Schotten dicht - Reiner Luyken - E-Book

Schotten dicht E-Book

Reiner Luyken

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Beschreibung

ZEIT-Korrespondent Reiner Luyken lebt mit seiner Frau Sheileagh am geographischen Rand Europas: auf einer abgelegenen Halbinsel im hohen Norden Schottlands. Ihr Dorf namens Achiltibuie zählt 300 Einwohner. Ihre Nachbarn, die MacLennans, haben vier Töchter und 600 Schafe. Granny Muir, über achtzig Jahre alt und zwei Schlaganfälle hinter sich, beobachtet mit ihrem Fernglas Meer und Dorf. Wenn Reiner Luyken sich eine Flasche Whisky kauft, erfährt es seine Frau, noch bevor er bei dem Freund eingetroffen ist, mit dem er sie trinken möchte. Ein unterhaltsamer Streifzug durch das schottische Hochland.

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Achiltibuie mit Free Church

Das Buch

Seit beinahe vierzig Jahren lebt Reiner Luyken in Schottland. Sein winziges Dorf Achiltibuie ist in vielerlei Hinsicht typisch für das Land: Die Einwohner trinken gerne Whisky und einen giftorangenen Saft namens Irn-Bru, der angeblich aus Eisenträgern hergestellt wird. Beste Freunde werden in ihrer Abwesenheit schon mal wohlwollend als Vollarsch bezeichnet. Wer sich der ausgefeilten Wink-Etikette verweigert, fällt schnell in Ungnade. Und die Familie geht über alles, weswegen seine Frau Sheileagh auch heute noch niemandem mit dem Namen Campbell über den Weg traut. Reiner Luyken unternimmt unterhaltsame Streifzüge durch Schottlands historische, politische und kulturelle Landschaft. Ein humor- und liebevoller Blick auf schottische Marotten.

Der Autor

Reiner Luyken, geboren 1951 in Starnberg, schreibt als Auslandskorrespondent für DIE ZEIT. Nach einer Lehre als Cembalo- und Orgelbauer arbeitete er als Zimmerer und Fernfahrer. 1978 wanderte er nach Schottland aus, wo er sich als Lachs- und Langustenfischer verdingte. Für seine Reportagen wurde er mehrfach ausgezeichnet.

REINER LUYKEN

SCHOTTEN

DICHT

Nachrichten

aus Schottland und Achiltibuie

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage August 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-8437-1108-1

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Oh meine Distel, tapfre schottische Distel!

Die Blume, die der stolze Adler grüßt aus der Höh’,

Wenn seine Schwingen die Sterne decken.

Oh meine Distel, tapfre schottische Distel!

Die Blume, die lachend dem Sturme trotzt,

in dessen wütender Wucht sie ergrünt.

Rüstige Herzen, bluten werden wir in deinem Namen,

Oh Distel, meine tapfre schottische Distel!

Nach Alexander MacLagan, 1811–1879

Inhaltsverzeichnis

Das irdische Paradies

Frühzeit

Der Clan der Fraser

Modernes Leben

Dudelsäcke

Eine kleine Dorfsoziologie

Haben und Nichthaben

Schotten dicht

Neil MacKenzie

Die Straße über die Berge

Das irdische Paradies

Der Sturm peitscht graue Wolkenberge über den Himmel. Böen reißen die Gischt von Wellenkämmen, sie zerren Seeschaum über die winterbraune Heide. Im Rückspiegel meines achtzehn Jahre alten und dementsprechend zerbeulten Pick-up entdecke ich Ali Post in seinem mit einer königlichen Krone verzierten roten Lieferauto. Mit vollem Namen heißt er Alistair MacLeod, aber er wird Ali Post genannt, weil er die Post bringt. So wie Phil unter dem Zweitnamen »die Tonne« firmiert, nicht, weil er dick wie eine Tonne wäre, was er nicht ist, sondern weil er einmal bei der Müllabfuhr arbeitete, so wie unser Nachbar Kenny unter dem Namen »Ken the Bread« läuft, weil er als junger Mann gerne Nachbarn besuchte, wenn die Suppe aufgetischt wurde. Unser örtliches Telefonbuch ist ziemlich nutzlos, mit Nachnamen heißen die meisten Bewohner Achiltibuies MacLeod oder MacKenzie, und die Vornamen beschränken sich im Wesentlichen auf Alistair, Murdo und Kenny. Eigentlich bräuchten wir ein Telefonbuch mit Spitznamen. Da fände man dann unter B neben »Bin« für Tonne und »Bread« die Eintragungen »Babba«, »Boglie«, »Boisie« und »Bollocks« sowie unter P Nummern für »Pest« und »Post«.

Auf seiner durch mehrere Teepausen und endlose Schwätze gestreckten, achtstündigen Runde verteilt Ali Post Briefe an sage und schreibe achtzig Adressen in den fünf Weilern unserer Halbinsel. Heute steuert er zur falschen Zeit in die falsche Richtung. Ich bugsiere mein Gefährt in eine Ausweichbucht, um ihn vorbeizulassen. Er winkt mir fröhlich zu, wie Postbote Pat in Greendale. Das ist ungewöhnlich. Normalerweise blickt er eher bärbeißig drein. Aber heute ist der letzte Tag des Jahres. Da gelten andere Regeln.

