Schulbegleitung und Autismus - Fabian Hoff - E-Book

Schulbegleitung und Autismus E-Book

Fabian Hoff

0,0

Beschreibung

Die sozialen und sensorischen Herausforderungen des Schulbetriebs können autistische Kinder schnell überfordern. Ihr anderes, oft auffälliges Verhalten führt immer wieder zu Missverständnissen bei Mitschülern oder Lehrpersonen. Einschränkungen in der Kommunikation können es zudem schwierig machen, Absprachen mit diesen Kindern zu treffen oder ihre Bedürfnisse herauszufinden. Die Rolle von Schulbegleitern ist es, zwischen den Anforderungen der Schule und den Bedürfnissen der Begleitperson zu vermitteln und diese möglichst in Einklang zu bringen. Der Autor erläutert autistische Eigenschaften, verknüpft diese mit dem schulischen Alltag und leitet daraus konkrete Hilfen für die Praxis ab. So entsteht ein anwendungsorientierter Leitfaden inklusive Szenarien, wie Begleitungen gestaltet werden können.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 191

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Autor

Fabian Hoff erhielt 2009 die Diagnose Autismus. Seit mehreren Jahren ist er freiberuflich als Referent in der Fort- und Weiterbildung zum Thema Autismus-Spektrum tätig (u. a. für den Bundesverband Autismus). Er ist selbst Schul- und Studienbegleiter.

Fabian Hoff

Schulbegleitung und Autismus

Strategien und Erfahrungen eines autistischen Schulbegleiters

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

Abbildungen 2.1, 2.2, 2.3, 2.4 und 2.5: Monika Nemet, monikanemet.de

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041829-5

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-041830-1

epub:        ISBN 978-3-17-041831-8

 

 

 

Danke Susanne, dass Du an mich geglaubt hast, als es niemand sonst getan hat. Ohne Dich hätte es dieses Buch niemals gegeben.

Danke Moni, für die Eisbären und noch viel mehr.

Danke Nadja, für ein Fels in der Brandung sein.

Danke Mama, für alles.

Inhalt

 

 

1      Einführung

1.1   Ziel der Schulbegleitung

1.2   Wie das Buch funktioniert

1.3   Begriffserklärungen

1.4   Ein paar Worte über mich

2      Über Autismus

2.1   Ein paar Worte über Autismus

2.2   Die Intense World Theory

2.3   Unterschiedliche sensorische Erfahrungen

2.4   Ein anderes Körpergefühl

2.5   Fokussiertes Denken und ausgeprägte Interessen

2.6   Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung

2.7   Anspannung, Entspannung und Überreizung

2.8   Sozialverhalten und Kommunikation

3      Ursachen

3.1   Sensorische Reize

3.2   Intrinsische Motivation

3.3   Erwartungskonflikte

3.4   Autismus und Lernen

4      Exkurse für die alltägliche Praxis

4.1   Drei grundsätzliche Bereiche

4.2   Kommunikationsebenen etablieren

4.3   Spezialinteressen, Fantasiewelten und intensive Fokussierung

4.4   Strukturierung

4.5   Rollenspiele

4.6   Stressmanagement und Detektivarbeit

4.7   Essen sortieren und andere körperliche Sensationen

4.8   Wann soll ich eingreifen?

5      Beispiele

5.1   Utopie

5.2   Beispiele

6      Perspektiven und Schlusswort

6.1   Autistische Kultur und Neurotribes

6.2   Schlusswort

7      Verzeichnis der Rezepte

Literatur

1

Einführung

1.1       Ziel der Schulbegleitung

Schulbegleitung ist eine Tätigkeit, die sehr vielfältige Formen annehmen kann. Um zu einem guten Ergebnis zu kommen, kann es notwendig sein, sich wie ein Schaf unter eine Herde von Schafen zu mischen. Es kann aber auch notwendig sein, so wie der Schäferhund am Rande der Herde zu wachen, und nur einzugreifen, wenn es notwendig wird. Wichtige Grundsätze sind:

  Schulbegleiterinnen sind keine Lehrerinnen, keine Erzieherinnen und kein Vormund!

  Schulbegleiterinnen sind Erfüllungsgehilfen eines Prozesses (der Schulbesuch), der eigentlich auch ohne sie funktionieren sollte.

  Schulbegleiterinnen arbeiten stets daran, sich selbst überflüssig zu machen.

