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Nebelnacht in London...
In einer einsamen Straße im Hafenviertel zerreißt der verzweifelte Schrei einer Frau die Stille.
Als die Reporterin Lorna West und ihr Verlobter Andrew Ferguson dort auftauchen, ist jedoch niemand zu sehen. Nur rote Flecken auf dem Pflaster: Blut!
Die Spur verliert sich im Nebel. Sie gehen ihr nach. Bis zu einem versteckten Winkel in einer finsteren Gasse. Und dort...
Der Roman Schrei vor der Tür von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1966.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
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Victor Gunn
Schrei vor der Tür
Roman
Apex Crime, Band 152
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
SCHREI VOR DER TÜR
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Nebelnacht in London...
In einer einsamen Straße im Hafenviertel zerreißt der verzweifelte Schrei einer Frau die Stille.
Als die Reporterin Lorna West und ihr Verlobter Andrew Ferguson dort auftauchen, ist jedoch niemand zu sehen. Nur rote Flecken auf dem Pflaster: Blut!
Die Spur verliert sich im Nebel. Sie gehen ihr nach. Bis zu einem versteckten Winkel in einer finsteren Gasse. Und dort...
Der Roman Schrei vor der Tür von Victor Gunn (eigentlich Edwy Searles Brooks; * 11. November 1889 in London; † 2. Dezember 1965) erschien erstmals im Jahr 1965; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1966.
Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.
»Es ist Blut - frisches, feuchtes Blut!«
Die Stimme des Mädchens, von Natur sonst weich und wohlklingend, klang rau vor Entsetzen. Ihre schmale, behandschuhte Hand klammerte sich an den Arm ihres Begleiters.
»Ruhig, Lorna! Blut? Du musst dich irren.« Der junge Mann sprach nervös. »Der Teufel hol’ diesen Nebel! Du bist sicher bloß in irgendeiner Pfütze hier ausgeglitten.«
»Nein, es ist keine gewöhnliche Pfütze«, unterbrach ihn das Mädchen erregt. »Es ist ganz nass und glitschig. Oh, Andrew, wie schrecklich!«
Mit einem ungeduldig gemurmelten Ausruf zog Andrew Ferguson eine Taschenlampe aus seiner Manteltasche und richtete ihren Strahl auf den Bürgersteig.
Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn, als er auf eine Blutlache hinunterstarrte. Das Blut war noch nicht geronnen, ein Beweis, dass es erst vor wenigen Minuten vergossen worden war.
»Mein Gott!«, entfuhr es Andrew. »Jemand muss eine Kugel abbekommen haben, kein Zweifel.«
Er blickte sich beunruhigt um, während er Lorna ein bisschen näher zu sich zog. Es war nichts zu sehen, außer den wirbelnden, brodelnden Nebelschwaden im Lichtstrahl seiner Taschenlampe. Bei diesem Wetter machte die String Lane in Stepney einen wenig erfreulichen Eindruck. Selbst bei schönstem Sonnenschein war sie schon eine hässliche, verrufene Seitengasse im Londoner Osten.
Was hatten diese beiden jungen Leute in einer solchen Gegend zu suchen? Was führte Lorna West, eine junge Journalistin, und den Ingenieur Andrew Ferguson um acht Uhr eines nebligen Oktoberabends durch diese verrufene Straße?
Ihr Verlobter war von Anfang an gegen dieses Unternehmen gewesen; aber Lorna war ein eigenwilliges Mädchen, das genau wusste, was es wollte, und entschlossen war, seinen Willen durchzusetzen.
Sie waren mit seinem Wagen von Streatham, wo Andrew mit seinen Eltern in einem geräumigen Haus wohnte, losgefahren. Schon bald nach ihrem Start hatte sich der Nebel in einem Maß verdichtet, dass Andrew beschloss, die ganze Sache abzublasen. Der Verkehr war mehr oder weniger zu einem Stillstand gelangt.
»Du siehst selbst, Lorna, es hat keinen Sinn«, erklärte er ohne Umschweife. »Mit diesem Tempo werden wir nie ankommen. Es ist ohnehin ein verrückter Einfall von dir. Dieser Nebel gibt den Ausschlag.«
»Wieso denn? Es ist noch nicht einmal sieben, und ich brauche erst um acht dort zu sein. Bis dahin schaffen wir es noch leicht.«
»Mein lieber Dickkopf...«
Der junge Mann unterdrückte sein impulsives schottisches Temperament und schwieg einen Moment. So sehr er Lorna liebte - und er liebte sie mehr als irgendetwas auf Erden - so sehr hing er auch an seinem Wagen, in dem sie nun saßen. Es war sein eigener Pratt-Ferguson-Spezial, ein grandioses Ding mit leistungsfähigem Motor und einer schnittigen Karosserie, ein ganz persönliches Produkt seines Geistes. Einen solchen Wagen in dem immer undurchdringlicher werdenden Nebel zu riskieren, grenzte, seiner Meinung nach, einfach an Wahnsinn.
