber nachdenke, was passiert ist.
Warum? Wie? Und was? Die Erinnerungen kehren zurück und ich sehne mich danach, der Wahrheit zu entfliehen.
Aber hier bin ich, ein großer, kräftiger, gebrochener Mann auf dem Bett in einer psychiatrischen Klinik.
Es war ein heller, klarer Wintermorgen. Ich sprang die Treppe hinunter – wie üblich zu spät für die Schule. Meine Schwester drückte mir ein glänzendes Fünfzigcentstück in die Hand. Ich liebte sie. Sie war wie eine Mutter für mich. Sie umarmte mich fest und sagte: »Verlier es nicht!« Dann rannte ich aus dem Haus. Keine Chance mehr, den Bus zu bekommen. Aber ich hatte mein Geld sowieso schon immer lieber behalten, als es auszugeben.
Mein Schulweg glich einem Tanz – mal schlenderte ich, mal rannte oder hüpfte ich. Dabei zählte ich die Steinplatten auf dem Gehweg. Ein kleiner Junge mit Brille, sandfarbenem, lockigen Haar und Freude im Herzen.
Ich nahm eine Abkürzung, sprang über den kleinen Fluss, statt die Brücke zu überqueren, und lief durch den Park. Auf meinem Gesicht lag ein breites Lächeln. Das Leben war schön! Ich fühlte mich lebendig! Ich konnte riechen, ich konnte schmecken, ich konnte hören.
Plötzlich war es, als würde ein Schalter umgelegt. Ein Arm legte sich um meinen Hals, der Geschmack eines Wollpullovers war in meinem Mund und alles, was ich noch sehen konnte, war das Graffiti an der Mauer und eine Parkbank, von der die Farbe abblätterte. Ich war vollkommen verwirrt, fürchtete mich aber davor zu weinen. Mein Herz hämmerte so heftig, dass es fast zersprang. Der Geruch nach Schweiß, der sich mit Süße vermischte. Eine barsche Stimme und ein Schmerz, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte …
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Flasche. In den folgenden Jahren stellte ich mir immer wieder vor, wie ich sie mir schnappen und ihm über den Kopf ziehen würde! Aber ich tat es nicht. Ich hatte zu viel Angst.
Ich wurde auf den Boden geworfen. Meine Brille zerbrach, meine Knie bluteten. Ich war zum Opfer geworden.
Ich war vergewaltigt worden.
Seine Hand presste sich auf meine Kehle. »Wenn du irgendjemandem auch nur ein Wort davon sagst, bringe ich deine Eltern um! Hast du verstanden?«
Ich zog meine Hose wieder hoch, unfähig zu sprechen. Aber ich sah in sein Gesicht, sah ihm direkt in die Augen. Sein Anblick brannte sich für immer in mein Gedächtnis ein. Kein Lächeln. Schwarze Augen. Ein Hauch von Alkohol in seinem Atem. Ich würde dieses Gesicht nie vergessen.
Als ich davonstolperte, waren da keine Farben mehr. Ich konnte die Sonne nicht sehen. Ich konnte die Luft nicht mehr riechen und schmecken. Ich fühlte mich, als hätte jemand meinen Kopf in einen Eimer Wasser gedrückt. Ich saß in der Schule und nahm nichts von dem wahr, was um mich herum vorging.
Ich blutete. Ich hatte zu viel Angst, um auch nur den Mund aufzumachen.
»Fleming! Hör auf mit der Tagträumerei!«
Als der Lehrer mich ermahnte und die anderen Kinder darüber lachten, brachte ich kein Lächeln zustande. Ich konnte nichts sagen. Alles hatte sich verändert. Dunkelheit war über mich hereingebrochen. Und das war nicht meine Entscheidung gewesen.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich von der Schule nach Hause gekommen war. Aber eines weiß ich: Ich nahm nicht denselben Weg wie am Morgen.