  Bei allem, was siemachen, gilt: so viel wie nötig, so wenig als möglich.

Das oberste Ziel ist es, der Klientin zu ermöglichen, den Schultag selbstbestimmt und in Würde zu absolvieren und die gleichen Erfahrungen machen zu können, wie die neurotypischen Kinder!

Diese Ziele dürfen niemals außer Acht gelassen werden, auch wenn sie in einer konkreten Situation unerfüllbar erscheinen oder tatsächlich unerfüllbar sind. Auch ein unerfüllbares Ziel ist ein Ziel, an dem man sich in seinem Handeln ausrichten kann. Um noch einen weiteren Widerspruch hinzuzufügen: Alle Regeln in diesem Buch, selbst der Grundsatz im vorigen Absatz, sind Regeln, die in bestimmten Situationen gebrochen werden müssen, um das optimale Ergebnis für Klientinnen herauszuholen. Allein, sie dürfen niemals vergessen werden. Jeder Regelbruch bringt Kosten mit sich, die zumeist auf das Konto der Klientin gehen. Ein solches Vorgehen lässt sich nur rechtfertigen, wenn die Klientin einen Gewinn hat, der den Verlust ausgleicht oder sogar übertrifft.

Beispiel

Toni ist ein aufgewecktes Mädchen, aber auch ziemlich verpeilt. Sie vergisst regelmäßig ihren Turnbeutel in Klassenräumen. An normalen bis guten Tagen lässt ihr Schulbegleiter ihren Turnbeutel liegen. Sobald Toni bemerkt, dass sie ihren Turnbeutel vergessen hat, muss sie ihn aus dem anderen Klassenraum holen gehen. Das ist für Toni ärgerlich, weil es ihren Tagesablauf durcheinander bringt. Und dass sie sich ärgert, ist die Dynamik, die letzten Endes dazu führen kann, dass Toni sich eine Technik überlegt, wie sie ihren Turnbeutel nicht mehr vergisst. Es wäre also nicht sinnvoll, ihr den Beutel immer hinterher zutragen.

Heute allerdings hatte Toni einen sehr schlechten Tag. Sie hat nur noch wenig Energie übrig und befindet sich bereits latent im Overload. Ihr Schulbegleiter beschließt, an diesem Tag ihren Turnbeutel mit in den nächsten Klassenraum zu tragen. Er will auf jeden Fall vermeiden, dass der Overload sich in einen Meltdown entlädt, weil ein ausgiebiger Meltdown bei Toni auch zur Folge haben kann, dass sie danach mehrere Tage in der Schule fehlt, weil sie die Zeit benötigt, um sich zu erholen.

Es gilt also, dass wir die Beständigkeit und die Regelmäßigkeit, die wir für unsere Klientinnen zu erschaffen versuchen, auf gar keinen Fall für uns selbst in Anspruch nehmen können. Als Schulbegleiterinnen müssen wir uns ständig an die Bedürfnisse unserer Schutzbefohlenen anpassen, und die können je nach Situationen und Kontext sehr unterschiedlich oder auf den ersten Blick widersprüchlich sein.

1.2       Wie das Buch funktioniert

Ich gehe davon aus, dass Sie, wenn sie sich dazu entschlossen haben, dieses Buch zu lesen, bereits gewisse Erfahrungen mit dem Thema Autismus gesammelt haben. Ich werde daher Autismus nicht von Grund auf erklären. Stattdessen werde ich das Autismusmodell vorstellen, auf dem meine Arbeit basiert. Es leitet sich aus innerem Erleben, eigenen Erfahrungen mit mir selbst und anderen autistischen Personen sowie wissenschaftlichen Vorstellungen her. Außerdem werde ich ein bisschen gegen das Wort Störung wettern, da ich es aus verschiedensten Gründen für falsch und bei der Schulbegleitung als Störfaktor empfinde, Autismus defizitär zu definieren.

Autismus ist ein multidimensionales und komplexes Phänomen. Es gibt nicht das eine Knie, über das man jeden Aspekt von Autismus brechen kann. Der Ansatz dieses Buches ist, sich in wiederholten Iterationen aus verschiedenen Perspektiven dem Thema Schulbegleitung und Autismus anzunähern. Dabei werde ich versuchen, immer wieder einen Zusammenhang herzustellen zwischen einzelnen autistischen Phänomenen und den dahinter liegenden zentralen Wirkmechanismen von Autismus.