Eigentlich wollte ich ihn immer schon mal fragen, wie er sich in seinem mit dem Emblem des großbritischen Reichs geschmückten Gefährt fühlt. Ich habe es mich nie getraut. Er ist eingeschworener schottischer Nationalist. Andererseits ist die Royal Mail eine dem Königshaus in ihrer Beständigkeit gleichwertige und an universaler Respektbezeugung sogar überlegene Institution. Als Postbote zehrt Ali davon. Er ist gewissermaßen die Säule, auf der das Wohl unserer Gemeinde ruht. Er sitzt seit Menschengedenken dem Gemeinderat vor, und er wird auch so lange Vorsitzender bleiben, bis er aus freien Stücken zurücktritt. Ihm mit einer schwierigen Frage auf den Leib zu rücken, wäre fast so schlimm, wie der Queen ein faules Ei an den Kopf zu werfen. Vermutlich denkt er nach den vielen Jahren, die er seinen kronengeschmückten Dienstwagen über unsere Halbinsel chauffiert, gar nicht mehr darüber nach. Vielleicht ist er insgeheim sogar stolz auf das Emblem. Viel schlimmer wäre es, wenn er auf einmal kein kleines rotes Auto mit dem feudalen Wappen mehr hätte, sondern ein von Thrifty Car Hire ausgeliehenes, charakterloses Nullachtfünfzehngefährt. Anderswo sieht man das schon. So viel hat sich anderswo schon geändert. Wer weiß, wann es auch unserem Postboten an den Kragen geht.

Achiltibuie ist ein glücklicher Ort, eine glückliche kleine Gemeinde. Jeder versteht sich mit jedem. Alle verfolgen einen gemeinsamen Lebenszweck. Es gibt keine Hast und keine Hetze. Die Menschen haben Zeit füreinander. Sie erzählen sich lustige Geschichten. Sie treffen sich zu Cèilidhs und entlocken ihren Harfen und Violinen in gemeinsamer Anstrengung zugegebenermaßen oft kratzige, aber von Herzen kommende Weisen. Wenn Not am Mann ist, helfen sie einander. Jeder unterstützt jeden. Früher bekriegten sich die Clans, heute ziehen sie alle an einem Strang. Die Gemeinde ist eine irdische Verwirklichung des alten Menschheitstraums ewigen Friedens.

Deshalb ist Achiltibuie natürlich ein sehr langweiliger Ort. Wenn alle Menschen zufrieden sind, geht ihnen die Kurzweil aus. Denn besteht unser Lebenszweck nicht darin, dass unsere Nachbarn sich über uns lustig machen, und wir unsererseits unsere Nachbarn verspotten? Oder ist diese von Vater Bennet in Jane Austens Roman Stolz und Vorurteil geäußerte Einsicht zu bissig, zu »englisch«? Eine aufrechte Bürgerin von Achiltibuie wies sie entrüstet von sich, als meine traute Frau ihr diese Weisheit einmal ans Herz legte.

Achiltibuie ist von Grund auf schottisch. Ist nicht ganz Schottland ein glückliches Land, ein gesegneter Flecken auf dieser Erde? In gewisser Hinsicht ist Achiltibuie sogar noch schottischer als Schottland. In diesem kleinen, abgelegenen Ort wohnt die Seele der Nation. Jeder, der hier wohnt, weiß, wovon ich rede. Sogar viele Besucher, die dem Dorf in von patriotischen Herzgefühlen beschwingter Laune ihre touristische Aufwartung machen, hegen keinen Zweifel an dieser Sonderstellung.

Aber da Achiltibuie nun einmal eine derart glückliche und deshalb wenig kurzweilige Gemeinde ist, müssen wir die Seiten dieses Buches mit Erfundenem füllen. Manche Vorkommnisse sind wahr, andere sind halb wahr, aber die meisten entspringen meiner Einbildung. Die Erzählung schöpft aus einem Fundus an Fantasie und Übertreibung. Zwar hätte die Wirklichkeit sich genauso abspielen können, wie sie dargestellt ist. Aber alles hätte auch ganz anders kommen können. Wer weiß das schon?

Manche Personen sind völlig frei erfunden, andere ähneln lebenden Charakteren. Das hat mit dem Inhalt dieses Buches zu tun. Es geht um die Schotten ganz allgemein, und wie jedes Volk haben Schotten Macken und Flausen, die im Individuum ihren Ausdruck finden. Ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob der Erzähler real oder fiktiv ist. Vermutlich ist er mein Alter Ego, ein zweites Ich. Dieses Ich könnte man als einen etwas naiven Spross einer Generation beschreiben, der sich im deutschen Schicksalsjahr 1968 zum Entsetzen seiner Eltern das Haar lang wachsen ließ, an Schulungen der Marxistischen Gruppe München teilnahm und, anstatt zu studieren, in den Stand der Arbeiterklasse überwechselte und an die internationale oder zumindest europäische Bruderschaft der Menschen glaubte, in der nichts den Schotten vom Deutschen und den Gälen vom Bayern unterschied. Man könnte dieses Ich auch als einen Hans Castorp des ausgehenden 20. Jahrhunderts beschreiben, der seinen Zauberberg nicht in den Schweizer Alpen, sondern seit seinem persönlichen Schicksalsjahr 1978 im schottischen Hochland sucht. Ein mittelmäßig begabter Mensch klassisch-bürgerlicher Bildung also, hin- und hergerissen zwischen humanistischen Idealen und radikaler Ideologie.

Wie jede Erzählung gewinnt also auch diese ihr Leben nicht aus Objektivität, sondern aus einer Mischung von Vorstellung und Überspitzung. Wir wollen ihren Fortgang dem Leser in Form von Vignetten, Skizzen und Karikaturen darbieten, nicht wie einen im Lehm des Alltags steckenbleibenden Bericht. Deshalb wäre es völlig müßig, Achiltibuie aufzusuchen in der Hoffnung, den Ort so vorzufinden, wie er hier beschrieben wird.

