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Ein Düsseldorfer Galerist macht Hans-Christian Dany das Angebot, gegen einen Pauschalbetrag zwölf Texte zu schreiben, die online veröffentlicht werden sollen. Ohne Vorgabe von Thema oder Umfang. Der Auftrag mutiert zur literarischen Reise in den Zerfall einer Familie, der sich als Symptom für das Leben in einem kranken Land der Nachkriegsgeschichte erweist. Dany schreibt über sein Erbe im juristischen und im übertragenen Sinne, über buchhalterische wie emotionale Forderungen und Verbindlichkeiten und über den eigenen (fast unglaublichen) Weg vom Künstler und Schriftsteller zum verschuldeten Firmenerben, unfreiwilligen Arbeitgeber und »Minusmillionär«. Die Reflexionen zwischen Kunst und großem Geld sind nicht nur autobiografische Essays, sondern auch Versuche einer eigenen Standortbestimmung im ausklingenden Neoliberalismus. Eine ironische Wende nimmt das Projekt über Schulden und Schuld, als sich abzeichnet, dass der Galerist die versprochenen Honorare möglicherweise nicht zahlen wird, und sich die Frage, was man (und wer?) sich leisten kann, auf wieder andere Weise stellt. Verlassen vom Auftraggeber, beginnt der Text, seine eigene Dynamik zu entwickeln.
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Seitenzahl: 178
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HANS-CHRISTIAN DANY, geboren 1966, lebt als Künstler in Hamburg schon lange im Urlaub von dem, was er tun soll. Wie viele, die nicht wissen, wohin mit sich, schreibt er. Manchmal werden daraus Bücher, zuletzt zusammen mit Valérie Knoll No Dandy, No Fun. Gutaussehend in den Untergang (Sternberg Press, London 2023). Um sich diesen Luxus leisten zu können, geht er wechselnden Tätigkeiten nach und betreibt immer noch einige der Unternehmungen, von denen in diesem Buch die Rede ist.
Bei Edition Nautilus erschienen:
MA-1. Mode und Uniform (2018)
Schneller als die Sonne. Aus dem rasenden Stillstand in eine unbekannte Zukunft (2015)
Morgen werde ich Idiot. Kybernetik und Kontrollgesellschaft (2013)
Speed. Eine Gesellschaft auf Droge (2008)
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2024
Originalveröffentlichung
Erstausgabe März 2024
Umschlaggestaltung: Maja Bechert
www.majabechert.de
Satz: Corinna Theis-Hammad
www.cth-buchdesign.de
Porträt auf S. 2: © privat
1. Auflage
ePub ISBN 978-3-96054-349-7
Die dicken Vorhänge waren stramm zugezogen, als das Telefon klingelte. Mag sein, ich schlief. Manchmal weiß ich das nicht so genau. Ohne das Aufleuchten des Displays hätte ich das Telefon jedenfalls kaum gefunden. Die wache Stimme am anderen Ende der Leitung kam schnell zur Sache. Es ging um eine Einladung. Sie freute mich, obwohl die Party Arbeit hieß. Ich sollte schreiben und gleich eine ganze Serie. Doch, fügte die Stimme schnell hinzu, es würde auch reichen, wenn eine Folge mal nur ein Wort lang wäre.
Doch was sollte das für ein Wort sein?
Nachdem meine Hand aufgelegt hatte, sank der Kopf wieder in das Kissen. Die Einladung gab sich offen, aber würde sie es bleiben? Das Spielfeld hieß Kunst. Auf ihm fängt vieles lustig an, bis der Spaß plötzlich aufhört und sich alle streng ansehen. Ich mag den Ernst, aber manchmal verstehe ich nicht, woran er sich festbeißt, bis die Freundschaften zerbrechen. Die Neigung zum harten Umgang miteinander war einer der Gründe, warum ich mich vor langer Zeit für die Ränder der Kunst entschieden habe. Doch nach einer Weile musste ich entdecken, es handelt sich bei den Randzonen um glatte Schrägen, auf denen ich schnell zum Zaungast abrutsche, der gar nicht mehr weiß, ob er noch mitspielt. Ich schluckte. Hatte mich der Anruf gefreut, da er mir das Gefühl gab, wieder auf dem Brett zu stehen?