Das Buch ist als Praxisratgeber konzipiert. Es gibt drei wesentliche Abschnitte. Das zweite Kapitel erklärt zwei Modelle, die die Basis für den praktischen Teil darstellen: die Intense World Theory und das Eisbärmodell. Das dritte Kapitel soll Zusammenhänge zwischen autistischem Sein und Herausforderungen, die bei der Schulbegleitung auftreten können, aufzeigen. Im vierten Kapitel werden verschiedene praktische Ansätze für die alltägliche Arbeit vorgestellt und erläutert. Im fünften Kapitel soll an verschiedenen Beispielen dargestellt werden, wie all die zuvor besprochenen Ansätze zu einer gelungenen Begleitung verwebt werden können. Dabei orientiert sich das Buch an der in Deutschland vorherrschenden Konstellation: die Schulbegleitung ist eine externe (Fach-)Kraft, die von einem Träger für Schulhilfe angestellt ist und die Klienten in der Schule begleitet.

Ich versuche, typische autistische Verhaltensweisen aufzuzeigen. Allerdings ist es so, dass Autisten genauso individuell sind wie Neurotypiker. Es ist daher nicht möglich, jede Variante und jede Ausformung darzustellen. Ich versuche deshalb oft ein Spektrum aufzuzeigen. Im Abschnitt über Overloads beschreibe ich, dass Fähigkeitsverlust soweit gehen kann, dass auch die Kontrolle über basale Körperfunktionen verloren gehen kann. Ich beschreibe in dem Beispiel einen Klienten, der sich einnässt. Wenn Ihr Klient sich erbrechen muss, dann kann das natürlich dieselbe Ursache sein, die sich nur in einer anderen Variante darstellt. Die Abstraktionsleistung, diese Dinge entsprechend einzuordnen, die muss natürlich von Ihnen selbst erfolgen.

Das gleiche Prinzip gilt für die umschriebenen Hilfsansätze. Ich versuche diese Dinge so genau zu beschreiben, dass sie übernommen werden können. Zugleich versuche ich diese Dinge so abstrakt zu beschreiben, dass möglichst die Wirkprinzipien, die ihnen zu Grunde liegen, deutlich werden. Jede dieser Hilfestellungen kann und soll an die individuellen Bedürfnisse Ihrer Klienten angepasst werden. Um dies zu erleichtern, habe ich an die Kapitel hinten Rezepte mit spezifischen Anwendungsgebieten angehängt, die als Zusammenfassungen dienen sollen.

Bezüglich des Gendering habe ich mich für folgende Variante entschieden: Ich verwende für jedes Unterkapitel abwechselnd weibliche und männliche generische Formen. Dabei bleiben intersexuelle und nicht-binäre Personen leider unsichtbar, weshalb ich sie an dieser Stelle erwähnen möchte.

1.3       Begriffserklärungen

Coping beziehungsweise CopingskillsAls Coping bezeichnet man Dinge, die eine Person tut, um eine überfordernde Situation auszuhalten oder erträglich zu machen.

DissoziierenAls Dissoziation bezeichnet man eine Unterbrechung der normalen Integration psychischer Funktionen. Damit einhergehen kann eine Fragmentierung des Bewusstseins, der Verlust von kognitiven Fähigkeiten und Identität sowie eine Verschiebung der Wahrnehmung der eigenen Person und der Umwelt.

HaptikAls haptische Wahrnehmung bezeichnet man Wahrnehmung durch aktives Erkunden in Form von Berührung.

MeltdownAls Meltdown bezeichnet man es, wenn eine Person auf eine Überreizung mit einem Nervenzusammenbruch, einem Wutausbruch oder anderweitigem herausforderndem Verhalten reagiert. Es geht also um nach außen gewandtes Verhalten.

MemeDer Begriff Meme ist ursprünglich von Richard Dawkins geprägt worden und später von Susan Blackmore ausgearbeitet worden. Es umschreibt analog zur genetischen Vererbung Verhaltensformen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Während dieser Begriff aber nur in entsprechenden Kreisen bekannt ist, steht der Begriff Meme in der Öffentlichkeit heutzutage für Internetmemes und ähnelt dem von Dawkins eingeführten Begriff.