Er fing noch einmal von vorne an: »Wenn du erst um acht dort eintreffen musst, dann bleibt uns noch massenhaft Zeit, die Sache in aller Ruhe zu besprechen. Du bist so verflixt ungeduldig, Liebling! Kommst angerannt und überredest mich, Hals über Kopf nach Stepney zu fahren. Dabei habe ich nicht die entfernteste Ahnung, worum sich das Ganze dreht. Was ist das eigentlich für eine Verabredung, von der du dauernd sprichst?«
»Ach, Andrew, ich hab’ dir doch schon alles erklärt!«, sagte das Mädchen ungeduldig. »Fürchtest du dich vor ein bisschen Nebel? Du, ein berühmter Rennfahrer? - Wenn wir hier herumsitzen, kommen wir natürlich nie irgendwo an...«
»Na, wenigstens sind wir nun von der Hauptverkehrsstraße weg«, unterbrach sie Andrew. »Der Verkehr ist zwar überall so gut wie gelähmt. Der Nebel wird von Minute zu Minute schlimmer.«
Er suchte nach seinen Zigaretten, hielt Lorna das Päckchen hin und zündete sich eine an, nachdem sie abgelehnt hatte. Dann betrachtete er sie in dem gedämpften Schein, der vom Schaltbrett ausging. Ihr leidenschaftliches, schön geformtes Gesicht, mit diesem lebhaften Ausdruck, der so charakteristisch für sie war, verfehlte nie seine Wirkung auf ihn. Wieder einmal - wohl zum tausendsten Mal - dachte Andrew, dass er mit dem hübschesten Mädchen der Welt verlobt war, und, wie schon so oft, überfiel ihn eine seltsame Scheu bei dem Gedanken, dass sie sich aus so einem Durchschnittstyp wie ihm etwas machen sollte.
Er konnte ihre dunklen Locken über den wohlgeformten Ohren sehen, ihr reizvolles Profit und das Wissen über ihre gegenseitige Vertrautheit erfüllten ihn mit einem warmen Gefühl des Glücks.
»Die ganze Geschichte ist absolut simpel«, sagte sie. »Ich habe mit einem Redakteur vereinbart, eine Artikelserie über den Alltag in Stepney und Wapping und in der Hafengegend ganz allgemein zu schreiben.«
»Warum?«, fragte Andrew nüchtern.
»Wir wollen es einmal vom Gesichtswinkel der Frau aus bringen«, setzte ihm Lorna auseinander. »Aber wie soll ich den bekommen, wenn ich nicht für eine Weile hier lebe? Ich möchte alles mit eigenen Augen sehen.«
Sie redete voller Begeisterung. Als freiberufliche Journalistin mit einiger Erfahrung war Lorna immer begierig, neue Gebiete zu erforschen. Sie war an keine Zeitschrift vertraglich gebunden, aber ein gewisser Redakteur interessierte sich im Augenblick stark für einen Vorschlag, den sie ihm unterbreitet hatte. Ganz abgesehen von der recht einträglichen finanziellen Seite dieser Vereinbarung, hing auch Lornas beruflicher Ehrgeiz an dieser Idee.
»Und was hat das mit deiner Verabredung zu tun?«
»Ich will Mrs. Dowsett aufsuchen. Vor ein paar Tagen gab ich in zwei Tageszeitungen Anzeigen auf, um hier in der Gegend eine passende Unterkunft zu finden. Eine der Zuschriften, die ich erhielt, kam von Mrs. Dowsett«, erklärte ihm Lorna, sichtlich bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. »Ich hatte den Eindruck, dass ihr Angebot das richtige für mich ist. Sie bewohnt eine recht komfortable Wohnung und ist bereit, sie mit mir zu teilen, solange ich will. Und es würde mich nur fünf Pfund pro Woche kosten.«
»Das scheint mir ziemlich teuer zu sein«, wandte Andrew mit echt schottischer Vorsicht ein.
»Unsinn! Das ist billig«, beharrte Lorna.
»Woher willst du das wissen? Vielleicht ist es irgendein schmutziges Loch in einer üblen Hintergasse...«
»...weshalb wir, mein lieber, armer Dummkopf, nach Stepney fahren und uns die Wohnung ansehen«, beendete Lorna gereizt. »Ich bin nicht ganz so naiv, dass ich Mrs. Dowsetts Angebot unbesehen annehme. Wir haben uns heute zur Lunchzeit recht nett in einem Restaurant unterhalten...«
»Oh, du hast diese Frau bereits getroffen?«
»Natürlich hab’ ich das. Sie ist überraschend nett - ein bisschen zu stark aufgeputzt vielleicht, ein wenig zu viel Make-up, aber das stört mich nicht. Sie hat mir gleich angeboten, sie Millie zu nennen.«
»Du lieber Himmel!«
»Was ist denn falsch daran? Millie ist ein hübscher Name. Wir haben uns für heute Abend verabredet. Ich versprach, um acht Uhr bei ihr zu sein, so dass sie mir die Wohnung zeigen kann. Andrew, du musst doch verstehen, dass ich sie nun nicht versetzen kann! Ich glaube, sie braucht das Geld.«
»Das mag ja sein, aber sie wird gewiss begreifen, dass du bei diesem Nebel nicht kommen kannst«, protestierte er. »Schau dich doch um, Mädchen! Dick wie Bohnensuppe! Es geht einfach nicht, Lorna.«
Lorna spähte durch die beschlagene Windschutzscheibe.