Als ich an mir herunterblickte, sah ich Blut und eine Schürfwunde in meiner Handfläche – in Form des Fünfzigcentstücks, das meine Schwester mir am Morgen gegeben hatte. Ich musste es mit aller Kraft festgehalten haben. Später sollte ich mich daran erinnern, dass Jesus Löcher in seinen Händen gehabt hatte.
Nun hatte auch ich eines in der Hand. Doch darüber hinaus hatte ich ein Loch in meinem Herzen und dieses würde nicht innerhalb von drei Tagen heilen.
Zu Hause ging ich in mein Zimmer und legte mich auf mein Bett. Ich starrte an die Decke und auf das Muster der Tapete. Ich versuchte mich davon abzulenken, was ich fühlte. Das Licht, das durchs Fenster hereindrang, fiel auf meinen Kleiderschrank und warf einen Schatten an die Wand, der aussah wie ein Baum. Ich sehnte mich danach, etwas zu sehen, das normal und real war.
Aber meine Welt war komplett auf den Kopf gestellt.
Ich versuchte zu weinen, aber ich hatte keine Tränen. In meiner Magengrube hatte ich ein Gefühl, das vorher nicht da gewesen war. Vielleicht war es Angst, aber ich war mir nicht sicher. Ich dachte, dass ich mich heftiger hätte wehren sollen. Und dass ich mich selbst enttäuscht hatte.
Die Nacht brach herein. Die Straßenlaterne vor meinem Fenster schien hell durch meine Vorhänge. Normalerweise gefiel es mir, wie das Licht auf der Wand tanzte, aber in dieser Nacht sah es anders aus. Ich sah sein Gesicht in dem umherwandernden Licht. Ich hörte das Rascheln der Bäume, als der Wind hindurchblies, und ich hatte Angst. Seine Worte hallten in meinem Kopf wider. »Wenn du irgendjemandem auch nur ein Wort davon sagst, bringe ich deine Eltern um.« Als endlich die Tränen kamen, biss ich, so fest ich nur konnte, in mein Kissen. Ich schluchzte stundenlang. Aber niemand hörte mein Weinen. Niemand war da, um mich zu trösten. Ich war ganz allein.
Ein neuer Tag. Ich zog die Vorhänge auf und sah hinaus. Die Welt war grau. Nicht blau. Nicht hell. Ein Samstagmorgen. Ich stand am oberen Treppenabsatz. Unten lief der Fernseher, der Duft von gebratenem Speck zog durch das Haus.
Als ich hinunterkam, ging die Haustür auf. Mein Vater. Er stolperte herein, das Gesicht von Qual verzerrt. Seine Stimme brach vor Emotionen, als er die furchtbaren, grauenhaften Worte sagte, die im Haus widerhallten: »Deine Schwester ist tot!«
Entsetzte Stille. Dann ein Geräusch, das ich im Laufe der Jahre viele Male gehört hatte, ein Geräusch wie kein anderes in der Welt: der gellende, unmenschliche Aufschrei einer Mutter, die gerade ein Kind verloren hat. Ein Schrei voller Liebe und unsäglichem Schmerz. Er echote von den Wänden zurück und traf mich wie ein körperlicher Schlag. In diesem Moment wusste ich, dass ich nie über den vergangenen Tag würde sprechen können. Schluchzen und Wehklagen und Weinen, und dieser erwachsene Mann, mein Vater – mein Held –, löste sich in Tränen auf. Er beachtete mich nicht, während er seine Frau tröstete. Hier war kein Raum für mich.
Ich wandte mich ab und schleppte mich den langen Weg zurück die Treppe hinauf. Meine Beine waren schwer wie Blei.