Die Stimme wollte aber gar keine Kunst von mir, sondern schlug mir eine etwas undefinierte, allein dadurch anziehende Möglichkeit vor: Du kannst schreiben, was du willst.
Ich kannte den Körper zur Stimme. Wir hatten einige Male an langen Tischen gesessen und flüchtige Gespräche in distanzierter Vertrautheit geführt, als würden wir uns schon ewig kennen. Dabei waren wir einfach nur übereinander informiert, da sich in diesem Betrieb alle ständig übereinander informieren. Ich wusste, die Stimme musste fünfzehn bis zwanzig Jahre jünger als ich sein und betrieb ein Handelsunternehmen für zeitgenössische Kunst im Rheinland. Vor einem Jahr hatte jener, dem die Stimme gehörte, als Nebenprojekt der Galerie eine Art Verlag gegründet: Einer Schriftstellerin wurde monatlich Geld überwiesen. Sie schrieb dafür eine Serie von zwölf Texten, die auf einer Webseite veröffentlicht wurden. Später sollte daraus ein Buch werden, wenn der Verlag erstmal richtig anfing. Zeitgenössische Kunst baut gern auf Vorstellungen von etwas auf, das es noch gar nicht gibt. In diesen spekulativen Versprechen von etwas, was sein könnte, liegt neben vielen Möglichkeiten immer die Gefahr einer gewissen Fallhöhe. Jetzt war ich also ausgewählt worden, um als Hausautor auf Zeit das Alleinstellungsmerkmal der Galerie darzustellen.
Im Kopf hatte ich bereits zugesagt, handelte es sich doch um eine Anfrage, bei der ich Geld für das erhalten sollte, was ich sowieso tat. Bezahlte Texte schreiben sich oft einfacher, da die Lohnarbeit eine allgemeingültige Anerkennung genießt und ich mir den Auftrag nicht selbst geben muss. Außer Geld bot sich aber eine offene Situation, in der etwas Überraschendes geschehen konnte. Während ich noch wie ein Käfer auf dem Bett lag, begannen die Gedanken zu flanieren. Ich wurde fast albern und malte mir aus, das Angebot zu nutzen, um einen heimlichen Traum vom Leben als Restaurantkritiker zu betreten. Um nicht gleich mit meinen unterdrückten Wünschen anzufangen, überlegte ich weitere Möglichkeiten. Eine Idee war, über meine Vergangenheit als Künstler zu schreiben. Manchmal stelle ich mir vor, meine Abstinenz von Kunst an den Nagel zu hängen und wieder ein Bild zu malen. Die Situation wird aber schnell zum Albtraum. In ihm suche ich wie verrückt nach dem Pinsel und finde ihn nicht. Nach den ungemalten Bildern im Traum wird sogar manchmal im Wachzustand gefragt. Wenn solche Fragen kommen, rede ich mich damit raus, ich schreibe doch gerade und müsse mich konzentrieren. Ob ich dann jetzt Autor wäre?, werde ich dann gefragt. Nicht wirklich, murmele ich. Ohne dass ich weiß, warum, wird mir die Situation immer peinlicher. Am liebsten möchte ich im Boden versinken oder sagen, ich tue gar nichts. Nichts zu tun ist aber ziemlich schwierig.
Seit mein Sohn Maku zur Schule geht und gelegentlich sagen muss, was sein Vater arbeitet, habe ich mich mit der von ihm gewählten Bezeichnung Schriftsteller abgefunden. Es braucht einen Begriff, da er nicht antworten kann, der Vater säße in der Küche in einem großen Durcheinander und tippe manchmal etwas.