Er könnte nämlich auch ganz anders heißen. Killochyett oder Auchtermuchty, Muldoanich, Stromness oder Coill’ an Fhoghnain. Vielleicht wäre Coill’ an Fhoghnain ein viel treffenderer Name. Achiltibuie ist Gälisch und bedeutet, »Die Weide des blonden Jünglings«, womit man ja nicht viel anfangen kann, es sei denn, man erblickt in dem blonden Jüngling einen Urengel des irdischen Paradieses. Coill’ an Fhoghnain heißt auf Deutsch »Distelhain«. Die Distel ist Schottlands Nationalblume. Aber es scheint kein Dorf dieses Namens zu geben, sonst hätte ich den Ort des Geschehens so genannt. Der einzige Verweis auf einen solchen Ort findet sich in einem Gedicht des Versschmieds John Scott, der reimte: »Versäume nicht, der Distel stolzes Haupt / zu kürzen, eh sie ihren Flaum verstreuet / Der leichte Flaum vom Wind umher gehaucht / wird sonst empor zum Distelwalde schießen.«

Wir müssen also mit Achiltibuie vorliebnehmen, das auch Auchtermuchty oder Muldoanich heißen könnte und hinter hohen Bergen auf einer abgelegenen Halbinsel liegt. Die ragt in ein Meer, welches die alten Gälen je nach Laune An Cuan Sgìth, Cuan na Hearadh oder An Cuan Leòdhasach nannten, und dem marodierende Wikinger, die das Land der Gälen im Jahr 800 heimsuchten, den Namen Skotlandsfjörð gaben. Die Seestraße trennt das Festland von den Äußeren Hebriden. Die Halbinsel liegt auf demselben Grad nördlicher Breite wie das südliche Norwegen im Osten und die Südspitze Grönlands im Westen. Im Sommer ist es fast rund um die Uhr hell, aber die Winternächte sind, um eine Metapher des walisischen Dichters Dylan Thomas zu borgen, bible black – schwarz wie eine in einem abgegriffenen Samteinschlag steckende Bibel.

Auf der Fahrt hierher in einer solchen Winternacht könnte man meinen, das Monster von Loch Ness, das ich eigentlich nicht erwähnen wollte, habe einen verschluckt und wieder ausgespien. Hier und da hebt ein grasender Hirsch den Kopf und glotzt ins Scheinwerferlicht, bevor er sich quer über die Straße davontrollt. Der Mond lugt kurz zwischen dunkel dräuenden Wolken hervor. In seinem Licht zeichnen sich die Umrisse schneebedeckter Berge ab. Dann hämmert ein Hagelsturm gegen die Windschutzscheibe. Aus der eben noch romantisch anmutenden Einöde wird eine bedrohliche Natur, in der mein unverwüstlicher Pick-up seinen Dienst vor allem als Trutzburg gegen die Außenwelt versieht. Ich bin mir nicht so sicher, ob das vor achtzehn Jahren von der mittlerweile aufgelösten Firma IBC Vehicles Ltd. im englischen Luton zusammengeschraubte Gefährt wirklich so unverwüstlich ist, wie ich es mir einrede. Ich bleibe stehen, die Scheibenwischer sind nicht mehr imstande, ein Sichtloch freizuschaufeln. Währenddessen verwirrt sich die auf Landkarten eingezeichnete Geografie; sie weicht einer wirklichen Fantasiewelt, die man auch als eine fantastische Wirklichkeit beschreiben könnte.

Ebenso plötzlich, wie der Hagelsturm hereingebrochen ist, zieht er vorüber. Der Mond reißt wieder ein Loch in die wild dahintreibenden Wolkenhaufen. Nach jähen Bergauf- und Talabfahrten steht ein Schild mit dem Namen des Sehnsuchtsorts am Straßenrand. Endlose Meilen windet sich nun ein einspuriges Sträßchen engkurvig an Bergrücken entlang. Gelegentlich glitzern langgestreckte Seen im Mondleuchten auf. Die Straße scheint kein Ende zu nehmen. Kein Wunder, dass die alte Lang Scots Mile 1,8 und nicht wie die Englische Meile 1,6 Kilometer maß. Jetzt existiert diese nur noch in der Royal Mile in Edinburgh, der Hauptstraße vom königlichen Schloss weit unten durch die Altstadt zur Burg hoch oben.

Am Straßenrand steht ein blaues Schild, das Motoristen ungemein höflich ermahnt, »Bitte benutzen Sie die Ausweichplätze, um schnelleren Verkehr überholen zu lassen«. Es scheint ziemlich überflüssig. Es gibt weder schnelleren noch langsameren noch Gegenverkehr. Zumindest um diese Jahres- und Nachtzeit. Nur Dunkelheit und wieder ein Hagelschauer. An einer Weggabelung neigt sich ein Sträßchen nach rechts zum Meer. Hier unten brennt ein einsames Licht in einem einsamen Haus. Es brennt immer. Bei Tageslicht betrachtet, ist das Haus ein langgestreckter, einstöckiger Bau mit zwei Speichergaupen im Schieferdach und einem modernen Glasvorbau. Es wird in unserer Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Jetzt wollen wir den Bewohner, der sich selbst nur P. nennt, einen ergrauten, stoppelbärtigen Junggesellen, erst einmal in Ruhe lassen. Er hat immer »zu tun«.

An dem letzten Tag des Jahres, an dem diese Geschichte beginnt, steuert Ali Post sein rotes Postautomobil zu einem Uferstreifen vor dem langgestreckten Haus, der freilaufenden Schafen als Weide und im Sommer Touristen gelegentlich als Lustwiese zum Sonne-auf-den-Bauch-scheinen-Lassen dient, aber meistens, um in Goretex-Jacken verpackt dem Wind die Stirne zu bieten. Unser Postbote parkt sein Gefährt vor einer aus Natursteinen erbauten Schafhürde zwischen den Audis des ländlichen Mittelstandes und den Pick-ups der Bauern, die hier aus einem Grund, den wir später noch beleuchten müssen, Crofter heißen. Er öffnet die Tür, streckt seine Beine heraus und klettert in einen blauen Overall, den er mitgebracht hat, um seine Dienstuniform vor den Folgen einer pünktlich um ein Uhr beginnenden Schlammschlacht zu schützen. Das jährlich ausgetragene Ba’Game.