»Es ist wirklich ein bisschen viel«, gab sie zu. »Was für ein Pech, dass es gerade heute Abend so neblig sein muss!«
»Kannst du die Frau nicht anrufen?«
»Ich weiß nicht. Sie sagte nichts davon«, antwortete Lorna und biss sich auf die Lippen. »Das habe ich vergessen, sie zu fragen. Komm schon, Andrew - lass uns weiterfahren.«
»Schau, Lorna, sei vernünftig, gib es auf!«, drängte er. »Ich bin in jedem Fall ganz und gar gegen diese verrückte Idee von dir. Der Gedanke, dass du hier in diesem finsteren Viertel leben willst, ist mir einfach unerträglich. Wapping! Stepney, Shadwell! Die übelste Gegend im Londoner Osten. Weiß Gott, was einem hübschen Mädchen wie dir hier alles zustoßen kann!«
Sie lachte leichtherzig.
»Hör mal, Andrew, glaubst du eigentlich, wir leben immer noch im vorigen Jahrhundert? Was für eine Vorstellung hast du bloß? Dunkle Hintergassen mit Gaslaternen und Straßenräuber hinter jeder Ecke? Der Londoner Osten ist heutzutage absolut respektabel.«
»Woher willst du das wissen?«, widersprach er heftig. »Das glaubst du bloß, mein Kind. Ich wiederhole dir, mir gefällt die Idee nicht, dass du...«
Er brach ab, weil ihm seine Vernunft sagte, dass jeder weitere Protest von seiner Seite sie nur noch widerspenstiger machen würde. In den zwölf Monaten, die er sie kannte, war ihm klargeworden, dass Lorna nicht nur ein Mädchen mit durchaus eigenen Ansichten war, sondern überdurchschnittliche Intelligenz und Unternehmungsgeist besaß. Eine sprühende, kraftvolle Elektrizität lag ihrer Persönlichkeit zugrunde, für die er große Bewunderung hegte. Manchmal, um ganz ehrlich zu sein, hatte er sogar ein bisschen Angst vor ihr.
»Wir verschwenden nur Zeit, wenn wir hier herumsitzen und warten«, fuhr Lorna fort. »Ich gebe dir recht, was den Nebel betrifft. Er wird immer schlimmer. Es hat keinen Sinn weiterzufahren. Glücklicherweise befindet sich der Bahnhof Streatham Hill direkt dort über der Straße.«
»Was ist das nun wieder für ein Vorschlag?«
»Du kannst doch deinen Wagen hier stehenlassen, nicht wahr?«, fragte sie. »Wir brauchen nur den Zug zum Victoria-Bahnhof zu nehmen und
dort in die U-Bahn umzusteigen. Ihr kann der Nebel nichts anhaben. Es gibt eine Station in Stepney, und von dort ist es nicht mehr weit zur String Lane, wo Millie Dowsett wohnt.«
»Du meine Güte, es ist dir also ernst?«
»Natürlich ist es mir ernst damit!«
»Schieb doch die ganze Geschichte noch ein bisschen auf!«, bat er. »Ich bin sicher, dass der Eisenbahnverkehr durch diesen Nebel völlig durcheinandergeraten ist.«
»Nicht die U-Bahn. Nebel kann ihr nichts anhaben«, beharrte Lorna. »Auch wenn die Eisenbahn ein bisschen Verspätung haben wird, schadet das nichts.«
Er sah ein, dass keinerlei Aussicht für ihn bestand, sie umzustimmen, und ihm nichts übrigblieb, als nachzugeben. Der Gedanke, seinen heißgeliebten Wagen an einem solchen Ort einfach stehenzulassen, war ihm ungemein zuwider. Selbst, dass er sich hier sicher außerhalb des Straßenverkehrs befand und seine Türen mit Spezialsicherheitsschlössern und das Steuer mit einem Lenkradschloss versehen waren, bedeutete für ihn keinen Trost.
Kurz danach, als er feststellen musste, dass der Zug zum Victoria-Bahnhof pünktlich auf die Minute abfuhr, als existierte der Nebel überhaupt nicht, verschlechterte sich seine Laune noch um ein beträchtliches. Aber er versagte sich jeglichen Kommentar, und Lorna begnügte sich mit einem mutwilligen Zwinkern.
Sie trafen ohne Verspätung am Victoria-Bahnhof ein und wechselten von dort zur U-Bahn über.
Nun waren sie hier in Stepney, eingehüllt vom dichten Nebel und mit einer Blutlache zu ihren Füßen.
»Was kann bloß passiert sein?«, fragte Lorna mit nicht ganz sicherer Stimme. »Schau, dort sind noch mehr Blutflecken am Bürgersteig!«
»Was auch immer passiert ist, Lorna, es muss gerade ein oder zwei Minuten, bevor wir hier aufkreuzten, geschehen sein. Das Blut ist ganz frisch«, flüsterte er. »Wo sind wir eigentlich? Wie weit ist es noch zu der Wohnung dieser Frau?«
»Ich weiß es nicht genau, aber jedenfalls befinden wir uns schon in der String Lane. Ich sah das Straßenschild an der Ecke, als wir von der Hauptstraße abbogen. Mrs. Dowsetts Wohnung muss ganz in der Nähe sein.« Ihre Stimme hob sich ein wenig. »Was spielt das jetzt für eine Rolle? Jemand ist gefährlich verletzt worden. Es muss sich ein Unfall ereignet haben.«
»Kein Verkehrsunfall; denn hier gibt es keinen Verkehr.« Andrew war sichtlich beunruhigt. »Außerdem ist die Blutlache auf dem Bürgersteig, ganz nah an diesem alten Hauseingang.« Er hob seine Taschenlampe und leuchtete einen verwahrlosten Hauseingang mit zwei oder drei abgetretenen Stufen davor an. »Auf den Stufen ist kein Blut.«
Alle seine früheren bösen Ahnungen überfielen ihn nun wieder mit doppelter Kraft. Es reizte ihn zu sagen: Der Londoner Osten ist heutzutage eine absolut respektable Gegend, nicht wahr? Doch er unterdrückte den Impuls. Es war überflüssig, es Lorna noch extra unter die Nase zu reiben.