Das Schlafzimmer von Mum und Dad. Und da lagen Mums Schmerztabletten. Die Tabletten, die sie nahm, um ihre Rückenschmerzen wenigstens so weit zu bekämpfen, dass sie leben konnte. Schnell! Ein Blister. Zurück in meinem Zimmer schluckte ich eine Handvoll Tabletten. Ich legte mich hin und eine große Ruhe überkam mich. Es fühlte sich an, als würde ich auf einer Wolke schweben, als hätten Engel mich in die Lüfte gehoben! Ich sah wieder Farben. Ich war in Sicherheit, mir war warm. Als ich dort so lag, schien es, als würde sich mein Bett an meinen Körper schmiegen, um mich zu trösten. Vielleicht hatte ich Gott gefunden! Ich trieb einfach weg. Da war kein Schmerz. Die Realität war wie weggewischt. Und darin fand ich Frieden.
Dann ein furchtbarer, furchtbarer Fall, als würde ich vom Himmel geworfen und hart auf meinem Bett landen. Ein brutaler Absturz. Das war kein Traum. Der Albtraum war real, und er fing gerade erst an …
An diesem Tag wurde ich drogenabhängig. Ich jagte dem Frieden nach – ich suchte etwas, irgendetwas, das mich aus der Realität und dem Schmerz darüber, wer ich war, herausholte.
»Gott, hilf mir«, schrie ich. »Wenn es dich gibt, dann hilf mir!«
Die Antwort kam sofort.
Stille.
Mein Gott war eine Droge – eine Tablette, Alkohol oder auch Klebstoff –, während ich die verschiedenen Stufen meiner Abhängigkeit durchlief. Der kleine Junge mit der Brille existierte nicht mehr. Das kleine Kind mit dem Fünfzigcentstück, das es so fest gehalten hatte, gab es nicht mehr. Ich sah auf das Loch in meiner Hand und spürte den Schmerz.
Aber ich hatte keine Angst mehr. Niemand würde mich je wieder verletzen.
Die Vorhänge im Wohnzimmer waren geschlossen. Es war sehr kalt, weil die Heizung abgestellt war, und uns wurde gesagt, dass wir nicht hineingehen sollten. Durch die Ornamentglastüren, die das Wohnzimmer vom Esszimmer trennten, sahen wir schwaches Licht.
Ein Klopfen an der Tür und sie brachten sie herein. Ann. Meine schöne Schwester in einer Kiste. Schemenhafte Figuren nahmen den Deckel ab und stellten ihn in eine Ecke.
Ich hatte immer noch keine Tränen. Ich sah meine Mutter an und entdeckte etwas in ihren Augen, das neu war. Sie wusste nicht, was sie denken, was sie sagen, wer sie sein – was sie sein sollte. Sie war wie betäubt. Mein Vater war völlig verwirrt, aber er eilte umher und versuchte, die Menschen zu trösten. Mir fiel auf, dass wir nicht so eng zusammensaßen wie sonst. Meine Schwestern waren da, aber sie grenzten sich voneinander ab. Eine saß auf dem Boden, eine auf dem Hocker, meine Mutter auf dem Sofa, mein Vater auf einem Stuhl. Zwischen uns allen war Abstand. Und dieser Abstand sollte uns für eine lange Zeit begleiten.
Mein Vater schob die Türen auf und ging ins Wohnzimmer. Er hatte ein paar Rosenkranzperlen in der Hand, beugte sich über den Sarg und sprach Worte, die ich nicht verstand. Als er herauskam, ging meine Mutter hinein. Und sagte nichts.
Dann kam sie zu mir und nahm mich bei der Hand. Zögerlich, aber neugierig folgte ich ihr. Ich sah in den Sarg … da lag meine Schwester, aber sie sah nicht aus wie meine Schwester. Ihr Gesicht war nicht mehr dasselbe.
Später sagte ich zu meinem Vater: »Das ist sie nicht.«
»Sie ist es, Sohn.« Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Sie ist es.«
Ich erinnere mich noch an die Ohrringe, die sie trug. Sie hingen golden glänzend herunter. Ihr Haar war nicht so, wie sie es immer getragen hatte. Ich wollte laut schreien! Ich wollte, dass wieder Leben in sie kam! Aber sie war nicht mehr da. Sie lag in diesem schönen Sarg, dessen Polsterung sich so weich anfühlte … Und auf dem Deckel ein Name und ein Datum in ein Messingschild eingraviert.
