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Aufgeregt besteigt Lady Lucy den Zug Richtung Invermere in Schottland – die erste Urlaubsreise ihres Lebens! Bei der Begegnung mit einem schäbigen Wüstling kommt ihr zum Glück der gut aussehende James Pembroke, Earl of Rossbury, zu Hilfe. An seiner Seite kann sie sicher und entspannt reisen, und der Abschied am Bahnhof fällt ihr schwer. Doch bei der Ankunft in ihrem Ferienhaus wartet eine Überraschung auf Lucy: Das Haus gehört ihrem Retter! Gemeinsam verbringen sie viel Zeit in der wildromantischen Landschaft Schottlands. Lucy träumt schon von zärtlichen Küssen des Earls, doch dann erfährt sie, warum er überhaupt angereist ist …
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Seitenzahl: 424
IMPRESSUM
HISTORICAL GOLD EXTRA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2022 by Christy Carlyle Originaltitel: „Lady Meets Earl“ erschienen bei: Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers LLC, New York, U.S.A.
© Deutsche Erstausgabe 2024 in der Reihe HISTORICAL GOLD EXTRA, Band 164 Übersetzung: Maria Beck
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 07/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751526869
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Christy Carlyle
Guter Kaffee und britische Serien mit aufwendigen historischen Kostümen sind die Dinge, die Christy Carlyle antreiben. In ihren Romanen schreibt sie am liebsten über Helden und Heldinnen, die ihrer Zeit voraus sind. Da sie selbst einen Abschluss in Geschichte hat, liebt die Autorin es, beim Schreiben ihre Leidenschaft fürs Historische und ihren unerschütterlichen Glauben an ein Happy End zu vereinen.
Oktober 1897
London
Heute war James Pembrokes Glückstag. Oder zumindest könnte er es werden.
Dieser Tag fühlte sich anders an, und schon am frühen Morgen spürte er, dass etwas in der Luft lag.
Zu ungewöhnlich früher Stunde saß er in einer Mietkutsche, die ihn zu einem geheimnisvollen Treffen in die Stadt brachte. Dichter Nebel war von der Themse heraufgezogen und umhüllte die Straßenlaternen wie Rauch, doch am Horizont waren bereits ein paar rosa und goldene Streifen zu sehen. Nachdem es tagelang genieselt hatte, würde die Sonne heute vielleicht endlich die Wolkendecke durchbrechen, und das erweckte ein hoffnungsvolles Gefühl in ihm.
Die letzten sechs Monate hatten ihm die Art von Lektion erteilt, die jedem Mann sämtlichen Optimismus geraubt hätte. Mehr als einmal hatte er daran gedacht, aufzugeben. Doch er hatte oft genug Glücksspiele gespielt und bei Geschäften auf seinen Instinkt gehört, um zu wissen, dass das Glück unbeständig war. Auf eine Pechsträhne konnte ein gewaltiger Sieg folgen, und eine Glückssträhne konnte mit dem Umdrehen einer einzigen Karte zu Ende gehen.
Sein eigener Erfolg hatte so lange hell gestrahlt, dass er geglaubt hatte, nichts könnte ihn eintrüben.
Doch dann hatte er eine falsche Entscheidung getroffen, hatte für einen Moment der falschen Person vertraut, und alles war zugrunde gerichtet. Er hatte viel Kapital verloren und war gezwungen gewesen, seine Flotte zu verkaufen. Jetzt schuldete er einem zwielichtigen Geldverleiher Geld. Die Reederei, die ihn reicher gemacht hatte, als er es sich je erträumt hatte, bestand nur noch aus einem Kontor in Wapping mit seinem Namen an der Tür. Und selbst das würde bald verschwunden sein. Der Mietvertrag, für den er die Pacht im Voraus bezahlt hatte, lief Ende des Jahres aus.
Trotzdem flackerte an diesem Morgen Hoffnung in seiner Brust auf, wie ein winziges Feuer aus einem Häufchen Glut. Möglicherweise konnte er Pembroke Shipping doch noch retten. Es war an der Zeit, dass das Glück ihm wieder zulächelte.
Glücksgöttin! Komm wieder zu mir! Ich habe meine Lektion gelernt.
Wenn das Glück kam, musste er vorbereitet sein. Eine ängstliche Anspannung erfasste ihn, und er verspürte den Drang, etwas zu tun. Er musste sich bewegen und aktiv werden. Wenn er zu lange stillsaß, neigte sein Verstand dazu, immer wieder seine Fehler durchzugehen, und Grübeleien hatten ihm noch nie gutgetan.
„Lassen Sie mich hier aussteigen“, rief er dem Kutscher zu.
James entlohnte den Mann, und die Kutsche rollte im Nebel davon.
Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, um sich zu orientieren, machte er sich auf den Weg zu einem vornehmen Londoner Platz mit weiß getünchten Stadthäusern und einem sauber gestutzten, eingezäunten Rasenstückchen in der Mitte. Ein merkwürdiger Ort für eine Anwaltskanzlei, andererseits war an dem Brief, den er erhalten hatte, alles merkwürdig gewesen.
Ein Anwalt, von dem er nie zuvor gehört hatte, hatte ihn um ein Treffen zu dieser unchristlichen Uhrzeit gebeten. Er hatte nichts darüber verlauten lassen, worum es dabei gehen sollte oder für wen er arbeitete. Das war so seltsam, dass James zunächst einen Betrug vermutet hatte. In vielen Kreisen galt er nach dem Debakel mit seiner letzten Geldanlage als leichtes Ziel. Doch er war schon immer überaus neugierig gewesen. Dieser geheimnisvolle Brief weckte seine Neugier, und nach einigem Grübeln hatte er beschlossen, zu dem Treffen zu fahren. Damit ging er nur ein geringes Risiko ein und würde herausfinden, was der Anwalt von ihm wollte.
Das winzige Glutstück in seinem Inneren wagte sogar zu hoffen, dass es gute Neuigkeiten waren.
Eine verschwommene Bewegung vor ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Durch den Nebel näherten sich Schritte, und kurz darauf tauchten zwei ältere Damen auf. Die größere von ihnen trug ein Kleid mit riesigen Ärmeln, die ihrer Begleitung keine andere Wahl ließen, als hinter ihr zu gehen.
„Guten Morgen, Myladys.“ Er lüftete den Hut und grüßte die Damen mit der Andeutung eines Lächelns. Die größere der beiden verströmte eine kühle, unberührbare Eleganz, und die Art, wie sie ihr Kinn vorreckte, verriet ihm, dass sie vermutlich adlig oder wohlhabend oder beides war. „Können Sie mir sagen, ob ich hier entlang zum Selfridge Place komme?“
„Das kommen Sie, Sir“, sagte die kleinere der beiden.
„Sie haben einen verirrten Mann gerettet. Ich danke Ihnen.“ Er zwinkerte der Hilfsbereiten zu.
„Wie reizend“, flüsterte sie ihrer Begleiterin zu, als sie an ihm vorbeiging.
Sein Charme war ihm Gott sei Dank geblieben. Liebenswürdigkeit und ein Augenzwinkern hatten ihn zwar nicht vor dem finanziellen Ruin bewahrt, aber vielleicht öffneten sie ihm ein paar Türen. Sein Erfolg war nur zur Hälfte auf sein gutes Gespür zurückzuführen. Er war geübt darin, andere Menschen zu lesen und rasch das Vertrauen von Geschäftspartnern zu gewinnen.
Fünf Minuten später hatte er das Viertel mit den weiß getünchten Häusern hinter sich gelassen und erreichte eine Gegend mit roten Backsteinhäusern. Vor einem unscheinbaren Haus am Selfridge Place blieb er stehen und überprüfte noch einmal die Adresse auf dem Brief. In einem Fenster im Erdgeschoss brannte eine Lampe und verlieh der Luft draußen einen kränklichen Gelbstich.
Er könnte darin ein schlechtes Omen sehen, wenn James an solchen Unsinn glauben würde.
Die Haustür war nicht verschlossen, also trat James vorsichtig ein. Schon hörte er die laute Stimme eines Mannes. „Hier herein, Mr. Pembroke.“
Das Geräusch eines Stuhls, der über das Holz kratzte, dann ein paar schnelle Schritte. In der Tür erschien ein stämmiger glatzköpfiger Mann.