Internetmemes sind Bilder, Videos oder Textstücke, die oft einen gewissen Humor oder Weisheiten enthalten. Sie werden immer wieder in Variationen weiterentwickelt. Sie zeichnen sich oft dadurch aus, dass ein gewisser Umstand sehr pointiert auf den Punkt gebracht wird und bieten sich daher für die Verwendung in visuellen Strukturierungshilfen an.

Neurotypiker (kurz NT)Der Begriff NT hat sich unter Autistinnen eingebürgert, um über Menschen zu sprechen, die keine Autistinnen sind. Neurotypisch bedeutet, neurologisch so ausgestattet zu sein, wie es der Norm entspricht.

NormalDer Begriff normal ist natürlich ein theoretischer. Jeder Mensch ist ein Individuum und einen normalen Menschen gibt es in diesem Sinne natürlich nicht. Dennoch ist es so, dass es Merkmale gibt, die so weit verbreitet sind, dass es sofort auffällt, wenn einem Menschen ein solches Merkmal fehlt. Im Rahmen dieses Buch kann es also vorkommen, dass der Begriff »normal« als rhetorische Abkürzung verwendet wird, zum Beispiel um zwischen Autistinnen und Nicht-Autistinnen unterscheiden zu können.

OverloadAls Overload bezeichnet man es, wenn bei einer Person eine Überreizung vorliegt, die dazu führt, dass die Person in ihrer Funktionalität, aber insbesondere in ihrer kognitiven Funktionalität eingeschränkt ist. Es kann sein, dass Fähigkeiten, die sonst vorhanden sind, nicht mehr abgerufen werden können. Ein Overload kann auch Unwohlsein hervorrufen, wobei dies aber auch von der Person selbst nicht immer bemerkt wird.

Rage FacesRage Faces sind eine Art von Meme, vergleiche dazu obige Definition. Es handelt sich um sehr expressive Gesichter, die sich zum Beispiel als Material für Comic Strip Conversations, Social Stories oder visuelle Strukturierungshilfen anbieten.

ShutdownÜberreizung kann nicht nur zu einem Meltdown, sondern auch zu Apathie, Handlungsunfähigkeit oder Einfrieren führen. Der Shutdown ist die nach innen gerichtet Variante des Meltdowns.

StimmingStimming leitet sich von den englischen Begriffen Self Stimulation ab und steht synonym für Tätigkeiten, die eine autistische Person ausführt, um sich selbst Komfort zu verschaffen oder sich auszudrücken. Ein Beispiel dafür wäre, sich auf den Boden zu setzen und vor und zurück zu wippen.

1.4       Ein paar Worte über mich

Ich habe erst mit 26 herausgefunden, dass ich Autist bin. Zwar habe ich die Schule größtenteils erfolgreich absolvieren können, gegen Ende meiner Schullaufbahn bekam ich allerdings einige Probleme. Damals wurde es als Adoleszenzkrise bezeichnet, jedoch hat diese Krise mich schlussendlich nicht davon abhalten können, mein Abitur zu machen. Nach der Schule war Studieren angesagt. Während des Studiums kam dann zum Tragen, dass ich viele Dinge einfach nie gelernt hatte. Ich war damit überfordert, mein Studium und mich zu organisieren und ich erlebte wiederholt innerer Zustände, die ich nicht regulieren konnte.

Das löste bei mir immer wieder Krisen aus, die mich auch mehrmals in psychiatrische Kliniken führten. Dort wurde ich mit allerhand bunter Pillen behandelt und mit einer Menge Diagnosen versehen. Leider haben die Pillen kein bisschen geholfen, ganz im Gegenteil. Einige Nachwirkungen von dem Gift, was mir damals verabreicht wurde, begleiten mich bis heute. Auch die Diagnosen waren wenig hilfreich. Es ist für junge Menschen, die gerade ins Leben starten, einfach nicht so gut, wenn man ihnen das Gefühl vermittelt, sie seien krank und kaputt, obwohl sie in Wirklichkeit einfach nur anders sind.