Ba’Game heißt »Ballspiel«. Der Name führt in die Irre. Spiel klingt nach Technik, Eleganz und Leichtigkeit. Das Ba’Game dreht sich vor allem um Entschlossenheit. Teilnehmer werden nicht nach sportlichen Fähigkeiten ausgewählt. Wer will, macht mit. Männer, Frauen, Amazonen, Wuchtbrummen, Kinder, Großväter, Bohnenstangen, Pummel, breitbeinige Fischer, o-beinige Schafhirten, Sprinter, Gewohnheitstrinker, Ehrgeizlinge und Fitnessfanatiker. In welchem Team, hängt vom Wohnsitz ab. Diejenigen, die landeinwärts im Schatten eines aus dem Meer in alpine Höhen aufsteigenden Bergmassivs wohnen, sind die Upenders, diejenigen, die in den verstreuten Weilern des zur offenen See hin abfallenden Moor- und Hügellandes der Halbinsel leben, nennen wir Downenders. Nur weil jeder jeden kennt, weiß man, wer in der bald schlammverschmierten Masse welcher Seite angehört.

Die Menschenherde rennt blindwütig einem eiförmigen Ball hinterher, sie stolpert und stürzt in einem Berg aus Leibern aufeinander, ein wildes Gedränge aus Armen, Beinen und erhitzten Körpern. Manche Beine stecken in Gummistiefeln und Jeans, andere in Bergstiefeln und Regenhosen, wieder andere in Sportschuhen, deren Träger ihre rote Haut besinnungslos den rohen Elementen feilbieten. Ich liege ganz unten in dem laokoonartigen Haufen und schnappe nach Luft. Mein dabei lädiertes Knie macht mir bis heute zu schaffen. Einem Erstickungsanfall nahe, passe ich den Ball in die Arme eines Gegners.

Die Wolken haben ihre Schleusen geöffnet, der Regen peitscht fast waagerecht über die Uferwiese, die zusehends einem Kriegsschauplatz nach einer Panzerschlacht gleicht. Hinter der Mauer des Pferchs hüpfen in Anoraks und Wollschals gehüllte, zum Warmhalten mit Whiskyflaschen ausgerüstete Zuschauer auf und ab. Die Upenders haben uns geschlagen, nein, auseinandergenommen, nein: gedemütigt. Nach neun Niederlagen hatten sie rugbyerfahrene Engländer und sogar einen Neuseeländer mit der fadenscheinigen Erklärung rekrutiert, sie seien »Freunde« und »junge Leute, die hier das Neujahr feiern«.

Ali Post verliert nicht gerne. Er verbirgt seinen Ärger hinter einem heiseren Lachen. Es entfährt ihm in kurzen Stößen. Man weiß nicht recht, ob er die Luft dabei ausstößt oder einzieht. Er macht eine freudlose Bemerkung über die »Bonglies«, die auf der gegnerischen Seite spielten. Sogar die englischen Mädels hatten uns fintenreich ausgetrickst. Ich nehme an, das ging ihm besonders auf den Keks. Ali Post erinnert mich oft an Alan »Breck« Stewart, den noblen und zugleich stocksturen Helden in Robert Louis Stevensons Roman Kidnapped, dem mehr als alles andere seine leicht gekränkte Eitelkeit zu schaffen macht. Zwar schätzt er bereitwillig den Mut seiner Mitmenschen, aber er bewundert diese Tugend am meisten bei sich selbst.

Einmal, das geht nun schon ganz zum Anfang unserer Erzählung zurück, die erst im zweiten Kapitel so richtig beginnen wird, einmal fühlte sich unser Alan »Breck« von mir bei einem Dartturnier gekränkt. Ich weiß bis heute nicht, warum. Ich beförderte die kleinen Pfeilchen ganz gewiss nicht besser ins Ziel als er. Ich versuchte auch gar nicht zu schummeln. Vielleicht bestand der alleinige Grund darin, dass die Natur mich ein Stück hat höher wachsen lassen als ihn. Jedenfalls wollte er mich vor dem Pub zu einem Kräftemessen herausfordern. Seine spätere Frau, eine sehr resolute und selbstbewusste Person, trat dazwischen und brachte ihn von seinem Vorhaben ab. Ich glaube, das hat er mir nie nachgesehen.

An dieser Stelle, bevor wir noch einmal kurz auf das Ba’Game eingehen, ereignet sich etwas, das für eine wenig romantische, eher vernunftsuchende Seele wie mich den Charakter Achiltibuies viel mehr widerspiegelt als das große Wort vom Schottischen. Ein Junge rast in Höllentempo auf einem knatternden Motorrad vorbei. Es ist kein gewöhnliches Motorrad. Er steht auf den Pedalen. Ihm bleibt gar nichts anderes übrig, als zu stehen. Sein Krad hat keinen Sitz. Es ist total illegal. Am Ende unserer Spielwiese biegt der Junge von der Straße ab und reitet seinen Feuerstuhl wie einen bockenden Bronco über das buckelige Moor.