Während des kurzen Schweigens, das folgte, wurde er sich plötzlich der völligen Stille ihrer Umgebung bewusst. Der Nebel verschluckte jeden Laut. Es war, als seien er und Lorna die einzigen Menschen im Umkreis von Meilen. Nicht einmal der Lärm des Verkehrs drang von der Hauptstraße bis hierher. Nichts als die nasskalte, einhüllende Stille des Nebels...
»Wie kann ein Mann nur so viel Blut verlieren?«, fragte Lorna, unwillkürlich flüsternd. »Meinst du, es stammt von einer Stichwunde? Das scheint noch das Nächstliegende zu sein... Ach, du lieber Himmel, wer weiß, ob wir nicht einen ganzen Schauerroman wegen nichts erfinden? Vermutlich kommt das alles auf ein starkes Nasenbluten hinaus...«
»Nein, Lorna. Nasenbluten hinterlässt hier und dort einen Tropfen - wenn überhaupt etwas«, widersprach Andrew. »Jeder Mensch mit Nasenbluten benutzt als erstes sein Taschentuch. Hier handelt es sich um eine viel gefährlichere Sache.«
Er machte ein paar Schritte und blieb dann stehen. Was er nun sah, bestätigte seinen früheren Verdacht. Blutflecken, große, feucht schimmernde Blutflecken in ziemlich regelmäßigen Abständen waren auf dem holprigen Pflaster des Bürgersteigs zu erkennen. Während Andrew der Spur folgte, den Strahl seiner Taschenlampe nach unten gerichtet, wurde ihm klar, was sich ereignet hatte.
»Dort, nahe bei diesem alten Hauseingang, fand der Überfall statt«, sagte er sachlich. »Dabei muss der arme Kerl das Blut verloren haben. Doch er war noch nicht erledigt, er schaffte es wegzugehen, und während er ging, blutete er ununterbrochen weiter.«
»Glaubst du das wegen dieser Blutflecken, Andrew?«, fragte Lorna mit einem unterdrückten Schaudern. »Dann kann er noch nicht weit gekommen sein; wenn wir uns beeilen, holen wir ihn sicher ein. Der Arme braucht schnellstens Hilfe.«
Andrew, mit seinem Vorurteil gegen diese Stadtgegend, war innerlich überzeugt, dass eine Messerstecherei zwischen irgendwelchen Verbrecherbanden stattgefunden haben musste. Es mochte immer noch gefährlich sein für ihn und Lorna, sich hier aufzuhalten. Wer sagte ihm denn, dass nicht Mitglieder der Bande, irgendwo verborgen im Nebel, herumlungerten, denn es war eindeutig, dass der Mordversuch fehlgeschlagen war. Das Opfer, wenn auch schwer verletzt, hatte es geschafft, sich aus dem Staub zu machen.
Eines stand mit Sicherheit fest: Das war kein Ort für ein Mädchen wie Lorna.
»Es ist eine richtige Spur«, sagte das Mädchen eifrig. »Los, Andrew, wir müssen ihm nach!«
»Lass es«, murmelte Andrew lahm.
In Wirklichkeit war er nicht weniger darauf erpicht als sie, der Spur zu folgen, weil er hoffte, sie würde sie aus dieser gefährlichen Zone herausführen. Sein Hauptinteresse konzentrierte sich darauf, Lorna sicher in belebte und erleuchtete Straßen zurückzubringen. Diese schmale, verlassene Straße flößte ihm tiefstes Unbehagen ein.
Als sie ihr Ende erreicht hatten, sah er, dass eine enge Gasse links davon abzweigte. Eine Straßenlaterne stand dort; in ihrem Schein las er das Straßenschild: Bishop’s Passage. Die String Lane war offenbar eine Sackgasse, denn außer diesem engen Durchgang schien kein anderer Weg aus ihr herauszuführen.
Die Blutspur setzte sich fort. In unregelmäßigen Abständen leuchteten immer wieder die unheimlichen roten Flecken im Schein der Taschenlampe auf.
Bishop’s Passage war noch finsterer und enger als die String Lane, mit geheimnisvollen Torwegen hier und da. Ein Geruch hing in der Luft - ein eigenartiger, unangenehmer Geruch, der Andrew an Kloaken und Abwässer erinnerte. Eine Straßenlaterne am entfernten Ende glomm trübe durch den Nebel.
An der Ecke blieb Andrew stehen. Wieder war ein Blutfleck zu seinen Füßen. Er ging weiter. Ein Schild an der Mauer verkündete, dass sie nun die Packet Street betraten. Immer noch regte sich kein Zeichen menschlichen Lebens. Nicht einer einzigen Menschenseele begegneten sie. Es war, als durchstreiften sie eine verlassene Stadt. Andrew konnte kaum glauben, dass sie sich in Wirklichkeit nicht weit von den geschäftigen Hauptstraßen wie der Commercial Road und der Whitechapel High Street befanden.