Wenn Formulare nach meiner Tätigkeit fragen, schreibe ich Autor, obwohl ich das Wort nicht mag, da es nach Autorität klingt. Persönlich bleibe ich lieber beim Verb. Die Sache mit dem Schreiben ist alles andere als sicher. Heute schreibe ich, morgen ist es vielleicht schon vorbei damit.
Nein zu sagen und nichts zu werden schien mal eine Möglichkeit. Als ich jung war, konnte ich mir auch leichter in die Tasche lügen. Mit den Jahren wurde das Nein komplizierter. Heute schwingt zwar noch ein Nein mit, wenn ich schreibe, übertönt wird es aber von einem Ja. Ja, ich will schreiben. Ich sage überhaupt immer öfter Ja zu dem Leben, zu dem ich oft Nein gesagt habe. Die Vorstellung, nichts zu werden, hängt mir aber noch nach. Regelmäßig tagträume ich, eine Bar zu kaufen, heißt es doch: Wer nichts wird, wird Wirt. In meiner Vorstellung von einem Leben als Barbesitzer komme ich am frühen Abend in das Lokal, fülle etwas auf und ordne den Kassenbestand. Danach gehe ich zu Bett. Morgens um sechs, wenn die Bar bald schließt und ich schon wieder wach bin, unternehme ich den zweiten Kontrollgang. Während ich mir dabei zusah, wie meine Hände das im Schlaf verdiente Geld zählten, dachte ich plötzlich, ich könnte über meinen Vater schreiben. Der Gedanke fiel nicht vom Himmel. Seit seinem Tod vor vier Jahren wurde mir oft gesagt: Ich sollte über uns schreiben. Als Antwort zuckte ich mit den Schultern und dachte, es wäre mir viel zu persönlich. Bisher hatte ich distanzierte Texte zu übergeordneten Themen geschrieben, und für meinen Vater bräuchte ich eine andere Sprache.
Am nächsten Tag aß ich Zunge und dachte an den Anruf. Ich wusste, die Stimme vom anderen Ende der Leitung teilte sich ein mehrstöckiges Haus mit dem Vater, der dort im ersten Stock eine Galerie betrieb, die der Sohn einmal übernehmen sollte. Vor diesem Hintergrund über meinen Vater zu schreiben, schien zu passen.
Da meine Eltern ein Paar blieben und ich nicht an Gott glaube, habe ich nur einen Vater. Damit es sich im Text nicht nur um ihn und mich, seinen Sohn, dreht, brauchte es einen weiteren Begriff, dachte ich, an dem er sich reiben konnte. Um den Begriff zu finden, versuchte ich jetzt mit dem Galeristen, der mich bezahlen wollte, zu sprechen. In einem der Gespräche sagte er, seit er vor zwölf Jahren eröffnet habe, existiere die Galerie im Modus der Krise, aber so sei es für die meisten Galerien seiner Generation.
Ich blieb an dem Wort Krise hängen. Über den Vater und die Krise zu schreiben wäre eine Möglichkeit, aber eine Entscheidung für das Naheliegende, da sich gerade so vieles in der Krise befindet. Ich mag, was auf der Hand liegt, aber als ich das Wort eine Weile zwischen den Fingern gedreht hatte, schien es mir gerade zu sehr wie ein Vorwand, um die eigenen Interessen durchzusetzen, und ich ließ die Krise vom Tisch fallen. Obwohl sie nun am Boden lag, war sie nicht weg. Ich sah, wie sie langsam auf meinen Schuh und an der Wade nach oben kroch. Während ich ihr zusah, wurde mir klar, ich werde sie nicht los, da ich ein Kind der Krise bin. Sie ist sozusagen meine zweite Mutter.