„Mr. Cathcart?“
„Genau der. Und Sie sind überaus pünktlich, Mr. Pembroke. Ich schätze Pünktlichkeit sehr.“
„Das ist also schon einmal ein guter Anfang.“ James bemühte sich um die lockere, herzliche Haltung, mit der er in der Vergangenheit neuen potenziellen Geschäftspartnern entgegengetreten war. Ein Lächeln ermutigte im Allgemeinen andere, es ihm gleichzutun.
Nicht so Mr. Mortimer Cathcart, Esquire.
Der Mann senkte den Kopf, musterte James über den Rand seiner Brille hinweg und kehrte geduckt in sein Büro zurück. Unwillkürlich musste James an einen Maulwurf denken, der sich in seinen Bau zurückzieht.
„Setzen Sie sich, Sir. Aus Ihrem Verhalten schließe ich, dass das, was ich Ihnen zu sagen haben, ein Schock für Sie sein könnte.“
Verdammt aber auch. Offenbar erwarteten ihn schlechte Neuigkeiten. James brauchte kein besonders Feingefühl, um den grimmigen Zug um den Mund des Mannes und seinen unsteten Blick zu deuten.
Unwillkürlich löste sich ein heiseres Lachen in seiner Kehle, ein Laut der Erschöpfung. So viel zu der Hoffnung, seine Pechsträhne könnte heute ein Ende finden. Doch er war vorbereitet. Er konnte es ertragen. Was konnte schlimmer sein, als die Reederei zu verlieren, die er sich über Jahre aufgebaut hatte?
Cathcart deutete auf einen zierlichen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Ein rebellischer Funke flackerte in James auf. Am liebsten würde er darauf beharren, stehen zu bleiben, während der Mann seinen Schlag austeilte. Doch es war nicht die Schuld des Anwalts, dass man ihn damit beauftragt hatte, die schlechte Nachricht zu überbringen. Tatsächlich wirkte er ziemlich verdrießlich über das, was er vorzutragen im Begriff war.
„Danke“, sagte James freundlich und versuchte, seine langen kräftigen Beine auf dem winzigen Stuhl zusammenzufalten.
Fünf Minuten später war er heilfroh, dass er saß, denn nichts hätte ihn auf die Worte des Anwalts vorbereiten können.
„Sagen Sie das noch einmal, Cathcart“, blaffte er. „Langsam.“
Die Brille des älteren Mannes hüpfte zusammen mit seinen buschigen Brauen auf und ab. Er räusperte sich, schaute auf die Dokumente auf seinem Schreibtisch und richtete seinen nervösen Blick wieder auf James.
„Sie, Sir, sind der Erbe von Lord Rossbury. Ihr Onkel hatte keine Söhne, und sein Bruder, Ihr Vater, starb schon vor Jahren. Wie Sie natürlich wissen.“ Der Mann räusperte sich erneut.
Vielen Dank auch, Mr. Cathcart. Er wusste, wann sein Vater und seine Mutter gestorben waren, und er hatte diesen Tag und die Erinnerungen darin sorgfältig aus seinen Gedanken getilgt. Aber er hatte nie vergessen, dass sein Onkel ihm weder ein Zuhause noch seine Hilfe angeboten hatte. Er hatte ihm nicht den geringsten Trost gespendet.
„Mein aufrichtiges Beileid, Sir. Damit gehört Ihnen die Grafschaft Rossbury, da vor drei Tagen, als Ihr Onkel starb …“
James hörte nicht, was der Anwalt noch sagte. Die deutlich betonten Worte verschwammen, als ein neues Gefühl jede Faser in seinem Inneren erfasste. Ein Gefühl, das fast so mächtig war wie eine lustvolle Erlösung, so wärmend wie der erste brennende Schluck eines guten Whiskeys.
Erleichterung. Reiner, süßer Trost. Ein Balsam für all die Sorgen, mit denen er seit Monaten zu kämpfen hatte. Dieses Gefühl floss durch seine Adern wie Sommerwein, und er fühlte sich davon wie betrunken. Er sprang von seinem Stuhl auf, und Cathcart fasste sich an die Kehle, als wollte James sich auf ihn stürzen.
„Ich könnte Sie küssen, Cathcart.“
„Ich würde es vorziehen, wenn Sie das unterließen, Mr. Pembroke.“
„Dann sollte ich vielleicht ein Tänzchen aufführen, gleich hier in Ihrem Büro.“ James hatte seit Monaten nicht mehr getanzt, doch jetzt bewegte er seine Füße in einem Muster, an das er sich erinnerte. Ohne Musik war es entschieden weniger vergnüglich, doch er musste irgendwohin mit seinem Hochgefühl.
„Sir. Mylord. Darf ich Sie bitten, sich wieder zu setzen.“ Cathcart deutete auf das zierliche Stühlchen vor seinem Schreibtisch. „Ich habe Ihnen noch sehr viel mehr zu sagen, und ich bitte Sie, von jeglichen … Gefühlsbekundungen abzusehen, bis ich meine Pflicht erfüllt habe, wie Ihr Onkel es in seinem Letzten Willen festgelegt hat.“
Aber er konnte diese schwungvolle Erregung nicht unterdrücken. Endlich spürte er wieder, dass das Glück ihm hold war. Er war so kurz davor gewesen, zu verzweifeln, und es war ihm immer schwerer gefallen, die Hoffnung nicht zu verlieren. Mit jeder Tür, die ihm vor der Nase zugeschlagen wurde; mit jedem Freund, der ihm den Rücken zukehrte, war seine Zuversicht gesunken. Je mehr Mühe es ihn gekostet hatte, die Geldmittel für das Allernötigste aufzubringen, desto verzagter war er geworden.
Doch er hatte durchgehalten und sich immer wieder gesagt, dass die Tragödie seiner Jugend kein Fluch, sondern eine Lektion war, die seinen Ehrgeiz und seinen Willen zum Erfolg befeuert hatte. Eine einzige Fehlentscheidung konnte ihn nicht vernichten, sondern höchstens für eine gewisse Zeit zurückwerfen.
Und jetzt, in diesem vom Schicksal bestimmten Moment, saß er hier. Der fremde Mann vor ihm verschaffte ihm Erleichterung auf dem einzigen Weg, den James sich niemals ausgemalt hatte.
„Wie viel?“ Er wandte sich an den bejahrten Anwalt. Unfähig, sich zu setzen, blieb er hinter dem Stuhl stehen und packte die hölzerne Rückenlehne, bis seine Fingerknöchel schmerzten. „Das Vermögen der Grafschaft, Mann. Wie viel ist es wert?“
Er erwartete, dass Cathcart auf diese unverblümte Frage hin verächtlich das Gesicht verziehen würde. Nach mehreren Jahren in der Schiffsbranche wusste James, dass vornehme Gentlemen gerne so taten, als sei es eine Sünde, offen über Geld zu sprechen. Zum Teufel mit dieser falschen Schicklichkeit.
„Das erfordert einige Erklärungen, Mylord.“
Mylord. Das war jetzt sein Titel. Teufel aber auch, was für eine Wendung des Schicksals. Und das an einem Dienstag.
James wedelte mit Hand, um den Mann zum Weiterreden zu drängen.
„Es gibt einen Landsitz …“
Ja, natürlich. Summer-irgendwas. Dieser Steinhaufen in Shropshire, von dem sein Vater einige Male gesprochen hatte, entweder wehmütig oder verächtlich.
„Das Feuer hat den Großteil des Gebäudes zerstört. Das meiste davon war ziemlich alt, die Unterkonstruktion bestand aus alten Eichenbohlen. Ein großes Unglück.“
„Ein Feuer?“
„Vor zwei Jahren, Mylord. Die meisten Wertgegenstände im Haus wurden beschädigt oder vernichtet – Gemälde, Wandteppiche und Möbel. Ihr Onkel war zu der Zeit bereits hoch verschuldet. Er hat sich, laut den Aufzeichnungen des Verwalters, nie um irgendwelche Reparaturen bemüht.“
Das Adrenalin in James’ Adern kühlte sich ab, und sein Verstand musste die Neuigkeit verarbeiten, dass er zwar einen Titel, aber kein Vermögen geerbt hatte.