Nachdem meine bisherigen Studienbemühungen gescheitert waren, wollte ich 2007 einen weiteren Versuch an einer Fachhochschule unternehmen. Informatik erschien mir ein gutes Fach für mich und von der kleineren Fakultät versprach ich mir bessere Chancen. Aber auch hier bekam ich wieder Probleme. Es ist mir schlicht nicht gelungen, während der Vorlesungen wach zu bleiben. Früher oder später erlebte ich eine so massive Müdigkeit, dass ich mich dagegen nicht wehren konnte. In der Retrospektive ist mir klar, dass die Vorlesungen, die jeweils in einem großen Vorlesungsraum mit mehreren hundert Studenten stattfanden, mich in den Overload gebracht haben und ich nach ein paar Stunden Overload ohne Rückzugsmöglichkeit so erschöpft war, dass ich einschlief. Damals wusste ich aber nicht, was mit mir passierte. Auch die vielen Diagnosen, die ich erhalten hatte, brachten mir keine Antworten. Die Pillen, die ich damals noch genommen habe, waren ebenso nutzlos und gingen mit sehr starken Nebenwirkungen einher.

Ungefähr 2009 habe ich dann einfach alle Diagnosen, die ich zuvor erhalten hatte, gleichzeitig bei Google eingegeben. Dort fand ich einen Artikel darüber, dass diese Diagnosen die häufigsten Fehldiagnosen sind, die Autisten erhalten. Ich begann über das Thema Autismus zu lesen und war fasziniert. Eine der Diagnosen, die ich bisher erhalten hatte, war eine rezidivierende Depression. Diese Diagnose war auch definitiv richtig. Mit Depressionen hatte und habe ich regelmäßig zu tun. Wenn ich Erfahrungsberichte von anderen depressiven Menschen gelesen habe, dann habe ich mich darin ein Stück weit wiedererkennen können. Aber es fehlte immer irgendetwas. Bei den Erfahrungsberichten von anderen Autistinnen war das anders, dort konnte ich mich komplett wiederfinden. Ich beschloss eine Selbsthilfegruppe zum Thema Autismus aufzusuchen und als ich dort Platz nahm, stellte ich fest, dass ich das erste Mal in meinem Leben in einem Raum mit Menschen saß, die alle so waren wie ich.

Die Gruppe habe ich eine ganze Zeit lang besucht, außerdem begann ich, mich intensiv mit dem Thema Autismus zu beschäftigen, was 2012 darin münden sollte, dass ich meinen ersten Vortrag vor Fachpublikum gehalten habe. Eines fiel mir recht schnell auf. Die Fachliteratur zu Autismus ist sehr geprägt von Phänomenen und Anekdoten. Ein Autismusmodell, was den verschiedenartigen Menschen, die ich in der Selbsthilfegruppe kennengelernt hatte, gerecht werden könnte, ist mir jedoch nicht untergekommen. Es passten immer eine Menge Dinge und dann gab es Aspekte, die überhaupt nicht passten. Ich begann deshalb, mir ein eigenes Modell von Autismus zusammen zu bauen.

Während meines Informatikstudiums war Rechnerarchitektur eines der Themen, die mir begegneten. Mit Computern haben wir uns im Prinzip eine Art Gegenstück zu unseren Gehirnen gebaut. Sowohl Computer als auch wir bestehen im Wesentlichen aus zwei Komponenten: Hardware und Software. In Bezug auf Menschen steht Hardware synonym für den Körper und Software für den Geist. Der Prozessor und der temporäre Speicher bestimmen die potentielle Leistung des Rechners. Die Software ermöglicht dann die tatsächliche Leistung. Dabei gibt es eine Wechselwirkung zwischen Rechenkraft und Software. Je schneller der Rechner rechnen kann, desto komplexere Software kann auf ihm ausgeführt werden. Bei Autismus erschien es mir ganz ähnlich zu sein. Die Hardware, also das Nervensystem bei Autisten, ist aufnahmefähiger. Es werden mehr Details aufgenommen und dieses Mehr an Daten erfordert einen leistungsfähigen Prozessor (das Gehirn), der das alles verarbeiten kann. Ein solcher Prozessor ist dann aber auch sehr schwerfällig. Wenn ein bestimmter Datensatz gerade im Fokus steht, dauert es eine Weile, bis ein anderer Datensatz geladen ist. Das passt ganz gut dazu, dass Autisten in partikulären Bereichen Höchstleistungen erbringen können und sich sehr lange konzentrieren können, während sie mit vielen alltäglichen Dingen, die ein schnelles Wechseln zwischen verschiedenen Tätigkeiten erfordern, überfordert sind. Natürlich hatte ich nicht das Budget, um meine Überlegungen mit empirischer Forschung belegen zu können. Umso erfreuter war ich daher, als ich auf die Intense World Theory von Henry Markram stieß.