Am 27. Mai 1972 lobte das Flensburger Tageblatt unter der Überschrift »Ansichten eines Fünfjährigen« die Erziehung meiner Mutter. Das Ergebnis sei eine gelungene Balance aus autoritären und antiautoritären Elementen: Selbstständig gräbt der kleine Christian ein Loch, wo er will. Hinter dem Lob war ich ihr Argument gegen linke Kinderläden und für Frauen, die noch etwas anderes vorhaben als ihre Kinder. Detailliert schilderte die Autorin die Überlegungen des kleinen Christian zur Ehe: Die künftige Frau, es gebe zwei zur Wahl, sollte meine vielen Hemden bügeln, da die Uniform beim Mann immer ordentlich aussehen sollte. Daraus schloss die Beobachterin, ich habe genaue Vorstellungen, denke nach und pflege ein gesundes Verhältnis zu meiner Männlichkeit.
Am Ende des Sommers, der mit dem Artikel begonnen hatte, trat ich aus dem Kreis der Familie in die Gesellschaft. Zeitgleich mit meiner Einschulung erschien ein Bestseller, der die Welt veränderte. Es handelte sich um eine kybernetische Vorhersage, die die Vergangenheit in die Zukunft weiter berechnete und zu dem Ergebnis kam: Das Konzept der industriellen Moderne werde, wenn es sich nicht verändere, die Erde zielsicher gegen die Wand fahren. Als Sechsjähriger las ich die Prognose des Club of Rome noch nicht, sondern Mad Magazine. Aber das Buch Die Grenzen des Wachstums lag als dunkles Omen einer Welt ohne Zukunft auf dem Nachttisch meines Vaters und kurz darauf folgte die handfeste Krise des Ölpreisschocks. Die Preise für Energie explodierten. Zuhause zogen wir im Winter dicke Pullover über, statt die Heizung aufzudrehen. Die Krise meinte es bald noch persönlicher mit mir. Mein Vater pokerte hoch und verzockte sich, wodurch die Umstände unseres bisherigen Lebens ein Ende fanden.
Der Konkurs unseres Familienunternehmens schlug eine ordentliche Welle und wurde sogar im Radio gemeldet. In den Jahren nach dem Wirtschaftswunder galt ein Konkurs noch nicht als Unfall, der passieren konnte, sondern als Verlust der Ehre, der in den Augen von stolzen Männern als Grund galt, sich das Leben zu nehmen. Während der Gedanke im Kopf meines Vaters Kreise zog und er beim Rasieren ein lautes Selbstgespräch darüber führte, sah ich ihm heimlich zu. Er sagte gerade zu seinem Spiegelbild, ohne ihn wäre die Familie lebensunfähig. Er müsse uns mitnehmen, sonst würden wir untergehen. Obwohl er nicht aussprach, wie er unseren Abgang plante, konnte ich mir alles gut vorstellen: Im Garten stand ein großer Apfelbaum, unter dem wir am Abend im Dunkeln standen. Alles, was wir an Waffen besaßen, lag sauber aufgereiht auf dem Rasen. Er plante, es mit der doppelläufigen Schroflinte zu tun, die sonst in der Ecke des Arbeitszimmers stand. Ich dachte, Opa hat doch gesagt, Schrot sei zum Töten von Menschen gar nicht geeignet. Zwar ließe sich mit den gestreuten Bleikugeln ein Jagdunfall vortäuschen, als Tötungsinstrument für Menschen war die Waffengattung aber ungeeignet. Ein Schuss reichte nicht, um sicher zu sein, das Ziel ausgeschaltet zu haben. Wer töten wollte, musste pro Person mindestens zweimal schießen und erst bei dem dritten Schuss konnte man sicher sein. Meinem Vater schien das egal, er hatte in vielem seine eigenen Ansichten.
Zuerst sollte Jan als der Jüngere dran glauben, da der Anblick der Einschläge des gestreuten Projektils einen Fünfjährigen verstört hätte. Also musste ich, der schon Sieben war, zusehen, wie der Schuss den Kopf meines Bruders in eine blutige Masse verwandelte. Es kam aber gar nicht so weit. Mein Vater hatte seine Meinung geändert und schenkte uns das Leben. Wir gingen zurück ins Haus, wo es in dieser Nacht noch etwas kühler war als sonst.