„Und das Land?“ Auf Land konnte man bauen. Auch wenn er nicht die Mittel dazu hatte. Noch nicht.
„Das Land selbst gehört natürlich zum Erbe. Sie können es so bebauen, wie es Ihnen genehm ist.“ Cathcart schob seine Brille zurecht. „Offenbar sind ein paar Mauersteine vom alten Herrenhaus in Summervale übriggeblieben. Sie könnten sich als nützlich erweisen, falls ein neues Haus an dieser Stelle errichtet werden sollte.“
„Steine? Sie wollen mir erzählen, ich hätte einen Titel und einen Haufen Steine geerbt?“
Cathcart hob sein zerknittertes Gesicht, und zum ersten Mal ließ er so etwas wie Gefühle erkennen. „Tragischerweise war Ihr Onkel gezwungen, die letzten Jahre seines Lebens im Pförtnerhaus zu wohnen.“
James versuchte, so etwas Ähnliches wie Mitleid für den Mann aufzubringen, der sich vor mehr als zwanzig Jahren geweigert hatte, seinen frisch verwaisten Neffen aufzunehmen. Vergeblich.
„Es gibt also eigentlich gar keinen Landsitz. Auch keine Pächter?“
„Keine eingetragenen. Der Verwalter erwähnte, dass viele ehemalige Pächter schon vor Jahren die Gegend verlassen haben, um Arbeit in der Stadt zu suchen.“
„Ist überhaupt irgendetwas von Wert übrig?“
„Nein, Mylord. Zumindest ist es nicht gelistet.“
„Gibt es auf irgendwelchen Konten noch Gelder?“
„Ich fürchte, nein, Mylord. Alle Mittel wurden verwendet, um die ausstehenden Schulden des verstorbenen Earls zu begleichen.“
James rieb sich mit der Hand übers Gesicht und atmete heftig aus. Seine Brust fühlte sich hohl an, ein Gefühl, das ihm im letzten Jahr vertraut geworden war. Doch ein wenig Hoffnung brannte immer noch darin, wie ein widerspenstig aufflackerndes Feuer. Winzig, kaum mehr als ein Glimmen. Aber unbesiegt.
„Gibt es irgendwelche anderen Besitzungen?“ Hatte der Mann ihm nichts anderes hinterlassen als einen nutzlosen Ehrentitel?
„Ach ja!“ Cathcart wühlte in den Dokumenten und hob ein kleineres Blatt Papier in die Höhe. „Eine schuldenfreie Immobilie, für die allerdings kein Wert angegeben ist. Der Verwalter, der die Papiere zusammengestellt hat, hat das Haus in Schottland überhaupt nicht erwähnt.“
„Es könnte also genauso gut ein weiterer Trümmerhaufen sein.“ Das würde zu seinem Glück in letzter Zeit passen. Oder eher zu seinem Pech.
„Die Urkunde vermerkt ein einstöckiges Herrenhaus auf sechs Hektar Land nördlich von Edinburgh. Mehr nicht.“ Cathcart sah ihn stirnrunzelnd an. „Invermere?“, fragte er, als könnte der Name irgendwelche Erinnerungen in James wachrufen.
„Ich weiß nichts über meinen Onkel, sein Leben oder seine Besitzungen. Und ich erfahre erst jetzt, dass er im Umgang mit Geld offenbar ebenso ungeschickt war wie ich.“
Der Anwalt hüstelte missbilligend.
„Noch weitere gute Nachrichten, Cathcart? Überhaupt irgendetwas Gutes?“
„Es tut mir leid, Mylord. Sie haben einen Adelstitel und den schottischen Landsitz geerbt, den ich soeben erwähnte.“ Er schwieg kurz, um James einen mitleidigen Blick zuzuwerfen. „Ich brauche Ihre Unterschrift unter ein paar Dokumenten. Dann kann ich Ihnen einen Schlüssel für das besagte Herrenhaus übergeben sowie eine Liste mit Konten, die zu begleichen sind …“
„Sie meinen ausstehende Schulden.“
„Allerdings.“
Die werden warten müssen, bis ich meine eigenen verdammten Schulden bezahlt habe.
James ließ sich hart auf den Stuhl vor Cathcarts Schreibtisch fallen. Mit einem Gefühl grimmiger Resignation unterzeichnete er die Unterlagen. Während die Feder übers Papier kratzte und er immer wieder seinen Namen niederschrieb, wühlte Cathcart weiterhin auf seine nervtötende Art in den Dokumenten.
Es klang fast, als würde er mit sich selbst reden, als er sagte: „Da ist noch eine Sache.“
James sah den Mann an und wartete, bis der Anwalt ihn anblickte. „Sagen Sie schon.“
„Da wird eine Frau erwähnt. Eine Lady Cassandra Munro, die als wohnhaft unter der Adresse in Schottland erwähnt wird. Allerdings gibt es keine Aufzeichnungen über Mietzahlungen von ihr an den verstorbenen Earl. In seinem Testament wird sie zudem als Empfängerin eines Schmuckstücks bedacht.“ Cathcart sah James erwartungsvoll an.
„Eine Geliebte?“
„Das ist meine Vermutung, Mylord.“
„Der Weg kommt mir ziemlich weit vor, um eine Geliebte zu besuchen.“
Das Gesicht des alten Mannes färbte sich rosig, und James musste über so viel Zimperlichkeit fast lachen.
„Es gibt keine Hinweise darauf, ob sie immer noch dort wohnt.“
„Nun, falls sie sich noch dort aufhält, fürchte ich, wird es nicht mehr für lange sein.“ Wenn dieses Haus seine einzige Möglichkeit war, aus dieser Wendung der Ereignisse einen finanziellen Nutzen zu ziehen, würde sich die Dame eine andere Bleibe suchen müssen. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
James schraubte den Füllfederhalter des Anwalts zu, legte ihn auf den Schreibtisch und erhob sich erneut. „Sie senden mir alles zu?“ Er verspürte eigentlich kein Verlangen nach dem Stapel Papiere auf dem Schreibtisch, aber er wusste um die Last der Verantwortung. Und jetzt ruhte diese Last auf ihm.
„Ich werde einen Brief an Lady Cassandra Munro schicken, um sie darüber zu informieren, dass sie ein Schmuckstück geerbt hat und dass Sie vorhaben, das Herrenhaus in Besitz zu nehmen. Wünschen Sie, dass ich noch etwas über Ihre Pläne bezüglich Invermere hinzufüge?“
Ein Anflug von Mitleid entlockte ihm ein Seufzen. Die arme Frau glaubte wahrscheinlich, sein Onkel würde ihr das Haus vermachen, nachdem er ihr gestattet hatte, dort zu wohnen. James hatte in letzter Zeit so viele schlechte Nachrichten erhalten, dass es ihm widerstrebte, selbst jemandem eine schlechte Nachricht zu überbringen. Aber er hatte keine andere Wahl, und er würde es selbst tun.
„Ich werde nach Schottland fahren. Ich muss mich so schnell wie möglich um den Verkauf kümmern.“
„Natürlich, Mylord.“
Der Gebrauch des Ehrentitels ließ ihn erschaudern. Sein Vater hätte den Titel erben und schließlich an James weitergeben sollen. Aus diesem Grund waren sie alle mit dem Zug nach Shropshire gefahren, als der alte Earl, James’ Großvater, krank geworden war.
Dieser Gedanke rief seine dunkelsten Erinnerungen wach. Jene Bilder, die ihn seit Jahren verfolgten und ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen heimsuchten. Auch jetzt meinte er, den beißenden Rauch zu riechen und das Geräusch von knirschendem Metall zu hören, als der Zug entgleiste. Die Schreie der Fahrgäste hallten in seinem Kopf wider, und er hörte die Stimme seiner Mutter. Ganz ruhig, Liebling. Alles wird gut.
Aber es war nicht alles gut geworden. Er hatte sie beide verloren.
Alles nur wegen dieses wertlosen Titels.