»Warte!«, rief ihm Lorna zu. »Schau dir das hier an, Andrew! Es ist nicht nur ein Fleck. Eine riesige Blutlache!«
»Tatsächlich, direkt am Randstein, nahe beim Laternenpfahl«, bestätigte er, während er sich über den großen feuchtglänzenden Blutfleck beugte. »Der arme Teufel hat sich offensichtlich hier an diesem Laternenpfahl festgehalten. Man sieht es an den verschmierten Blutspuren auf der Ölfarbe hier. Er scheint stark zu bluten. Vermutlich sammelte er hier Kraft, um sich über die Straße zu schleppen.«
Er spähte angestrengt durch die Nebelwand, aber er konnte die gegenüberliegende Straßenseite nicht erkennen. Für ihn war nur wichtig, dass es sich um eine größere und belebtere Straße als jene Seitengassen handelte. Es begegnete ihnen sogar jetzt schon hin und wieder die schattengleiche Gestalt eines anderen Fußgängers, tauchte kurz aus dem milchigen Nebel auf, ging vorbei und verschwand wieder.
»Los, mach schon!«, drängte Lorna. »Wenn er hier die Straße überquert hat, dürfte es nicht schwierig sein, auf der anderen Seite wieder seine Spur aufzunehmen. Schrecklich, sich vorzustellen, dass der Arme ununterbrochen blutend immer weitergeht, ohne dass sich eine Menschenseele um ihn kümmert! Komm, Andrew!«
»Wirklich, Lorna, lass es doch sein! Jetzt hat es doch keinen Sinn mehr!«, widersprach Andrew. »Inzwischen hat sich längst jemand seiner angenommen. Wir kommen nun wieder in eine belebtere Gegend...«
Er verstummte, weil er bemerkte, dass er zu sich allein redete. Lorna war verschwunden. Sie hatte sich doch tatsächlich daran gemacht, die breite Straße zu überqueren. Im Stillen fluchend folgte er ihr.
Auf der anderen Straßenseite fand er seine Verlobte ungeduldig auf ihn wartend.
»Wo hast du deine Taschenlampe?«, fragte sie.
»Es ist doch einfach hirnverbrannt, hier nach der Spur zu suchen!«
»Ist es nicht! Gib mir die Lampe.«
Er reichte sie ihr ohne Kommentar, fest überzeugt, sie würde selbst bald einsehen, dass sie nur ihre Zeit verschwendeten.
Andrew zuckte zusammen, als Lorna ihm ein paar Sekunden später winkte. Der Schein der Taschenlampe war auf einen weiteren Blutfleck gerichtet.
»Ich sagte es dir doch!«, rief Lorna triumphierend. »Er überquerte die Straße und ging dann - oh, Verzeihung!«
Sie trat beiseite, als sie fast mit einem Mann zusammenstieß, der unvermittelt aus dem Nebel aufgetaucht war. Der Mann starrte sie verblüfft an; offenbar wunderte er sich, was sie hier mit der Taschenlampe machte. Dann ging er weiter.
Andrew nahm Lornas Arm, und eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.
»Wir müssen nun vorsichtiger sein«, meinte er. »Hier sind überall Leute. Das ist eine ziemlich belebte Straße, verglichen mit den Seitengassen, durch die wir bisher gingen. Das Dumme ist, ich weiß nicht genau, wo wir eigentlich sind.«
»Das ist doch ganz gleichgültig«, erklärte Lorna. »Wir sind immer noch auf seiner Spur, und das beweist, dass der Mann kaum mehr Vorsprung als ein oder zwei Minuten vor uns hat. Ich bin sicher, dass wir ihn sehen könnten, wenn nicht dieser idiotische Nebel wäre! Können wir uns nicht ein bisschen mehr beeilen?«
»Nein, das geht nicht. Wir kommen dann bloß von der Spur ab. Warte einen Augenblick. Leuchte mal das Straßenschild dort an der Mauer an. Aha, Mansell Street. Dachte ich es mir doch! Wir müssen in der Nähe der Aldgate High Street oder der Whitechapel High Street sein.«
Fast ohne Übergang waren sie nun einer Welt der Abgeschlossenheit und Stille entkommen. Hier herrschte reges Leben. Unentwegt begegneten sie anderen Fußgängern, Autos und Lastwagen krochen langsam, vorsichtig durch den Nebel. Nur der übliche Straßenlärm klang seltsam gedämpft. Auch die Sicht wurde immer schlechter.
Es schien einfach unvorstellbar, dass sich hier jemand, noch vor Minuten blutend, durch die Straße geschleppt haben sollte, ohne dass es einem der Passanten aufgefallen wäre. Doch die nassglänzenden Blutflecke bewiesen es. Die Spur riss nicht ab.
Ein paar Minuten später, als sie an einen Platz kamen, der offensichtlich die Mansell Street mit der Whitechapel High Street verband, war selbst Lorna halb und halb bereit, die Verfolgung aufzugeben.