Obwohl ich mir das alles nur vorgestellt habe, brannte sich die Szene unter dem Apfelbaum ins Gedächtnis. Ich werfe diese Erinnerung niemandem vor, außer mir selbst. Mein heimliches Lauschen, zusammen mit einer blühenden Fantasie, war schuld.
Nach dem Tagtraum lag ich noch einige Tage mit Magenkrämpfen im Bett. Da sich die ganze Familie in Aufruhr befand, konnte ich mit niemandem darüber sprechen. Also meldete ich mich gleich am ersten Tag in der Schule und sagte, ich habe ein Problem: Die Firma von meinem Vater und meinem Opa sei bankrott. Nach einem Moment stiller Betroffenheit fragte die Lehrerin, was ich mir für die Zukunft wünsche. Ich antwortete: »Dass mein Vater Postbote wird.« Die Vorstellung war, ihn künftig jeden Tag zu sehen, wie er auf einem Fahrrad durch unseren Vorort radelte und die Briefe austrug. Meiner Lehrerin erschien mein Vorschlag vernünftig.
Bis zum Konkurs hatte ich meinen Vater selten zu Gesicht bekommen. Morgens war er schon weg und kam am Abend erst zurück, als ich ins Bett musste. Am Samstag arbeitete er und am Sonntag hatten wir gesellschaftliche Verpflichtungen. Durch seine hochfliegenden Pläne blieb uns beiden wenig Zeit. Manchmal nahm er mich aber mit und wir rollten in einer Mercedes-Limousine über die norddeutschen Landstraßen. Seine Arbeit sah wie ein Ausflug aus. Wenn wir eine Pause machten, musste ich oft im Wagen bleiben. Der Chauffeur klappte das Handschuhfach auf, in dem eine Pistole lag, da mein Vater einen Brief bekommen hatte, der ihn vor der Baader-Meinhof-Bande warnte. Durch das Fenster beobachtete ich, wie er auf ein Gebäude zuging — oft waren es Bauwagen oder Hütten — und mit Männern redete, die Helme trugen. Zuerst wirkte die Situation ganz normal, bis sie plötzlich kippte. Es folgte ein großes Gebrüll. Mein Vater konnte sehr laut brüllen. Im Auto hielt ich mir die Ohren zu. Dann fuhren wir weiter, bis sich die Szene ähnlich an einem anderen Ort wiederholte. Der Vater war ein Arbeitgeber, was mir ungefähr so erklärt wurde, wie Jesus, der das Brot brach. Die Gefütterten zeigten sich aber undankbar, darum das Gebrüll.
Von den Dingen, die ich auf diesen Ausflügen sah, beschäftigte mich besonders die Pistole. Ich wünschte mir das gleiche Modell und bekam es aus Plastik. Dinge, die Geld kosteten, bekam ich leicht, und Waffen gehörten zu meinem Leben.
Da meine Eltern oft beschäftigt waren, spielte ich als kleines Kind regelmäßig bei den Eltern meines Vaters. In dem zum Spielzimmer umgenutzten Raum stand ein ausladender Waffenschrank. In ihm reihten sich ungefähr zwanzig Büchsen aneinander. Weiter konnte ich noch nicht zählen. Überall lag Munition und an den Wänden hing dicht an dicht, was Opa getötet hatte. Während ich spielte, hatte er zu tun, da er mit Oma rauchen musste. Eine Großpackung mit achtzig Zigaretten, das stand auf der Packung, steckte Omas Tagespensum ab und beschäftigte sie den ganzen Tag. Opa zog dazu an einer Pfeife, die wie an geklebt im Mund hing. Wurde ihm das Rauchen mal öd, erzählte er mir, mit welchem Gewehr er welches Tier ge tötet hatte. Auf dem Boden lagen neben verschiedenen Teppichen ein weißer und ein schwarzer Bär mit ausgestopften Köpfen. In ihren großen Glasaugen sah ich die weite Schneelandschaft um Lahti in Finnland, wo der Bär früher einmal gelebt hatte. Manchmal steckte Opa seinen Zeigefinger durch das Einschussloch im Pelz und malte aus, wie er mit Oma da hoch sei und ihn geholt habe.