Mit Lord Rossbury angesprochen zu werden, würde sich für ihn immer wie ein Fluch anhören.
„Wie können Sie es wagen!“
James hörte den empörten Aufschrei seiner Wirtschafterin aus einem Häuserblock Entfernung. Mrs. Wilsons walisischer Akzent war unüberhörbar, und die Angst in ihrer Stimme unterstrich ihre Aufregung. James drängte sich an einem Kindermädchen vorbei, das einen Kinderwagen auf dem Bürgersteig seiner halbwegs eleganten Wohnstraße schob, und rannte auf sein Stadthaus zu.
Die Eingangstür stand weit offen, und zwei Fremde schauten drohend auf seine Wirtschafterin hinunter. Das Blut gefror ihm in den Adern, als er die Männer in seinem Haus entdeckte, und der schwelende Ärger nach der morgendlichen Enttäuschung schlug in Wut um.
Waren das Archibald Becks Handlanger? Der Mann hatte immer vage mit „Konsequenzen“ gedroht, falls James seine Schulden nicht beglich. Archie Beck war zweifelsohne ein Mann der Gewalt – allerdings neigte er dazu, sie über Mittelsmänner wie diese Halunken auszuüben. Er selbst machte sich nie die Hände schmutzig. Es stimmte, dass James dem Mann seit Monaten die Raten schuldig geblieben war, aber das hier ging zu weit. Er war ganz allein für diese Eselei verantwortlich und würde nicht zulassen, dass seine Dienerschaft deswegen in Gefahr geriet.
Er musterte die Eindringlinge, während er die Tür weiter aufstieß und über die Schwelle trat. Die beiden kräftigen Männer platzten in ihren grellen Anzügen fast aus den Nähten und ließen ihre Muskeln spielen.
„Weg von ihr.“ Er zog seinen Mantel aus und warf ihn auf den Tisch in der Halle. Während er die Manschettenknöpfe an seinen Ärmeln löste, warf er seiner Wirtschafterin einen fragenden Blick zu. „Sind Sie unverletzt?“
Ihre Wangen waren gerötet, und die Augen waren vor Angst immer noch weit aufgerissen, doch sie nickte ihm knapp zu. „Mir fehlt nichts, Sir.“
„Diese Männer haben sich ins Haus gedrängt und verlangt, mit Ihnen zu sprechen, Sir.“ Jeffries, der betagte Butler, näherte sich, wobei er sich schwer auf seinen Stock stützte. Seine rheumatischen Knie hielten ihn die meiste Zeit im unteren Stockwerk fest.
„Was wollen Sie?“ James baute sich vor den Eindringlingen auf, Mrs. Wilton, das Hausmädchen und der Diener standen hinter ihm. Methodisch krempelte er seine Hemdsärmel auf und überlegte, welcher der beiden Schläger der Anführer war. Derjenige würde James’ Faust als Erster zu spüren bekommen, falls die Dinge aus dem Ruder liefen.
Mrs. Wilton ergriff das Wort, bevor einer von Becks Männern den Mund aufbekam.
„Sie sagten, sie wären berechtigt, die Gemälde mitzunehmen, und verlangten nach dem Silber. Sie haben mir gesagt, ich soll an Ihren Safe gehen und ihnen alles bringen, was darin ist, jawohl.“ Sie wandte sich an James, kam einen Schritt näher und flüsterte: „Sie sagen, Sie hätten Schulden, Sir. Stimmt das?“
Streng genommen handelte es sich nur um eine Schuld. Er hatte nur einmal den verhängnisvollen Fehler begangen, Archibald Beck zu vertrauen.
„Ihre Zahlung an den Boss ist fällig.“ Einer der Rohlinge leierte die Worte mit einem gelangweilten Cockneyakzent herunter, als hätte er sie schon Hunderte Male zuvor von sich gegeben.
Sein Kumpan, kleiner, aber stämmiger, sagte laut: „Überfällig. Zahlen Sie, Pembroke, oder wir nehmen uns, was wir können, für das, was Sie uns schulden.“
„Schert euch zum Teufel!“
Der kleinere Mann stürzte sich auf ihn, und James versetzte ihm einen schnellen Fausthieb auf die Nase.
„Verdammte Hölle!“, jaulte der Mann auf und hielt sich die Nase.
James hielt sich bereit, um erneut zuzuschlagen, doch der Mann starrte ihn nur an.
„Raus hier!“, zischte James mit zusammengebissenen Zähnen, und der größere Schläger beugte sich vor, um ihn besser zu verstehen. „Sofort.“
„Erst, wenn wir uns genommen haben, was Sie uns schulden.“ Als der Größere in den Salon wollte, hob Jeffries seinen Stock, klemmte ihn in die Türöffnung und versperrte so den Weg. Dann zog er eine Pistole aus seiner Tasche und reichte sie James.
Ein kleines Ding mit einem kurzen, dicken Lauf.
James nahm die Waffe und zielte damit auf den Anführer. Er spannte den Hahn, obwohl er nicht einmal sicher war, ob das Ding geladen war.
„Nimm deinen Kumpan und verschwindet, solange ihr könnt.“
Der große Mann sah ihn misstrauisch an und wollte eine Hand in die Innentasche seines Mantels schieben.
„Tu das nicht.“ James drehte sich um und bohrte dem Kerl den Lauf in die Brust. „Richte Beck aus, dass er sein Geld bald bekommt, aber mit diesen Schikanen ist Schluss. Niemand wird noch einmal meine Dienerschaft terrorisieren oder in mein Haus eindringen. Verstanden?“
Der kleinere Mann zog sich zurück und hielt sich dabei immer noch die verletzte Nase, doch der Größere der beiden rührte sich nicht. Er starrte auf die Pistole, die immer noch gegen seine Brust drückte.
„Wann bekommt er, was Sie ihm schulden?“
„Wie ich sagte, bald.“
„Der Boss will nicht länger warten. Sind Sie unverhofft zu Geld gekommen, Pembroke?“, fragte er gehässig. Die Miene des Mannes wirkte wie in Stein gemeißelt.
„Ich bin zu einem Titel gekommen. Seit drei Tagen bin ich der Earl of Rossbury.“
Der Halunke runzelte die Stirn, und Mrs. Wilton schnappte nach Luft. Dann fluchte sie tonlos etwas, was James nicht verstehen konnte. Jeffries lachte rau, und Jenny, das Hausmädchen, quiekte auf, als hätte sie gerade eine Maus in der Spülküche entdeckt.
„Sag das deinem Boss“, sagte James. Er nahm die Waffe von der Brust des Mannes und winkte damit in Richtung Haustür.
Sobald die Männer verschwunden waren, stießen James und seine Bediensteten einen Seufzer der Erleichterung aus. Mrs. Wilton schloss die Tür und verriegelte sie.
„Ein Earl?“, fragte Jeffries leise.
„Offensichtlich.“
„Mylord, mein lieber Schwan!“ Mit einem stolzen Lächeln probierte Mrs. Wilton den Ehrentitel aus. „Sollen wir alles für den Umzug vorbereiten?“
„Leider nicht.“ James hatte keine Zeit, ihnen alles zu erzählen. Im Moment war nur eines wichtig. „Ich brauche Hilfe bei den Vorbereitungen für eine Reise nach Schottland.“
Die Dienerschaft wechselte stirnrunzelnd Blicke.
„Wann brechen Sie auf, Mylord?“, fragte Jeffries.
„Sofort.“
Wenn Lady Lucy Westmont sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es so gut wie unmöglich, sie davon abzubringen.
Ihre Mutter wusste es, und ihre Geschwister hatte es auf die harte Tour gelernt. Vor allem aber wusste es Lucy selbst. Sie kannte sich selbst ziemlich gut. Und sie hatte gelernt, sich selbst zu mögen, auch wenn andere sie für schrullig hielten. Heiratswürdige Gentlemen hielten sich von ihr fern, da sie den Ruf hatte, eine – wie hatte dieser kleine Lord sie auf dem Sommerball noch genannt? – lästige Furie zu sein.