»Nun, hier sind wir am Ende unserer Weisheit angelangt, Lorna«, verkündete Andrew nicht ohne Erleichterung. »Sieh mal, hier an der Randsteinkante ist der letzte Blutfleck. Anscheinend hat er es trotz des starken Verkehrs geschafft, die Straße zu überqueren.«
»Das verstehe ich einfach nicht«, sagte Lorna, ihren Kopf schüttelnd. »Wie kann jemand in einer solch fürchterlichen Verfassung unbemerkt hier durchkommen? Ob ihm jemand geholfen hat?« Sie war enttäuscht. »Er kann höchstens vor einer oder zwei Minuten hier vorbeigekommen sein...«
»Das können wir nicht mit Sicherheit annehmen, Liebling«, unterbrach sie Andrew. »Es kann ebenso gut vor zehn Minuten gewesen sein - und in zehn Minuten kann eine Menge passieren.«
»Andrew, die Autos warten scheint’s an der Ampel!«, rief Lorna schnell. »Los, wenn wir uns beeilen, kommen wir gerade noch auf die andere Seite!«
Sie griff nach seinem Arm, und wieder sah sich Andrew gezwungen, ihr durch das Durcheinander von Bussen und anderen Fahrzeugen über die Whitechapel High Street zu folgen, wenn er sie nicht im Nebel verlieren wollte.
»Das ist die Middlesex Street«, erklärte Andrew, der jetzt begann, sich wieder zurechtzufinden. »Sieht ganz anders aus, jetzt bei Nacht und Nebel.«
Wie ein eifrig witternder Jagdhund suchte Lorna mit der Taschenlampe das Pflaster des Bürgersteigs ab. Andrew war diesmal sicher, dass sie sich nun geschlagen geben musste.
Doch wieder musste er feststellen, dass er dieses zu allem entschlossene Mädchen unterschätzt hatte. Schon wenige Minuten später stieß sie einen leisen Schrei aus - sehr zur Verwunderung zweier vorübergehender Mädchen - und griff nach Andrews Arm.
»Siehst du?«, sagte sie und wies auf einen Blutfleck auf der äußersten Kante des Randsteins. »Gut, dass wir nun aus jener belebten Straße wegkommen. Hier kommen wir wieder schneller voran.«
In der Tat war die Middlesex Street um diese Zeit ungewöhnlich friedlich und still. Die beiden begegneten kaum noch anderen Fußgängern...
Doch die Spur, diese unheimliche, schreckliche Blutspur war immer noch da. Andrew fiel auf, dass die Abstände zwischen den Blutflecken immer größer wurden. Es begann schwierig zu werden, ihnen zu folgen.
Einmal mussten sie sogar umkehren. Am Eingang zu einer schmalen Gasse, mit dem Namen Gallow’s Cross, trafen sie wieder auf die Blutflecke.
Die beiden jungen Leute blieben einen Augenblick zögernd stehen. Ein unangenehmes Gefühl befiel sie beim Anblick der schmutzverkrusteten Mauern zu beiden Seiten der unbeleuchteten Gasse.
»Vorsicht!«, warnte Andrew, als Lorna in die neblige Dunkelheit hineinschritt.
»Aber er hat doch diesen Weg eingeschlagen!«, beharrte sie.
Innerlich seine Nachgiebigkeit verfluchend, folgte Andrew dem voraneilenden Mädchen.
Es war wieder eine dieser Sackgassen, mit hohen rußgeschwärzten Mauern zu beiden Seiten. Ihre Schritte hallten dumpf auf dem alten, unebenen Pflaster, während sie an schmalen Torwegen vorbeigingen, die einen unwillkürlich an rattenverseuchte Keller denken ließen. Andrews Phantasie arbeitete auf Höchsttouren.
»Schau!«, wisperte Lorna plötzlich und blieb stehen.
Die Lampe in ihrer Hand zitterte ein wenig, so dass der Strahl unruhig hin und her huschte. Sie riss sich gewaltsam zusammen.
Der Lichtstrahl fiel auf einen dunklen, zusammengesunkenen Gegenstand in einer Mauerecke.
»Mein Gott! Eine Frau!«, murmelte Andrew bestürzt.
Er wusste selbst nicht, was ihn daran so überraschte. Lorna ging es nicht anders. Sie hatten beide angenommen, dass es sich bei dem verletzten Unbekannten um einen Mann handeln müsse.
Sie hatten das Ende der Spur erreicht...
Andrew nahm Lorna die Taschenlampe unsanft aus der Hand und hielt sie zurück.
Die zusammengekrümmte Gestalt lag bewegungslos da. Schon der erste Blick in dem grellen Licht der Lampe genügte, um Andrew zu überzeugen, dass die Frau tot war.
Hier war sie nach ihrem langen, mühsamen Weg zusammengebrochen; hier, in dieser dunklen Ecke, hatte sie der Tod ereilt. Ihre Augen standen weit offen, Blut sickerte aus ihren Mundwinkeln, und die Vorderseite ihres wollenen Mantels wies einen dunklen feuchten Fleck auf.
»Wir kamen zu spät...«, flüsterte Andrew heiser. »Nein, Lorna, schau nicht hin! Es ist ein schrecklicher Anblick...«
»Aber ich muss!«, beharrte Lorna. »Die Arme! Verkriecht sich hier in diese finstere Ecke, um...« Mit einem plötzlichen Schreckenslaut brach sie ab. »Andrew! Es ist Millie Dowsett - die Frau, deren Wohnung ich besichtigen wollte!«
Sergeant John Lister von Scotland Yard betrachtete sich voller Genugtuung in dem hohen Spiegel. Sein fleckenloser Smoking umschloss seine athletische Figur ohne die geringste Spur einer Falte. Jeder Modefotograf eines Herrenjournals hätte bei seinem Anblick aufgejubelt.