Ein Gewehr konnte nicht eingeschlossen werden, da es zu groß war und nicht in den Schrank passte. Das schwere Kaliber für die Jagd von Elefanten ähnelte den Bazookas, die ich aus den Fernsehnachrichten über Vietnam kannte. Während die Großeltern besonders viel rauchten und ich dachte, sie kämen nicht ins Zimmer, spielte ich mein Lieblingsspiel, bei dem ich die Elefantenbüchse mit Schnürsenkeln auf das Dreirad schnallte und als Haubitze durch die Landschaft der toten Tiere schob. Das Spiel hieß Krieg. Ich hatte das Talent, es stundenlang zu spielen, weshalb gelobt wurde, wie gut ich mich beschäftigen konnte und dass man sich nicht um mich kümmern musste. Dabei hätte ich mir gewünscht, es wäre gesehen worden, dass ich schon mit sieben von Waterloo bis Stalingrad die Stellungen der wichtigen Schlachten auswendig konnte. Aber jetzt war das Spiel sowieso vorbei, nachdem der Konkurs in der Firma das Licht ausgeschaltet hatte. Das Öl sei zu teuer geworden, erklärte mein Vater. Angeregt von der Erklärung der Krise, ging ich als Scheich mit einem Plastikkanister in der Hand zum Fasching. Opa fand das gar nicht lustig und danach durfte ich eine Weile nicht zum Spielen kommen. Dabei war er gar nicht sauer wegen des Kostüms, sondern wegen des Konkurses, an dem er nicht dem Ölpreis, sondern meinem Vater die Schuld gab. Da Opa Gesellschafter der Firma war, verlor er viel Geld, musste die Villa verkaufen und in ein Reihenhaus ziehen. Wir stiegen ab, statt Filet gab es jetzt Linsen, und ich verstand gar nicht warum, fand es aber auch nicht schlimm. Als Opa später tot war, erzählte mir mein Vater, und es schwang ein gewisser Stolz mit, er habe das Familienunternehmen in den knapp zehn Jahren seiner Zugehörigkeit auf die dreifache Größe hochgepumpt, da er nicht nur Sohn sein, sondern sich beweisen wollte. Ich konnte mir das gut vorstellen, da ich inzwischen wusste, mein Vater kannte keine Grenzen.
Jetzt bin ich abgeschweift, statt über die Gespräche mit dem Galeristen zu schreiben, der auch einen Vater mit hochfliegenden Plänen hatte. Ich sprach noch etwas mit ihm, aber nicht besonders viel. Nachdem ich die erste Folge geliefert hatte, sagte er: »Was du schreibst, wirkt persönlich, ohne dass ich wirklich viel über dich erfahre.« Er meinte es freundlich. Sein Lob des Diskreten berührte aber einen wunden Punkt, da ich meinen persönlichen Ton oft für einen ungedeckten Scheck halte. Bei diesem Zweifel handelte es sich aber nur um einen von vielen, die jeden Morgen in die Frage münden, wie es mit meinem Leben weitergehen könnte. Beim ersten Kaffee beschließe ich dann, mich zu verändern. Sich andauernd zu korrigieren funktionierte aber nicht. Irgendwann war ich total erschöpft. War die Einladung zu der Serie jetzt eine Gelegenheit, meine Erschöpfung etwas in den Griff zu bekommen? Aber würde das bedeuten, nicht nur über meinen Vater, sondern auch über mich zu schreiben? Ja und nein. Es ist zwar meine persönliche Geschichte, sie ist aber in vielem ziemlich allgemein. Wie die meisten Kinder musste ich die Umstände nehmen, wie sie kamen. Sich dagegen zu stellen, schien so aussichtslos, wie sich gegen die Mode zu stellen. Ich hätte mich nur zu einem traurigen Clown gemacht. Kindliche Unterwerfung kann das Ergebnis einer guten Erziehung sein. Ich habe aber keine gute Erziehung genossen, da irrte sich die Frau vom Flensburger Tageblatt. Gut und schlecht sind zwar relative Begriffe, aber gut passt nicht. Als Erstgeborener einer Tiefbau-Dynastie wurde mir zwar früh beigebracht, wie man Froschschenkel filetiert und dass im April Schluss ist mit Austern. All das ließ sich bei den Mahlzeiten erledigen. Ansonsten blieb wenig Zeit, um mich ins Leben einzuführen.