Dabei hatte sie dem Gentleman nur mit deutlichen Worten gesagt, was für ein engstirniger, uninteressanter Trottel er war. Trotzdem konnte sie die Vorwürfe, die man gegen sie erhob, nicht ganz von der Hand weisen. Sie konnte scharfzüngig sein, wenn es die Situation erforderte, und sie war äußerst geübt darin, sich einzumischen. Allerdings sah sie es immer eher als Hilfe an.
Was war falsch daran, die Person zu sein, an die sich andere wandten, wenn sie Hilfe brauchten? Sie war ziemlich stolz auf ihren Ruf, anderen zur Hilfe zu eilen, wann immer sie gebraucht wurde.
Dinge reparieren zu können, war eine Gabe, die in der Welt der Mechanik bewundert wurde. Erst letzte Woche war Mama in Panik geraten, weil sie keinen Klavierbauer gefunden hatte, der sich rechtzeitig vor der Abendgesellschaft um das Instrument kümmern konnte. Natürlich war Lucy sofort eingesprungen. Sie wusste nichts darüber, wie man Klaviere reparierte, aber als der Mann sagte, er sei die ganze nächste Woche ausgebucht, hatte sie ihn persönlich in seiner Werkstatt aufgesucht. Sie hatte ihm erklärt, dass ihr Vater, der Earl of Hallston, ein Diplomat im Dienste der Königin war und dass der Botschafter, der zum Dinner erwartet wurde, ein großer Anhänger von Klavieren war. Eines Tages würde er vielleicht selbst die Dienste eines Klavierbauers nötig haben. Noch am selben Tag war der Mann im Haus ihrer Eltern erschienen.
Also ja, vielleicht mischte sie sich bisweilen ein. Und ja, sie konnte stur sein, wenn sie ein Ziel vor Augen hatte. Aber sie fand immer einen Weg, ein Problem zu lösen.
Für diesen Abend hatte sie sich zwei Dinge vorgenommen. Erstens wollte sie dafür sorgen, dass Mamas Dinnergesellschaft reibungslos über die Bühne ging, und zweitens wollte sie das Versprechen halten, das sie ihrem Vater gegeben hatte. Sie würde sich Mühe geben und sich gesellig und umgänglich zeigen. Sie würde achtgeben, ob sie bemerkt wurde, und lächeln, sobald irgendein Gentleman Interesse an ihr zeigte. Bis jetzt hatte es noch keiner getan.
Dabei versuchte sie es wirklich. Kein einziges Mal hatte sie einen Roman oder ihr Skizzenbuch hervorgeholt. Obwohl sie natürlich beides mitgebracht hatte. Ihr Zimmer zu verlassen, ohne etwas zu lesen oder zum Malen dabeizuhaben, war, als würde sie das Haus unbekleidet verlassen. Mama behauptete, sie würde die Sachen wie ein Schutzschild verwenden, eine Barriere zwischen sich und der Wirklichkeit. Dabei war das Gegenteil der Fall. Beides verband sie mit Welt, machte sie aufmerksam und interessiert für die Menschen um sie herum.
Sie besaß ein gewisses künstlerisches Talent und war recht geschickt im Umgang mit ihrer Boxkamera, aber sie wusste, dass ihre Eltern es ihr nie gestatten würden, daraus einen Beruf zu machen. Sie gingen immer noch davon aus, dass ihre Tochter eines Tages heiraten würde, doch Lucy war sich nicht mehr so sicher.
Tief in ihrem Herzen sehnte sie sich danach, gut genug zu sein, um für ihre Kunst anerkannt zu werden. So wie ihre Tante Cassandra. Nachdem der schottische Lord, mit dem ihre Tante während ihrer ersten Saison durchgebrannt war, gestorben war, war sie in Schottland geblieben und hatte sich als bekannte Porträtmalerin in Edinburgh einen Namen gemacht.
Lucy bewunderte ihre Tante für ihr Talent, aber auch für ihre Unabhängigkeit. Wenn doch nur jede Frau so ein Leben führen könnte, ohne vorher Witwe werden zu müssen.
„Du hast mich vergessen.“ Die Stimme ihrer Freundin, Lady Miranda Farnsworth, riss Lucy aus ihren Überlegungen.
„Das habe ich nicht. Das würde ich nie.“ Tatsächlich hatte sie den größten Teil des Tages mit Miranda verbracht. Sie war den ganzen Morgen in Farnsworth House gewesen, ehe sie für die Abendgesellschaft ihrer Familie nach Hause zurückgekehrt war. Miranda würde in etwas mehr als zwei Wochen heiraten, und Lucy half ihr zu entscheiden, was … nun, eigentlich bei allem.
„Ich habe ein kleines Problem“, flüsterte Miranda ihr zu.
„Bitte sag mir nicht, dass es der Organza sein soll.“ Lucy stöhnte innerlich auf, als sie daran dachte, wie sie fast unter Dutzenden Stoffballen begraben worden war. Sie hatten sich jede Farbschattierung und jedes Muster angeschaut, die die Modistin vorrätig gehabt hatte. „Du hast dich heute Morgen entschieden. Und zwar nach reiflicher Überlegung.“
„Nein, nein, es hat nichts mit der Hochzeit zu tun. Ich habe dir versprochen, einen Abend lang nicht daran zu denken.“ Miranda beugte sich verschwörerisch vor. „Es geht um die Sitzordnung. Ich weiß, dass deine Mama sich viele Gedanken darüber gemacht haben muss, aber ich hatte gehofft, dass ich in der Nähe von Heath sitzen könnte.“
„Möchtest du, dass ich die Tischkarten für dich tausche?“
„Oh, das würdest du tun? Meine liebe Lucy, ich weiß nicht, was ich ohne dich täte.“
„Gräme dich nicht länger. Ich werde gleich davonschleichen und es erledigen.“
Miranda entspannte sich sichtlich und nippte an dem Punsch, den sie in der Hand hielt. „Das wird doch nicht sehr gegen Mrs. Winterbottoms Gebote verstoßen, oder?“, neckte sie.
Unter ihren Freundinnen war Lucy als glühende Anhängerin von Mrs. Winterbottom bekannt. Diese Dame hatte den Leitfaden geschrieben, wie eine Dame ihre Selbstständigkeit erlangen konnte. Doch Die gesittete Dame gab nicht nur Ratschläge zur gesellschaftlichen Etikette. Mrs. Winterbottom erklärte, wie sich das eigene Leben so einrichten ließ, dass alles wie ein Uhrwerk ineinandergriff, und wie man selbst in einer Zwangslage niemals die Fassung verlor.
„Mrs. Winterbottom ist eine Verfechterin der Selbstständigkeit und findet Lösungen für alle kleinen Misslichkeiten des Lebens.“ Lucy grinste ihre Freundin an. „Sie würde es gutheißen.“
„Heath!“ Als sie Mirandas hohes Quieken hörte, mit dem sie den Namen ihres Verlobten aussprach, verspürte Lucy ein Flattern im Magen.
Sie holte tief Luft, bevor sie sich zu dem hochgewachsenen blonden Gentleman umdrehte, der den Salon ihrer Eltern durchquerte, um sie und seine Verlobte zu begrüßen.
„Myladys.“ Er machte eine kleine Verbeugung vor seiner zukünftigen Braut und schaute schließlich Lucy an.
Zum Glück stockte ihr nicht mehr der Atem. Ehrlich gesagt fragte sie sich inzwischen, warum sie sich überhaupt jemals für ihn interessiert hatte. Vielleicht lag es an der Fröhlichkeit, die sein Blick hin und wieder ausstrahlte. Eine gewisse offene Freundlichkeit lag in seiner Natur, und das gefiel ihr.
Lucy war schon immer besser darin gewesen, anderen zu helfen, als sie zu bezaubern. Ihr kleiner Bruder war ein Charmeur, und ihre Mutter konnte das härteste Herz mit einem weichen Blick und sanften Worten dahinschmelzen lassen. Dieses Talent hatte Lucy nicht geerbt, aber sie verstand es, genau zuzuhören, die Gemüter der Menschen zu beruhigen und Lösungen zu finden, wenn die Dinge schiefliefen.
„Du hast mir einen Tanz versprochen“, sagte er mit verzücktem Lächeln zu Miranda.