Im folgenden Kapitel möchte ich ihnen die Intense World Theory und das daraus resultierende Autismusmodell, das die Grundlage für den Rest des Buches darstellt, vorstellen.

2

Über Autismus

2.1       Ein paar Worte über Autismus

Das Wort Autismus in dem Sinne, wie wir es heute verwenden, taucht 1908 in Zusammenhang mit dem Thema Schizophrenie das erste Mal auf. Theodor Heller, Leiter der Erziehungsanstalt für geistig abnorme und nervöse Kinder in Wien, führte den Begriff ein, um Kinder zu beschreiben, die in jungem Alter die Fähigkeit zu sprechen, aber auch andere bereits erworbene Fertigkeiten wieder verloren. Alternative Namen waren »dementia infantilis« oder »Heller’sche Demenz«. Schon in seinem Ursprung ist der Begriff Autismus also sehr negativ geprägt.

30 Jahre später hielt der ebenfalls in Wien wirkende Hans Asperger einen Vortrag, in dem er mittels eines Fallbeispiels sein Modell des »autistischen Psychopathen« vorstellte. Hierzu sei erwähnt, dass das Wort Psychopathie in der damaligen Verwendung eher mit dem heutzutage verwendeten Begriff Persönlichkeitsstörung zu vergleichen ist. In seiner 1944 erschienen Habilitation listet er unter anderem folgende Merkmale:

  ein Mangel an Empathie

  Schwierigkeiten bei Blickkontakt, Gestik, Mimik und Sprachgebrauch sowie motorische Störungen

  intensive Beschäftigung mit einem Interessensgebiet

  Schwierigkeiten, Freunde zu finden

Dabei erkennt er aber auch autistische Stärken, seine Patientinnen bezeichnete er als »kleine Professorinnen«, weil sie über ihr Spezialinteresse ausdauernd referieren und oftmals einen ungewöhnlich großen Wissensschatz vorweisen konnten. Leider fand seine Arbeit damals wenig Beachtung und wurde erst in den 1990ern wieder entdeckt. Stattdessen sollte Leo Kanner das Bild von Autismus wesentlich prägen. 1943 veröffentlicht er eine wissenschaftliche Arbeit, in der er elf Kinder beschreibt, die hochintelligent waren, aber ein ausgeprägtes Bedürfnis hatten, allein zu sein sowie ein obsessives Beharren auf Gleichheit und Beständigkeit zeigten. Später wird er diese Kondition als frühkindlichen Autismus bezeichnen. Unter anderem geht auf ihn der Mythos der »Kühlschrankmütter« zurück. Dahinter steckte die Vermutung, dass emotional kalte Mütter den Autismus ihrer Kinder verursachen.

2.1.1     Boulevard und Sensationalismus

Mit diesem Modell ist Leo Kanner der perfekte Prototyp für das, was ich als das »boulevardeske Bild« von Autismus bezeichnen würde. Es zeichnet sich aus durch:

  eine oberflächliche Auseinandersetzung mit Symptomen ohne ein tieferes Verständnis für die Ursachen

  in der Regel eine reine Fokussierung auf vermeintliche Defizite

  verschwörungstheoretisch anmutende Begleittheorien (siehe die Kühlschrankmüttertheorie)

  Therapieansätze, die autistischen Menschen oder ihren Angehörigen schaden, weil sie beispielsweise vermeintlich »richtiges« Verhalten konditionieren wollen.

  ein Narrativ, in dem Autismus eine große Katastrophe ist, die ganze Familien zerstören kann

Hierzu ist es notwendig, die Situation rund um Autismus etwas zu beleuchten. Autismus galt einst als sehr selten. Um eine Übersicht zu geben, verwende ich Zahlen aus den USA, weil die Prävalenz von Autismus dort seit geraumer Zeit erforscht wird. In den USA ging man in den 1980ern des letzten Jahrhunderts von einer Prävalenz von 4 in 10.000 aus (Autism Science Foundation, 2021). Anfang der 1990er ging man von 1 in 2500 Kindern aus, gegen Ende der 1990er wurde die Prävalenz mit 1 in 1000 bemessen. Das amerikanische Center for Disease Control (2018) benennt für das Jahr 2000 eine Prävalenz von weniger als 1 in 150 Kindern, sprich von weniger als 1% der Bevölkerung. Im Jahre 2016 ist die Prävalenz bereits mit 1 in 54 angegeben, was fast 2% entspricht.