In mein Herz eingraviert.
An diesem Tag zerbrach etwas. Wir trauerten nicht zusammen als Familie – jeder schien seiner eigenen Wege zu gehen. Kurz danach lud mein Vater, der zu dieser Zeit ein guter Katholik war, die Menschen aus der Gemeinde ein. Sie gingen in diesen kalten Raum – Männer in Anzügen mit blank polierten Schuhen. Menschen, die ich nicht kannte und zuvor noch nie gesehen hatte, mit ernsten Gesichtern, gebeugten Köpfen und Rosenkränzen in der Hand. Sie stellten sich um den Sarg herum auf, stimmten einen seltsamen Singsang an und beteten zu einem Gott, der weit, weit weg war. Für mich hörte sich das nicht menschlich an. Es fühlte sich eher an, als wäre eine dämonische Macht in den Raum eingedrungen, die Leere verbreitete … Meine arme Mutter, die auf der anderen Seite der Glastüren saß, versuchte verzweifelt, die Fassung zu wahren, und wurde doch von Stunde zu Stunde verstörter. Neben sich zwei kleine Kinder, um die sie sich kümmern musste – und ich. Verloren.
Schließlich wurde mir der Lärm zu viel und ich ging nach oben in mein Schlafzimmer. Ich saß auf meinem Bett, während der Gesang immer intensiver und lauter wurde, bis er fast hypnotisch war. Ich hatte das Gefühl, nicht atmen zu können, Panik stieg in mir auf … ich hielt es nicht mehr aus. In dem Versuch, dieser furchtbaren Szenerie zu entkommen, knallte ich mehrmals meinen Kopf gegen die Wand, aber anstatt dass der Gesang endlich aufhörte, schwoll er immer noch weiter an.
Im Zimmer nebenan waren Tabletten. Ich ging hinein. Wieder eine Handvoll. Der gewünschte Effekt trat ein … ich legte mich hin und wartete auf die Wärme. Ich ließ mich davon einhüllen und trieb einfach davon …
Die Gebete und der Lärm wurden leiser, als ich mich nach und nach beruhigte. In meiner Vorstellung sah ich mich lächeln. Ich fühlte mich wunderbar. Ich sah auf die Glühlampe, deren Licht plötzlich die Farbe wechselte und das ganze Spektrum des Regenbogens durchlief! Ich verspürte große Freude, als ich schließlich in einen warmen, tiefen, angenehmen Schlaf fiel.
Ich schlief, bis eine meiner Schwestern in mein Zimmer kam und mich weckte. Eine der jüngeren.
»Du bist nicht tot, Mick, oder?«
»Nein, meine Liebe. Ich ruhe mich nur aus.«
Es war, als wüsste sie es. Sie wusste es. Als sie den Raum verließ, fragte ich mich, ob es vielleicht wirklich eine gute Idee wäre, wenn ich auch sterben würde … Wie würde ich das anstellen? Konnte man vielleicht wahren Frieden finden, indem man richtig viel Schmerzmittel nahm und sich dann einfach schlafen legte? Alles war besser als dieser Schmerz.
Aber etwas in mir wollte einfach nicht mitmachen.
Ich versuchte, mir die Tabletten möglichst gut einzuteilen. Ich wusste, dass man mich am Ende erwischen würde. Dennoch hoffte ich, dass meine Mutter einfach glauben würde, sie hätte sie verloren, weil sie gerade nicht wirklich darauf achtete. Manipulation und Täuschung – eine Kunst, die ich bald bestens beherrschte.
Der Gesang hatte aufgehört und die ernst dreinblickenden Männer mit den Anzügen und glänzenden Schuhen waren gegangen. Ich ging hinunter und fand meinen Vater und meinen Onkel, die neben dem Sarg saßen. Sie tranken Jamesons Irish Whisky, als wären wir traditionelle Iren. Dad bot mir auch ein Glas an, und während er es mir einschenkte, sagte mein Onkel: »Nimm einen Schluck, Junge. Mische nichts hinein. Trink ihn pur.« Ich hob das Glas an die Lippen. Mein Körper schüttelte sich ein wenig. Und es schmeckte … widerlich! Es schmeckte furchtbar! Aber auf dem Weg in meinen Magen linderte es das schmerzhafte Gefühl in meiner Kehle. Und ich konnte die Wärme spüren.