Mirandas Tante, ihre Anstandsdame und Begleiterin für diesen Abend, hatte Mr. Ogilvys Näherkommen bemerkt und gesellte sich zu ihnen. Das war Lucys Stichwort. Nach einem höflichen Nicken für Mirandas Tante und in Mr. Heath Ogilvys Richtung drückte sie Miranda beruhigend den Arm, entschuldigte sich und schlich ins Speisezimmer.
An der Türschwelle erschrak sie, als sie Stimmen hörte, doch dann erkannte sie eine davon und verdrehte die Augen. Der Geruch von Zigarrenrauch ließ keinen Zweifel zu.
Ihr Bruder und sein Freund Nigel standen rauchend in der anderen Ecke, und ihr Kichern verriet, dass ihr Gesprächsthema nicht für empfindliche Ohren geeignet war.
Sie hatten ihr beide den Rücken zugewandt, also schlich sie auf Zehenspitzen in den Raum und zog die Schiebetür hinter sich zu.
„Charlie, was tust du hier?“
Er fuhr fast aus seinen Stiefeln. „Verdammt, Lucy, du bringst mich noch ins Grab, ehe ich je einen Fuß auf den Kontinent gesetzt habe.“ Theatralisch schlug er sich mit einer Hand an die Brust und scheuchte seinen Freund mit einer Handbewegung fort. „Flieh, Nigel. Ich werde dem Drachen allein gegenübertreten.“
Nigel drückte seine Zigarre in einem Blumentopf aus und schlich an Lucy vorbei.
„Ich bin also ein Drache? Das gefällt mir.“ Lucy hielt ihrem Bruder eine Untertasse für seine Zigarre hin. „Die sind ekelhaft. Papa würde der Schlag treffen, wenn er dich damit sähe.“
„Nun, er sieht mich aber nicht, und als meine Lieblingsschwester wirst du es ihm natürlich nie sagen.“
„Marion ist deine Lieblingsschwester.“ Marion, die Älteste, war jedermanns Liebling. Sie war die perfekte Kombination aus Schönheit, Freundlichkeit und Klugheit. Und sie hatte sich gleich in ihrer ersten Saison einen Duke geangelt. Das hatte die Erwartungen für Lucy haushoch gehängt, aber zum Glück hatten Mama und Papa ihr nach ihrer dritten glücklosen Saison die Demütigung erspart, eine weitere Saison durchzustehen.
„Marion wer?“
„Sehr witzig.“ Lucy schritt den Tisch ab und studierte die Platzkarten. „Hast du die Karten von Mr. Ogilvy und Lady Miranda gesehen?“
„Mirandas ist dort drüben.“ Anstatt auf den Platz zu zeigen, wedelte er mit der Hand in die ungefähre Richtung auf der linken Seite des Tisches.
„Sehr gut. Ich denke, wir werden sie dort lassen, in meiner Nähe, und ihn umsetzen.“
„Ogilvy? Ist das nicht dieser Langweiler, für den du geschwärmt hast?“
„Ich habe nicht für ihn geschwärmt.“
Er warf sich auf einen Stuhl und verschränkte die Arme. „Doch, hast du. Dein Gesicht ist immer ganz fleckig geworden, wenn er zum Dinner gekommen ist.“
„Du bist ein schrecklicher Detektiv.“
„Und du bist eine schreckliche Lügnerin.“
„Ah, hier ist er ja.“ Lucy nahm Heaths Karte und legte sie an den Platz gegenüber von Miranda. Der Platz neben ihr wäre zu viel, und so blieb er wenigsten auf der ursprünglich für ihn vorgesehenen Tischseite. Er rutschte nur ein paar Plätze nach unten. „Das wird genügen, denke ich.“
„Mama würde der Schlag treffen, wenn sie das sehen würde.“ Er feixte, als er ihr ihre Worte zurückgab.
„Dann sind wir ja quitt.“ Lucy hörte einige Takte Klaviermusik. „Und wir sollten jetzt beide wieder zurück.“
„Grundgütiger, du hast recht.“ Ihr Bruder überraschte sie damit, dass er von seinem Stuhl aufsprang. Als könnte er es gar nicht abwarten, zur Gesellschaft in den Salon zurückzukehren, der er gerade erst entflohen war.
„Natürlich habe ich recht. Aber ich hätte nicht erwartet, dass du so bereitwillig zustimmst.“
„Papa will, dass ich mit Balfour spreche. Er hat etwas mit der französischen Botschaft zu tun. Es könnte sich lohnen, vor unserer Reise mit ihm zu sprechen.“
Lucy legte ihm die Hand auf den Arm und hielt ihn auf. „Was für eine Reise?“
„Im nächsten Frühling. Ich werde den Kontinent bereisen.“ Er hakte die Hände an sein Revers und lächelte stolz. „Mein großes Abenteuer.“
Lucy achtete darauf, niemals eifersüchtig auf ihre Geschwister zu sein. Oder besser gesagt, sie gab sich sehr große Mühe, es nicht zu sein. Marion war wunderschön und gut verheiratet, und Charlie war gut anzusehen und hatte etwas von einem liebenswerten Schlingel.
Und Lucy? Sie war meistens zufrieden damit, hilfsbereit zu sein, außerdem noch ganz talentiert im Malen und eine „lästige Furie“. Doch in letzter Zeit hatte sie das Gefühl, mehr zu wollen. Vielleicht hatte sie sich, tief in einem Winkel ihres Herzens, schon immer selbst nach einem Abenteuer gesehnt.
Charlie drückte ihr eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid, Lu. Ich dachte, du wüsstest davon. Wenn du dich ausgeschlossen fühlst, könnte Papa dir vielleicht gestatten, mitzukommen.“
Lucy lachte glucksend und sah ihn kopfschüttelnd an. „Du willst deine Schwester auf dein großes Abenteuer mitnehmen?“ Er war einundzwanzig und für seine Sperenzien bekannt. Sie ahnte seine Antwort voraus.
Er holte so tief Luft, dass seine Brust sich vorwölbte, dann stieß er sie mit einem theatralischen Seufzen aus. „Nein, eigentlich nicht.“
„Das glaube ich auch nicht. Schick mir einfach jede Menge Postkarten und Briefe, falls du dich von den Schwierigkeiten losreißen kannst, in die du dich vermutlich bringen wirst.“
Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und lächelte, dann ging er vor ihr aus dem Speisezimmer.
Lucy blieb einen Moment allein zurück. Wohin würde sie gerne reisen, wenn sie die Freiheit dazu hätte? Dann steigerte sich die Klaviermusik zu einem Crescendo und riss sie aus ihren Tagträumen.
In der Halle blieb sie kurz stehen und vergewisserte sich bei einem Hausmädchen, dass es in der Küche keine Probleme gab, dann begab sie sich schnurstracks in den Salon, in dem die Gäste versammelt waren.
Miranda erspähte sie, sobald sie eintrat, und Lucy lächelte ihr zu.
„Alles ist gut“, formte sie mit den Lippen, und Miranda presste eine Hand an ihr Herz.
Eine gute Tat für diesen Abend war geschafft. Normalerweise machte es Lucy überaus zufrieden, doch die Unterhaltung mit ihrem Bruder hatte eine Sehnsucht in ihr zum Leben erweckt, die sie lange unterdrückt hatte. Er war drei Jahre jünger als sie, und doch wurden ihm viel mehr Freiheiten zugestanden als ihr. Natürlich verstand sie, dass junge Männer anders behandelt wurden als junge Frauen, aber deswegen musste es ihr noch lange nicht gefallen. Sie fand, dass ihre Eltern nicht an solchen überholten Vorstellungen festhalten sollten.
Sie beschloss, ihrem Papa genau das zu sagen, und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einem alten Freund ihres Vaters über die Schulter zu schauen. Vielleicht konnte sie ihn für einen Moment allein erwischen. Doch auf Gesellschaften wie dieser hielt er immer Hof.
Sie entschied, dass sie später die Gelegenheit zu einem Gespräch suchen würde. Gerade als sie sich aufmachen wollte, um Miranda zu suchen, kam Mama auf sie zu.