Das Knattern verklingt. Zurück zum Ba’Game. Mein Sohn Lewis und sein Freund Neil, der mit Nachnamen wie so viele Schotten unserer Geschichte MacKenzie heißt und den Spitznamen Bell trägt – auf den wenig appetitlichen Grund dafür wollen wir nicht weiter eingehen –, führten es vor zehn Jahren nach einem Besuch auf den Orkneyinseln bei uns ein. Dort wird es seit Jahrhunderten am Neujahrstag in der Hafenstadt Kirkwall ausgetragen. Es gibt alle möglichen Legenden über seinen Ursprung, deren eine von abgeschlagenen Köpfen und einem aus Norwegen oder Dänemark stammenden Fürsten namens Hasenzahn handelt und deren zweite mit einem keltischen Helden namens Gawain zu tun hat. Bei einer dritten Version geht es um einen mittelalterlichen Streit zwischen dem Bischof von Kirkwall und dem Grafen der Inselgruppe. Vermutlich kam es den dortigen Upenders einfach einmal in den Sinn, den Downenders zu zeigen, wer mehr Mumm in den Knochen und mehr Schmalz in den Beinen hat.

Bei unserem ersten Ba’Game ging es besonders roh zu. Ein kräftiger Junge im Alter meiner Söhne und ich, eine nun doch schon eher den Gealterten zuzurechnende Bohnenstange, begruben einen superschnellen Upender unter uns, von dem später in dieser Geschichte mehr zu hören sein wird, bis eine Rippe knackste. Er nahm nie wieder an der Silvesterschlacht teil. Eine Upenderin versuchte, den Ball im Auto ins Ziel zu transportieren, bis ihr Gefährt mit wagemutigen Attacken zum Halten gezwungen wurde. Ein zierliches junges Mädchen namens Eilean ließ unseren Freund Bell über ihre ihm entgegengestemmte Schulter durch die Luft segeln, dass er mit fliegendem Blondschopf voraus im Schlamm landete.

Wie sich das mit Achiltibuies himmlischem Frieden auf Erden verträgt?

Nun, vielleicht ist doch nicht alles Gold, was wie Messing glänzt. In den Folgejahren erlebte das »Spiel« seine Höhe- und Tiefpunkte. Es schien in den letzten Zügen zu liegen, als es einigen von gutbürgerlichen Mittelstandswerten durchdrungenen Upendern gelang, ihm ein sportliches Regelwerk überzustülpen. Bei diesem zehnten Ba’Game gewann Anarchie wieder die Oberhand. Trotz oder vielleicht gerade wegen der externen Winterfrischler auf Seiten der Gewinner.

Ali Post schlägt ganz gegen seine Gewohnheit ein ihm offeriertes Glas Whisky aus, er pellt sich samt seiner tadellosen Postbotenuniform aus dem erdverschmutzten Overall, verstaut ihn hinten in seinem Postbotenwagen und macht sich auf zum Rest seiner Runde. Uns treibt der Regensturm nach Hause. Auf dem Herd dampft ein Eintopf aus Kartoffeln, Zwiebeln und Hammelgulasch. Stovies heißt das schottische Mahl in Schottland. Am besten schmeckt es mit Basstölpelfleisch … aber wir eilen voraus. Oder genauer: zurück.

Zu Hause setze ich mich an den Computer, um den nicht Dabeigewesenen das Neueste vom Ba’Game auf Facebook mitzuteilen. Unsere Peninsula verfügt über eine Facebook-Szene wie kein zweiter Ort. Alle sind vernetzt. Es gibt eine Achiltibuie Appreciation Society genannte Gruppe, in der »Leute, die unsere staunenswerte Landschaft und Dorfgemeinschaft zu würdigen wissen«, Fotos hochladen und die Einzigartigkeit Achiltibuies feiern. Fast alle im Dorf sind Mitglieder, auch etliche häufig wiederkehrende Sommerfrischler. Und natürlich unsere »Diaspora«, wie die Gründerin der Gruppe aus Achiltibuie in ferne Regionen ausgewanderte Menschen nennt. Zu den »ferneren Regionen«, in die es diese verstreuten Elenden verschlug, gehören Inverness, die Hauptstadt der Highlands, Aberdeen, Glasgow und Edinburgh.

Die Achiltibuie Appreciation Society präsentiert das offizielle Bild der Gemeinde. Oder zumindest das Bild der Gemeinde, das sich ebendiese Gründerin namens Miss Brodie von ihr macht. An dem von ihr geprägten Begriff der Diaspora kann man gleich erkennen, dass für nichts Gutes stehende Kräfte unserer glücklichen, festgefügten Gemeinde übel mitzuspielen versuchen. Nur durch einen immer festeren Zusammenhalt können wir uns ihnen widersetzen. Das ist nicht anders als in einer Glaubensgemeinschaft. Wenn wir alle am gleichen Strang ziehen, werden wir der Diaspora die Heimkehr ermöglichen.

Miss Brodie war Lehrerin in der Dorfschule. In den Jahren, als sie die unteren Klassen unterrichtete, platzierte sie gerne ein auf Pappkarton gemaltes offenes Holzfeuer vor dem aus Brandschutzgründen schon lange nicht mehr benutzten Kamin und flötete: »Kommt, Kinder, setzt euch um mich in wärmendem Kreis!« Anstatt einen Schüler zu bitten, das Licht auszuschalten, pflegte sie zu säuseln, »Nun lasst uns die Welt retten, Kinder!«.