An diesem Abend lernte ich, meinen Schmerz mit Alkohol zu betäuben. Das sollte mein Leben für die nächsten dreißig Jahre auf übelste Weise prägen.
Das schwarze Auto fuhr vor. Menschen säumten die Straße. Die Männer nahmen ihren Hut ab, als wir vorbeifuhren. Und im Inneren des Autos der wunderbare Geruch der cremefarbenen Lederausstattung, das Gefühl der Mahagoniverkleidung unter meinen Fingern … Ich sog alles, wirklich alles auf, was mich von der Realität des aktuellen Geschehens ablenkte.
Eine weitere Menschenmenge, als wir die Kirche betraten und in den Gang hinter dem Sarg entlanggingen. Wir standen im Zentrum der Aufmerksamkeit, die ganze Gemeinde blickte uns an, als wären wir … Fernsehstars! Ich hasste es. Ich wandte meinen Blick ab und schaute hinauf zu der hohen Decke mit ihren seltsamen Symbolen. Ich sah auf den Priester, der in seinem feinen, farbenfrohen Gewand vor etwas stand, das aussah wie ein kleines Haus – ein Tabernakel –, und den Gottesdienst abhielt. Er sprach über meine Schwester, obwohl er sie gar nicht gekannt hatte. Jemand las einen kurzen Text aus der Bibel vor, den keiner von uns verstand. Und dann sangen sie ein Lied: »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Fürchte dich nicht!« Ich sah mich um. Den Menschen liefen die Tränen über die Wangen. Ich weinte nicht. Ich hatte keine Tränen mehr.
Ich sah den Priester an und hätte ihn am liebsten angespuckt. Ein Blick auf meine Mutter und meinen Vater rief nichts als Verachtung in mir hervor. Ich hasste jeden einzelnen Menschen in dieser vollgestopften Kirche. Die Kraft dieses Gefühls war enorm. In diesem Moment begriff ich, dass Drogen, Alkohol und Hass bereits zu engen Freunden von mir geworden waren. An den Tagen, an denen ich keinen Alkohol oder irgendwelche Drogen zu mir nahm, war ich immer voller Zorn, und dieser spendete mir Trost.
Später standen wir am Grab und sahen zu, wie sie meine Schwester in der Kiste in ein Loch im Boden hinabließen. Die Menschen warfen Erde hinein, weinten und seufzten, während ich in meinen Gedanken wild um mich schlug und trat …
Ich verließ den Friedhof als ein anderer Mensch. Meine Trauer war vorüber. Der kleine Junge war mit seiner Schwester begraben worden, und ich traf eine Entscheidung: Ich würde zerstören und verwüsten. Ich würde Amok laufen. Ich würde mein Leben der bösen Seite übergeben. Als wir in dem Auto nach Hause fuhren, lächelte ich.
Zu Hause. Ich rannte nach oben, um mir die grässlichen Kleider samt Krawatte vom Leib zu reißen. Sie erinnerten mich an die vergangene Woche, die ich hatte durchleben müssen und die ich zutiefst gehasst hatte. Es war nichts Sanftes mehr in mir. Ich drehte mich zum Spiegel und sah mein Gesicht. Und als ich diesmal lächelte, war etwas anders … plötzlich ähnelte ich dem Mann, der mich verletzt hatte. Meine Augen waren schwarz und ich fing an zu lachen. »Ha, ha, ha, ha, ha!«
Wenn du weiterliest, wirst du einer Geschichte voller Bosheit, Frustration und Täuschung begegnen … und einem Absturz – einem Absturz, der so tief war, dass ich in dieser psychiatrischen Klinik landete und mich fragte, warum und wie es dazu gekommen war. Doch für den Moment hatte ich eine Mission. Und meine Mission war es, zu zerstören und zu nehmen.