„Lucy, Gott sei Dank.“ Ihr Mutter bemühte sich, ruhig und gelassen zu wirken, doch ihre Stimme hatte jenen schrillen Ton, der verriet, dass etwas nicht stimmte. „Lady Braithwaite“, flüsterte sie. „Die Ärmste ist im Lehnsessel in der Ecke eingeschlafen, und ich habe sie von Jenkins in mein Wohnzimmer bringen lassen. Würdest du bitte nach ihr sehen und dich vergewissern, dass alles in Ordnung ist? Ich vermute, sie ist einfach nur müde, aber wenn wir Dr.Whitaker rufen lassen müssen, sollten wir es tun.“
„Mach dir keine Sorgen, Mama. Ich sehe gleich nach ihr.“
„Danke, mein Mädchen. Betina Braithwaite ist nicht übermäßig stolz, aber es würde ihr gewiss nicht gefallen, wenn die Klatschmäuler über sie herziehen würden. Und das nur, weil sie eingeschlafen ist oder ein wenig zu viel Likör getrunken hat.“
Lucy hatte keine Mühe, unbemerkt aus dem Salon zu schlüpfen. Ihr Vater hatte begonnen, einen Toast auf den Botschafter auszubringen, und zog damit die Aufmerksamkeit der meisten Gäste auf sich.
Als sie das Wohnzimmer ihrer Mutter betrat, entdeckte sie Lady Braithwaite auf dem Sofa. Die Frau hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Ihre Nichte Alice, die sie begleitete, stand besorgt vor ihr und lächelte Lucy nervös zu.
Sobald Lucy bei ihr war, gestand Alice: „Ich weiß nicht, wie ich sie allein ins Speisezimmer schaffen soll. Sie ist ziemlich stur.“
Lucy kannte Lady Braithwaite seit ihrer Kindheit und mochte ihre eigensinnige, unverblümte Art sehr. Furien mussten schließlich zusammenhalten.
„Ich setze mich gerne zu ihr und kann auch etwas zu essen kommen lassen, wenn ihr der Lärm im Speisezimmer zu viel ist. Ich kümmere mich um sie, Alice. Bitte gehen Sie und genießen Sie den Abend.“
Das Mädchen knabberte einen Moment an ihrer Lippe, dann gab sie nach. „Vielen Dank, Mylady. Ich habe eine Einladung für einen Tanz nach dem Essen.“
„Nun, dann müssen Sie gehen.“ Lucy schenkte ihr ein aufrichtiges Lächeln. Wenn sie zum Tanzen aufgefordert worden wäre, würde sie ihn auch nicht verpassen wollen – wobei es natürlich auf den Partner ankam. Der lüsterne ältere Viscount, der ihr den einzigen Heiratsantrag in drei Jahren gemacht hatte, stand eindeutig auf der Liste jener Tanzpartner, denen sie ganz gewiss einen Korb geben würde.
Sobald das Mädchen gegangen war, setzte Lucy sich so vorsichtig wie möglich auf das andere Ende des Sofas, um die Countess of Braithwaite nicht zu stören.
Sie ließ sich ins Polster sinken. Dieser Raum strahlte immer so viel Ruhe und Frieden aus. Er war klein genug, um gemütlich zu sein. Ihr Mutter hatte ihn in weichen Pastelltönen gestaltet, und die Luft roch nach frischen Blumen und dem Narzissenparfüm ihrer Mutter.
Insgeheim war sie froh, dem überfüllten Salon entkommen zu sein, und ihre Gedanken kreisten immer noch um die Vorstellung, in ein fernes Land zu reisen.
Die Countess richtete sich auf und bemerkte sie.
„Lady Lucy! Hat man Sie zu meinem Kindermädchen auserkoren, armes Mädchen?“
„Ganz und gar nicht, Mylady“, sagte Lucy heiter. „Ich habe mich freiwillig gemeldet, und jetzt können wir beide einen ruhigen Moment auskosten.“
„Ich stelle fest, dass ich diese Ruhe mehr und mehr zu schätzen weiß. Ich schlafe in letzter Zeit schlecht, und diese langen Abende tun mir nicht gut. Das Alter, wissen Sie. Es erwischt uns alle.“ Sie stieß ein tiefes, kehliges Lachen aus. „Aber Sie sind jung und müssen zur Gesellschaft zurückkehren.“
Sie streckte die Hand aus und tätschelte freundlich Lucys Arm.
„Ich bin heute Abend selbst ziemlich abgelenkt, es ist mir also ganz lieb, ein wenig Ruhe zu haben.“ Lucy holte eine weiche Kaschmirdecke vom Sessel ihrer Mutter am Feuer und legte sie der Countess über die Knie.
„Wirklich? Erzählen Sie mir, was Sie beschäftigt, meine Liebe.“
„Die Einschränkungen einer unverheirateten Dame“, sagte sie freimütig, beinahe geistesabwesend, während sie das Bücherregal ihrer Mutter nach etwas absuchte, das sie der Countess zum Zeitvertreib vorlesen könnte.
„Wie alt sind Sie doch gleich?“
„Vierundzwanzig.“ Lucy schaute zurück und stellte fest, dass die Countess sie mit der Andeutung eines Lächelns auf den Lippen beobachtete. „Sie waren in meinem Alter zweifelsohne längst verheiratet.“
„Verheiratet und zweifache Mutter.“ Lady Braithwaites Augen wurden schmal.
Lucy erwartete einen Vortrag über die Freuden der Ehe oder düstere Warnungen vor dem Schicksal von Damen, die auf dem Abstellgleis landeten. Sie holte tief Luft und wappnete sich für die Anstrengung, sich auf die Zunge zu beißen. Dabei wollte sie einfach nur ihre Meinung sagen können.
„Unsere Erfahrungen unterscheiden sich, aber ich weiß noch gut, was ich mit vierundzwanzig wollte, und ich glaube, Sie wissen es ebenfalls. Sind Sie vollkommen gegen die Ehe eingestellt?“
„Ganz und gar nicht.“ Lucys Eltern bewiesen, dass der Ehestand eine glückliche Daseinsform sein konnte. Allerdings erforderte er Geduld – an der es ihr häufig mangelte – sowie die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen – worin sie ebenfalls nicht besonders gut war.
„Ich nehme an, Lord und Lady Hallston haben Ihnen die Entscheidung überlassen?“
Diese leise Andeutung verriet ihr, wohin das führen würde. Sie wusste, dass sie mehr Glück hatte als viele junge Damen, mit denen sie vor Jahren ihr Debüt gefeiert hatte. Sie waren häufig mit schrecklichen Männern verheiratet worden oder von ihren Familien gedrängt worden, eine Verbindung einzugehen, bei der Lucy bezweifelte, dass sie darin jemals Liebe erfahren würden.
„Ja. Allerdings stand nur ein einziger Mann zur Auswahl, der viel zu alt und alles andere als freundlich gewesen war.“ Lucy konnte kaum über etwas flunkern, das im Familienkreis wohlbekannt war.
„Geben Sie die Hoffnung nicht auf, liebes Mädchen. Ich habe meine Töchter ermutigt, zu warten, bis sie ganz sicher waren.“ Die Countess strich die Decke in ihrem Schoß glatt und lehnte den Kopf an den rosa Damast. Kurz darauf fielen ihr die Augen zu.
Lucy war zu unruhig, um zu lesen. Sie stellte das Buch ins Regal zurück und stocherte im heruntergebrannten Feuer herum. Dann entdeckte sie einen Stapel Briefe auf dem Schreibtisch ihrer Mutter, glitt auf den Stuhl davor und entzündete die Öllampe.
Lucy hatte es sich schon vor Jahren zur Gewohnheit gemacht, die Post ihrer Mutter zu ordnen und zu beantworten. Jetzt schien es ihr eine gute Möglichkeit, sich abzulenken, während sie bei der schlummernden Countess saß.
Sie trennte die Einladungen von der eher persönlichen Korrespondenz und lächelte, als sie auf einen Brief ihrer Tante Cassandra stieß. Wie es ihre Gewohnheit war, hatte sie den Brief außen mit Zeichnungen und Blumen verziert und mit Wasserfarben koloriert.