»Nicht schlecht!«, stellte Johnny zufrieden fest. Dann runzelte er die Stirn, denn er hatte im Spiegel hinter sich seinen Chef bemerkt, mit dem er das gemütliche Appartement in der Victoria Street gemeinsam bewohnte.
»Old Iron, du siehst einfach schäbig aus«, erklärte Johnny schmerzerfüllt. »Wir mögen zwar einen schwierigen Fall erfolgreich zum Abschluss gebracht haben, und ich finde es nur recht und billig, dass wir das feiern, aber hältst du es wirklich für notwendig, diesen Anzug unter den Mottenkugeln auszugraben und harmlose Leute, die dir nichts getan haben, damit zu erschrecken?«
Chefinspektor William Cromwell, von seinen Kollegen Old Iron oder Ironsides genannt - ein Spitzname, den er den berühmten Ironsides, den Eisenseiten, der Reiterei seines großen historischen Namensvetters verdankte -, nahm dieses vernichtende Urteil ohne mit der Wimper zu zucken hin. Sein Smoking mochte zwar nicht gerade nach der allerletzten Mode sein, aber er war tadellos gebügelt und saß einwandfrei. Der Grund für Johnnys herbe Kritik lag vor allem in seinem Wunsch, heute Abend, bei dieser Gelegenheit, seinen Chef im besten Licht vorzuführen.
»Möchte wissen, warum ich mich wie ein Pfingstochse herausputzen soll«, brummte Cromwell mürrisch. »Es gibt nichts, was ich mehr hasse als ein gestärktes Hemd. Ich muss nicht alle Tassen im Schrank gehabt haben, als ich die Einladung deines Vaters annahm!«
»Es blieb dir nichts anderes übrig«, grinste Johnny. »Mit welcher Begründung hättest du die Einladung ablehnen sollen?«
Tatsache war, dass General John Everett Lister, Johnnys Vater, in seiner Villa im Westend ein Dinner gab, um den erfolgreichen Abschluss eines aufsehenerregenden Falles durch Chefinspektor Cromwell und seinen Sohn John zu feiern. General Lister war nicht nur stolz auf jeden beruflichen Erfolg seines Sohnes, sondern auch ein wohlhabender, wenn nicht reicher Mann, der sich eine solche Geste ohne weiteres leisten konnte.
»Wer wird denn alles zu dieser verflixten Party kommen?«, fragte Ironsides besorgt. »Mir passt die ganze Geschichte überhaupt nicht, Johnny. Partys sind mir einfach ein Greuel. Ich war blöd, mich von dir überreden zu lassen. Abendanzug! Idiotisch! Ich sage dir gleich, wenn ich auch nur einen einzigen Journalisten auf dieser Party entdecke, zerhaue ich ihm seine Kamera, bevor er auch nur versuchen kann, von mir Aufnahmen zu machen. Ich denke nicht daran, aus mir einen Hanswurst machen zu lassen...«
»Um Himmels willen, Old Iron, mach es halblang!«, unterbrach ihn Johnny respektlos. »Selbstverständlich ist niemand von der Presse zu dieser Party eingeladen. Es ist ausschließlich eine private Gesellschaft. Kein Grund zur Aufregung.«
»Wollen es hoffen«, murrte Cromwell, »aber ich kenne solche Scherze.« Er unterzog seinen jungen Assistenten einer gründlichen Betrachtung und schnitt eine Grimasse. »Du weißt doch hoffentlich, dass du wie eine dieser blödsinnigen Schaufensterpuppen aussiehst? Was passiert eigentlich, wenn du dich plötzlich bückst?«
Johnny lachte. Er fand, dass er großartig aussah. Im Allgemeinen war er nicht eitel, aber irgendwie fühlte er sich im Smoking immer besonders wohl.
Es war genau acht Uhr dreißig. Sein Vater hatte versprochen, sie zu dieser Zeit abzuholen. Bei dem Nebel war vielleicht mit einer kleinen Verspätung zu rechnen, aber was bedeutete an einem solchen Abend schon ein bisschen Nebel?
Es klingelte. Eine Minute später betrat General Listers imposante, militärische Erscheinung das gemütliche Wohnzimmer.
»Meine Gratulation, Mr. Cromwell«, sagte er in seiner pompösen Manier, während er die Hand des Chefinspektors drückte. »Das gleiche für dich, Johnny.« Er zögerte. »Weiß ja nicht, inwieweit es auch dein Erfolg war. Muss zugeben, dass ich nie dachte, aus dem Jungen würde mal was Ordentliches werden. Als er damals zur Polizei ging, glaubte ich, er hätte den Verstand verloren. Kriminalbeamter! Seine Mutter und ich lachten uns krank!«
»Immer charmant, der liebe, alte Dad!«, sagte Johnny verärgert.