Die Ausflüge mit meinem Vater auf die Baustellen waren vermutlich als Erziehung für die Zukunft gemeint, aber dann kam der Konkurs und es gab keine Betriebsangehörigen mehr, die ich hätte anbrüllen können. Ich war ins Leere erzogen worden. Die Zukunft, die mir zugedacht worden war, gab es nicht mehr. Ziellos wanderte ich durch verwaiste Landschaften, bis ich zur Einsicht kam: Ich war das Problem.
Dass es vor dem Konkurs große Pläne für mein Leben gegeben hatte, beweisen Fotos aus der frühen Kindheit. Auf ihnen ist zu sehen, wie ich als Zweijähriger Ampeln schalte, mit denen der Autoverkehr um die Baustellen gelenkt wird. Ernst und zufrieden schaue ich auf das Gerät. Endlich konnte ich mich nützlich machen, nach den Jahren als plärrender Schnorrer. Mein Eifer stieß bald an Gren zen. Beim Bau einer U-Bahn-Station an den Landungsbrücken weigerten sich meine Beine, bis zum Ende der Strecke auf den Gleisen zu gehen, da es zwischen den Holzbalken aus der Perspektive eines Kindes zwanzig Meter abwärts ging. Im Blick des Vaters erkannte ich die Enttäuschung und dachte, er denkt: Was soll bloß aus dem Jungen werden? Dass er genau das dachte, steckten mir kurze Zeit später andere. Informiert durch seine besorgten Freunde, die die Erwartungen meines Vaters überzogen fanden, bemühte ich mich, mein Versagen wettzumachen. Besessen zeichnete ich Deiche, Tunnel und was sonst noch aufgeschüttet oder gegraben werden konnte, mit dem Stift auf Papier. Dadurch wurde alles noch schlimmer. Meine Mutter zog die Rollos runter, damit niemand sah, wie ich stundenlang die Pläne vorgestellter Städte entwarf, die sich statt um ein Rathaus um ein Kino gruppierten. Ich dachte: Andere Kinder malten normale Sachen und ich so komische Planquadrate. Darum musste man mich verstecken. Später verstand ich das wirkliche Problem: Bauzeichner galten als die armen Würstchen am unteren Ende der Leiter. Ich hatte mich sozial nach unten durchgerieselt.
Um die Enttäuschung meines Vaters verständlicher zu machen, muss ich erklären: Ich litt nicht nur unter Höhenangst und suchte das einfache Leben, ich war auch übergewichtig und schwitzte bereits als Kind wie jemand, der körperlich arbeitet. Hinzu kamen eine Rechtschreibschwäche und krumme Zähne.
Dass ich offensichtlich nicht der Prinz war, der erwartet wurde, sondern ein Reinfall, wollte ich ihm damit erklären: Ich stamme aus einer Affäre meiner Mutter und sei nicht sein leibliches Kind. Doch bevor ich eine Gelegenheit bekam, meinem Vater das zu sagen, in der Hoffnung, es würde ihn entlasten, kam der Konkurs. Und während ich darüber nachdachte, musste ich einsehen: Ich war an allem schuld gewesen. Da ich mich als Niete entpuppte, hatte mein Vater den Glauben an die Zukunft verloren und fuhr verzweifelt alles gegen die Wand.