In den nächsten Wochen übte ich mich darin, aus den Taschen einer Jacke, die ich über einen Stuhl in meinem Schlafzimmer gehängt hatte, einen Geldbeutel zu stehlen. Ich dachte darüber nach, wie ich in einem Laden etwas mitgehen lassen konnte. Ich würde hineingehen und die Sekunden zählen, die der Ladenbesitzer brauchte, um nach vorn zu kommen. Dementsprechend würde ich mir einen Plan zurechtlegen, ihn ausarbeiten und ihn dann ausführen. Niemand wusste davon. Ich hatte eine Geheimwaffe, die mir große Kraft verlieh: Ich war gut darin, schlecht zu sein. Als ich dreizehn Jahre alt war, besaß ich viel Geld. Ich kaufte Geschenke für meine Freunde, erzählte aber nie jemandem, wie ich das Geld dafür beschafft hatte. Es war mein Geheimnis.
Rückblickend ist mir klar, dass ich irgendwann im Lauf der zwölf Monate nach dem Tod meiner Schwester in eine Fantasiewelt abgetaucht war. Mein Verstand hatte etwas erschaffen, das nicht real war. Ich weiß noch, wie ich Der Pate im Fernsehen sah und fasziniert von diesem Film war. Ich wusste, dass auch ich in der Lage war, andere zu verletzen.
Meine erste Gewalttat beging ich direkt vor den Toren der Schule. Der andere Junge war größer und älter als ich und fing an, mich zu schubsen und zu stoßen. Aber ich hatte etwas, das er nicht hatte. Ich hatte einen Geist des Todes tief in mir. Ich spürte, wie er aus meiner Magengrube in meine Arme und Fäuste strömte, und dann waren da nur noch Schwärze und Finsternis, während ich immer schneller auf ihn einschlug. Irgendwann war ich voller Blut. Aber es war nicht meines. Leute zogen mich weg, Mädchen riefen: »Hör auf, Mick! Hör auf! Hör auf! Das ist genug!«
Aber es war nicht genug. Es war nie genug für mich. Er würde nicht wieder aufstehen. Als ich ihm ins Gesicht trat, drehten sich die Menschen weg. Die Rufe, mit denen sie mich zum Kampf angefeuert hatten, waren längst verstummt. Ich war zu weit gegangen. Aber ich liebte es. Meine Nackenhaare sträubten sich. Ich liebte es! Es war wie eine Droge – es gab mir das Gefühl, unantastbar zu sein. Ich leckte an meinen Händen, schmeckte das Blut und mir war, als hätte ich einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Nichts würde mir jetzt noch etwas anhaben können. Nichts würde mich jemals stoppen.
Die Menschen wurden auf mich aufmerksam. Ich trat in ein neues Leben ein. Eine neue Welt. Ein neuer Anfang.
Die Schwester mit den rubinroten Lippen streckte ihren Kopf zur Tür herein.
»Komm, Mick! Ich zeige dir, wo du Tee und Kaffee findest. Du kannst dich selbst bedienen.«
Ich folgte ihr, und mir fiel auf, dass sie sehr attraktiv war. Sie lächelte, sie strahlte Empathie aus und sie mochte mich, obwohl es keine sexuellen Gefühle zwischen uns gab. Was für eine dumme Frau du doch bist, dachte ich. Wenn du mir zu nahe kommst, werde ich dich fertigmachen.
Sie zeigte mir, wo der Wasserkocher für Tee und Kaffee stand – ich konnte mir jederzeit eine Tasse aufbrühen, wenn ich wollte. Nachdem sie mich an dem Tresen allein gelassen hatte, sah ich mich um. An verschiedenen Tischen saßen Menschen, ruhig und zurückgezogen, mit hängendem Kopf – Menschen, die krank waren. Aber so war ich nicht, oder? Ich war keiner von ihnen.