In späteren Jahren, als sie die oberen Klassen unterrichtete, nannten die Kinder sie wegen des Schattens, den ihr Busen warf, wenn sie sich über sie beugte, Titten-Liz. Natürlich nur untereinander. Als Miss Brodie sich um die frei gewordene Stelle als Schulleiterin bewarb, wollte sie beim besten Willen nicht verstehen, warum die Erziehungsbehörde ihr die Ernennung versagte. Sie rief dort an und ließ eine Tirade ab, das sei völlig unverständlich, niemand anderes habe sich beworben, sie sei bestens qualifiziert, zudem ortsansässig und bei Schülern und Eltern hoch angesehen …

Der Beamte am anderen Ende der Leitung unterbrach ihren Redefluss. »Wir hätten Ihnen den Job gegeben«, sagte er, »aber der Elternbeirat hat sich quergestellt.«

Den Schlag hat Miss Brodie nie ganz verwunden. Sie lastete ihre Ablehnung der in ihren Augen ungebrochenen Macht der Anhänger des grimmen schottischen Reformators John Knox an, die sich sonntags um drei Uhr nachmittags in dem schmucklosen, weiß geschlemmten Bethaus der von Nichtkirchgängern Wee Frees genannten Free Church of Scotland treffen und, so meinte sie, sich gegen sie verschworen hätten, weil sie ein Freigeist sei. Sie zeichnete gerne Nacktporträts junger Männer, die sie zu sich ins Haus lud und deren männliches Gehänge sie sehr gefällig darstellte. Und sie unterhielt jahrelang ein als »Liebesaffäre« firmierendes Verhältnis mit jenem Mann, dem ein kräftiger Bursche und ich bei unserem ersten Ba’Game eine Rippe gebrochen hatten.

Dieser Mann hat sich mittlerweile mit einem anderen Frauenzimmer vermählt, einer Miss Brodie an Jahren jüngeren und, soweit sich das beurteilen lässt, an Kunstsinn überlegenen Edinburgherin. Miss Brodie schickte sich heroisch in ihre selbstgenügsame Einsamkeit, trat als Lehrerin zurück und erfand für sich eine neue Persona als Facebookerin, dörfliche Protagonistin schottischer Unabhängigkeit und Vorkämpferin keltischer Hochlandidentität, Letzteres übrigens ganz unabhängig davon, dass sie selbst aus dem feinen, gentilen Edinburgh stammt. Genauer gesagt, aus einem der kleinbürgerlichen Viertel der feinen, gentilen Hauptstadt.

Ich habe mich oft gefragt, ob Miss Brodies Namensgleichheit mit einer der bekanntesten schottischen Romangestalten Zufall ist – mit der romantisch selbstverliebten und bis zur Selbstaufgabe idealistisch veranlagten Hauptfigur in Muriel Sparks Die Blütezeit der Miss Jean Brodie. Auch die ist übrigens Edinburgherin. Unsere Liz Brodie stellte nach dem Ende ihrer »Affäre« von der Abbildung männlicher Gehänge auf die Töpferei um, also mehr auf die handgreifliche Seite der Kunst. Je länger sie sich damit befasst, umso volkstümlich-kitschiger werden ihre Werke. Ein Freigeist bekehrt sich zu altjüngferlicher Blumigkeit.

Unser Dorf ist übrigens voller Künstlerinnen. Man könnte Achiltibuie beinahe eine Künstlerkolonie nennen. Fast in jedem Haus wohnt eine. Die meisten haben den Ruf der Muse in fortgeschrittenen Jahren erlauscht. Eine führte zuvor ein Hotel, eine andere war Ingenieursgattin, eine dritte Sekretärin. Die eine oder andere besuchte sogar eine Kunstschule. Sie knüpfen Wandteppiche mit heimatlichen Motiven, sie basteln putzige Miniaturen oder malen gewagt abstrakte Landschaften mit Acrylfarben auf Leinwand. In der Fremdensaison stellen sie ihre Werke gemeinsam im örtlichen Kunstverein aus. Dort kann man die Erzeugnisse ihrer Schaffenskraft für bescheidene Summen käuflich erwerben.

Miss Brodies Werke bekommt man dort nicht zu sehen. Sie fühlt sich zu Höherem berufen. Sie beauftragte einen örtlichen Schreiner, in ihrem Vorgarten ein holzverschaltes Atelier mit großen Fenstern zur Straße hin zu bauen. Auf dem Fensterbrett stehen Pötte mit Pinseln und Stiften, eine dunkelgold bemalte Büste und eine aus Weidenruten geflochtene Kopfschablone. Davor steht ein Schild mit der Aufschrift »Atelier Brodie«. Vor der Eröffnung des Ateliers schaffte sie sich einen karminroten Tam o’ Shanter an, eine modische Verfremdung der traditionellen Kopfbedeckung der Hochlandregimenter des 18. Jahrhunderts. Damit angetan, schreitet sie nun oft die Dorfstraße auf und ab. Wenn sie mich erspäht, stimmt sie eine Hochlandmelodie an, von der sie sich derart fortreißen lässt, dass sie gar nichts anderes um sich her bemerkt. Mir bleibt nichts übrig, als ihrer musischen und in sich selbst Genugtuung findenden Veranlagung Respekt zu zollen.

Als ich jetzt Facebook anklicke, erfahre ich, dass Miss Brodie in ihrer Oberhoheit über die Selbstdarstellung der Gemeinde einen jungen Mann aus der Achiltibuie Appreciation Society ausgeschlossen hat. Sein Freund postet: »Wird hier Rock ’n’ Roll gespielt, oder was? Was hast du angestellt?«

»Weiß nicht. Bin vielleicht zu sehr auf dem Boden der Tatsachen geblieben.«

»Also, das ist scheiße. Bist du sicher, du hast dich nicht aus Versehen ausgeklinkt?«

»Nee, eindeutig geschubst. Sie hat meine Mama und Schwester auch rausgeschmissen.«

Die zierliche Eilean, die unseren Freund Bell beim Ba’Game durch die Luft segeln ließ, klinkt sich ein: »Du musst irgendwann Reiner beigepflichtet haben.«