In den 1940ern hingegen war der Begriff Autismus noch kaum bekannt und es gab keine autismusspezifischen Unterstützungsangebote. Mit den Erklärungsansätzen, die Leo Kanner lieferte, stand er allein auf weiter Flur, was seinen Theorien eine Prominenz und Reichweite verlieh, die sie inhaltlich niemals verdient hatten. Insbesondere die pauschale Schuldzuweisung an Mütter muss man aus heutiger Sicht als zutiefst sexistisch bezeichnen. Eltern von autistischen Kindern, die nicht wissen, was mit ihrem Kind los ist, können sehr verzweifelt sein. Aus der elterlichen Perspektive ist jedes Erklärungsmodell besser als keines. Das Spiel mit den Ängsten verzweifelter Eltern, ob bewusst oder unbewusst, ist ein sehr zentraler Aspekt des boulevardesken Bildes von Autismus. Eltern autistischer Kinder sind immer wieder ein beliebtes Ziel für Menschen, die etwas zu verkaufen haben:

  entweder sich selbst beziehungsweise ihre Ideen

  irgendeine Art von Schlangenöl, zum Beispiel MMS1 (Miracle Mineral Supplement)

  aufwendige und kostenintensive Pseudotherapien

2.1.2     Die Wiederentdeckung Hans Aspergers

Für die nächsten 40 Jahre sollten vor allem Männer vom Typ Kanner das Bild von Autismus bestimmen, bis Lorna Gladys Wing 1981 mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit »Asperger Syndrome: a Clinical Account« die in Vergessenheit geratene Arbeit von Hans Asperger wieder in den Fokus der Wissenschaft rückte. Seit den 1990ern gibt es eine langsame aber an Geschwindigkeit zunehmende Entwicklung, auch die Stärken von autistischen Menschen zu benennen und wertzuschätzen. Diese Entwicklung kulminiert dann in den Nerdhype der letzten Jahre2. Ein wunderschönes Beispiel hierfür ist der Film »The Imitation Game« über Alan Turing, den Erfinder des modernen Computers, der außerdem auch Autist war. Mit dem Nerd wird eine gewisse intellektuelle Exzellenz verknüpft. Auch in Serien tauchen mittlerweile regelmäßig autistische Charaktere auf, zum Beispiel Julia in der Sesamstraße, denen zwar auch eine gewisse Unbeholfenheit zugeschrieben wird, die aber fast immer auch spezielle Talente mitbringen oder ihre herausragenden intellektuellen Fähigkeiten einbringen können.

2.1.3     Moderne Forschung

Autismus hat seinen Platz im öffentlichen Diskurs gefunden. Es gibt heutzutage eine Vielfalt an Forschung zu dem Thema, sodass nicht mehr Einzelpersonen die Deutungshoheit über Autismus haben. Die Forschung ist auch beträchtlich vorangekommen. Es gibt zum Beispiel den Autismus Quotienten Test nach Simon Baron-Cohen. Dieser Test ist nicht als Diagnosetool gedacht, sondern dient lediglich dazu, eine Vorhersage darüber zu treffen, ob eine Person eine Autismusdiagnose erhalten würde. Für den hochfunktionalen männlichen Teil des Autismusspektrums funktioniert dieser Test ziemlich gut. Allerdings basiert dieser Test vor allem auf Phänomenen, die mit Autismus in Verbindung gebracht werden. Baron-Cohens Theorie erklärt Autismus als eine extreme Form des männlichen Gehirns. Dabei geht er davon aus, dass man Menschen grundsätzlich unterteilen kann in empathisch und systematisierend begabt, wobei er ersteres mit Frauen in Verbindung bringt und letzteres mit Männern.

Die Kritik an den gewählten Begrifflichkeiten überlasse ich gerne anderen. Aus eigener Erfahrung aus dem Bekanntenkreis weiß ich, dass die Situation für autistische Frauen, die Hilfe, Unterstützung oder Therapie benötigen, noch einmal deutlich schwieriger ist als für autistische Männer und die These, dass Autismus vor allem Männer betrifft oder etwas mit Mann sein zu tun hat, wesentlich dazu beigetragen hat. Baron-Cohens