Wir befanden uns im dritten Stock, und durch das Fenster konnte ich über die Stadt hinwegsehen. Das war meine Welt dort draußen. Aber ich war hier drin.
Während ich mir einen Kaffee machte, kehrte mein rebellischer Zug zurück – ich spürte regelrecht, wie er in mir aufstieg. Meine Finger begannen zu kribbeln, mein Verstand raste. Das Gefühl in meinem Magen war unbestimmt, aber schön! Voller Erwartung, als würde gleich etwas passieren. Mein Blick fiel auf die grünen Tütchen mit Kaffeepulver. Niemand sah in meine Richtung. Ich nahm mir eine Handvoll davon aus dem Glas, stopfte sie in meine Tasche und trat den Rückzug an. Zurück in mein Zimmer.
Mir war ein Gedanke gekommen. Ich riss die Kaffeetütchen auf und schüttete ihren Inhalt auf meinen Nachttisch. Dann fischte ich in meiner Brieftasche nach einer Karte, um die kleinen Bröckchen zu zerstoßen, und schob das Pulver wie Kokain in Linien. Ich nahm meine letzte Fünf-Pfund-Note und rollte sie zusammen. Meine Aufregung wuchs, ich spürte das Adrenalin in meinem Magen. Ich war zurück! Ich erhob mich über all die Probleme, all die Dinge, die mich heruntergezogen hatten. Ich konnte noch mal ganz von vorn anfangen. Ich fühlte mich erfrischt, wie neu.
Meine Hände zitterten und ein kleiner Schweißtropfen fiel auf den Nachttisch, als ich die Pfundnote an meine Nase führte und schniefte. Eine Linie. Das andere Nasenloch. Eine weitere Linie. Dann einen Moment Pause … und ja! Ich war mir sicher, dass ich etwas spürte … ganz sicher! Und gerade als ich mich wieder hinunterbeugte, um die dritte Linie zu schniefen, kamen rubinrote Lippen in den Raum.
Ihre sanften, braunen Augen sahen mich an wie eine Mutter ein unartiges Kind. »Mick, was tust du da?«
»Ich brauche einfach etwas, das mich hier herausholt. Ich brauche Drogen – du gibst mir ja nichts!«
»Mick, das ist koffeinfreier Kaffee!«
Ihre rubinroten Lippen kräuselten sich und auch ich lächelte zum ersten Mal. Wir lachten zusammen.
»Wirf das weg, Mick. Es ist zum Trinken, nicht, um es sich durch die Nase zu ziehen.«
An diesem Morgen verlor ich etwas. Dieser mächtige Mann, der immer eine so hohe Meinung von sich gehabt hatte, saß in einer psychiatrischen Klinik auf einem Bett, zog sich entkoffeinierten Kaffee durch die Nase und glaubte, er hätte es noch drauf. Langsam drang die Realität, wo ich mich befand und was aus mir geworden war, in mein Bewusstsein. Ich hatte Angst. Und wenn ich Angst verspüre, werde ich gefährlich.
Ich ging aus dem Zimmer und sah mich um. Ja, dachte ich, ich könnte es hier mit jedem aufnehmen. Ich checkte das Personal – ja, auch mit ihnen. Aber ich fühlte mich unwohl. Beim Mittagessen stahl ich ein Messer und versteckte es unter meinem Bett. Es war ein Buttermesser. In diesem Moment dachte ich nicht daran, dass ich ja keine Möglichkeit hatte, es zu schärfen. Man kann andere Menschen definitiv nicht zu Tode buttern! Deshalb war diese Aktion völlig sinnlos. Außerdem fanden sie es sowieso, als sie mein Zimmer durchsuchten.