Der erste Freund: »Ich mach bei dem Schwachsinn nicht mit. Hab mich abgemeldet.«

Ein anderer: »Kampf dem Establishment!«

Ein Dritter schlägt vor, eine neue Appreciation Society zu gründen, einen »Wertschätzungsverein für die Demokratisch Sozialistische Republik Achiltibuie und umliegende Territorien«. – »Hurra, Genossen!« – »Zum Teufel mit den Territorien!!!!!« – »Ethnische Säuberungen in Territorien mit anderer Postleitzahl!« – »Ein neuer Morgen bricht an.« – »Morgenröte, oh tiefrote Morgenröte!« – »Und wenn wir unsere Ideale aus den Augen verlieren, wird Maggie Han Chef der Geheimpolizei.«

Maggie »Han« MacKenzie ist kaum einen Meter fünfzig hoch und resolut wie Messerstahl. Niemand kennt ihr Alter. Niemand kann sich an den Ursprung ihres zum Hauptnamen avancierten Mittelnamens erinnern. Sie ist verwitwet und hat Kinder in aller Welt. Ihr jüngster Sohn, dessen Alter bekannt ist – 55 Jahre –, lebt bei ihr zu Hause. Sie hat nie aufgehört, ihn mit strenger Liebe wie einen Teenager zu bevormunden. Maggie Han weiß alles, was im Dorf vor sich geht. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit lädt sie Männer aller Altersstufen in ihre Küche und löst ihnen mit Bechern voll Whisky, den sie im Großmarkt in Inverness einkauft, die Zunge. Jeder, der nicht bei ihr in der Küche trinkt, ist entweder »ein Arsch« oder »ein Vollarsch«. Arsch muss man in diesem Zusammenhang als Kompliment verstehen, Vollarsch als Tadel. Einmal landete der Rettungshubschrauber aus Inverness in ihrem Garten. Dazu muss man wissen, dass sie aus eigenen Mitteln einen Hubschrauberlandeplatz vor ihrem Haus baute, für alle Fälle. Und auch um der Nachbarn willen. Der Pilot machte eine Probelandung. Er setzte seinen Drehflügler nicht genau in der Mitte ab. Als er ausstieg und seinen Helm vom Kopf nahm, fuhr sie ihn an: »Da hast du aber echte Scheiße gebaut, eh?«

Ich bin in Maggie Hans Vokabular ein Arsch, natürlich nicht in meiner Anwesenheit, und das bedeutet, wie gesagt, wir sind beste Freunde. Wenn wir uns im Wagen auf der Straße begegnen und sie oder ich in einer Ausweichbucht stehenbleiben, um den anderen vorbeizulassen, winken wir uns wild zu, wobei wir die rechte Hand mit raschen Scheibenwischerbewegungen hin- und herwedeln. Das Zuwinken auf den Ausweichbuchten der einspurigen Sträßchen ist die wichtigste Form, gegenseitige Wertschätzung oder Abneigung zum Ausdruck zu bringen. Hinter dem Winken, das Außenstehenden als sympathischer Dankeserweis und Zeichen ungemeiner Freundlichkeit erscheint, verbirgt sich eine systematische Stufenleiter von Nachbarschaftsliebe über Sozialpartnerschaft bis zu dörflichem Hass (falls es so etwas in unserem irdischen Paradies gibt). Das Scheibenwischerwedeln steht an einem Ende. Das andere Ende bildet ein bewegungsloses durch den anderen Hindurchstarren, höchstens begleitet durch ein millimeterhohes Anheben des linken Zeigefingers. Dem bin ich ausgeliefert, wenn ich Miss Brodie begegne. Oder Mister MacSporran, einem pfiffigen Augenoptikermeister im Ruhestand und örtlichen Vertreter des schottischen Staatswohls, der seine Umwelt gerne über den Rand einer schmalen, rechteckigen Lesebrille mustert, so wie ein Landgerichtsrat die Angeklagten in Augenschein nimmt.

Die nächste Winkstufe besteht in einem etwa zehn Zentimeter hohen Anheben des rechten Zeigefingers, ohne dass die Hand dabei das Lenkrad losließe – die unterste Stufe zumindest frostiger Anerkennung. Mit der nimmt der stoppelbärtige Junggeselle, der in dem langgestreckten, einstöckigen Bau mit den zwei Speichergaupen im Schieferdach und einem modernen Glasvorbau wohnt, sich selbst nur P. nennt und immer »zu tun« hat, von meiner Gegenwart Kenntnis.

Ein kurzes Anheben und Ausdrehen der Hand bezeugt eine etwas mildere Form der Geringschätzung, ein halbsekündiges Anheben der Handfläche signalisiert Duldung. Mit dieser Gebärde nimmt mich Ali Post üblicherweise zur Kenntnis. Zwischen dieser Geste und dem frenetischen Scheibenwischerwedeln kommt es auf die genaue Länge des Handanhebens und Wedelns an. Nach etlichen Jahren entwickelt man eine innere Stoppuhr, die einem haarklein mitteilt, woran man mit der einen oder anderen Person gerade ist. Will man sich der Zensur der Ausweichbuchten entziehen, so gibt es nur ein Mittel – in einem neuen Auto, das noch niemand kennt, über das Straßennetz zu kurven. Dann winken einem auch die Sauertöpfe und Knatschköpfe mit derselben eingeübten Freundlichkeit zu, die man Touristen gegenüber an den Tag legt.

Der Trick mit dem neuen Auto hat einen Nachteil. Er hält nicht lange vor. Dann geht das Gerede los, wo das Geld für das neue Auto herkomme. Aber da ich schon beim Winken bin, darf ich eine Episode nicht vergessen, in der sich Maggie Hans` von ihr trotz seiner über fünfzig Jahre wie ein Teenager bemutterter Sohn Roddie von mir beleidigt fühlte. Der ist ein herzensguter Mensch und obendrein unser Aushilfsbriefträger (was ihn übrigens nicht zum Tragen des Ehrentitel »Post« berechtigt). Einmal hörte er auf, mir zuzuwinken. Das gab mir Rätsel auf. Ich weiß, dass er wie die meisten meiner schottischen Mitbürger leicht beleidigt ist. Aber ich war mir nicht bewusst, ihn in irgendeiner Weise verletzt zu haben. Einige Tage später zwang ihn seine Dienstausübung, unser Haus zu betreten. Er brachte einen eingeschriebenen Brief, was ihn üblicherweise in einen Zustand aufgeregter Wichtigkeit versetzt. Ich knüpfte ein unverfängliches Gespräch an. Es dauerte nicht lange, bis es aus ihm hervorbrach, warum ich ihm neulich den doppelten Stinkefinger gezeigt habe?