Nachdem sie die Kunstfertigkeit ihrer Tante bewundert hatte, faltete Lucy den Brief auseinander und begann zu lesen.
Das Schreiben war warm, ausdrucksstark und fordernd. Als sie ihren eigenen Namen las, lächelte sie.
Schick Lucy zu mir.
Ein kleiner Freudenschauder erfasste sie, und sie überflog rasch den restlichen Text, um zu erfahren, bei was für einem Vorhaben ihre Tante ihre Hilfe brauchte.
Lass nicht zu, dass Lucy eine freudlose alte Jungfer wird. Dafür ist sie viel zu temperamentvoll. Ich habe es in ihr gesehen, seit sie ein kleines Mädchen war. Ich bin selbst eine mittlere Schwester und weiß, wie leicht es ist, nur noch nützlich zu sein, anstatt Leidenschaft um ihrer selbst willen zu empfinden. Sie verdient mehr, als einfach nur nützlich zu sein.
Sie las die Worte viele Male, bis sie sich ihr ins Gedächtnis eingebrannt hatten. Freudlose alte Jungfer traf sie am meisten. Eine Gefühl brennender Hoffnungslosigkeit ließ ihr Herz schmerzen.
Nein. Das war nicht sie. Sie warf den Brief beiseite, während sie sich den anderen Briefen im Stapel widmete, doch Tränen verschleierten ihren Blick. Sie wischte sich über die Wange und nahm noch einmal den Brief ihrer Tante in die Hand.
Schick Lucy zu mir.
Als sie diese Zeile erneut las, schnappte sie leise nach Luft, als sie endlich begriff, worauf ihre geliebte Tante hinauswollte.
Tante Cassandra hatte den Brief nicht als Ermahnung oder gar als Kritik geschickt. Es war ein Leuchtfeuer. Eine Rettungsleine, ausgeworfen im fernen Schottland.
Es war die Gelegenheit für Lucy, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
Der Gong zum Abendessen ertönte, doch die Countess rührte sich nicht. Kurz darauf klopfte es leise. Ihre Mutter trat ein und schloss die Tür leise hinter sich.
„Ich wollte sehen, wie es unserem Gast geht“, flüsterte sie. Auf Zehenspitzen schlich sie sich an der Countess vorbei zu Lucy. „Was glaubst du, was ihr fehlt?“
„Sie ist nur müde, Mama. Aber ich denke, es ist besser, ihr etwas zu essen bringen zu lassen, oder wenigsten etwas Tee. Ich glaube nicht, dass sie heute Abend gerne mit am Tisch sitzen würde.“
„Und du?“ Ihre Mutter strich ihr eine Strähne hinters Ohr. Lucys Haar war genauso blond wie das ihrer Mutter. „Ich möchte nicht, dass du das Dinner verpasst. Ich könnte Jenkins schicken, damit er bei ihr bleibt.“
Lucy stand auf und ergriff die Hand ihrer Mutter. Sie verspürte einen heftigen Wunsch, den sie nicht zurückhalten konnte.
„Mama, ich will nach Schottland fahren.“
„Schottland …“
„Um Tante Cassandra zu besuchen.“ Lucy hielt den Brief in die Höhe. „Sie hat mich eingeladen.“
Ihre Mutter legte einen Finger an ihre Lippen. „Wir wollen Lady Braithwaite nicht aufwecken.“ Dann nahm sie Lucys Hand in ihre. „Natürlich solltest du sie besuchen, meine Liebe. Lass uns später darüber reden und überlegen, wann wir im Frühling am besten zusammen fahren.“
„Nein, Mama. Ich möchte allein fahren, und ich möchte jetzt aufbrechen. So schnell wie möglich.“
Ihre Mutter runzelte die Stirn, und ihre Mundwinkel wurden spitz. „Lucy, was ist nur in dich gefahren?“
Natürlich passte das ganz und gar nicht zu ihr. Viel zu lange war sie bereit gewesen, alles für andere zu tun, und hatte sich damit abgefunden, niemals eigene Erfahrungen zu machen. Doch die Lebhaftigkeit, von der ihre Tante in ihrem Brief sprach, gehörte ebenfalls zu Lucy. Es war höchste Zeit, dass sie sie für sich einforderte.
„Ich werde fahren, Mama“, erklärte Lucy ihrer Mutter mit einer Entschiedenheit, die sie nie zuvor empfunden hatte. „Ich will mein eigenes Abenteuer erleben.“
Drei Tage später
„Das hatte ich nicht erwartet, Papa.“
Lucys Vater sagte nichts und setzte sich nur noch etwas gerader auf die Bank in seiner eleganten Kutsche.
Nach dem Frühstück und dem Ankleiden war sie die Treppe heruntergehüpft. Vor Aufregung über den Beginn ihrer Reise nach Schottland schien sie förmlich zu vibrieren. Statt der großen Familienkutsche hatte der modische Einspänner ihres Vaters vor dem Haus auf sie gewartet. Kurz darauf war er selbst aufgetaucht, hatte ihr in die schwarz glänzende Kutsche geholfen und sich neben sie gesetzt, ohne ein Wort zu sagen. Sie hatte eine schreckliche Ahnung, warum er beschlossen hatte, sie zum Bahnhof zu begleiten, doch sie war heute mit einem Gefühl der Leichtigkeit und Vorfreude erfüllt, das durch nichts zu trüben war.
Am Tag nach der Abendgesellschaft ihrer Eltern hatte sie ihre Fahrkarte geholt und Telegramme mit ihrer Tante gewechselt, die sie heute Abend in Edinburgh an der Waverley Station abholen würde. Der Expresszug würde sie in kaum mehr als acht Stunden dorthin bringen. Sie hatte alles eingepackt, was sie für einen vierzehntägigen Aufenthalt benötigte, und war dabei so sparsam wie möglich gewesen. Nur sie selbst, eine kleine Truhe und eine vollgestopfte kleine Reisetasche mussten zur King’s Cross Station transportiert werden.
„Womit habe ich die persönliche Eskorte des Earl of Hallston verdient?“, fragte sie schließlich.
Er warf ihr einen Seitenblick zu und hob eine seiner angegrauten Brauen. „Willst du damit sagen, dass ich normalerweise nicht auf die Sicherheit und das Wohlergehen meiner Tochter achte?“
„Ganz und gar nicht.“ Neckische Sticheleien waren zwischen ihnen an der Tagesordnung, aber Lucy war nicht sicher, ob ihr Vater heute dazu in der Stimmung war. „Aber normalerweise bist du zu dieser Stunde in deinem Club oder in irgendwelchen Besprechungen.“
„Ich habe meine Termine abgesagt.“ Als er sie ansah, hatte sein Blick etwas Prüfendes. „Wenn du es genau wissen willst, bin ich mir immer noch nicht sicher, ob ich dir diese Reise gestatten soll.“
Lucy packte den Stoff ihres Rocks und zwang sich, nicht darauf zu antworten. Ihr Vater reagierte nicht gut auf unüberlegte Antworten. Er war ein Mann der Diplomatie, ein vernünftiger Mann. Außerdem hatten sie bereits über dieses Thema gestritten, und er hatte nachgegeben, wenn auch widerstrebend.
Sie waren bereits auf die Hauptverkehrsstraße eingebogen und steckten im morgendlichen Verkehr fest. Mit etwas Glück würden sie den Bahnhof in einer halben Stunde erreichen.
„Bannister hätte dich auf diesem Ausflug begleiten sollen“, grollte er.
„Mama braucht sie mehr als ich.“ Die treue Zofe begleitete ihre Mutter auf jede Reise, und Lucy war sehr gut in der Lage, sich selbst anzukleiden. „Außerdem sind da noch Tante Cassandra und ihre Bediensteten.“
Das laute Hüsteln, das ihr Vater ausstieß, verriet seine Zweifel. Nicht, dass er sie nicht schon zuvor geäußert hätte – er argwöhnte, dass ihre Tante einen schlechten Einfluss auf sie haben würde. Doch Lucy hielt sich selbst weder für missraten noch für leicht beeinflussbar.
„Vertraust du mir nicht, Papa?“