Diese Episode bestätigte nicht nur die Tatsache, dass ich krank war, sondern auch eine Bedrohung darstellte. Nachdem ich jahrelang Waffen getragen hatte, fühlte ich mich nackt, wenn ich nicht ein Messer, eine Pistole oder irgendetwas dergleichen bei mir hatte. In einem Augenblick des Irrsinns brach ich eine Kreditkarte in zwei Hälften und schärfte die Bruchkanten, wann immer ich konnte. Ich versteckte sie in meiner Socke. Wenn es nötig sein sollte, würde ich jemandem damit eine Schnittwunde verpassen können. Dadurch fühlte ich mich sicherer. Schließlich war ich hier unter Menschen, die nicht ganz richtig im Kopf waren. Im Gegensatz zu mir …
»Zeit für deine Medizin.«
Das dürfte interessant werden! Welche Köstlichkeiten hatten sie wohl im Angebot? Ich mochte die verschiedenfarbigen Pillen und Säfte, die sie verteilten. Und natürlich bekam ich einen Schluck von einer grünen Flüssigkeit. Ich konnte es kaum erwarten … Ich legte mich auf mein Bett und die Welt versank wieder einmal im Nebel. Ich schlüpfte aus meinem Körper, ließ mich hoch oben auf den Wolken treiben und stellte mir vor, wie ich in einen Regenbogen eingehüllt und getröstet wurde, mich frei fühlte … Diese wunderbare Ruhe fühlte sich fast an, als würde ich in reiner Liebe baden. Aber es war nicht real. Ich wusste, dass ich am nächsten Morgen aufwachen würde und mich der Welt stellen musste, wie sie wirklich war.
Ich bekam die perlweißen Zähne und die rubinroten Lippen nicht aus dem Kopf. Es war kein sexuelles Interesse, ihre Augen hatten einfach etwas Besonderes. Sie war eine Frau, die sich wirklich um andere sorgte. Aber warum sollte sie sich um jemanden wie mich sorgen? Ich war verwirrt, als ich in einen tiefen Schlaf hinüberglitt. Morgen war auch noch ein Tag, um über mein Leben nachzudenken. Ein weiterer Tag in einer psychiatrischen Klinik mit Menschen, die, wie mir langsam klar wurde, genauso waren wie ich.
Verloren.
Ich saß allein mit einer Tasse Kaffee auf der Station. Um mich herum waren überall Menschen, aber mein Verhalten schüchterte sie ein. Ich war so neidisch auf die Patienten, die Besuch bekamen. Niemand war gekommen, um mich zu sehen. Ich hatte alle Brücken abgebrochen – die zu meinen Kindern, zu meiner Frau, zu meinem Vater und meinen Schwestern und sogar zu meinen Freunden. Dann sah ich in einer Ecke einen seltsam aussehenden älteren Herrn. Er war so ein Lächler. Er schien nicht eingeschüchtert zu sein. Er war sehr klein, ich hätte ihn mit einer Hand zerquetschen können. Aber er fürchtete sich nicht.
Als er zu mir herüberschlurfte, sah ich, dass die Schnürsenkel seiner braunen Schuhe perfekt gebunden waren, beide auf exakt dieselbe Weise. Sehr smart. Er trug eine Anzughose und ein Sakko. Alte Schule.
»Wie heißt du?«
»Mick. Wenn das eine Rolle spielt.«
»Nun, das spielt sicher eine Rolle, junger Mann, es spielt sicher eine Rolle. Ich bin Arthur.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Arthur. Ich habe nichts zu sagen, Arthur, wirklich nicht.«
»Kann ich mit dir reden?«
»Kannst du, Arthur. Wenn du musst.«
Arthur war die Art von Mensch, die ich nie verstanden hatte. Er verbrachte seine freie Zeit damit, in Krankenhäuser zu gehen und mit Menschen zu sprechen, die keinen Besuch bekamen: den Traurigen, den Einsamen. Mit denen, die das Leben aufgegeben hatte.
Ja, es schien, als sei Arthur gekommen, um Menschen wie mich zu treffen. Das fühlte sich nicht besonders gut an.
Er griff mit der Hand in seine Tasche, und du wirst nicht glauben, was er zutage förderte: eine Tüte Toffees.
Meine Güte!