Wie bitte? Ich war perplex. Ich stotterte verlegen, das würde ich niemals tun, selbst wenn mir eine Laus über die Leber gelaufen sei. Dazu kenne er mich doch gut genug. Er blickte auf meine Hand. Er erbleichte. Vor vielen Jahren hatte ich mir den Ringfinger abgeschnitten. Das war ihm nie aufgefallen. Mein kleiner Finger ist altersbedingt nach innen gekrümmt. Wenn ich mit der Hand winke, sieht das tatsächlich wie eine Beleidigung aus. Weiß der Teufel, wie viele Leute ich mit meiner Krüppelhand schon vor den Kopf gestoßen habe!

Um elf Uhr am Abend nach dem Ba’Game schlägt mein Collie an. Vor dem Hoftor staucht der Fahrer eines dunkelroten VW-Busses mit jedesmal aufheulendem Motor abwechselnd den Vorwärts- und Rückwärtsgang ins Getriebe. Als er das mit einer Sperrholzplatte anstelle einer Heckscheibe ausgestattete Gefährt zu seiner Zufriedenheit weit genug an den Straßenrand bugsiert hat, fällt eine mächtige Gestalt aus der Fahrertür. Fluoreszierende, ölverschmutzte Allwetterjacke, gelbe, ölverschmutzte Gummistiefel, ein selbstgedrehter Glimmstängel im Mund. Hamish Sinclair. Er rafft sich auf und torkelt die Stufen zum Haus herauf. Er ist pures Gold. Er hat sein Leben lang gefischt. Fischen ist ein Vabanquespiel. Mal bläst einen Monat lang ein Sturm, und kein Boot verlässt den Hafen. Mal zeigt die See sich von ihrer großzügigen Seite, und die Fischer verdienen ein Vermögen. Hamish hält es mit der Großzügigkeit. Vor ein paar Tagen brachte er einen Zwanzigliterkübel voller Langusten und einen zweiten Kübel voller Krebse vorbei. Einfach so. Nie kleckern, immer klotzen. Wenn er in den Pub geht, schmeißt er oft eine Runde für die ganze Kneipe. Zweihundert Pfund sind da schnell futsch. Auf dem Weg vom Pub nach Hause kommt er heute Abend wieder mal auf die Idee, bei uns einen Zwischenstopp zu machen.

Das Haus ist voll, zwei Söhne, zwei Töchter, ein Schwiegersohn, eine Schwiegertochter, vier Enkel und ein schwuler Freund aus London. Die Enkel sind im Bett, die Schwiegertochter und der schwule Londoner nicht. Meine Schwiegertochter entstammt einer gutbürgerlichen Familie aus Tunbridge Wells im südlichen England, wo manierliche Banker und Rechtsanwälte wohnen und Pu der Bär und seine Freunde im nahen Hundert-Morgen-Wald auf einer Brücke über einen kleinen Bach das Pustöcke-Spiel erfanden. Bei dem Spiel wirft man Stöcke auf einer Seite der Brücke mit der Strömung ins Wasser und läuft auf die andere, um zu sehen, wessen Treibgut zuerst auftaucht. Wir spielten es mit unseren Kindern jedes Jahr am Weihnachtstag in Culnacraig, wo die hohen Berge die Halbinsel überschatten. Unsere Kinder spielen es jetzt bei jeder Gelegenheit am gleichen Schauplatz mit ihren Kindern, Nichten und Neffen.

Der Freund aus London heißt Sam, er ist Kunsthistoriker, ein urkonservativer Anhänger des Champagner und Gin trinkenden Intellektuellenflügels der Labour-Partei. Die Malerei hört für ihn in der Renaissance auf, die Musik bei Beethoven und die Schriftstellerei bei Jane Austen. Er hält das Leben außerhalb Londons für total nichtssagend. Trotzdem kommt er immer wieder zu Besuch und führt meine geliebte Frau mit zahllosen fachgerecht gemixten Gläsern mit Hendrick’s Gin in Versuchung. Mich lud er einmal in einen Schwulenclub in London ein. Der Club heißt Gay Gordons. Die Mitglieder treffen sich zweimal in der Woche zu Tanzstunden in der champagnersozialistischen Hochburg Islington. Sie tragen mit Vorliebe Kilts. Gay Gordons ist der Name eines beliebten schottischen Volkstanzes. Er geht auf die Gordon Highlanders zurück, ein Regiment, das in den Tagen des Empire Typen wie Hamish rekrutierte und mit besonderem Stolz auf eine Schlacht 1897 im afghanisch-pakistanischen Grenzland zurückblickt. Der Dudelsackpfeifer der Einheit, George Findlater, erkraxelte während des Gefechts trotz eines durchschossenen und eines gebrochenen Beins einen Geröllhaufen und entlockte seinem Instrument auf dem Hintern sitzend seine jedem Feind durch Mark und Bein gehenden Töne. Er hörte nicht auf zu spielen, bis seine Kameraden, angespornt durch die von ihnen als mitreißend empfundenen Melodien, den Sieg errungen hatten. Dafür erhielt er das Victoria-Kreuz, die höchste Tapferkeitsauszeichnung des Empire.

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