»Wollte dich nicht beleidigen, Junge«, lenkte sein Vater ein. »Aber es ist nur, weil deine Mutter und ich dich eigentlich immer für phlegmatisch und nicht besonders helle hielten.«
»Nochmals vielen Dank, wenn das deine Art zu gratulieren ist...«
»Sei doch nicht so empfindlich, Junge! Das ist eben meine Art Humor«, sagte sein Vater. »In Wirklichkeit sind deine Mutter und ich mächtig stolz auf dich. - Nun, bist du fertig? Ich habe den Rolls-Royce direkt vor dem Haus stehen.«
»Danke vielmals, Sir, dass Sie sich all diese Mühe wegen Johnny und mir machten«, knurrte Bill Cromwell unbehaglich. »Fürchte, ich habe nicht viel Talent für Partys.« Ein fast ängstlicher Ausdruck zeigte sich auf seinem sonst so selbstbewusst wirkenden Gesicht. »Es wird doch hoffentlich nicht getanzt? Oder sonst irgendwelche Partyspiele?«
Der General lachte.
»Keine Sorge, Chefinspektor«, beruhigte er ihn. »Nur ein ganz privates Familiendinner mit ein paar speziellen Gästen. Hinterher Bridge oder Billard.«
Ironsides atmete erleichtert auf. Er brachte sogar ein Lächeln zustande. Eine seiner schlimmsten Befürchtungen hatte sich als unbegründet erwiesen. Die ganze Zeit über hatte ihn der Gedanke gequält, sich plötzlich inmitten einer Twist-Party zu finden.
»Du machst es aber elegant heute, alter Herr!«, grinste Johnny, als sie sich zum Gehen anschickten. »Wir haben nicht erwartet, dass du uns gleich mit dem Rolls abholst.«
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Ein hoffnungsvoller Schimmer glomm in Ironsides’ Augen auf, als er sich halb umwandte. Aber Johnny war flinker und erreichte vor ihm den Apparat.
»Tut mir leid«, sagte er kurz angebunden, »wir sind gerade dabei wegzugehen. - Wie? - Oh! Wusste nicht, dass Sie es sind, Sir...«
Man merkte Johnnys Art plötzlich an, dass die Stimme am anderen Ende der Leitung gewohnt war, Befehle zu erteilen.
»Bin froh, dass ich Sie noch erreichte, bevor Sie weggingen, Lister«, sagte sie. »Ich weiß, dass Sie und der Chefinspektor heute dienstfrei sind, aber...«
»Ja, Sir, eine spezielle Angelegenheit.«
»Auch das weiß ich und bedauere es.« Es war Colonel Lockhursts Stimme, Listers und Cromwells Vorgesetzter. »Ist mir äußerst unangenehm, dass ich Ihnen den Abend verderben muss, aber ein ganz besonders dringender Fall liegt vor. Geben Sie mir Chefinspektor Cromwell.«
Johnny schwante nichts Gutes, als er Ironsides den Telefonhörer reichte.
»Cromwell?«, kam die scharfe Stimme des Colonels über die Leitung. »Was immer Sie auch für heute Abend vorhaben - sagen Sie ab. Mir wurde eben der zweite Creeper-Mord in der Middlesex Street gemeldet. Ich wünsche, dass Sie sich sofort dorthin begeben und die Leitung der Ermittlungen übernehmen.«
»Jawohl, Sir. Und Lister?«
»Nehmen Sie ihn mit«, entschied Lockhurst. »Tut mir leid, dass ich Ihre Party abbrechen muss, bevor sie überhaupt anfing, aber das ist wirklich dringend. Ich möchte einen erstklassigen Mann mit diesem Fall betrauen, weshalb ich Sie dafür aussuchte.«
»In Ordnung, Sir - ich verstehe«, entgegnete Ironsides prompt. »Danke für das Kompliment, Sir. Um ehrlich zu sein, diese Regelung kommt mir sehr gelegen.«
»Das dachte ich mir«, sagte der Colonel trocken. »Sie haben mir gestern bereits angedeutet, dass Sie von dieser Einladung nicht gerade begeistert sind. - Inspektor Drewton vom dortigen Revier ist schon am Tatort. Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich hinkommen.«
Cromwell legte auf. Er schien plötzlich ein neuer Mensch zu sein. Seine Bewegungen waren auf einmal lebhaft und zielbewusst. Johnny Lister betrachtete ihn voller Misstrauen.
General Lister, der bereits an der Tür stand und die Unterhaltung am Telefon nicht mitbekommen hatte, schaute verwirrt von einem zum anderen.
»Irgendeine Verzögerung?«, fragte er höflich.
»Leider nicht nur das, Sir«, erklärte Ironsides munter. »Bedaure, aber ich muss Ihnen absagen. Die Pflicht ruft.« Er seufzte. »Einer der Nachteile, die der Beruf eines Kriminalbeamten mit sich bringt: Man weiß nie, wann man abberufen wird. Ein Mord in der Middlesex Street...«
General Lister gelang es nicht, seinen Ärger zu verbergen.
»Zum Donnerwetter, hat denn Scotland Yard niemand anders, der sich um diesen verdammten Mord kümmern kann?«, fragte er wütend. »Warum, zum Teufel, lassen Sie sich auf diese Weise herumkommandieren? Sagen Sie denen doch, dass Sie heute nicht im Dienst sind!«
»Offen gesagt, Sir, wir sind immer im Dienst«, gab Ironsides mit einem gespielt resignierten Kopfschütteln zurück. »Johnny, sieh zu, dass du aus diesen komischen Klamotten steigst. Jeden Moment kann der Dienstwagen kommen. Los, mach schon!«